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XL Das Magazin für angewandte Filmkunst 012 Juni 2009 | 5 Euro 4 196651 805005 90012 4 196651 805005 90012

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July-September 2009

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XL

Das Magazin für angewandte Filmkunst

012 Juni 2009 | 5 Euro

4 196651 805005 900124 196651 805005 90012

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Zum Geleit

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Na sowas – ein neuer Untertitel für unsere hübsche Zeitschrift?

Wo elf Ausgaben lang »Magazin für Filmschaffende« prangte, heißt

es nun »Magazin für angewandte Filmkunst«. Keine Panik: Innen

ändert sich nichts (zumindest nicht mehr, als wir wollen). Auch die-

se Ausgabe ist wieder voll von Beispielen für die Sorgen und Freuden

der Arbeit für gute Filme. Aber nach außen wollen wir schon ein we-

nig mehr Offenheit demonstrieren.

Als eifriger Leser wissen Sie natürlich, daß cinearte xl nicht nur

für für die Praktiker der Branche die erste Wahl ist, sondern für alle,

die bewegte Bildgeschichten mögen und es ein wenig genauer wis-

sen wollen – und damit nicht unbedingt den letzten Beziehungs-

tratsch aus Bombay oder Hollywood meinen. Weg mit dem roten

Teppich, her mit der Greenscreen!

Ein Magazin für Filmschaffende sind wir trotzdem auch: In dieser

Ausgabe startet unsere neue Kolumne, die wir dem dokumentari-

schen Film widmen. Ihr Autor Christoph Brandl ist selbst Doku-

mentarfilmer und stellt nun regelmäßig Trends und Diskussionen in

diesem Genre vor. »Das wahre Leben« beginnt auf Seite 73.

Mit dieser Ausgabe haben sich auch der Bundesverband Film-

schnitt Editor (BFS) und der Bundesverband Beleuchtung und Büh-

ne (BVB) für cinearte xl als Zeitschrift für ihre Mitglieder entschie-

den. Das freut uns und macht uns ein wenig stolz und dankbar. Also

begrüßen wir alle neuen Leser – und zwar…

…herzlichst, Ihr

Liebe Leser,

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Impressum

Ausgabe 012 vom30. Juni 2009.

Anschrift: cınearte Peter Hartig,Friedrichstraße 15, 96047Bamberg.

Redaktion: Peter Hartig (verant-wortlich), Tel. 0951-2974 6955.

Anzeigen: Michael Wesp-Bergmann (verantwortlich),Tel. 089-5529 8563.

Redaktionsschluß ist vierWochen vor Erscheinen derAusgabe.

Für unverlangt eingesandteManuskripte und Fotos über-nehmen wir keine Haftung.Namentlich gekennzeichneteArtikel entsprechen nichtunbedingt der Meinung derRedaktion. Nachdrucke, auchauszugsweise, nur mit Ge-nehmigung der Redaktion.Gerichtsstand ist Bamberg.

Es gilt die Anzeigenpreisliste 8vom 1. Januar 2009.

Mitarbeiter dieser Ausgabe:Christoph Brandl, Jan Fedesz,Sabine Felber, ChristophGröner, Connie van Opeln, JimRakete, Max Romero, MichaelStadler, Ian Umlauff, CarloVivari, Karolina Wrobel.

Soundtrack bei der Erstellungdieser Ausgabe mit wehmütigemBlick zurück: Peter Fox»Stadtaffe« (Downbeat,B001ET225M); David Bowie:»The Best of« (K-Tel, BLP81001); Pizzicato Five: »TheSound of Music‹ (Matador,7567-92622-2).

Layoutkonzept: Jana Cerno,www.cernodesign.de.

Druck: Creo-Druck, 96050Bamberg

Vertrieb Einzelverkauf: VUVerlagsunion KG, 65396 Walluf

cınearte XL erscheint viermaljährlich und wird herausgegebenvon Peter Hartig in Kooperationmit www.crew-united.com.Der Einzelverkaufspreis beträgt5 Euro.

Diese Ausgabe wird allenMitgliedern der Filmberufs-verbände BVK, SFK, BFS undBVB im Rahmen ihrer Mitglied-schaft ohne besondere Bezugs-gebühr geliefert. Keine Haftungbei Störung durch höhere Ge-walt.

cınearte XL wird gefördert vonder Kulturwerk der VGBild Kunst GmbH, Bonn.

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Page 4: cinearte XL 012

Inhalt

Dem Regisseur Detlev Buck gefällt es im Norden.

Klar, da kommt er ja auch her. Aber vor der Kamera

von Jim Rakete fand er doch noch einen Grund mehr.

012 | Juni 2009

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12 Am Ort der Wahrheit

Bei einem Praktikum geriet Sebastian Thümler in den Schneideraum und fand die Tür nicht mehr.

Das hat er nun davon: den »Deutschen Filmpreis«.

22 In der Krisenzone

Wenn’s beim Dreh in der Wüste ständig regnet, kann man schon mal verzweifeln.

Und trotzdem durchhalten.

42 Melodien für Millionen

Wer seinen Film so richtig groovy, funky oder schlicht fett klingen lassen will, merkt schon:

Man braucht einen Berater. Nicht nur wegen des Musikgeschmacks.

48 Farbtupfer für die Dramaturgie

Vor 15 Jahren erzählte Steven Spielberg eine völlig andere Geschichte aus dem Holocaust.

Vor dem Happy End schilderte er gnadenlos den langen Weg in die Vernichtungslager.

58 Heimatfilmer

Von wegen, an der Küste ist es nur flach und kühl! Wenn die Filmgemeinde vom Norden

schwärmt, schauen wir gerne noch mal genauer hin.

82 Der Geldsucher von Schwabing

Vor einem Jahrhundert hat München geleuchtet. Marc Rothemund weiß auch, warum.

Deshalb würde er gerne einen Film über die Dame drehen.

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Vermischtes

03 Zum Geleit

03 Impressum

06 Produktion

08 Technik

10 Weite Welt

37 Auf der Couch

73 Das wahre Leben

77 Gesetze der Serie

87 Letzte Bilder

88 Vorspann

90 Mein Arbeitsplatz

92 Statistik

93 Lexikon

94 Lesen – Sehen – Hören

97 Tip 5

98 Rätsel

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Vorspann | Produktion cınearte XL 012

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Foto: Pictorion das Werk

Miniatur-kunststückDas sieht nach großem Unglück aus, aber keine

Sorge: Hier ist nur eine alte Filmkunst am Werk.

Im Vordergrund bringt gerade Emilio Ruiz del Río

letzte Pinselstriche an, um die Illusion einer zer-

störten Fassade perfekt zu machen. Rechts neben

ihm ist ein Teil des Gerüsts zu erkennen, auf dem

das Vorsatzmodell sitzt. Durch die entsprechende

Kameraperspektive paßt sich das Modell millime-

tergenau in den Hintergrund ein. Die Einstellung

entstand im Sommer 2007 für Die Frau des Anar-

chisten. Das Bürgerkriegsdrama von Marie Noelle

und Peter Sehr läuft zur Zeit im Kino.

Für Ruiz del Río war es die letzte Arbeit. Kurz

nach den Dreharbeiten war er mit 84 Jahren ge-

storben. Bis dahin hatte er an über 500 Filmen ge-

arbeitet: Spartacus etwa, Lawrence von Arabien,

Patton und vieles andere aus den Sechzigern, als

Spanien ein beliebter Drehort für Monumental-

produktionen war.

Auch danach blieb er gefragt, etwa von David

Lynch für Dune oder zuletzt Guillermo del Toro für

Pans Labyrinth. Der Modellbauer hatte nämlich

seine Filmkunst vorangebracht wie kaum ein an-

derer und selbst das Prinzip der Seeschlacht im

Film revolutioniert: Statt der üblichen Wasserbe-

cken im Studio ließ er eines vor echtem Meeres-

blick so anlegen, daß der Beckenrand nicht zu se-

hen war und die Wasserfläche scheinbar nahtlos

in den Horizont übergeht.

Die neue Technik hatte aber auch dieser Szene

noch etwas beizusteuern. Für den realistischen

Eindruck wurden am Rechner noch Feuer im

Dachstuhl gelegt, Rauch und Qualm eingesetzt

und schuttschaufelnde Menschen in die oberen

Stockwerke der Ruine integriert. Das übernahmen

die Postproduzenten bei Pictorion das Werk, wo

insgesamt 70 Effekteinstellungen für Die Frau des

Anarchisten bearbeitet wurden. c

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cınearte XL 012 Vorspann | Produktion

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Vorspann | Technik cınearte XL 012

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Foto: Bavaria Film

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cınearte XL 012 Vorspann | Technik

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So anpassungsfähig ist keine Fluglinie. Als brei-

ter Transatlantik-Jet oder schmale Kurzstrecken-

maschine kann die »Bavaria« eingesetzt werden –

mit Business- und Economy-Klasse, Küche, Toilet-

ten und einem »vollfunktionsfähigen« Cockpit.

Einziger Schönheitsfehler: Fliegen kann das

wandlungsfähige Wunderwerk nicht. Das soll es

aber auch gar nicht, sondern Filmteams die Arbeit

erleichtern. Im März hatten die Bavaria Studios in

Geiselgasteig bei München ihre neue Kulisse vor-

gestellt, die ein alltägliches Problem lösen soll: Ein

Wochendendtrip mit dem Flieger nach London

mag billig zu haben sein, wenn er im Drehbuch

steht, kann er schnell jedes Budget kippen. Erst

recht, seit die Sicherheitsauflagen so streng ge-

worden sind. Und mal ganz abgesehen davon, wo

eigentlich die Kamera stehen soll, wenn in einem

echten Flugzeug gedreht wird.

Darum setzt die Bavaria für die feste Kulisse

auch auf ein flexibles System: Der 28,5 Meter lan-

ge Passagierraum besteht aus jeweils 6 mal 2 Me-

ter großen Modulen, die beliebig kombiniert wer-

den können. Sitzreihen und Außenpanele können

verschoben oder demontiert werden – das erlaubt

selbst in den bespielbaren Toiletten besondere Ka-

meraperspektiven und Lichtsetzung.

Dem Nachbau der Innenausstattung war ein

halbes Jahr Recherche und Planung vorangegan-

gen, echte Flugzeugteile wurden besorgt, Kabi-

nenbeleuchtungen, Anzeigen und Acht-Zoll-Mo-

nitoren funktionieren, wie es jeder Passagier

kennt. Auf das Cockpit ist man besonders stolz,

weil hier durch Simulatortechnik realistische

Flugaufnahmen möglich seien. Das Cockpit kann

wahlweise an die restliche Kabine angedockt wer-

den oder alleine vor einer Greenscreen zum Ein-

satz kommen. Eine halbe Million Euro hat sich die

Bavaria ihr Modellflugzeug kosten lassen.

EinmaligeKulisse

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Vorspann | Weite Welt cınearte XL 012

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Foto: Nina Paley

xl012_O_Vorspann 18.06.2009 5:21 Uhr Seite 10

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cınearte XL 012 Vorspann | Weite Welt

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Die wilde Symbolik des Trickfilmbilds könnte

Nina Paley heute ganz anders deuten, als sie ur-

sprünglich gedacht hatte. Aber der Reihe nach: Ihr

Mann war nach Indien gegangen und hatte per E-

Mail mit ihr Schluß gemacht. Die Trickfilmerin

vergrub sich in das Ramayana und machte dann

ihren ersten Film daraus, indem sie die Geschich-

te des Mädchens Sita aus dem alten indischen Na-

tionalepos mit ihren neuen Erfahrungen kombi-

nierte.

Das gestaltete Paley konsequent als Kultur-Mix:

Die 2D-Computergrafik lehnt sich ästhetisch

gleichermaßen an klassischer Rajput-Malerei, po-

pulärer Gebrauchsgrafik und modernen amerika-

nischen Comics an, versehen ist das Ganze mit ei-

nem Score aus modernen Sitar-Klängen und

Liedern der Jazzsängerin Annette Hanshaw aus

den 1920er Jahren: Sita Sings the Blues begeisterte

auf vielen Festivals. Und da begann Paley Pro-

blem. Zwar nicht mehr die Aufnahmen von Hans-

haw, aber Text und Noten sind auch nach 80 Jah-

ren noch urheberrechtlich geschützt – 220.000

US-Dollar wären für die Nutzungsrechte zu zah-

len. Für 50.000 Dollar konnte Paley schließlich ih-

ren Film wenigstens legalisieren und eine be-

grenzte Auflage von 4.999 DVD pressen lassen.

Paley war seither im Glauben ans Urheberrecht

erschüttert. Teuer wurde die Sache nämlich nicht

durch etwaige Urheber, sondern Rechteinhaber

wie Warner und Sony. So wurde die Künstlerin zu

einer Vorreiterin des »Creative-Commons«-Ge-

danken von der Kultur als Allgemeingut: Seit März

singt Sita im Internet als Videostream und wartet

darauf, kostenlos heruntergeladen zu werden.

Spenden sind freilich willkommen: »Das alte Ge-

schäftsmodell von Zwang und Wucher versagt«,

meint Paley. »Neue Modelle entstehen, und ich

bin froh, ein Teil davon zu sein.«

FreieKultur

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Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012

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xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:47 Uhr Seite 12

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cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler

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Herr Thümler, Sie haben dieses Jahr für ihre Montage des Films Chiko den »Deut-

schen Filmpreis« erhalten. Es ist eine der wenigen Auszeichnungen hierzulande,

die dieses Filmgewerk herausstellt. Eine weitere wird im Rahmen des Deutschen

Kamerapreises vergeben, und da wählten Sie als Jurymitglied gerade zum zwei-

ten Mal die Nominierten aus. Wird der Schnitt unterschätzt?

Der Schnitt, die Montage, ist eigentlich unsichtbar. Die erbrachte Leistung ist demzu-

folge sehr schwer zu sehen. Ich merke, daß es mir so geht, wenn ich eine Montage be-

urteilen soll, die ich nicht selbst geschnitten habe. Es ist wahnsinnig schwer, sich da

reinzudenken. Es braucht viel Zeit und Distanz um zu erkennen, was da eigentlich ge-

macht wurde. Jetzt war ich ja gerade in der Fernsehfilm-Jury. Da fielen mir Filme auf,

…befindet man sich im Schneideraum, glaubt Sebastian Thümler.

Der Editor wurde Ende April mit dem »Deutschen Filmpreis« ausgezeichnet.

Interview Karolina Wrobel

xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:47 Uhr Seite 13

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Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012

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in die vom Editor viele Ideen eingebracht wurden

– viele auffällige Schnitte, Montagesequenzen –

und ich hatte den Eindruck, das sieht gut aus und

ist auch handwerklich toll gemacht. Aber es ist

nicht im Dienste der Figur, der Spannung und der

Erzählung. Obwohl das ein fantasievoller und gut

gemachter Schnitt ist, kann er noch immer

kontraproduktiv sein. Und dafür würde ich dann

keine Nominierung aussprechen. Leider waren

aber viele der Fernsehfilme sehr gewöhnlich, was

am Format liegt.

Warum ginge es beim Fernsehspiel nicht muti-

ger, unkonventioneller?

Das liegt glaube ich daran, daß viele der uns ein-

gereichten Fernsehfilme in einem bestimmten

Programmschema entstanden. Ein Tatort ist ein

Tatort und hat einen bestimmten Ablauf – und der

ist nun mal gleich. Das kann auch gar nicht anders

sein, weil der Zuschauer das jeden Sonntagabend

auch so will. Von diesen fest formatierten Pro-

grammplätzen gibt es aber viele. Auf einem Sen-

deplatz, einem mit viel Gefühl, wird eine be-

stimmte Filmsprache erwartet. Das können dann

wunderbare Filme sein, aber wir sollten ja, wie es

in der Anmeldung heißt, »richtungsweisende

Montageverfahren« nominieren.

Es gibt natürlich auch mutige und experimen-

tierfreudige Redaktionen, aber die Filme, die auf

diesen Sendeplätzen entstehen, werden leider oft

in der Kategorie »Kinospielfilm« eingereicht – was

ich übrigens für einen Fehler halte.

Warum halten Sie das für einen Fehler?

Weil ich glaube, daß es gute, kleine, vom Fernse-

hen koproduzierte Filme gibt, die vielleicht besse-

re Chancen in der Kategorie »Fernsehfilm« haben.

Bei den Kinofilmen ist die Konkurrenz härter. Der

Debütfilm Weitertanzen etwa lief auf den Hofer

Filmtagen und wurde bei uns als Fernsehfilm ein-

gereicht – und das hat ja dann auch zur Nominie-

rung geführt.

Hört man da heraus, daß Fernsehfilme »minder-

wertiger« sind?

In der Kategorie »Kino« werden Filme eingereicht,

die mit viel Geld, Aufwand und Zeit produziert

Chiko ist in seiner Montage-

sprache schnörkellos: keine

Blenden, keine Parallel-

montagen. »Die Schnitte

gehen im Prinzip fast immer

linear nach vorne«, erklärt

Thümler. Sein größtes

Anliegen war, daß die

Zuschauer die kriminelle

Hauptfigur (gespielt von

Denis Moschitto) genug

mögen, um 90 Minuten mit

ihm im dunklen Kinosaal zu

verbringen.

»Der Schnitt ist eigentlich unsichtbar. Die erbrachte Leistung ist sehr

schwer zu sehen. Ich merke das, wenn ich eine Montage beurteilen soll,

die ich nicht selbst geschnitten habe. Es braucht viel Zeit und Distanz

um zu erkennen, was da eigentlich gemacht wurde.« Fot

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xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:47 Uhr Seite 14

Page 15: cinearte XL 012

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werden. Dieses Jahr war zum Beispiel Der Baader-

Meinhof-Komplex nominiert. Das ist eine starke

Konkurrenz. Im Fernsehen erleben wir diesen Ein-

satz höchstens bei den sogenannten Event-Fil-

men. Das sieht man ihnen auch an. Ich schildere

nur meine Eindrücke. Aber mit einem kleineren

Budget ist es nun mal schwieriger, große Bilder

herzustellen.

Ist der Kinofilm tatsächlich die Königsdisziplin,

wie viele meinen?

Diese Einstellung soll es geben.

Kann das Kino vom Fernsehen lernen?

Wenn wir unbedingt zwischen Fernsehen und

Kino unterscheiden wollten, dann habe ich es bis-

her so empfunden, daß die Arbeit am Kinofilm

von einer größeren Genauigkeit geprägt war. Erst

recht gegenüber der Fernsehreihe oder gar -serie,

wo der Sendetermin drängt oder die Mittel ausge-

schöpft sind und das dann halt so reichen muß.

Andererseits finde ich aber gerade in dokumenta-

rischen Formaten eine andere Art, mit dem Mate-

rial umzugehen – mehr Freiheit und Frechheit. Da

entstehen spannende Dinge, die man mitnehmen

könnte für den Film. Und es ist ganz erfrischend,

mal auf Youtube zu schauen. Zwischen dem Dilet-

tantismus zeigt sich eine Art, wie man auch Filme

machen kann. Da sehe ich echte Neuerungen. Der

Actionreißer Crank 2 etwa ist wie ein Beitrag auf

Youtube gestaltet. Die Bildgestaltung ist aus dem

Reich der Film-Nerds geklaut und fürs Kino adap-

tiert. Das sieht zum Teil richtig billig aus. Ist aber

clever eingesetzt.

Sie arbeiten für Kino und Fernsehen. Wie unter-

scheidet sich da ihre Arbeit, die Erzählweisen?

Es gibt da einen Satz, den ich mag: Kinos soll auf-

regen, Fernsehen soll beruhigen. Es gibt zwar ex-

perimentelle Sendeplätze, aber die Primetime hat

nicht den Anspruch, die Zuschauer zu verstören.

Das Kino versucht eher mal, in Extreme zu gehen.

Wobei freche TV-Formate eher im Dokumentari-

schen zu finden sind als im Spielfilmbereich.

Wie beurteilt man einen »guten Schnitt«?

Oje… Wie macht man das? Man versucht, sich die

Mittel, die er einsetzt, bewußt zu machen und be-

urteilt, ob das im Sinn des Films ist. Es hilft nichts,

etwas zu machen, das toll aussieht, aber nicht zur

Geschichte paßt. Das Schlimme ist, daß man das

Wesentliche beim ersten Mal immer übersieht.

Weil ein guter Schnitt sich unsichtbar macht.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, zu be-

urteilen, was am Werk vom Editor kommt. Und

dann stellt man sich Fragen: Wie versucht er zu er-

zählen? Welche Tonart schlägt er an? Ist der

Schnitt schnell, stark an der Hauptrolle? Warum

nicht? Gibt es nur Totalen? Wo sind die Erzähl-

schwerpunkte? Die Stimmung soll vermitteln, daß

der Editor sie bewußt herangeführt hat. Wie lange

wird die Spannung aufgebaut, bis Auflösung

kommt? Wie ist die Haltung zum Material? All das

versuche ich zu beachten, wenn ich in der Jury sit-

cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler

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Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012

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ze. Aber es ist immer wahnsinnig wolkig. Letztlich

geht es darum, wie jemand Schnitt und Kamera in

den Dienst der Geschichte stellt. Ich glaube nicht,

daß ein schlechter Film gut geschnitten sein kann.

Ein Schnitt muß den Film gut machen. Und eine

guter Film sollte nicht langweilen – zumindest

nicht unabsichtlich. Wenn er langweilt, hat der

Schnitt versagt. Das ist eine klare Aufgabe.

Die Montage ist für die Qualität eines Films also

nicht unerheblich. Kann ein guter Schnitt einen

Film sogar retten?

Ja, hoffentlich. Es ist diese gewisse Magie im

Schneideraum, die man nur schwer fassen kann.

Es ist mir schon oft passiert, daß man spürt, die

Szene funktioniert nicht, weil sie nicht richtig auf

dem Punkt ist. Wenn man Glück hat – und Zeit –

schafft man es, eine Szene so umzudrehen, daß sie

plötzlich genau das ist, was der Film braucht. Das

ist ein immenser Einfluß, den man hat. Es gibt na-

türlich kein Patentrezept. Aber es ist schon er-

staunlich, wie stark sich Szenen im Film verän-

dern können. Wenn man genau hinschaut, kann

man auch spüren, welche Haltung der Schnitt in

einen Film hineinbringt. Er kann komödiantische

Elemente betonen, eine Figur ironisieren, er kann

Gewalt härter oder weniger hart wirken lassen. Es

ist eine große Kunst, die richtige Haltung zu dem

richtigen Film zu finden und den Film dadurch am

besten wirken zu lassen.

Man hat ja so viele Möglichkeiten im Material,

ein Editor hat viele Haltungen, die er gegenüber

seinem Film einnehmen kann. Wenn man aller-

dings die falsche einnimmt, wird das eben nicht

der bestmögliche Film. Wenn ich dann zum Bei-

spiel an Chiko denke, sind im Buch und dem mir

später vorliegendem Material ganz verschiedene

Interpretationen möglich. Da den richtigen Ton zu

finden ist ein Prozeß, der im Schnitt und auch

über die Zeit und in der Zusammenarbeit mit dem

Regisseur entsteht.

Auf welche Weise kann denn eine Geschichte

bestmöglich erzählt werden?

Ich bin relativ stark auf die Figur und das Schau-

spiel konzentriert. Ursprünglich habe ich ein

Praktikum bei einer Werbefirma gemacht, bevor

ich zur Ausbildung als Filmeditor gekommen bin.

Da kam es oft darauf an, Bilderwelten zu kreieren,

also Stimmungen und Images aufzubauen. Mit

solchem Material wußte ich manchmal wenig an-

zufangen, denn mir fehlte die Geschichte.

Wie ahnen Sie, welche Stimmung, Tonart Regis-

seur anschlägt?

Das ist ja unser Beruf als Editor. Wir sind ja nicht

einfach die Zuarbeiter des Regisseurs, sondern

von uns wird erwartet, das Material richtig zu

interpretieren, ihm zu helfen, seine Visionen um-

zusetzen. Und dazu brauche ich einen eigenen

Kopf. Wenn der Regisseur das besser könnte,

bräuchte man keinen Editor mehr. Mit den heu-

tigen Schneidesystemen wäre das technisch und

theoretisch ja ganz einfach selbst zu bewerkstelli-

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xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:48 Uhr Seite 16

Page 17: cinearte XL 012

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Und Regisseure lassen das zu, daß sie so ei-

genmächtig mit ihren Geschichten umgehen?

Was sollen Sie machen? Beim Fernsehen ist es üb-

lich, daß erstmal ein Rohschnitt gemacht wird. Die

Zusammenarbeit beginnt dann. Wenn ich an-

schließend mit dem Regisseur zusammensitze ist

das die spannendste Phase: Ihn zu neuen Ideen

anzustiften… sich weiter in den Dialog zu bege-

ben… was ist die Idee der Szene, wie kann das

noch besser werden?

Was ist mit der romantischen Vorstellung von

Regisseur und Editor, die sich tagelang im

Schneideraum einschließen, nicht mehr essen

und trinken und gemeinsam am Werk feilen…

Beim Fernsehen sitzt man erst mal alleine am

Film. Ich hörte, daß zum Beispiel Hansjörg Weiß-

brich und Hans-Christian Schmit die Muster ge-

meinsam ansehen; dann montiert Weißbrich allei-

ne und anschließend wird das besprochen. Dazu

braucht man aber auch die Zeit. Bei Chiko haben

wir so gearbeitet.

Wie verlief der Prozeß in diesem Fall?

»Wir sind ja nicht einfach die Zuarbeiter des Regisseurs, sondern von uns

wird erwartet, das Material richtig zu interpretieren, ihm zu helfen, seine

Visionen umzusetzen. Und dazu brauche ich einen eigenen Kopf. Wenn

der Regisseur das besser könnte, bräuchte man keinen Editor mehr. «

cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler

Es gab einen Rohschnitt ohne Özgür Yildirim, den

Regisseur. Parallel zum Dreh. Danach sind wir mit

sehr viel Zeit den kompletten Film durchgegan-

gen, haben uns die Muster gemeinsam angesehen,

jede Szene noch mal zum Teil wirklich neu ge-

schnitten. Der Film ist in seiner Sprache, was den

Schnitt angeht, ziemlich schnörkellos. Er ist nicht

verspielt – da sind keine Blenden, keine Parallel-

montagen, es wird keine Filmmusik eingesetzt.

Die Schnitte gehen im Prinzip fast immer linear

nach vorne. Es gibt auch keinen assoziativ einge-

setzten Schnitt, nichts Symbolhaftes. Es passiert,

was passiert. Klar und direkt. Das ist das, was wir

im Schnitt entwickelt haben. Diese Haltung war

recht schnell klar, als wir zusammengesessen ha-

ben. Dann haben wir überlegt, wie wir diese Ag-

gression, diese Härte dimensionieren. Ich hatte

zum Beispiel starke Bedenken, daß man diese

Hauptfigur nicht besonders mag: den Chiko. Und

so haben wir uns im Schnitt sehr intensiv damit

beschäftigt, wie bereit man ist, mit dieser Figur 90

Minuten des Films durchzugehen. Eigentlich war

Es ist schon erstaunlich, wie stark sich Szenen verändern können. Der Schnitt kann komödiantische Elemente betonen, er kann

Gewalt härter oder weniger hart wirken lassen, und eine Figur völlig neu erfinden, erklärt Thümler. »Es ist eine große Kunst, die

richtige Haltung zu finden und den Film dadurch am besten wirken zu lassen.«

xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:48 Uhr Seite 17

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Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012

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es mein Hauptanliegen – vom Anfang bis Ende.

Wir erleben den Film aus einer Perspektive, und

das macht ihn ja so außergewöhnlich, die uns ei-

gentlich fremd ist. Es ist ein Milieu, das man nor-

malerweise nicht kennt.

Hatten Sie mal Ärger mit dem Kameramann? Es

soll ja Bildgestalter geben, die die Schnittmeis-

ter als ihre natürlichen Feinde betrachten.

Es ist schon komisch, wie wenige Kameraleute

man im Schneideraum trifft, wo wir doch von de-

ren Bildern leben. Und schade, daß so ein relativ

geringer Austausch stattfindet, denn es ist interes-

sant, welch anderen Blick sie haben. Der Kamera-

mann beklagt, daß diese eine tolle Kranfahrt nicht

drin ist – dem Editor geht es darum, nicht einzelne

Momente leuchten zu lassen.

Sind Sie selbst am Set?

Bei jedem Film einmal, um Hallo zu sagen, aber

auf keinen Fall öfter. Ich merke, daß ich danach

den Film anders sehe. Ich habe die Stimmung mit-

genommen, das gesamte Umfeld und stehe nicht

mehr neutral dem Material gegenüber. Das ist ein

unangenehmes Gefühl. Der erste Eindruck, den

ein Muster hinterläßt, ist nämlich der wichtigste

Moment, eines der wertvollsten Dinge. Er wird

verfälscht, wenn man bei der Aufnahme dabei ist.

Das ist nicht gut für meine Arbeit, auch wenn es

schön ist, wenn man mit Team-Kollegen am Set

zusammentrifft.

Macht es einen Unterschied, auf welcher tech-

nischen Grundlage Sie den Film schneiden?

Mitunter prallen da sehr unterschiedliche Positio-

nen aufeinander, ich denke da nur an den Glau-

benskrieg, ob man auf Film schneidet oder auf ei-

nem digitalen Schnittsystem. Heute ist das

Geschichte, weil praktisch keine Filme mehr am

Steenbeck, also am Filmschneidetisch, montiert

werden. Aktuell stellt sich die Frage, ob die Arbeit

an unterschiedlichen digitalen Schnittsplätzen

also Avid, Final Cut, Premiere... unterschiedliche

Filme hervorbringen.

Im Prinzip geht es ja darum, ob es mit unter-

schiedlichem Werkzeug auch unterschiedliche Fil-

me werden. Und ich persönlich glaube daran, daß

mit unterschiedlichem Werkzeug auch unter-

schiedliche Filme entstehen. Wenn ich auf einem

Avid schneide, bekomme ich einen anderen Film

als am Filmschneidetisch. Das liegt an dem ande-

ren Zugriff auf das Material. Bestimmte Werkzeuge

bringen auch bestimmte Ideen hervor, denn

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»Eine gute Leistung zu bringen, ist das eine. Das andere ist, an die Jobs

zu kommen. Das geht über Kontakte. Die Filmhochschule ist ein sinn-

voller Ort, die zu knüpfen.«

>> Zur Person. Sebastian Thümler hatte während eines Schülerpraktikums zum ersten Mal die Finger am

Schneidetisch. 1986 war das im Schneideraum der Cinecentrum. Seitdem hat er sämtliche Arten, die be-

wegten Bilder zu einer Geschichte zu montieren, ausprobiert und nach einer Cutterassistenz bei VCC in

Hamburg die Cutterausbildung beim NDR durchlaufen. Seit 2002 unterrichtet er selbst – zuerst am Auf-

baustudiengang Film der Universität Hamburg (heute Teil der Media School) und dann an der Filmaka-

demie Baden-Württemberg in Ludwigsburg.

Als freier Editor betreute er Serien und Fernsehspiele für verschiedene Sender. Der Kinospielfilm Ganz

nah bei dir (Regie: Almut Getto), den Thümler montiert hatte, erhielt im Januar den Publikumspreis auf

dem Max-Ophüls-Festival ins Saarbrücken. Beim »Deutschen Kamerapreis«, der auch Kategorien für den

Schnitt hat, saß der Editor zweimal in der Auswahl-Jury, in diesem Jahr erhielt er selbst die offiziell höch-

ste Auszeichnung des Landes für sein Filmgewerk: Für das Gangsterdrama Chiko gab es den »Deutschen

Filmpreis«.

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Page 19: cinearte XL 012

19

cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler

Dank für gelungene Mühen: Die Arbeit an Chiko brachte

Thümler in diesem Jahr den »Deutschen Filmpreis« ein

– und den Applaus der Schauspielerin Anna Loos im

Hintergrund.

durch die Zugänglichkeit des Materials gestaltet

sich der kreative Prozeß anders. Zum Beispiel

habe ich die Möglichkeit, beliebig viele Tonspuren

während des Schnitts zur Verfügung zu haben. Am

Schneidetisch gab es nur zwei Tonspuren. Es er-

gibt sich eine viel komplexere Komposition zwi-

schen Ton und Bild. Früher mußten alle Zwischen-

schritte, die mehr Töne beinhalteten, abgemischt

werden, jede Veränderung mußte im Tonstudio

stattfinden. Das ist die alte Schule am Filmschnei-

detisch – obwohl man auch hier vieles machen

konnte. Man hat immer lange und gründlich über-

legt, was man eigentlich will und sich dann ent-

schieden. Der Schnitt, der findet hier ja noch phy-

sikalisch statt, im digitalen System ist er virtuell.

Da wird nichts verändert. Insofern kannst Du ei-

nen Schnitt im selben Take zweihundert Mal ma-

chen – immer, immer, immer wieder verändern,

verändern, verändern. Im Film konntest du das

letztlich nicht ernsthaft wollen.

Und obwohl sich der Schnitt an digitalen

Schnittplätzen ähnelt gibt es doch Unterschiede

in der Software-Ergonomie, man denke nur an die

unterschiedlichen Möglichkeiten bei Avid und Fi-

nal Cut, Material in der Timeline zu bewegen. Ob

der Unterschied gerade im Spielfilmbereich am

Ende sehr groß sein wird weiß ich nicht. Aber ich

frage mich, ob diesen Unterschieden bei der Neu-

anschaffung eines Schnittsystems, zum Beispiel in

Sendeanstalten, genug Rechnung getragen wird.

Sie haben am Rechner mit Avid gearbeitet, an

der Videobandmaschine und am klassischen

Filmschneidetisch. Was bevorzugen Sie?

Den Avid, auf jeden Fall. Das ist ein hervorragen-

des Instrument, das man uns für unsere Arbeit an

die Hand gegeben hat.

Sie haben in der Praxis gelernt, jetzt lehren Sie

an Filmhochschulen in Hamburg und Ludwigs-

burg. Was ist der Unterschied?

Zu meiner Zeit gab es Filmmontage ja noch nicht

in Ludwigsburg und Köln. Ich halte das für inter-

essante Studiengänge. Vom eigentlich kreativen

Vorgang habe ich im Aufbaustudium in Hamburg

gelernt, wo ich viele Studentenfilme geschnitten

habe. Ich habe in meiner Ausbildung viel über die

technischen Hintergründe bis zum Kopierwerk

gelernt. An den Filmschulen wird das Kreative

xl012_A1_Int_Thümler 17.06.2009 21:48 Uhr Seite 19

Page 20: cinearte XL 012

Interview | Sebastian Thümler cınearte XL 012

20

stärker betont. Wenn ich heute noch mal die Wahl

hätte, würde ich sehr intensiv darüber nachden-

ken, an eine Filmhochschule zu gehen. Schon

wegen des kreativen Austauschs mit anderen Stu-

denten. Das war uns nicht möglich. Zudem ent-

steht da ein Netzwerk, das extrem wertvoll ist, ge-

rade als Freiberufler. Denn eine gute Leistung zu

bringen, ist das eine. Das andere ist, an die Jobs zu

kommen. Das geht über Kontakte. Die Filmhoch-

schule ist ein sinnvoller Ort, die zu knüpfen.

Das dürfte ja jetzt kein Thema mehr sein. An-

fang des Jahres hat Almut Gettos Spielfilm

Ganz nah bei dir, den Sie montiert haben, den

Publikumspreis auf dem Max-Ophüls-Festival

gewonnen. Ende April haben Sie selbst für Chi-

ko den »Deutschen Filmpreis« erhalten. Seit-

dem klingelt das Telefon wohl ohne Pause.

Tatsächlich kam vorige Woche ein Angebot, um-

sonst einen Kurzfilm zu schneiden. Das fand ich

sehr schön, und vermutlich kam das durch die

»Lola«. Man stellt es sich vielleicht so vor, daß

dann wildfremde Leute anfragen, weil man gerade

den bedeutendsten Filmpreis der Republik ge-

wonnen hat. Aber so ist es nicht.

Die Außenwirkung ist allerdings enorm – stän-

dig werde ich von Freunden und Kollegen auf die-

sen Preis angesprochen. Und ich glaube, für viele

der Leute, die ich eh schon kenne, ist es jetzt leich-

ter mich gegenüber Sendern oder Produzenten als

Editor für ihren Film durch zu setzen.

Die technischen Formate ändern sich, doch ei-

nes bleibt unverändert – jeder Filmeditor

braucht Erzählkompetenz. Sie selbst haben

eine Weiterbildung an einer Drehbuchschule

absolviert… Wie hat ihnen das in ihrer Arbeit

genützt?

Es ist schwer zu lernen, wie man einen guten Film

schneidet. Dramaturgie im Spielfilm ist aber eine

»Wenn ich auf einem ›Avid‹ schneide, bekomme ich einen anderen Film

als am Filmschneidetisch. Das liegt an dem anderen Zugriff auf das

Material. Bestimmte Werkzeuge bringen auch bestimmte Ideen hervor.« Fot

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Film

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Page 21: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Interview | Sebastian Thümler

21

Sache, die man lernen kann und lernen sollte –

warum etwas im Film nicht funktioniert, und wie

es funktionieren könnte. Die Kenntnis der Film-

sprache kann da nur hilfreich sein. Mir hat Hark

Bohm als Leiter des Filmstudiums in Hamburg da

viel nahegebracht. Er ist jemand, der sich mit der

Filmsprache auseinandersetzt, stark rationalisiert

und auf die Gesetze verweist. Eigenartigerweise

gibt es selbst nach mehr als hundert Jahren Film-

geschichte kein allgemeinverbindliches Curricu-

lum, nach dem Schnitt unterrichtet wird.

Wie sollte das aussehen?

Wenn es um Dramaturgie geht, gibt es viele Bü-

cher, Lehrsätze und Gesetzmäßigkeiten. Kamera-

leute lernen in ihrer Ausbildung Bildaufbau und

wie Bilder wahrgenommen werden. Bei der Musik

ist es ähnlich. Nur beim Schnitt heißt es meistens:

Das machen wir aus dem Bauch heraus! Ein sol-

ches Lehrbuch sollte also ein Querschnitt aus den

erwähnten Punkten sein – wie wird welche Wir-

kung erzielt? Ich kenne keines, das diesen An-

spruch erfüllt. Und kommt mir jetzt nicht mit Ei-

senstein! Die Gesetzmäßigkeiten, die er schon in

den 1920er Jahren beschrieben hat, gelten unbe-

stritten immer noch. Aber er ist halt schwere Kost

für Editoren. Doch ich war auch nicht an der

Hochschule. Ich nehme an, daß man sich dort

mehr mit diesen Fragen auseinandersetzt. Aber da

diese Studiengänge noch neu sind, hängt man

hinterher.

Und vielleicht ist das auch erst heute möglich,

weil solch ein Werk wohl gar nicht als Buch funk-

tionieren kann, sondern nur als DVD. Montage be-

steht aus Zeit und Bewegung. In dem Standard-

werk Geschichte und Technik der Filmmontage

etwa sind die Sequenzen in unzählige kleine

Standfotos zerlegt – das reicht auch nicht. Man

braucht bewegte Bilder, um es richtig darzustel-

len. Das ist jetzt erst möglich geworden.

Wer sind Ihre Vorbilder?

Vorbilder… Es gibt sicherlich Kollegen, die ich

sehr schätze, Filme, die ich sehr bewundere. Auf

jeden Fall Patricia Rommel, die ebenfalls für die

»Lola« nominiert war: Im Winter ein Jahr ist gran-

dios. Sie hat einen Umgang mit Raum und Zeit,

der immer wieder gelingt: Sie versteht es, Emotio-

nen zu montieren, und nicht nur auf die Bewe-

gungsanschlüsse zu gucken. Ihr Schnitt hat eine

besondere Leichtigkeit, das fällt mir an allen ihren

Filmen auf. Ich wünsche mir, das auch mal so hin-

zubekommen. Aber so weit bin ich leider noch

nicht.

Der Editor spricht

gerne von der

»Magie im Schneide-

raum«, obwohl er die

Arbeit am Set nicht

minder spannend

findet, nur halt

weniger magisch.

Im Januar gab es

den ersten Ruhm,

als Almut Gettos

Spielfilm Ganz nah

bei dir auf dem

Max-Ophüls-Festival

den Publikumspreis

erhielt. Montage:

Sebastian Thümler.

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Page 22: cinearte XL 012

Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012

22

Was Helfer in Krisengebieten erleben.

ist mehr als einen Film wert. Nicht

weniger aufreibend ist die Geschichte,

die sich dann ergibt. Einblicke in eine

Produktion, die in die Wüste ging.

Fotos: Drife Productions

In der

xl012_A2_Waffenstillstand 17.06.2009 16:17 Uhr Seite 22

Page 23: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Produktion | Waffenstillstand

23

Mit allem hatte man gerechnet, nur

nicht mit dem Wetter in Marokko. Der

Innenhof in Erfoud war aufwendig für

den Nachtdreh vorbereitet, der Boden

mit Heizlüftern getrocknet, das Licht

gesetzt, die Schauspielproben beendet.

Dann kam der nächste Regenguß.

Heute hat Produzent Florian Deyle

wieder Sinn für Ironie und faßt die Zeit

als »Trauma von Erfoud« zusammen.

Krisenzone

xl012_A2_Waffenstillstand 17.06.2009 16:18 Uhr Seite 23

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Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012

24

Letzter Drehtag: In Berlin wurde das ehemalige

Airport-Hotel am Flughafen Tempelhof für einen

Tag zum Korrespondentenquartier in Bagdad.

Hannes Jaenicke (Mitte) spielt einen Nachrichten-

kameramann im Krisengebiet. Hinter ihm gibt

Regisseur Lancelot von Naso die letzten

Anweisungen.

Fotos: Drife Productions

xl012_A2_Waffenstillstand 17.06.2009 16:18 Uhr Seite 24

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cınearte XL 012 Produktion | Waffenstillstand

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cınearte XL 012 Produktion | Waffenstillstand

27

Zum Glück war nicht jeder Höllenkreis, den das Team

durchschreiten mußte, echt: Max von Pufendorf wird in

der Maske für seinen Auftritt vorbereitet (oben links).

Als idealistischer Journalist begleitet er einen Hilfs-

transport – und gerät mitten in die Realität des Krieges.

In Casablanca wurden die aufwendigsten Action-Sequenzen

gedreht. Was natürlich Schaulustige anlockte. Die Polizei

wollte nicht an jedem Drehort für die Sicherheit garantieren.

Doch die marokkanische Serviceproduktion fand immer eine

Lösung (oben rechts).

Beim Dreh in der Nacht liegen die Nerven blank (unten

links) – zuviel hat das Team schon durchgemacht, selbst

die Ausweichpläne werden immer wieder durch neues

Unvorhergehenes durchkreuzt.

xl012_A2_Waffenstillstand 17.06.2009 16:18 Uhr Seite 27

Page 28: cinearte XL 012

Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012

28

Text Christoph Gröner

Wenn Lancelot von Naso das Drehkommando

»Action!« ausspricht, dann hört es sich nicht Eng-

lisch an. Er spricht es Französisch aus, betont auf

der zweiten Silbe. Müde hört sich das an und an-

gespannt zugleich – so, als ob er alle Kräfte mobi-

lisiert und mit dem Kopf durch die Wand geht. Es

ist der letzte Drehtag von Waffenstillstand, gefilmt

wird am Flughafen Tempelhof in Berlin, und Lan-

celot von Naso ruft immer wieder »Actión!«. Da-

nach sagt er »Das fand ich super!« und »Gleich

nochmal!« Wieder und wieder: Der Regisseur geht

auf Nummer sicher, will jede Perspektive für den

Schnitt. Denn er hat mit seinem Debüt schon vie-

le Drehtage erlebt, die in den Wüstensand gesetzt

wurden. Hier läßt er nichts anbrennen: Augen auf

den Videoschirm und durch.

Die Hallen des geschlossenen Berliner Flugha-

fens Tempelhof werden an diesem Tag zu Bagdad:

Gedreht wird ein Briefing, wie es typisch war für

die Zeit nach dem Einmarsch der US-Truppen im

Irak, nach dem offiziellen Ende des Krieges. Ein

US-Militärpressesprecher beharrt darauf, daß es

sich bei einer Operation in Falludscha, 50 Kilome-

ter westlich von Bagdad, um eine »Limited Police

Action« handelt. Dabei sind schon 5.000 Soldaten

in der Stadt, kontert ein Journalist. Kein Kommen-

tar, heißt die trockene Antwort. »Gleich nochmal«,

sagt Naso. Der Pressesprecher seufzt.

Es ist der 22. März 2009 – fast genau fünf Jahre

nach dem ersten Versuch der US-Armee, die Stadt

Falludscha zurückzuerobern. Waffenstillstand ist

eine Geschichte über Helfer, die in dieser Zeit im

Krisengebiet sind, über Westler, die sich wegen des

Kicks, wegen Geld, oder einem ausgeprägten Al-

truismus selbst in Gefahr bringen – ob als Ärzte,

Journalisten oder Glücksritter. Waffenstillstand

handelt auch von der medialen Wahrnehmung

des Krieges, wie Nachrichtenbilder entstehen und

was von ihnen übrigbleibt. Naso dreht den ersten

deutschen Irak-Film.

Drinnen gibt es wieder eine Aufnahme, vor der

Tür steht Hannes Jaennicke, der seinen Drehtag

schon hinter sich hat. Er spielt den Kameramann

Ralf, der mit dem jungen deutschen Journalisten

Oliver unterwegs ist, den Max von Pufendorf jung Fot

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cınearte XL 012 Produktion | Waffenstillstand

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Entspannung beim Nachsitzen: Bei der Rückkehr

nach Marokko blieb Matthias Habich trocken.

Zu den ursprünglich kalkulierten dreißig Drehtagen

kamen sieben weitere hinzu – Nachdrehs in

Marokko und Berlin, Resultat einer Serie von

unvorhersehbaren Kleinkatastrofen. In Berlin

inszenierte Lancelot von Naso (Foto links, mit

David Michael Williamson) die Pressekonferenz

der US-Armee.

xl012_A2_Waffenstillstand 17.06.2009 16:19 Uhr Seite 29

Page 30: cinearte XL 012

Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012

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und idealistisch spielt. Beide treffen auf Kim

(Thekla Reuten), die holländische Mitarbeiterin

einer NGO, einer jener »Nichtregierungsorganisa-

tionen«, die zusammen mit dem französischen

Arzt Alain (Matthias Habich) einen Hilfstransport

in ein Krankenhaus in der Kampfzone plant. Es

herrscht für wenige Stunden Waffenruhe. Gerade

Ralf hält nichts von dem Plan, ein notorischer Pes-

simist.

Schön, daß Jaennicke hier nicht als Haudrauf

besetzt ist, obwohl er sportlich wirkt. In der Rolle,

mit der Kamera stets auf der Schulter, hat ihm das

geholfen. Die Freundschaft zu echten Kriegsrepor-

tern, deren Gemeinschaft er den den »Bangbang-

Club« nennt, hat ihm geholfen. »Es gibt da völlig

unterschiedliche Typen: Die Vollalkoholiker, die

Cowboys, die Engagierten und die bitteren Zyni-

ker«, sagt er über die Reporter.

Und welchen Typ spielt er in dieser Rolle? »Mei-

ne Figur ist zynisch, weiß aber genau, wie weit sie

gehen kann. Und dann läßt sich mein Charakter

von Oliver einen Schritt zu weit treiben. Ein

Schicksalsschritt.« Zwischen 30-Sekunden-Auf-

nahme und Hotel liegt für die Journalisten die

dauernde Gefahr.

Und ein bißchen war das auch so mit den Dreh-

arbeiten zum Film: Bis der Tag nicht vorüber war,

konnte keiner sagen, was passiert. »Manchmal hat

man das Glück der Tüchtigen. Bei uns war das

nicht so«, lacht Jaennicke. »Es hat durchgeregnet –

in der Wüste! Das hat den ganzen Dreh sehr

schwer gemacht. Aber ich denke, es hat sich ge-

lohnt.«

Naso und seine Produzenten Martin Richter

und Florian Deyle von Drife haben intensiv für

den Stoff recherchiert. Das Drehbuch schrieben

der Regisseur, Kai Uwe Hasenheit und Collin

McMahon, der Erfahrung als Kriegsreporter auf

dem Balkan hat. Um die Situation in Falludscha

realistisch einzufangen, wurde auch der Tscheche

Thomas Etzler eingehend interviewt, der als »Em-

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Am Motiv in Salé war genaue Kadrage gefordert: In der Nähe standen die Laster einer US-Großproduktion.

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cınearte XL 012 Produktion | Waffenstillstand

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bedded Journalist« für CNN den Einmarsch der

US-Truppen im Irak erlebt hatte.

Im Flughafengebäude dreht Naso weiter, man

weiß nicht, ob ihm da noch einmal Gedanken an

die letzten fünf Jahre durch den Kopf schießen.

Dieser Drehtag – er wird noch bis Mitternacht ge-

hen – ist nichts gegen viele Tage in Marokko, wo

die Sets für das ausgebombte Falludscha gefunden

wurden. Der schlimmste Moment läßt sich im

Nachhinein kaum noch ausmachen, alle Beteilig-

ten haben viel zu viele Anekdoten zu erzählen, die

sich wild anhören, nach einer Filmproduktion in

der emotionalen Krisenzone.

Begonnen haben die Probleme schon 2004. Von

Naso hatte mit seinen Kurzfilmen wie Fenstersturz

oder The Tourist auf sich aufmerksam gemacht,

mit Sinn für Timing und Alltagswahnsinn. Er woll-

te ein psychologisches Kammerspiel in einem Bus

drehen, einen »modernen Postkutschenfilm«. His-

torische Beispiel wie John Fords Ringo (Stageco-

ach) von 1939 zeigten ja, daß es geht. »Für mich

war es von Anfang an weniger ein Film über den

Irakkrieg. Es geht um Mitteleuropäer in Krisenge-

bieten.« Meist hört man nur von solchen Men-

schen, wenn sie entführt werden, wenn sie um-

kommen. Aber von Naso, der vor der Filmschule

Politik studiert hat, geht es um das Engagement.

»Das ist ein Lebensweg, der mich persönlich inter-

essiert.« Wieviel bleibt vom Idealismus, wenn er

auf engstem Raum, in einem Bus zusammenge-

pfercht wird?

Die Förderer teilten Nasos Enthusiasmus nicht.

An der Kinokasse floppten zu der Zeit wieder

deutsche Kinofilme mit Kriegsthematik, die Dreh-

buchförderung blieb deshalb aus. Das Team

schrieb es auf eigene Faust, aber auch für die Pro-

duktion ließen sich die Finanzierungslücken nicht

schließen: Der Film stand vor seinem Drehbeginn

schon vor dem Scheitern. Aber es ist auch typisch

für Waffenstillstand, daß es immer wieder weiter

ging, daß ein Zufall die Lösung brachte. So saß

Schönes Bild, leider anders geplant: Die Wüstentankstelle lag im Matsch. An den Dreh am Schlüsselmotiv war nicht zu denken.

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Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012

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Naso im Herbst 2007 im Flieger nach Zürich und

lernte Dario Suter kennen. Der hatte die Online-

Community »StudiVZ« mit aufgebaut, Geld zur

Verfügung und Lust auf Neues: So gründete Suter

mit seinen Freunden Christoph Daniel und Marc

Schmidheiny kurzerhand die DCM Mitte Produc-

tions, und sie wurden Koproduzenten. Sie sagen,

sie wollten einen »Crashkurs im Filmemachen«:

Mit Waffenstillstand haben sie ihn dann auch be-

kommen – in der Wüste Marokkos. »Man geht

nicht zu weit, wenn man sagt: Ohne DCM würde

es diesen Film nicht geben«, gesteht Richter.

Wieso haben die Produzenten eigentlich nicht

aufgegeben? »Wir haben an den Stoff geglaubt, Ei-

genkapital vorgeschossen. Natürlich stellt man

sich die Frage. Verrennt man sich oder nicht? Ein

bis zwei Jahre schneller wären schön gewesen«,

sagen die Drife-Produzenten Deyle und Richter.

Sie haben das Projekt schließlich auf die Beine ge-

stellt.

Als dritter Koproduzent stieg die Erfftal-Produk-

tion ein, das Projekt fand das Vertrauen des Re-

dakteurs Lucas Schmidt vom Kleinen Fernsehspiel

beim ZDF. Vom FFF Bayern kamen 300.000 Euro,

vom Deutschen Filmförderfonds noch einmal

100.000 und Referenzmittel aus Kurzfilmproduk-

tionen – insgesamt knapp 1,7 Millionen Euro. »Wir

haben mehr privates Geld drin als Fördergeld. Das

Gesamtbudget inklusive unserere Gagen, Team-

Als »modernen Postkutschenfilm« hatte sich von Naso sein Langfilmdebüt gedacht. Hauptdarsteller sind deshalb auch drei weiße

Kleinbusse. Die hatte man für Innen- und Außendreh aus Deutschland mitgebracht und entsprechend vorbereitet: Einer wurde mit

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cınearte XL 012 Produktion | Waffenstillstand

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und Schauspielerrückstellungen beläuft sich um

die zwei Millionen Euro«, erläutert Richter.

Vor dem Dreh gab es weitere Herausforderun-

gen: Wie bekommt man ein Team von gut beschäf-

tigten Schauspielern einen Monat nach Afrika?

»Sie für das fertige Buch zu begeistern, war kein

Problem«, berichtet Florian Deyle. Zeit zu finden

dafür um so schwieriger. Zwischenzeitlich war

Heino Ferch für die Rolle des Kameramanns im

Gespräch, am Ende wurde es Hannes Jaennicke,

der sich auch nicht vom Reisestreß und seinen ei-

genen Dokumentarfilm-Projektenabhalten abhal-

ten ließ. Für die Rolle flog er von Winnipeg nach

Casablanca, dann direkt für einen weiteren Dreh

nach Costa Rica. »Es war ein Abenteuer«, sagt er.

Aber er war dabei, bei der Fahrgemeinschaft von

Bagdad nach Falludscha, in der die Realität des

Krieges immer wieder in pointierten, bitteren Dia-

logen verhandelt wird.

»Wir hatten ein großartiges und leidenschaftli-

ches Team und wunderbare Schauspieler, die trotz

der sehr harten Drehbedingungen sehr authen-

tisch spielen«, sagt Deyle über das Schauspiel-

team, daß ab Anfang Oktober an Drehorten in Er-

foud an den südlichen Ausläufern des

Atlasgebirges sowie in Casablanca und dem nahe-

liegende Salé vor der Kamera stand. Das Team

nahm einiges Equpiment mit aus Deutschland

und drei weiße Kleinbusse, die für Innen- und

der Bohrmaschine mit Einschußlöchern versehen, ein anderer komplett mit einem Rig umbaut, um Licht und Kamera flexibel

montieren zu können.

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Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012

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Außendrehs vorbereitet wurden. Noch in

Deutschland bekam einer der Wagen Einschußlö-

cher mit der Bohrmaschine verpaßt. Ein anderer

wurde komplett mit einem Rig umbaut, um Licht

und Kamera flexibel zu montieren.

Gedreht wurde auf Super 16, dem »idealen For-

mat«, wie Kameramann Felix Cramer sagt. Digita-

le Lösungen hätten die starken Erschütterungen,

Wärme, Staub, und die ständige bewegten Auf-

nahmen wohl kaum ausgehalten. Im Auto war es

immer wieder so voll, als ob es um einen skurrilen

Rekord ginge – Regisseur, Kameraabteilung, Ton

quetschten sich hinein. Und Felix Cramer

schwang sich vorne auf die Motorhaube, um Auf-

nahmen zu machen.

Das Team hatte mit allen Drehsituationen ge-

rechnet, aber nicht mit einem ein Marokko, in

dem es gegen alle Wahrscheinlichkeit immer wie-

der wie aus Kübeln goß. Vier Wochen lang kämpf-

te das Team mit dem Wetter. »Nach drei Tagen hieß

es, 1965 habe es einmal so ein verregnetes Jahr ge-

geben«, erinnert sich Lancelot von Naso. Tage spä-

ter gab es keinen Vergleichsmaßstab mehr. »Die

Zeitungen in Europa schrieben schon von einer

Wetterkatastrofe.«

Und das Team plante Drehtag um Drehtag um.

Die Crew wollte an einer Wüstenstraße drehen –

sie war voller Pfützen. Eine Brücke war als Motiv

ausgesucht – und brach unterspült ein. Ein ent-

scheidender Drehort war eine Tankstelle in der

Wüste – wenn man das Areal betrat, steckte man

knietief im Schlamm. Plan A und Plan B, so Naso,

funktionierten manchmal einfach nicht. »Bei ei-

nem C-Plan ist uns dann die Aufhängung für die

Kamera am Auto weggebrochen. Also hatten wir

Zeit zur neuen Motivsuche – Plan D.« Man fuhr

hinter ein kleines Dorf zu einem möglichen Dre-

hort und blieb mit dem Auto buchstäblich in der

Scheiße stecken: Das Grundwasser war gestiegen

und hatte die Kloake an die Oberfläche gespült.

Am frühen Nachmittag wurde an diesem Tag

doch noch gedreht, viel weniger als geplant. Pro-

duzent Florian Deyle faßt die Zeit ein wenig iro-

Etwas ratlos stehen Matthias Habich und Thekla Reuten unterm Schirm in Erfoud. Wochenlang kämpfte die Produktion mit dem

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cınearte XL 012 Produktion | Waffenstillstand

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nisch als »Trauma von Erfoud« zusammen. Als in

der Nacht in den Souks der Stadt aufwendig ein

Innenhof vorbereitet wurde, die Drehorte abge-

sperrt waren, der Boden mal wieder mit Heizlüf-

tern abgetrocknet, das Licht gesetzt und die

Schauspielproben beendet, kam genau zu Dreh-

beginn der Regenguß. Matthias Habich und The-

kla Reuten standen ratlos unter einem Schirm.

Daß an diesem Set einer der Beleuchter einen Un-

fall hatte, ist bezeichnend: Das Pech ließ die Fil-

memacher in dieser Zeit nicht los.

Salé war später ein anderes Beispiel. Die Stadt

hätte eine tolle Vorortszenerie für Falludscha sein

sollen. Nur stand am Drehtag das Motiv plötzlich

voll mit Lastern. Die US-Produktion Green Zone

hatte sich eingemietet. Das deutsche Nachwuchs-

projekt hatte keine Chance, gegen die Geldmacht

anzukommen. Die Bilder mußten anders kadriert

werden. Und Naso soll ziemlich geflucht haben.

Ständige Improvisationen gehörten zu dem

Dreh, und Menschaufläufe genauso. »Man kann

so eine Produktion nicht klein halten«, erzählt Flo-

rian Deyle. Mit den Einheimischen, die Schaulus-

tige abhielten, wuchs das Team schon mal auf 70

bis 140 Leute an. Die Produzenten gaben gelbe

Klebestreifen aus, um die Mitarbeiter zu erken-

nen: »Die Aufkleber haben sich exponentiell ver-

mehrt. Und die Klebstreifen wurden immer dün-

ner«, lacht Koproduzent Christoph Daniel. »Es

waren schon extreme Bedingungen, aber immer

noch kontrolliert«, ergänzt Florian Deyle. Richtig

gefährlich wurde es selten, auch wenn bei man-

chem Dreh in einem Armenviertel die Polizei nicht

mehr für die Sicherheit garantieren wollte. Als ein-

mal eine Kinderschar nicht für den Film, sondern

am Set Steine auf das Auto warf, wurde der Dreh

unterbrochen. »Auch nach 28 Drehtagen mit viel

Auflauf bekommt man es da noch mit der Angst zu

tun«, sagt Deyle.

Das Team, die Schauspieler hielten durch. Ein-

mal allerdings erwischte Matthias Habich das Fie-

ber, ein anderes Mal wurde Lancelot von Naso

krank. »Ich habe noch von der Liege aus versucht,

Wetter. Erst erinnerte man sich eine andere Regenzeit vor über 40 Jahren. Doch bald fehlte jeder Vergleich für die Klimakatastrofe.

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Produktion | Waffenstillstand cınearte XL 012

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Regie zu führen. Aber ich bin in die Knie gegan-

gen. Da wird der Traum vom ersten Film zum Alp-

traum. Es gab schon viele Momente, in denen wir

uns fragten, ob je ein Film daraus wird.«

Einen davon gab es im November 2008, als klar

wurde, daß das Engagement und die Fähigkeit zur

Improvisation nicht reichen würden: Es kamen in

den Drehwochen auch vier Negativschäden zu-

sammen. Waffenstillstand konnte nicht abgedreht

werden. Zum Glück aber war die Produktion versi-

chert: das Team kehrte im Januar, kaum zwei Mo-

nate später, noch einmal zurück. Diesmal war es

endlich trocken: Matthias Habich saß als französi-

scher Arzt endlich an einer Wüsten-Tankstelle, die

nach Wüste aussah – die letzten Außenmotive wa-

ren nach dreißig geplanten und sieben ergänzen-

den Drehtagen im Kasten.

Es fehlte nur noch der 22. März in Berlin. An die-

sem Tag liegt der Maghreb schon ganz weit ent-

fernt. Rückblickend wird der Horror zum »tollen

Erlebnis«. Martin Richter lobt die Serviceproduk-

tion Kasbah Films, die unter schwierigsten Bedin-

gungen immer wieder Lösungen fand, Christoph

Daniel erinnert sich daran, wie herzlich die Men-

schen waren: »Die Leute haben uns beim Nach-

dreh wiedererkannt«. Der letzte Drehtag ist logis-

tisch kein Problem mehr. Hannes Jaennicke freut

sich auf das Resultat. »Es gibt in Deutschland ent-

weder ›Berliner Schule‹ oder Schenkelklopfer. Wir

brauchen auch ein Kino, daß intelligent unter-

hält.«

Der Film befindet sich seitdem im Schnitt und

der Postproduktion. Im Mai gab es einen ersten

Rohschnitt vor kleinem Publikum in München. Es

sei schon erstaunlich, wie nahe man doch noch

am Drehbuch geblieben sei, sagt Naso. Hotel Ru-

anda und Im Namen des Vaters nennt der Regis-

seur als Orientierungspunkte: »Ich will intelligen-

tes politisches Kino machen, ohne das Publikum

zu verlieren.« Sein Film ist dramatisch, aber man

sieht ihm sein inneres Drama, die ausgestandenen

Kämpfe, kaum an. Statt dessen spürt man da eine

Kraft in den Dialogen und »Chemie« zwischen den

Schauspielern. Waffenstillstand verweigert sich

einfachen dramaturgischen Kniffen; will tatsäch-

lich intelligent unterhalten. Der fünfjährige Weg

des Films könnte noch zum Happy End führen.

Der letzte Drehtag zeigt noch einmal, wieviel

alle Filmemacher gegeben haben. Naso sagt spä-

ter, er sei total übernächtigt gewesen. Er hat zwei

Tage zuvor eine Tochter bekommen. Florian Dey-

le ist die ganze Zeit am Telefon: Die Kinder, die

kurz vor Drehbeginn im Sommer 2008 zur Welt ka-

men, haben Ohrenschmerzen. Und Martin Rich-

ter ist auch Vater geworden in dieser Zeit. Alle

knappsen sich Zeit von der Familie ab. Und Max

von Pufendorf, der geduldig am Set steht, sagt:

»Später kommen noch meine Eltern. Vielleicht.«

Nicht, um ihm zum fertigen Dreh zu gratulieren:

An der Catering-Station steht ein angeschnittener

Kuchen. Das »Happy Birthday« ist kaum noch zu

erkennen. Max von Pufendorf ist an diesem Tag 33

geworden.

Waffenstillstand Deutschland, Schweiz 2009

Regie Lancelot von Naso Drehbuch Lancelot von

Naso, Kai-Uwe Hasenheit, Collin McMahon

Kamera Felix Cramer Szenenbild Annette Lofy,

Oliver Hoese Kostüm Tina Sorge Maske Kerstin

Gaecklein, Heiko Schmidt Montage Vincent

Assmann SFX Supervisor Claudius Rauch Musik

Jonas Bühler Ton Immo Trümpelmann, Martin

Frühmorgen, Bastian Huber Sounddesign Immo

Trümpelmann, Martin Frühmorgen Redaktion

Lucas Schmidt, Barbara Häbe Setaufnahme-

leitung Tilman Kolb Herstellungsleitung Martin

Richter Produktionsleitung Rainer Jeskulke,

Oliver Ratzer Produzenten Florian Deyle, Martin

Richter, Philip Schulz-Deyle, Klaus Dohle

Besetzung Uwe Bünker Darsteller Matthias

Habich, Hannes Jaenicke, Max von Pufendorf,

Thekla Reuten, Calvin Burke, Husam Chadat

Produktion Drife Productions Koproduktion

DCM Mitte Productions, Erfttal Film & Fernseh-

produktion, Creado Film, König Invest Service-

produktion Kasbah-films Tangier Drehzeit 28.

September bis 8. November 2008 (Nachdrehs im

Januar und Februar 2009), 22. März 2009 Dreh-

orte Berlin, Marokko, Schweiz Format Super-16.

c

xl012_A2_Waffenstillstand 17.06.2009 16:20 Uhr Seite 36

Page 37: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Auf der Couch

37

Die Schreibstube von Stadler und Gröner. Hor-

monelle Schwankungen. Gröner auf dem Sofa,

Stadler am Computer. Stadler versucht sich an

einer Kontaktanzeige.

Stadler: Ich hab’s jetzt! Genial!

Gröner: Laß hören.

Stadler: »Filmliebhaber sucht nach einem

Happy End.«

Gröner: Zu schwülstig.

Stadler: Hmm. »Ist dein Leben auch nur eine

Projektion?«

Gröner: Zu intellektuell.

Stadler: »Bin ganz von der Rolle. Einsamer

Filmkritiker sucht nach neuer Einstellung.«

Gröner: Zu verzweifelt.

Stadler: »Ticket für eine Spätvorstellung mit

Überlänge zu vergeben.«

Gröner: Falscher Film. Schreib doch einfach.

»Jungfrau, 40, männlich sucht.«

Stadler: Stimmt doch gar nicht. Ich bin 41.

Gröner: Das ist ein Filmtitel.

Stadler: Das ist mein Leben.

Gröner: Stadler, versuch’s doch mal mit der

ehrlichen Nummer.

Stadler: Gut. »Wohlsituierter Herr....«

Gröner: Nein, nein, nein. Drei Jahrzehnte

Filmkritik und du hast immer noch nichts ge-

lernt.

Stadler: Wie?

Gröner: Ohne Versprechen kriegst du keine

rum. Du brauchst einen richtig guten Trailer.

Stadler: Einen Wohnwagen?

Gröner: Quatsch. Dein Leben in 30 Sekunden.

Los.

Stadler: »Verhinderter Romantiker hat seit

Jahren keine Frau mehr getroffen, dafür viele

gesehen: Laß uns unseren eigenen Film leben.

Ich kenne jeden Dreh.«

Wieder nichts zu kritisieren und zu viel Zeit: Stadler und Gröner suchen in der Kürze die

Würze und entdecken dabei die Liebe als Wunsch und Vorstellung.

Text Michael Stadler und Christoph Gröner

Jungfrau, männlich…

xl012_C1_Couch Trailer 17.06.2009 16:32 Uhr Seite 37

Page 38: cinearte XL 012

Auf der Couch cınearte XL 012

38

Gröner: Stadler, keine Filmmetaphern!

Stadler: »Netter Herr...«

Gröner: Himmel!

Stadler: Was?

Gröner: Stell dir mal vor, man würde einen

Trailer mit einem »netten« Bild beginnen, sa-

gen wir, einem Pony auf einer grünen Wiese.

Stadler: Schön…

Gröner: Nein. Der Beginn muß knallen, selbst

beim Arthouse-Trailer. Die beginnen oft mit ei-

nem Knalleffekt: Bumm! Eingerahmt in Lor-

beerzweigen: Cannes, Wettbewerb 2008!

Stadler: Bei welchem Wettbewerb war ich

denn jemals dabei?

Gröner: Na, letztes Jahr, Sackhüpfen in Bad

Kroetz!

Stadler: Da war ich Letzter.

Gröner: Egal, die meisten Filme in Cannes ge-

winnen auch keinen Preis. Dabeisein ist alles!

Stadler: Gut, also: »Ich, passionierter Sack-

hüpfer in Bad Kroetz...«

Gröner: Stop! Geht doch nicht. Bad Kroetz ist

nicht Cannes. (denkt nach) Bei vielen Arthou-

se-Filmen werden Kritiken eingeblendet. Der

Trailer von Hunger etwa: ein Klavierton, dazu

kurze Szenen aus dem Film, man versteht gar

nicht, daß es um einen Hungerstreik in Irland

geht. Inhalt egal, das Bild überzeugt. Und da-

zwischen zig Pressehymnen.

Stadler: Wer hat mich denn jemals kritisiert?

Gröner: Na ich! Ständig.

Stadler: Positiv?

Gröner (überlegt): Na, ich finde schon, daß du

ganz…nett bist.

Stadler (schreibt): »Netter Herr…«

Gröner: Halt. Wir müssen das Beste aus dir

rausholen. Bei Trailern zu Pixar-Filmen sieht

man ja auch erst mal, was sie zuvor gemacht

haben: »Von den Machern, die uns Findet

Nemo, Das große Krabbeln und Wall-E ge-

bracht haben, kommt nun ein neues Meister-

werk…«

Stadler: Soll ich auf meine Eltern verweisen?

Gröner: Vielleicht. Und auf deine Geschwister!

»Von den Machern, die uns eine kräftige Zahn-

ärztin und einen rechtschaffenen Rechtsan-

walt gebracht haben, kommt nun…

Stadler: …ein Kritiker…

Gröner: ...ein Mann, der besonders in dunklen

Räumen aufgeht…«

Stadler: Scharf.

Gröner: Also gut, mach was Exzentrisches. Ku-

bricks Dr. Strangelove! Schnelle Schnitte und

zwischen den Bildern immer wieder Worte:

»How – I – Learned – To – Love – The – Bomb.«

Stadler (schreibt): Hallo. Ich. Will. Dein. Dok-

tor. Strangelove. Sein. Ruf. Mich. An.

Gröner: Das geht in die falsche Richtung, Dr.

Strangestadler.

Stadler: Ich glaube, Kubrick bringt uns nicht

weiter.

Gröner: Vielleicht doch. Diese Trailer sind

wirklich kleine Kunstwerke. Als Signatur wurde

beim Strangelove-Trailer sogar eine Fotografie

von Kubrick hineinmontiert.

Stadler: Hey! Ich könnte auch ein Bild von mir

hinzufügen!

Gröner: Ne, mach das nicht!

Stadler: Wieso?

Stille.

Gröner: Naja, ein Trailer lebt vom Geheimnis,

also vom Offenbaren und Verbergen, das

flüchtige Bild macht neugierig…Ha, vielleicht

sollten wir auch einfach einen Teaser schrei-

ben! Der kitzelt mit Andeutungen bereits Mo-

nate vor der Fertigstellung des Films.

Stadler: Aber ich bin fertig!

Gröner: Bei Jurassic Park war einfach nur eine

Stechmücke zu sehen, verewigt in einem Bern-

stein. Und eine Stimme erzählte, daß die DNA

der Stechmücke zur Rekonstruktion der Dino-

saurier verwendet wurde. Von den Dinosau-

riern nichts zu sehen! Die Fans lechzten nach

dem ersten Dino-Bild!

Stadler: Soll ich ein Kinderfoto von mir ver-

wenden?

Gröner: Vielleicht vom ersten Ultraschall?

Stadler (grübelt): Wo kriege ich das jetzt her?

Gröner (schnell): Hör mal, nur ein Bild reicht

vielleicht doch nicht. So ein Trailer lebt ja auch

xl012_C1_Couch Trailer 17.06.2009 16:32 Uhr Seite 38

Page 39: cinearte XL 012

cınearte XL 012

von der Vielseitigkeit. Weißt du noch bei

Vanilla Sky mit Tom Cruise? Da denkst du

erst, es handelt sich um einen Liebesfilm,

eine Dreieckskonstellation Tom Cruise-Ca-

meron Diaz-Penelope Cruz. Bis dann in der

Mitte ein Bruch kommt, Diaz dreht im Auto

durch, Cruise steht allein in New York, Fan-

tasy, Action, Spannung wird da plötzlich

versprochen, man glaubt, daß in diesem

Film alles möglich ist. Und dazu der

Spruch: »Open your eyes!«

Stadler (schreibt): »Öffne deine Augen! Ich

kann Kritiken schreiben, Schach spielen

und habe eine große DVD-Sammlung.«

Gröner: Vergiß das Sackhüpfen nicht!

Stadler: Und ich kann Blockflöte spielen!

Das haben wir in der Schule gelernt.

Gröner: Hmm, Musik ist auch wichtig.

Aber hör mal, vielleicht solltest du hier eher

zitieren. Man hört in Trailern oft auch Mu-

sik aus anderen Filmen. Der Lola-rennt-

Score wurde schon in Trailern von Action-

filmen verwendet, in Die Bourne-Identität

oder Hulk.

Stadler: Oh ja, zitieren ist gut. Dann kann

ich ja das Wort »muskulös« dazu schreiben

– mit Anführungszeichen.

Gröner: Genial, Stadler. Schreib doch auch

»intelligent« mit Anführungszeichen.

Stadler (wütend): Oder »gewalttätig«, dem-

nächst auch ohne Anführungszeichen.

Gröner: Mit einem hast du recht, Spätzün-

der. Zu viel Wahrheit schadet. Hauptsache,

da steht das drin, was Männer und Frauen

hören wollen. Nur eine Kuß-Szene im Film?

Ist doch egal, rein damit. Das spricht die

Frauen an.

Stadler: Ich spreche Frauen nicht an.

Gröner: Stadler, kannst du kochen?

Stadler: Nee, weißt du doch. Aber ich mach

mir gerne mal eine Fertigpizza.

Gröner: Na also: »Stehe gerne in der Kü-

che.« Machst du Sport?

Stadler: Jeden Tag die zehn Stufen hier

hoch und runter. Wahnsinn.

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xl012_C1_Couch Trailer 17.06.2009 16:32 Uhr Seite 39

Page 40: cinearte XL 012

Auf der Couch cınearte XL 012

40

Gröner: »Trainiere täglich.« Stadler, ganz wich-

tig, was ist mit Kindern?

Stadler: Ich gehe ihnen aus dem Weg.

Gröner: »Keine Probleme mit Kindern.« Hast

Du eigentlich irgendwelche Wünsche? Jeder

Trailer sucht ja sein Publikum.

Stadler: Ich will meine Unschuld verlieren.

Gröner: Super, hör dir das an. »Hey, stehst Du

auch gerne in der Küche? Ich gestalte mein Le-

ben aktiv und habe keine Probleme mit Kin-

dern. Na, Lust auf Kuscheln?«

Stadler: Ja!

*

Zwei Monate später. Stadler hat Antwort er-

halten. Eine Antwort. Nervosität in der Schreib-

stube.

Gröner: Wieso hast Du sie zu uns eingeladen?

Stadler: Na, wir sind doch immer hier.

Gröner: Und was stand in ihrer Kontaktan-

zeige?

Stadler (liest vor): »Habe viel vom Leben gese-

hen und genieße es in vollen Zügen. Du

brauchst mit mir die Stille nicht zu fürchten.

Ich lache viel und gerne. Glaube an die einzig

wahre Liebe. Bist du der Erste?« Was meinst

du?

Gröner: Ein Horrorfilm. Schnell raus hier!

Es klingelt zweimal an der Tür.

Stadler: Hoppla! Der Postmann.

Gröner: Doch nicht um zwanzig Uhr. Das ist

sie. Ganz still jetzt.

Von draußen eine tiefe Stimme. Vermutlich

weiblich.

Stimme: Hallo? Ist da jemand?

Stadler (flüsternd): Oh Gott, dabei klang ihre

Anzeige samtweich.

Gröner (flüsternd): Alter Trick. In Trailern ver-

führen Voiceover-Artists mit ihrem Sound, im

Film raspeln dann die Schauspieler.

Stimme: Hallo? Herzprinz2009, bist du’s?

Gröner: Herzprinz2009?

Stadler: Schscht!

Gröner: Wenn du dich jetzt rührst, bist du ver-

loren.

Stimme: Da ist doch jemand!

Stadler und Gröner bewegen sich nicht. Es

klopft. Schwere Schläge auf die Tür. Schließlich:

Schritte entfernen sich.

Gröner: Gott sei Dank!

Stadler: Die ganze Schreiberei umsonst. Ich

hasse Trailer!

Gröner: Nein, nein, nein. Denk doch mal an

unseren größten Helden.

Stadler: Catweazle?

Gröner: Nein. Godard.

Gröner geht zum Bücherschrank, holt sich ein

Buch, blättert.

Gröner (liest vor): »Was ich zum Beispiel gern

machen würde, sind Trailer. Aber an denen ist

wieder das Dumme, das sie nur fünf Minuten

dauern dürfen. Es sind kleine Filme, wo man

sagt: Demnächst in diesem Theater…Für mich

ist das der perfekte Film. Ich würde das im

Grunde lieber machen als die Filme. Meine

Trailer würden vier oder fünf Stunden dauern,

das heißt, länger als der ganze Film, weil ich

den Film lang und breit behandeln würde, den

Sie sehen würden.«

Siehste: Für Godard ist der Trailer wichtiger

als der Film.

Stadler: Und wenn sie doch was Tolles war?

Gröner: Wer weiß.

Stimme (von draußen): Ich weiß es. Ich bin

wieder da, Herzprinz2009. Laß mich rein.

Stadler kniet, schaut durchs Schlüsselloch, steht

auf.

Stadler (ernst): Godard steh mir bei.

Stimme (von draußen): Amen.

Gröner nickt Stadler zu.

Sie öffnen die Tür.

Stadler und Gröner sind Filmkritiker, mögen’s aber auch mal kurz. Trailer-Fans und solchen, die es

werden wollen, empfehlen sie die Website des Regisseurs Joe Dante: www.trailersfromhell.com

xl012_C1_Couch Trailer 17.06.2009 16:32 Uhr Seite 40

Page 41: cinearte XL 012

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xl012_Z_Abo 18.06.2009 5:52 Uhr Seite 41

Page 42: cinearte XL 012

chael Beckmann. Und gibt auch gleich zu: Dies sei

ein Idealfall für einen Musikberater. Und der

kommt in der Wirklichkeit recht selten vor.

Oft genug nämlich stolpert die Filmproduktion

über die Rechteklärung der verwendeten Musik

und sieht sich im ungünstigsten Fall mit hohen

Nachforderungen seitens der Musikverlage kon-

frontiert. Den Extremfall gibt es, wie so oft, in den

USA. Hier kann es schon mal vorkommen, daß ein

Film deshalb gar nicht mehr kommerziell ausge-

wertet werden kann – wie es zuletzt der unabhän-

gigen Filmemacherin Nina Paley mit ihrem ersten

Animationsfilm Sita Sings the Blues passierte. Sie

verwendete elf Songs der Sängerin Annette Han-

shaw aus den 1920er Jahren – und stellte ihr Film-

werk samt der Musik unter die »Creative Com-

mons«-Lizenz, um wenigstens eine freie

Verwertung zu ermöglichen.

Weil aber nicht jeder Filmschaffende Aktivist in

der »Free Culture«-Bewegung werden will, braucht

es Musikberater, wenn es um die Verhandlungen

mit den Musikverlagen und den Erwerb von Li-

Wim Wenders sagt, er wäre wohl Anwalt gewor-

den, gäbe es da nicht die Liebe zur Musik. Noch

heute offenbart sich sein verborgener Hang zur

Kategorisierung in ganz einfachen Dingen: »Wim

ist der einzige, den ich kenne, der die Sternchen-

Bewertungsfunktion auf I-Tunes benutzt«, sagt

Milena Fessmann und muß doch ein wenig über

die Eigenart des Regisseurs lächeln, weiß aber

auch begeistert von dessen Musikkenntnissen zu

schwärmen. Es war für die Musikberaterin schon

eine besondere Begegnung, weil sie mit ihrem

Partner Michael Beckmann für Wenders Film Pa-

lermo Shooting eher ungewöhnliche Wege be-

schreiten mußte. Es sei nämlich durchaus eine

Herausforderung, dem Regisseur Musiker näher

zu bringen, die er nicht sowieso schon seit Jahren

zu seinem Freundeskreis zählt. »Wir saßen mit

ihm in der Berliner Columbiahalle, Wein aus

Pappbechern trinkend, und wurden nach dem

Konzert Portishead vorgestellt. Danach waren es

die Musiker, die sich wegen der Lizenzierung an

ihre Plattenfirma gewandt haben«, erzählt Mi-

Report | Cinesong cınearte XL 012

42

Musik fürMillionenWer seinen Film so richtig groovy, funky oder neuerdings modern kraß oder schlicht fett klingen

lassen will, merkt schon: Man braucht einen Berater. Nicht nur wegen des Musikgeschmacks.

Text Karolina Wrobel | Fotos Sabine Felber

xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 42

Page 43: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Report | Cinesong

43

Sieht nach einem Traumjob aus:

Stundenlang durch Platten blättern

und dann seine Lieblingslieder auf

die Leinwand bringen. Der zweite

Teil ist aber gar nicht so einfach,

wissen Michael Beckmann und

Milena Fessmann. Die Sache mit

der Musik im Film wird von

Produzenten gerne unterschätzt.

xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 43

Page 44: cinearte XL 012

Report | Cinesong cınearte XL 012

44

zenzen geht. Gerade darauf hat sich die Radio-

Eins-Moderatorin Milena Fessmann mit »Cine-

song« spezialisiert. Sie kam durch Sonja Schmidt,

Produzentin bei Boje-Buck, zum Film, für die sie

ihre erste Musikzusammenstellung gemacht hatte

– damals noch auf Kassette, für Leander Hauß-

manns Sonnenallee.

Aus ihrer Zusammenstellung wurde nichts –

Fessmann blieb aber trotzdem beim Film und

lernte bei einem Meeting zu Almut Gettos Ficken-

de Fische Michael Beckmann kennen. Der hatte

sich schon als Filmkomponist mit Vanessa Jopps

Vergiß Amerika und Engel und Joe etabliert und

pflegt als Mitbegründer der »Rainbirds«, die mit

dem Song Blueprint internationale Erfolge feierte,

beste Kontakte zur Musikindustrie.

Ihre Herangehensweise als Musikberater ist

recht einfach: »So wie ein Kameramann sich einen

›Look‹ für den Film überlegt, so überlegen wir, wie

der Film klingen soll. Musik kann eine unmittelba-

re Wirkung auf den Zuschauer haben, Zeit und Ort

der Erzählung transportieren. Es ist nicht damit

getan, einen tollen Song vorzuschlagen. Und dann

muß man sehen, ob ihn die Filmproduktion mit

dem vorhandenen Budget bezahlen kann«, erklärt

Fessmann.

»Die Filmschaffenden machen sich oft keine

Vorstellung davon, daß Musik teuer ist. Ideal wä-

ren 3 bis 5 Prozent des Gesamtbudgets, die man

dafür aufwenden sollte«, sind die Erfahrungswerte

von Michael Beckmann. Die Musikkosten können

sich in einem ganz unterschiedlichen Verhältnis

zusammensetzen: Da gibt es zum einen die zu li-

zenzierenden oder zu produzierenden Songs und

zum anderen den Score. Die Lizenzkosten für Mu-

sik sind keinesfalls in Stein gemeißelt, sie hängen

vom Budget des Films und von der Bekanntheit

des Künstlers ab, dessen Musik man verwenden

möchte.

Aber schon das Kerzen-Ausblasen kann für den

Filmemacher teuer werden: »Für ›Happy Birthday‹

muß man beispielsweise mit 3.000 bis 15.000 Euro

rechnen. Aber das Schöne ist ja, das man das klä-

ren kann. Und die Summen sind Verhandlungssa-

che, da kann es manchmal schon wie auf dem Ba-

sar zugehen«, lacht Fessmann, die ihre eigene

diplomatische Disposition – sie ist studierte Poli-

xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 44

Page 45: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Report | Cinesong

45

tologin – bei den Verhandlungen einsetzt. Sie

warnt jedoch davor, sich beim Dreh durch die

Rockklassiker zu singen. »Je früher man als Musik-

berater in ein Projekt einsteigt, umso mehr Zeit

hat man auch, um da Konzepte zu entwickeln«.

Zum Konzept von »Cinesong« gehört auch die

Unabhängigkeit von Musikkonzernen, die durch

ständiges An- und Verkaufen von Labels und

Unterlabels über so große Kataloge verfügen, daß

sie bisweilen nur Schätzwerte zum Umfang ihrer

Portfolios angeben können oder diese Auskunft

überhaupt vermeiden, wie eine Anfrage bei Sony

Music und der EMI Music ergab. Auch die Musik-

experten Fessmann und Beckmann greifen auf die

Bibliotheken dieser großen Konzerne zurück – wie

etwa auf das der »Universal Publishing Group«,

unter deren Namen sich auch die Verlage »MCA

Music Publishing« und »Polygram Music Publis-

hing« verbergen.

Die Lizenzierung von Musik rückt dabei ins-

gesamt immer mehr als Erlösquelle für die Major

Labels in den Mittelpunkt, das bestätigt auch der

Bundesverband der Musikindustrie: Das Ge-

schäftsfeld solle dazu beitragen, die alte Abhän-

gigkeit vom klassischen Musikverkauf abzulösen.

Den ersten Vorstoß hat das Unternehmen Sony

Music gemacht, das den Geschäftsbereich für Mu-

siklizenzierung ausgelagert hat: Zu diesem Zweck

gründete es erst Ende 2008 die deutsche Vermarkt-

ungsgesellschaft »Ocean Music Artists & Brands«

mit Sitz in München. Unter dem Motto »Unsere

Stars machen Ihre Marke für Ihre Zielgruppe er-

lebbar« sollen Vermarktungsstrategien vom Klin-

gelton bis zu Testimonials, in denen die Stars sich

als überzeugte Nutzer des Produkts ausgeben,

auch in der Filmbranche vermehrt Einsatz finden.

Noch einfacheren Zugriff auf das Musik-Portfolio

verspricht das Portal »Movie Tunes« des amerika-

nischen Mutterkonzerns, das vor allem den dort

heimischen Filmemachern die selbstständige Su-

che erleichtern soll. Hier schickt man seine auto-

matisierte Anfrage mit kurzer Plotbeschreibung

und bekommt im Gegenzug Vorschläge. »Wir ha-

ben aber die Erfahrung gemacht, daß vor allem

deutsche Filmemacher auf persönliche Beratung

setzen«, erklärt Fessmann.

Was war nochmal der Unter-

schied zwischen Grime und

Garage? Populäre Musik

kann bisweilen ein musisch-

soziologisches Studienfach

sein. Da holt man sich als

Filmemacher am besten

einen Musikberater.

Fessmann und Beckmann

sind in den Plattenregalen

zu Hause: Er war Mit-

begründer der Rainbirds,

sie spielte im Radio seine

Lieder.

xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 45

Page 46: cinearte XL 012

Report | Cinesong cınearte XL 012

46

Dies sei auch unter anderem ein Grund dafür,

warum sich das amerikanische Song-Plugging in

Deutschland wenig etablieren konnte. Diese

Agenturen bringen aktuellste Musik-Portfolios

verkaufsfördernd in den Medien unter und wer-

den nicht von der Film- oder Fernsehproduktion

bezahlt, sondern von der Musikindustrie. »Gerade

erfolgreiche Serien wie O. C. California werden auf

diese Weise pro Folge mit einem kompletten

Soundtrack besetzt«, weiß Beckmann.

Für einen unabhängigen Musikberater in

Deutschland kann es dagegen eine Herausforde-

rung sein, herauszufinden, in welchen Händen die

Rechte für den einen Song liegen, den der Regis-

seur unbedingt einbinden will. »Die Strukturen

werden immer komplizierter – gerade dadurch,

daß sich die Musikindustrie zurzeit atomisiert. Es

gibt immer weniger große Schallplattenfirmen,

dafür verwalten immer mehr Künstler ihre Rechte

selber. Oft dauert es Monate, bis man einen Song

wirklich bis ins letzte Detail geklärt hat«, erzählt

der Musikproduzent und sagt, es tauche manch-

mal noch immer jemand auf, der im Vertrag erfaßt

werden muß. Und bei älteren Songs sei dies auch

nicht einfacher: Da ist der Künstler zwar tot, die

Erben aber oft zerstritten.

Will man indes einen namhaften, aber leben-

den Künstler für den Titelsong seines Films enga-

gieren, muß man die komplizierten Zyklen der

Musikindustrie mit denen der Filmbranche ver-

einbart bekommen. »Da hilft es, den Filmstart mit

dem möglichen Veröffentlichungstermin eines Al-

bums zu synchronisieren«, sagt der Bassist, der für

Filme wie Thomas Jahns Auf Herz und Nieren

selbst Songs produzierte.

Cinesongs erfolgreichste Titelsong-Idee war

bislang Summer Wine für Achim Bornhaks Das

wilde Leben. Den Song produzierte Andreas »Boo-

gieman« Herbig, der auch sonst hinter deutschen

Erfolgsmarken wie Udo Lindenberg, Ich + Ich, Sas-

ha oder Juli steht. Hier hatten die beiden Musikex-

perten aus Berlin schließlich mit dem finnischen

Sänger der Band HIM den richtigen Duettpartner

für Natalia Avalon gefunden.

Doch so sehr eine Idee glücken kann, so sehr

kann sie manchmal auf ganz unvorhergesehenen

Ebenen scheitern, erzählt der 48jährige. Wie zu-

letzt bei Antje Kruskas und Judith Keils Film Wenn

Die richtige Musik ist nicht

einfach nur Geschmacks-

frage. Die Rechte müssen

geklärt werden. Und das

kann manchmal ganz schön

dauern. Andererseits ist bei

der Musik auch ganz schön

vile Spielraum drin. Als

»Cinesong« sorgen

Fessmann und Beckmann

für den richtigen Ton im Film

– und dafür, daß er für den

Filmproduzenten bezahlbar

bleibt.

xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 46

Page 47: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Report | Cinesong

47

die Welt uns gehört: »Die Regisseurinnen wollten

den Song »The Kill« der kalifornischen Band 30 Se-

conds To Mars haben, und tatsächlich signalisier-

te uns der Musikverlag, es sei möglich, diesen

Song in den Film einzubinden. Ein paar Tage spä-

ter verriet die Zeitungslektüre, daß die Plattenfir-

ma diese Band verklagt hatte und der Song auf-

grund des Rechtsstreits quasi nicht mehr

vorhanden war«, erinnert er sich – auch daran, wie

Christian Alvart für Antikörper Johnny Cashs Ver-

sion von Depeche Modes »Personal Jesus« haben

wollte und die Rechte für den Song durch eine

Übernahme des Konzerns Universal lange Zeit im

Niemandsland lagen.

So interessant Michael Beckmann auch die

Rechteklärung und damit die Geschichte hinter

einem Song findet, so gerne überläßt er diese Tä-

tigkeit Milena Fessmann, der er ein »juristisches

Gen« nachsagt. Der Musiker arbeitet lieber als

Mittler zwischen Film- und Musikerseite. »Zur

Musik kann jeder etwas sagen. Jeder hat schließ-

lich eine Musikerfahrung«, erklärt die Partnerin

das vorhandene Konfliktpotential. »Oft kommen

dann Begriffe wie ›hip‹ oder ›jung‹ – aber was heißt

das? Ist das Speed Metal? Hip-Hop? Beyoncé?«

Oft gehe es auch um »große Klänge«, berichtet

Beckmann über die Vorgespräche. Und auch da

stelle sich die Frage nach Instrumentierung, Mu-

sikstil und dramaturgischen Absichten. Zunächst

heißt es deshalb, Begrifflichkeiten für die Musik

im Film zu entwickeln. Die beiden Musikexperten

vermitteln zudem auch schon mal zwischen Film-

komponist und Produktion – wie beim Kinderfilm

Hexe Lilli. »Der Komponist Klaus Badelt wählte die

Flöte als archaisches Instrument für den altertüm-

lichen Drachen, eine tolle Idee«, erinnert sich

Beckmann. »Deshalb war auch das Leitthema als

mittelalterliches Flötenstück angelegt, was ähn-

lich zu einer heutigen Moll-Tonart klingt. Die Pro-

duzenten fanden, es klinge deshalb ›traurig‹. Sie

wußten aber keine Verbesserungsvorschläge zu

machen. Dabei war es eigentlich ganz einfach: sie

wollten es in Dur hören.«

Eine kleine Anregung helfe schon mal, weiß der

Musiker, denn der Filmkomponist steht oft selbst

unter Zeitdruck und konzentriert sich in erster Li-

nie auf die musikalische Welt, die er für den Film

erschließen muß.

Tatsächlich aber beklagen Fessmann und Beck-

mann die Berührungsängste der beiden Bran-

chen: »Bei der ›Oscar‹-Verleihung sitzen die zehn

größten nationalen Künstler im Publikum, dort ist

das ganz normal. Den ›Deutschen Filmpreis‹ besu-

chen dagegen nur wenige deutsche Musiker, bis

auf die Filmkomponisten. Umgekehrt kann man

die Filmleute beim ›Echo‹ mit der Lupe suchen«,

erklärt die aus München stammende Radiomode-

ratorin.

Dabei lohnt es sich, Kontakt zur Musikszene zu

halten, ergänzt ihr Partner: »Mit einem fantasti-

schen deutschen, europäischen und mittlerweile

auch internationalen Künstler kann man für den

Film einen originären Song entwickeln, der dann

auch nur einen Bruchteil der Rechte kostet – weil

man an den Musiker direkt einen Auftrag vergibt«.

Richtig vorteilhaft wird es dann auch, wenn die

Rechte sogar ganz oder teilweise der Filmproduk-

tion gehören. Deshalb spezialisiert sich »Cine-

song« immer mehr darauf, Songs zu entwickeln,

anstatt solche zu lizenzieren, »die schlimmsten-

falls schon seit zwei Jahren auf dem Markt sind«,

machen die Berater den Nachgeschmack von vor-

konfektionierter Musik deutlich. Gerade bei Ju-

gend- und Kinderfilmen wird zudem der Marke-

tinggedanke immer wichtiger – wie im Jugendfilm

Sommer von Mike Marzuk mit dem Bravo-

Schwarm Jimi Blue Ochsenknecht. »Hier ent-

wickelten wir ein Dutzend Songs, die dramatur-

gisch den Film getragen und die Zielgruppe

emotional berührt haben«, erklärt der Musikpro-

duzent.

Dieses Modell funktioniere auch bei kleineren

Produktionen im Arthouse besonders gut, weil de-

ren Budget oft nicht dafür ausreicht, den Film

komplett mit vorhandener Musik abzudecken

oder von einem Filmkomponisten vertonen zu

lassen. »Man muß nicht immer mit Hits um sich

werfen«, schließt der Musikberater. »Wenn man

auf wirklich gute und inspirierte Musiker zugeht

und sie fragt, ob sie an einem Film mitarbeiten

würden, ist es manchmal wirklich erstaunlich, wie

sehr sie sich dafür begeistern lassen.« c

xl012_B1_Cinesong 17.06.2009 15:27 Uhr Seite 47

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Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012

48

Farbtupfer fürVor 15 Jahren erzählte Steven Spielberg eine völlig andere Geschichte aus dem Holocaust:

Die verstörende Wahrheit über einen Mitläufer und Profiteur, der Hunderte von Juden vor dem

sicheren Tod rettet. Vor dem Happy End führt uns der Regisseur aber gnadenlos den langen

Weg in die Vernichtungslager vor Augen.

Text Ian Umlauff Fot

os:U

nive

rsal

xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:51 Uhr Seite 48

Page 49: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Analyse | Schindlers Liste

49

Es war anzunehmen, daß etwas Besonderes dabei herauskommt:

Ein amerikanischer Spitzenregisseur schart um sich einen polni-

schen Kameramann, amerikanische, polnische und deutsche

Schauspieler, einen Iren für die Hauptrolle, die schillernde Figur ei-

nes Deutschen, der vom Kriegsgewinnler zum »Gerechten« wird…

Und das alles in einem Film nach dem Roman eines gebürtigen Aus-

traliers. Daß der Film zahlreiche Auszeichnungen der Branche er-

die Dramaturgie

Nach dem Erfolg von Jurassic Park schuldete

Universal Steven Spielberg einen Gefallen.

Um ihn an das Studio zu binden, finanzierte

man ein Projekt, an dem der Regisseur bereits

seit zehn Jahren saß. Zum allgemeinen

Schrecken bestand Spielberg darauf, in

Schwarzweiß zu drehen: Die Bildzeugnisse

zum Holocaust, und damit das kollektive

Gedächtnis, seien schließlich ebenfalls in

Schwarzweiß. Im Ergebnis bedeutete das aber

nicht den Verzicht auf Farbe. Pointiert einge-

setzt, wirkte sie als dramaturgisches Mittel.

xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 49

Page 50: cinearte XL 012

Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012

50

hielt, wunderte niemanden. Daß Steven Spiel-

bergs Film Schindlers Liste jedoch trotz oder viel-

leicht gerade wegen seines Themas nicht nur ein

künstlerischer, sondern auch ein großer kommer-

zieller Erfolg wurde, hatte dagegen niemand er-

wartet. Am wenigsten Spielbergs Geldgeber: Uni-

versal Pictures.

Spielberg hatte dem US-Major kurz zuvor mit

Jurassic Park zu einem »Blockbuster« verholfen.

Nun hoffte man, den Regisseur weiter an das Stu-

dio zu binden, indem man ihm jenen Film finan-

zierte, den er bereits seit etwa zehn Jahren realisie-

ren wollte, der aber als kommerziell völlig

aussichtslos galt. Zur allgemeinen Verwunderung

spielte der Film jedoch mit 317 Millionen US-Dol-

lar mehr als das Zwölffache seines Budgets von 25

Millionen Dollar wieder ein.

Spielberg erhielt für seinen gesellschaftpoli-

tisch so immens wichtigen Streifen nicht nur Aus-

zeichnungen der Branche, sondern zahlreiche

weitere, darunter das deutsche Bundesverdienst-

kreuz. Von den Lesern der Zeitschrift Cinema wur-

de Schindlers Liste kurz nach seinem Erscheinen

gar zum »Besten Film aller Zeiten« gewählt, noch

vor James Camerons Titanic und Quentin Taranti-

nos Pulp Fiction.

Die Kritik war, mit wenigen Ausnahmen, voll des

Lobes. Spielberg hatte die meisten Rezensenten

von der »Wahrhaftigkeit« seines Filmes überzeugt.

Im Gegensatz dazu erschien Marvin J. Chomskys

damals vielbeachteter und -diskutierter Fernseh-

vierteiler Holocaust von 1978 wie eine Seifenoper.

Warum?

Auch Schindlers Liste ist weit davon entfernt,

auf dramaturgische und bildgestalterische Vor-

stellungen und Stilmittel à la Hollywood zu ver-

zichten. Zumindest nicht ganz. Das wird schon zu

Beginn deutlich: Wenigstens die ersten 90 Sekun-

den sind in Farbe gedreht, um die Zuschauer nicht

Nicht genug, daß sich Steven Spielberg (links, mit dem Hauptdarsteller Liam Neeson) überhaupt an ein so anspruchsvolles Thema

wagen wollte: Zum Schrecken des Studios sollte Janusz Kaminski Schindlers Liste auch noch in Schwarzweiß fotografieren.

Trotzdem und zur allgemeinen Überraschung hatte der Film über den Holocaust auch an der Kinokasse Erfolg. Vide

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Page 51: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Analyse | Schindlers Liste

51

gleich völlig zu verschrecken. Zwei Kerzen werden

angezündet. Eine jüdisch-orthodoxe Familie feiert

Sabbat (hebräisch: Schabbat). Aber noch bevor die

Kerzen heruntergebrannt sind, ist die Familie ver-

schwunden. Als die letzte Flamme verlischt, steigt

vom glimmenden Docht eine schmale Rauchfah-

ne auf. Schnitt. Ab jetzt ist das Bild schwarzweiß:

Rauch aus dem Schornstein einer Dampflokomo-

tive… Zwar macht man das Zugeständnis der Far-

bigkeit, aber schon innerhalb der ersten zwei Mi-

nuten findet man so viele Symbole, wie es für das

kommerziell orientierte amerikanische Kino un-

gewöhnlich ist.

Mutig, wenn auch nicht völlig neu oder be-

sonders originell, ist die Idee, einen relativ teuren

abendfüllenden Spielfilm »in Schwarzweiß« zu

drehen. Universal hoffte in der Tat bis kurz vor

Drehbeginn, der Film würde vollständig in Farbe

gedreht. Selbst wenn die farbige Anfangsszene

(die übrigens in der ersten Drehbuchvariante von

Steven Zaillian nicht zu finden ist) auch ein Zuge-

ständnis an die Sehgewohnheiten des Publikums

und die Bedenken von Universal sein mag, ist der

überwiegende Rest des Films unter anderem des-

halb in Schwarzweiß gedreht, um bestimmten

Motiven und Bildelementen durch nachträgliche

Koloration eine besondere dramaturgische Funk-

tion zu geben. Erst zum Ende des Filmes wird das

Bild wieder farbig, was hilft, den Zeitsprung in die

Gegenwart und von einer Realitätsebene in die

andere nachzuvollziehen.

Wie schon oft praktiziert, ließ Spielberg seinen

polnischen Kameramann Janusz Kaminski

Schindlers Liste fast ausschließlich in Schwarz-

weiß drehen, um dem Film eine größere Authenti-

zität zu verleihen. Fast alle bekannten Bilddoku-

mente über die Judenverfolgung im »Dritten

Reich«, sowohl fotografische als auch filmische,

sind schwarzweiß. Den Film in Farbe zu drehen,

erschien Spielberg künstlerisch einfach nicht adä-

quat. Einer der offensichtlichsten Punkte, die

Schindlers Liste von Holocaust unterscheidet.

Anderthalb Jahre hatte Kaminski Zeit, sich auf

Schindlers Liste vorzubereiten, indem er sich in-

tensiv mit Schwarzweiß-Fotografie beschäftigte

und zeitgeschichtliche Fotobände studierte. »Man

Spielberg verzichtete nicht völlig auf die Dramaturgie

Hollywoods und setzte trotz des ernsten Themas das Stilmittel

des »comic relief« ein: Die Szene, in der Schindler seine

Sekretärin aussucht, schildert dessen Vorliebe für schöne

Frauen. Aus einer Kameraeinstellung aufgenommen, wird der

Zeitablauf durch den Maler im Hintergrund verdeutlicht.

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Page 52: cinearte XL 012

ken. Niemand sollte später auf die Idee kommen,

besonders ausgefeilte Kamerabewegungen zu lo-

ben.

Man verzichtete auf Storyboards, drehte ohne

shot-lists und wußte oft genug morgens nicht ge-

nau, was am anstehenden Drehtag wie gedreht

werden sollte. Spielberg wünschte sich die Kame-

raarbeit unauffällig, unmerklich und »unsicht-

bar«, wie er es in einem Interview formulierte.

Wichtig ist nur, was vor der Kamera passiert – die

Kamera selbst ist zweitrangig. Er strebte eine Art

Nachrichtenstil an als entscheidendes Mittel, dem

Film Authentizität zu verleihen. So wandert die

Kamera oftmals einfach umher, als ob sie zum Bei-

spiel die Gespräche der Ghettobewohner als Teil-

nehmer verfolgte.

Kaminski paßte sich aber auch an die Bildge-

staltung der 30er und 40er Jahre des vorigen Jahr-

hunderts an und pickte sich heraus, was ihm zum

Erzählen der jeweiligen Szene stimmig und strin-

gent erschien. Schildert der Film das Tun und

Handeln Schindlers, des nach außen souverän

versucht, so tief wie möglich in die Materie vorzu-

dringen in der Hoffnung, die Kenntnisse mögen

Emotionen zu dieser Zeit heraufbeschwören, die

schließlich die eigene Kreativität beflügeln«, er-

läuterte Kaminski im American Cinematographer

sein Vorgehen. Obwohl Schindlers Liste ein groß

angelegter Film war, floß dennoch vergleichsweise

wenig Planung in die Kameraarbeit und diverse

andere Bereiche der Filmgestaltung. Entscheidun-

gen zur Bildgestaltung wurden erst in den letzten

Wochen vor Drehbeginn gefällt.

Spielberg und Kaminski einigten sich auf eine

unprätentiöse Kombination aus unbewegter Ka-

mera oder lediglich sehr verhaltenen und mini-

malen Kamerafahrten mit einer aus der Hand ge-

führten Kamera. In seinem bisher persönlichsten

Film wollte Spielberg die Kamera anders einset-

zen, als er es bisher gewohnt war. Sie sollte in kei-

ner Weise durch besonders beeindruckende Ein-

stellungen auf sich aufmerksam machen und so

vom Bildinhalt auch nur im entferntesten ablen-

Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012

52

Schindlers arrogantes Auftreten wird

durch eine ruhige Kamera betont.

Fahrten sind selten.

Die »Liste« taucht als Motiv immer wieder im Film auf: Ständig müssen sich Menschen in Schlangen einreihen, um ihre Namen

xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 52

Page 53: cinearte XL 012

und mondän auftretenden Geschäfts- und Lebe-

manns, sein selbstbewußt joviales Auftreten vor

den lokalen Nazi-Größen, ist die Kamera fast rigi-

de ruhig, was auch Schindlers Arroganz zu ver-

sinnbildlichen scheint. Fahrten sind selten, viele

Einstellungen bleiben in der Kadrierung völlig sta-

tisch. Selbst Korrekturschwenks werden möglichst

vermieden. Die Darsteller halten sich ruhig oder

bewegen sich nur langsam, taxieren sich gegensei-

tig. Schwenks mit sich bewegenden Figuren bei-

spielsweise sind relativ selten und immer streng

motiviert.

Schildert der Film jedoch Szenen, in denen

Angst und Gewalt das vorherrschende Motiv sind,

wird die Kadrage durch die Führung der Kamera

aus der Hand betont instabil. Nicht zu unterschät-

zen ist dabei der synergetische Effekt, den die wa-

ckelige Kameraführung in Verbindung mit dem

Gebrüll der SS-Leute und dem panischen Schreien

und verzweifelten Wimmern bei der Räumung des

Krakauer Ghettos erzielt.

Ein ähnliches Sublime wird zusammen mit

John Williams’ Musik auch in den Szenen ver-

mittelt, die die Exhumierung und Verbrennung er-

mordeter Juden zeigen. Mit den Augen eines vom

Entsetzen geschüttelten Zeugen müssen wir Zu-

schauer verfolgen, wie jüdische Gefangene, von

der SS angetrieben, halb verrottete Leichen aus-

scharren und auf ein Förderband schleppen, um

sie zu einem monströsen Scheiterhaufen aufzu-

türmen. Völlig von Sinnen schreiend feuert ein SS-

Mann noch einmal in den Berg verkohlter und

verwester Leichen. Williams läßt dazu eine Kombi-

nation aus schweren orchestralen Passagen, ver-

bunden mit Chorgesang, ertönen, die an ein Re-

quiem erinnern, einen gigantischen Totengesang.

Den Kamera-Schwenker ließen Spielberg und

Kaminski sich so spontan bewegen, wie es ein

Kriegsberichterstatter getan hätte. Eine Vorge-

hensweise, die beide in Der Soldat James Ryan

weiter perfektioniert haben. Nach Proben mit den

Schauspielern kam die Kamera dazu, und soweit

cınearte XL 012 Analyse | Schindlers Liste

53

erfassen zu lassen. Kaminski zeigt dazu Gesichter in Halbgroß- oder Großaufnahmen, die in Sekunden ganze Leben erzählen.

Kaminski orientierte sich auch an der Bildgestaltung

der 1940er Jahre. Um Neeson vorteilhafter erscheinen

zu lassen und seine Anziehungskraft zu verdeutlichen,

empfand er die Glamour-Fotografie der Zeit nach.

xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 53

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Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012

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dies möglich war, wurde gedreht, ohne die Kame-

rabewegungen im Detail festzulegen und zu pro-

ben. Trotzdem sind viele an der Bewegung an-

schlußgenaue Schnitte gelungen.

Spielberg läßt unmittelbar vor der Kamera Ge-

walthandlungen ablaufen, die kein seriös arbei-

tender Fernsehsender zeigen würde. Kaminski

zeigt Gesichter von Menschen, von Individuen,

sehr unmittelbar und in Halbgroß- oder Großauf-

nahmen. Die richtige Besetzung, die Auswahl viel-

sagender Gesichter und hohe darstellerische Au-

thentizität waren hier besonders wichtig. Manche

scheinen uns fast anzusehen, so nah schauen sie

an der Kamera vorbei. Binnen Sekunden er-

wecken sie den Eindruck, ganze Lebensgeschich-

ten zu erzählen. Und im nächsten Moment, wenn

möglich noch ohne einen vorherigen Schnitt, se-

hen wir eine Schußwaffe, ein Mündungsfeuer, hö-

ren den Schuß, sehen das Geschoß den Kopf tref-

fen, ihn zurückschleudern. Blut spritzt. Das

Geschoß tritt in einem Blutschwall wieder aus.

Und noch bevor der Körper leblos zu Boden gefal-

len ist, blutet es pulsierend aus der Wunde, breitet

sich eine Blutlache aus. Und die ganze Zeit über

»hält die Kamera voll drauf«, wie mancher Berich-

terstatter heute sagen würde.

Viele Kinozuschauer konnten diese Momente

des Films, wie beabsichtigt, kaum ertragen. Und

den Mitwirkenden erging es nur wenig anders. »Es

gab Tage, da wollte ich um ein Uhr Schluß machen

und alle ins Hotel schicken. Ich wollte den Film

nicht mehr machen. Es war mir zuviel«, erzählte

Spielberg später in einem Interview. Gott sei Dank

hat er weitergemacht.

Sicherlich hilft das Schwarzweiß in diesen Sze-

nen nicht nur zur Authentisierung der Szenen,

sondern auch zur Abstraktion. Dieselbe Szene in

Vor der Kamera laufen Gewalthandlungen ab, die kein

Fernsehsender zeigen würde. Aus der Nahaufnahme eines

Gesichts springt die Kamera auf eine Schußwaffe, ein Schuß

knallt, Blut spritzt… und die Kamera »hält voll drauf«.

Die Räumung des Ghettos ist in großen Teilen mit der

Handkamera aufgenommen. Subtiler wirkt die

Vertreibung der jüdischen Besitzer aus Schindlers

Wohnung. Um die »Ruhe« der Situation einzufangen,

wurde die Szene mit einem Steadicam-System gedreht.

xl012_A3_Analyse Schindlers 17.06.2009 15:52 Uhr Seite 54

Page 55: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Analyse | Schindlers Liste

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Farbe hätte völlig anders gewirkt. Eventuell wäre

es schwer geworden, eine gewisse, reißerische

Wirkung auszuschließen. Dies wird bei der Ent-

scheidung, den Film in Schwarzweiß zu drehen,

sicherlich eine Rolle gespielt haben.

Kaminski drehte mit der Arri 535 und der 535B

als Handkamera. Für einige wenige Steadicam-

Aufnahmen wurde zusätzlich eine Moviecam be-

nutzt. Etwa für jene Szene, in der eine jüdische Fa-

milie ihre Wohnung räumen muß, damit

Schindler, zu Anfang des Filmes noch ganz der

rücksichtslose Kriegsgewinnler, einziehen kann.

Hier begleitet die Kamera die eilig hin und her

laufenden Menschen, die stolz bemüht sind, die

Fassung, sprich Ruhe (des Bildes), zu bewahren,

während sie ihre kostbarsten Habseligkeiten zu-

sammenraffen und die Wohnung nur Minuten

später gezwungenermaßen verlassen. Von ähnlich

subtilem Grauen gibt es noch diverse Szenen,

denn nicht der ganze Film operiert mit unmittel-

barer tätlicher Gewalt.

Die vielleicht eindringlichste der subtileren

Szenen ist jene, in der Schindler in Begleitung sei-

ner momentanen Geliebten hoch zu Pferd von ei-

ner Anhöhe aus die Räumung des Krakauer Ghet-

tos verfolgt. Es ist eine Schlüsselszene des Films.

Denn wann und wodurch Schindler vom egoisti-

schen Kriegsgewinnler zu dem Menschen wurde,

der 1958 in der israelischen Gedenkstätte Yad Vas-

hem in die Reihe der »Gerechten« aufgenommen

wurde und an der »Straße der Erinnerung« einen

Baum pflanzen durfte, weiß bis heute niemand zu

sagen. Weitgehend unbemerkt hat sich dieser

Wandlungsprozeß vollzogen. Trotzdem mußte er

filmisch motiviert werden, was in den Szenen 85

bis 95 in Ziallians Drehbuch sehr visuell angelegt

ist: Die Szenen schildern, wie Schindler im Durch-

einander ein kleines Mädchen entdeckt, das,

scheinbar unbeirrt von dem Chaos und der Ge-

walt um sich herum, die Straße hinunter läuft, um

sich dann in einem bereits geräumten Haus auf

kindlich-naive Weise unter einem Bett zu ver-

stecken.

Während Schindlers Begleiterin den Anblick

der Greuel nicht lange erträgt, kann Schindler sei-

nen Blick nicht abwenden. Seine Aufmerksamkeit

ist von dem kleinen Mädchen gefesselt, als würde

er auf kaum wahrnehmbare Weise darum bangen,

ob es nicht auch der so beliebig erscheinenden

Schießwut der SS zum Opfer fallen würde. Dazu

hört man, neben all den gebrüllten Kommandos,

dem panischen Kreischen und ständigen Schie-

ßen, wie aus weiter Ferne ein Kinderlied, Mark

Warschafskys »Oyf’n Pripetshok«. Auf unwirkliche

Weise unterstützt dieses Lied die kindliche Un-

schuld des Mädchens, für dessen Rolle Spielberg

ein kleines Mädchen mit entzückendem Puppen-

gesicht ausgesucht hat, umrankt von lockigem

blonden Haar.

Weite Totalen, die das Kind inmitten des inferna-

lischen Chaos zeigen, stehen halbgroße und ähn-

liche Ausschnitte von Schindler gegenüber. Wie-

der bleibt die Kamera ruhig und zurückhaltend,

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Analyse | Schindlers Liste cınearte XL 012

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Kolorierte Bildelemente dienen als dramaturgische Effekte:

Die Kerzenflamme (unten) und der rote Mantel eines kleinen

Mädchens, das unbehelligt durch die Mordszenen läuft (oben),

markieren Momente der Hoffnung – die am Ende enttäuscht

werden: Beim Abzug der SS taucht das tote Mädchen in dem

gleichen Mantel auf einem Leichenwagen wieder auf.

auch in der Brennweitenwahl. Wirklich kurze oder

extrem lange Brennweiten vermeidet Kaminski.

Das Kind fällt in den weiten Einstellungen, in de-

nen es anfangs nur ganz klein zu sehen ist, durch

die Farbigkeit des Mäntelchens im ansonsten

weiterhin schwarzweißen Bild auf. Wie der unbe-

darfte Zuschauer auch, scheint Schindler mit Ver-

wunderung und Unglauben auf das zu reagieren,

was er sieht.

Nachdem sich einige Male Schuß und Gegen-

schuß abgewechselt haben, springt die Kamera in

die Halbtotale heran an das Kind, das, von den SS-

Männern weiter unbehelligt, umherläuft. »Das

Bild hat etwas damit zu tun, wie irrwitzig das Le-

ben sein kann. Das kleine Mädchen läuft einfach

durch die Menge und niemand kommt darauf, es

zu stoppen«, erläuterte Kaminski die Bildidee im

American Cinematographer.

Das rote Mäntelchen in der Szene der Ghetto-

räumung ist nicht die einzige Gelegenheit, bei der

Spielberg Teile des Bildes nachkolorieren ließ. In

der erwähnten Exhumierungsszene entdeckt

Schindler auch das besagt kleine Mädchen unter

den Leichen. Wieder schimmert sein Mäntelchen

rötlich, als einziges farbiges Bildelement. Digitale

Rotoskopie diente auch dazu, die Stempel auf dem

sogenannten Blauschein, der vorläufig lebensret-

tenden Arbeitskarte der Ghettoinsassen, leicht

bläulich zu färben. Kurz vor Ende des Filmes ent-

zünden die »Schindlerjuden« zwei Kerzen, um das

erste Mal seit langem wieder Sabbat zu feiern.

Auch ihre Flammen, Symbole für die Hoffnung auf

ein baldiges Ende des Martyriums, sind farbig.

So markieren die kolorierten Bildelemente, die

Blauscheine, das Mäntelchen des kleinen Mäd-

chens und schließlich die Sabbatkerzen, meist

Momente der Hoffnung unter teilweise widrigsten

Umständen. Als Schindler bei der Exhumierung

die verweste Leiche des kleinen Mädchens ent-

deckt, ist das im Gegensatz dazu ein dramatischer

Rückschlag und die Motivation dafür, seine An-

strengungen zum Schutz »seiner Juden« noch wei-

ter zu erhöhen.

Der spartanischen Art, die Kamera zu bewegen

und die Szenen visuell aufzulösen, steht die Licht-

setzung entgegen. Zwar stimmt es, daß Kaminski

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cınearte XL 012

meist düstere Lichtstimmungen erzeugte und mit

hohen Helligkeitskontrasten operierte, dennoch

wirken zahlreiche Einstellungen und ganze Sze-

nen glamourös und teilweise ein wenig zwielich-

tig. Die Szenen, in denen Schindler zu Anfang vor-

gestellt wird, arbeiten mit einer

Beleuchtungsgestaltung, mit der wir Glamour ver-

binden: Vorderlicht setzt Kaminski oft nur mini-

mal, stattdessen benutzt er Kanten und durch ent-

sprechende Filterung leicht überstrahlende

Spitzlichter.

Als der Zuschauer nach einer ganzen Weile

Schindler endlich von vorne zu sehen bekommt,

wird sein Kopf von Seitenlicht und Kante vorteil-

haft und spannungsreich moduliert. Außerdem

hält er die Hand mit einer Zigarette vor die untere

Gesichtshälfte, die noch dazu halb abgekascht im

Dunkeln liegt. Auf diese Weise zum Teil verborgen,

belauert Schindler jene, die seine Opfer sein wer-

den: die SS-Offiziere an den Nebentischen, zu de-

nen er Kontakt knüpfen wird, anfangs einzig und

allein, um über sie an lukrative Geschäfte heran-

zukommen.

Neeson ist ein sehr guter Schauspieler, aber ge-

wiß nicht der attraktivste. Kanten und Seitenlicht

lassen seinen Kopf schlanker erscheinen, als er ist.

Eine im Dunkeln liegende untere Gesichtshälfte

verleiht ihm naheliegenderweise etwas Geheim-

nisvolles, Zwielichtiges, macht es gleichzeitig

plausibler, warum Frauen ihn anziehend finden

sollen. Mit diesem Beleuchtungsstil hilft Kamins-

ki, den Zuschauer durch die Aufnahme ästheti-

scher Muster in die Zeit der Handlung einzufüh-

ren, denn oft sind die Gesichter auch in perfektem

Porträtlicht aufgenommen.

Abgerundet wird die Bildgestaltung dieser Ex-

positionsszene Schindlers durch die Tatsache, daß

hier eines der wenigen Male die Kamera ohne

deutliche inhaltliche Motivation im Bildinhalt

(aufgrund sich bewegender Akteure etwa) in Be-

wegung gesetzt wird. In einer langsamen Umfahrt

bewegen wir uns ein Stück um den Mann herum,

der ruhig in seinem Sessel sitzt, als sollten wir ihn

von allen Seiten eingehend betrachten, dieses

Exemplar Mensch, das über eintausendeinhun-

dert andere vor dem sicheren Tod retten wird. c

Wenn Sie ein bißchenmehr wissen wollen…

…haben wir das nicht nur inXL: cinearte ist der aktuelleInformationsdienst für Film-schaffende. Die neuestenDreharbeiten, Interviewsund Porträts vom Masken-bildner bis zur Kamerafrau,Übersichten von derDrehbuchförderung bis zumKinostart, Hintergrund-berichte, Nachrichten- undServiceteil halten Sie stän-dig auf dem Laufenden –jeden zweiten Donnerstagaufs Neue.

cinearte erscheint als PDF –das ist so schnell wie dasInternet und so schön wiegedruckt. Weil das alles imQuerformat ist, können Sieselbst entscheiden, ob Sielieber am Bildschirm lesenoder auf Papier.

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Page 58: cinearte XL 012

»Wann immer ich in Hamburg ankomme – ob auf dem Flughafen,

im Hauptbahnhof oder auf der Autobahn –, habe ich das Gefühl,

ich komme nach Hause! Hamburg, meine (Film-)Heimat:

Ich liebe dich, du bist das Derbste.«

Fatih Akin, Regisseur – Gegen die Wand | Im Juli

Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012

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cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter

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Text Peter Hartig | Fotos Jim Rakete

So schön kann Standortmarketing sein: Die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein

bat Filmschaffende vor die Kamera, auf daß sie erklären, was ihnen am Norden so gefällt.

Da hören wir gerne zu – und schauen genau hin. Denn hinter der Kamera stand Jim Rakete.

Heimatfilmer–

xl012_A4_Rakete 17.06.2009 17:13 Uhr Seite 59

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Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012

60

»Was mir am Norden gefällt? Daß man nicht so

viel reden muß…« Es ist ja eigentlich klar, wer so-

was sagt. Zumindest überrascht es nicht, wenn ne-

ben dem Zitat das Gesicht von Detlev Buck er-

scheint. Dem Regisseur, der seine Figuren nicht

viel reden läßt. Oder wenn, dann lieber seltsam-

skurrile Sachen, was am Ende ja dann irgendwie

auch wieder dasselbe ist.

Aus der Ferne betrachtet, wirkt das Filmland

genauso abgeklärt. Wenn Köln, München und Ber-

lin um Senderstandorte und prestigeträchtige Ki-

noproduktionen wetteifern, ist aus dem Norden

wenig zu hören. Was man nun bitte nicht falsch

verstehen soll, findet Jens Stabenow, der stellver-

tretende Geschäftsführer der Filmförderung Ham-

burg Schleswig-Holstein, in der die beiden

Bundesländer vor zwei Jahren ihre Institutionen

vereinigt hatten: »Im Wettbewerb der deutschen

Medienstandorte haben wir vielleicht nicht die

lauteste Stimme, stumm sind wir aber keinesfalls.

Auch in der Sache sind wir nicht weniger ziel-

orientiert und effektiv als ›die anderen‹ und kön-

nen hier mit wunderbaren Kinofilmen und Fern-

sehproduktionen punkten.«

Man muß es ja auch nicht übertreiben mit der

hanseatischen Zurückhaltung. Und kann es trotz-

dem anders machen, mag man sich gedacht ha-

ben, als der neue Production Guide für den verein-

ten Norden geplant wurde. Darum finden sich auf

den rund 190 Seiten des aufwendig produzierten

Handbuchs nicht nur nützliche Adressen oder

zauberhafte Bilder von Drehorten, Sets und Stu-

dios, sondern auch neun bekannte Gesichter der

dortigen Filmszene, die die Vorzüge des Standorts

in eigenen Worten beschreiben. Für die Porträt-

aufnahmen hat die Filmförderung einen der be-

kanntesten seiner Zunft gewählt, obwohl der Ber-

liner ist. Immerhin hat Jim Rakete aber lange Jahre

in Hamburg gelebt und gearbeitet.

Wobei die Standortfrage gar nicht ausschlag-

gebend war. »Wichtig war uns, einen Fotografen

zu finden, der nicht nur fachlich hervorragend ist,

sondern auch einen Zugang zur Branche der Film-

schaffenden hat und von dieser respektiert und

wertgeschätzt wird«, erklärt Stabenow. Da komme

man dann schnell auf diesen Namen: Rakete hat

seit den 1970er Jahren nicht nur Musiker im gan-

zen Land fotografiert (die Neue Deutsche Welle ist

von Spliff bis Nena vor seiner Kamera vorbeige-

rauscht), auch einige der 20 Porträtierten kennt er

bereits aus früheren Zusammenarbeiten – etwa

der Porträtreihe 1/8 sec.

Es sei ganz einfach gewesen, den Fotografen zu

gewinnen: »Es ist mir eine Ehre, mit einer Institu-

tion zusammenzuarbeiten, die frei von Etikette

und Dünkel Produktionen unterstützt und viele

der Karrieren über Jahre auch mit aufgebaut hat«,

sagt Rakete.

Teil der Absprache mit Fotograf und Filmschaf-

fenden war, aus den Aufnahmen der 20 Regisseu-

re, Schauspieler und Autoren noch eine Ausstel-

lung zu konzipieren, in der alle 20 gezeigt werden.

Die Fotos entstammen zwar denselben Fotoses-

sions, zeigen aber einen anderen Blickwinkel und

sind schwarzweiß. Die Bilder von Regisseuren,

Drehbuchautoren und Schauspielern zwischen

Nordseeinseln und Ostseestrand, auf holsteini-

schen Bauernhöfen und im Hamburger Hafen

wurden im Frühjahr auf der Berlinale präsentiert,

wo auch der Production Guide vorgestellt wurde.

Dann ging es weiter in die Stadtgalerie in Kiel.

Im September ist die Ausstellung schließlich im

Rahmen des Hamburger Filmfests vom 24. Sep-

tember bis 3. Oktober im Levantehaus Hamburg

zu sehen. c

Jim Rakete

fotografierte

die Film-

gesichter im

Norden. Fürs

eigene Bild

drückte er

auf den

Selbst-

auslöser. Fot

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ctio

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cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter

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»Nirgendwo sonst trennt das Licht den

Himmel so einmalig und einzigartig von

der Welt. Hier lebt der Horizont!

Ulrike Grote, Regisseurin und Schauspielerin – Ausreißer

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Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012

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»Hamburg ist der ideale Filmstandort: Hier hat man traumhafte Film-

kulissen und kann gleichzeitig die hanseatische Gelassenheit genießen.«

Kostja Ullmann, Schauspieler – Sommersturm | Stellungswechsel

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cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter

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»Warum in die Ferne schweifen,

wenn die Ferne liegt so nah.«

Hermine Huntgeburth, Regisseurin – Bibi Blocksberg | Die weiße Massai

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Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012

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»Welch einzigartige Vielfalt! Meine Volksschule auf Amrum, mein

Gymnasium im statusbetonten Hamburger Westen.

Die katholischen kleinen Leute auf der Insel Wilhelmsburg zwischen

Harburg und Hamburg in ihren Hochhäusern und Arbeitersiedlungen,

wo wir ›Nordsee ist Mordsee‹ drehten.

Das protestantische Großbürgertum der Elbvororte, in dessen Mitte

›Moritz, lieber Moritz‹ entstand.

Das unbekümmerte kulturelle Durcheinander Altonas (›Yasemin‹).

Die Stille des Wattenmeeres, das Krachen und Summen der Kieler

Werften.

Die Gediegenheit der Lübecker Altstadt, der grelle Fleischmarkt von

St. Pauli. Das Märchenland des Sachsenwaldes, das modernste und

größte Flugzeug der Welt, die A380, auf Finkenwerder.

Und was nicht sonst noch alles. ›Den Düwel ok‹, wie Thomas Mann

sein Lübecker Nobelpreiswerk begann.

Kein anderes Gebiet Deutschlands umfaßt so viele Menschengruppen

unterschiedlichen Profils, so viele gegensätzliche Drehorte wie unser

Land zwischen den Harburger Bergen und der Flensburger Förde.«

Hark Bohm, Regisseur und Schauspieler – Nordsee ist Mordsee | Yasemin

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cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter

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»Paris – zu chic!

London – zu teuer!

Rom – zu heiß!

Berlin – nicht schlecht!

Aber Hamburg und der Norden – großes Kino!

Gustav Peter Wöhler, Schauspieler

Urlaub vom Leben | Stellungswechsel

Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012

66

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cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter

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»Hafen, Schiffe, die Umarmung der zwei

Meere. Einmal im Jahr muß ich nach Sylt

und Frau Meer liebkosen. In Hamburg

bin ich geboren und aufgewachsen.

Hier war ich Menschlein, hier will ich sein

und bleiben. Für mich ist Hamburg die

Schönste. Hol di stief min Deern.

Hannelore Hoger, Schauspielerin

Henri Vier | Bella Block

»Ein Freund ist jemand, der deine Vergangenheit versteht, an deine

Zukunft glaubt und dich heute nimmt, wie du bist. Und genau dieses

Gefühl habe ich in Hamburg und Schleswig-Holstein.

Sibel Kekilli, Schauspielerin – Gegen die Wand | Winterrreise

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»Hanns Dieter Hüsch hat mal gesagt: Wer die Berge hat,

hat die Berge. Wer sie nicht hat, der braucht Fantasie.

Peter Jordan, Schauspieler – Die Schimmelreiter

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cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter

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»Was mir am Norden gefällt? Daß man nicht so viel reden muß…«

Detlev Buck, Regisseur und Schauspieler – Wir können auch anders | Knallhart

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Portfolio | Nordlichter cınearte XL 012

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»In der Nähe vom Hamburger

Schulterblatt liegt mein Schnei-

deraum. Ich kenne keine andere

Straße in Deutschland, in der so

viele verschiedene Nationalitäten

leben. Ein türkisches Geschäft

liegt neben einem griechischen

Restaurant, dann kommt ein

Italiener, ein Franzose, ein Inder,

Thailänder, Portugiese. Hier will

man nicht mehr weg.

Ina Weisse, Schauspielerin – Katzenzungen |

Die Weisheit der Wolken

»Unter der kalten Oberfläche des

Nordens gibt es viel Historie und

noch mehr Geschichten. Sie ans

Tageslicht zu bringen ist Aufga-

be der Literatur und des Films.

Armin Mueller-Stahl, Schauspieler –

Avalon | Die Manns

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cınearte XL 012 Portfolio | Nordlichter

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»Hamburg liegt an der Elbe,

Kappeln an der Schlei.

Das ist für mich dasselbe –

naß sind alle zwei.

Ruth Toma, Drehbuchautorin –

Solino | Emmas Glück

»Für mich ist die Zusammenlegung

der Filmförderungen beider

Länder ein großes Glück.

Endlich muß ich mich nicht mehr

entscheiden ob ich ein schleswig-

holsteinischer Hamburger oder

ein in Hamburg lebender

Schleswig-Holsteiner bin.«

Lars Jessen, Regisseur – Am Tag, als Bobby

Ewing starb | Dorfpunks

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»Wo wird das Tanzbein geschwungen?

Bei uns Norddeutschen!«

(Nordisch by Nature von Fettes Brot)

Lars Becker, Regisseur und Drehbuchautor

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cınearte XL 012 Das wahre Leben

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Der Prozeß ist schleichend. Sein Anfang liegt irgendwo zwischen dem Ende der Beziehung und

dem Beginn des Rosenkrieges, der oft folgt, Protagonisten sind die ehemaligen Partner, Gerichte

und Jugendämter, sein Verlauf ist unaufhaltbar und sein Ende von unglaublicher Konsequenz:

Kindesentzug. Oder, was im Ergebnis dasselbe ist, freiwilliger Verzicht auf den Umgang mit den

Kindern. Zum Wohle der Kinder. Die Triebfeder des Prozesses ist das Gegenteil von Liebe: Angst,

Kälte, Gleichgültigkeit, Egoismus, und derjenige (Mann), der Teil dieses Prozesses wird, bemerkt

seinen Sog meist erst, wenn es bereits zu spät ist. Den so entsorgten Vätern bleibt nichts anderes,

als zu schweigen. Und zu zahlen. Regisseur und Produzent Douglas Wolfsperger erfährt dieses

Schicksal am eigenen Leib, und es läßt ihn verzweifeln: »Ich weiß, daß ich großen Anteil hatte am

Scheitern unserer Beziehung, und daß ich meiner Ex-Freundin großen Schmerz zugefügt habe«,

Es gibt eine Welt jenseits der Leinwände. Bilden wir sie ab! Unsere neue Kolumne ist dem

Dokumentarfilm gewidmet – Trends und Diskusionen am Beispiel eines aktuellen Werks.

Text Christoph Brandl

Autobiografisches

So war das nicht geplant. Als der Dokumentarfilmer Douglas Wolfsperger sich mit entsorgten Vätern beschäftigte, geriet

er plötzlich selbst ins Bild.

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Das wahre Leben cınearte XL 012

74

sagt er, »aber was hat unser gemeinsames Kind damit zu tun? Wieso verliert meine Tochter des-

wegen ihren Vater?«

Wolfsperger beschließt, über das Thema einen Film zu machen. Auf der Suche nach betroffe-

nen Vätern landet er in Karlsruhe. Hier findet er vier Männer, die bereit sind, sich filmen zu las-

sen. Doch daß Wolfsperger selbst in seinem Film Der entsorgte Vater auftauchte, war so zunächst

nicht geplant. »Anfangs war es für mich nicht klar, daß ich mich persönlich in diesen Film ein-

bringen werde«, sagt Wolfsperger, »es war eher eine Entwicklung dahingehend, die sich während

des Drehs und Schnitts ergab. Denn es war atemberaubend für mich, wie nah die Entstehung des

Filmes an meiner eigenen Geschichte entlang lief. Das habe ich so noch nie erlebt.«

Die Parallelität der Ereignisse also. Vor fast genau einem Jahr, nach jahrelangem Kampf um ein

geregeltes Umgangsrecht mit seiner elfjährigen Tochter Hanna*, nach unzähligen geplatzten Va-

ter-Tochter-Treffen, nach etlichen Gerichtsverfahren und schlimmer noch: Nach unerträglichen

Provokationen durch den neuen Mann seiner Ex-Freundin, der sich plötzlich als Hannas Vater

ausgibt, schreibt die Tochter ihrem Vater einen vernichtenden Brief. Sie behauptet darin, ihren

Vater nicht zu mögen und keine Lust zu haben, freiwillig oder auf Geheiß des Familiengerichts et-

was mit ihm zu unternehmen. Douglas, der Mann, der wie die Parfümkette heißt – so bezeichnet

sie ihn an anderer Stelle – solle sie in Ruhe lassen. Daraufhin stellte das Gericht Wolfsperger vor

die Wahl: Er könne weiterhin auf ein Umgangsrecht mit Hanna klagen, dadurch würde er aller-

dings die so stark benötigte Ruhe seiner Tochter gefährden, oder er könne sich von ihr verab-

schieden. Für immer.

In diesem Moment entschließt sich Wolfsperger, in seinem eigenen Film mitzuwirken, auch

wenn er dem Unterfangen bis zum Ende kritisch gegenüber stand. »Wenn das jetzt so eine Na-

belschau gegeben hätte, und man sich am Ende fragen würde, was gehen mich die Probleme von

diesem Typen an? Und wenn es in der Inhaltsangabe hieße, Regisseur und Produzent auf der letz-

ten Reise zu seiner Tochter, hätte ich es nicht gemacht. Das sind nämlich genau die Filme, die ich

selbst nie sehen würde.«

*Name von der Redaktion geändert

Dokumentarfilmer im eigenen Fokus. Der Schweizer Thomas Haemmerli tritt in Sieben Mulden und eine Leiche selbst-

ironisch vor die Kamera (links), Niko von Glasow setzt sich in Nobody’s Perfect in Szene (rechts).

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cınearte XL 012 Das wahre Leben

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Wolfsperger, der sich zum ersten Mal an dieses Genre wagte, fügt hinzu: »Wenn man autobio-

grafische Filme machen will, funktioniert es nur, wenn man ein gutes Maß an Selbstironie besitzt.

Aber der Film muß auch selbstkritisch sein, weil er sonst nicht zu ertragen ist.«

Und er muß bewußt gegen die ehernen Grundsätze des Dokumentarfilms verstoßen: Dezi-

dierte Analyse und kritische Distanz, also eine objektive Haltung, sind im autobiografischen Film

per definitionem ausgeschlossen. Denn wie anders, wenn nicht durch konsequente Subjektivität

kann ein Dokumentarfilmer sein eigenes Leben aufarbeiten? Doch die inhärente Distanzlosigkeit

zum eigenen Schicksal erfordert einen Balanceakt, der nicht jedem gelingt. Denn zu groß ist die

Versuchung, sich selbst in Szene zu setzen und der eigenen Person im Film mehr Raum zu geben,

als nötig – oder verträglich.

Filme, bei denen diese Gratwanderung gelungen ist, sind beispielsweise Am seidenen Faden

(2005) von Katharina Peters, in dem sich die Filmemacherin auf eindringliche und nie aufdring-

liche Weise mit der schweren Krankheit ihres Mannes auseinandersetzt. Traumsequenzen von be-

törender Schönheit und Eleganz sind der harten Realität gegenübergestellt – und machen da-

durch beides erst erträglich: Realität und Film. Auch Sieben Mulden und eine Leiche (2007) des

Schweizers Thomas Haemmerli funktioniert. Thomas und Eric Haemmerli müssen die Wohnung

ihrer kürzlich verstorbenen Messie-Mutter ausräumen. Dabei entdecken sie die eigene Familien-

geschichte, die bis ins Jahr 1880 zurückreicht. Haemmerli umgeht die Gefahr, sich selbst zu be-

mitleiden und schafft stattdessen einen intelligenten und selbstironischen Film. Er nähert sich

selbstkritisch dem Tod seiner Mutter und zwingt dadurch auch den Zuschauer, sich mit dem letz-

ten Tabu unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen: Dem Tod. Gerade bei diesem Film wären Ei-

telkeit und Selbstverliebtheit der Genickschuß.

Nobody’s Perfect (2008) von Niko von Glasow gewann dieses Jahr den »Deutschen Filmpreis«

für den besten Dokumentarfilm. Doch von Glasow, der sich sehr um Authentizität bemüht, miß-

lingt der Versuch, durch Stilmittel wie Schrillheit und Distanzlosigkeit wirklich authentisch von

seiner eigenen Conterganschädigung und der von elf weiteren Menschen zu erzählen. Der Film

wirkt streckenweise aufgesetzt und konstruiert, besonders dann, wenn einer der Geschädigten

nach seiner Vergangenheit als Busengrabscher befragt wird, und ein anderer von seinen Prügel-

attacken erzählen muß. Diese Fragen und Antworten sollen wohl lustig sein, denn die beiden sind

armlos. Doch der Film, der stellenweise sehr mutig ist, gerät mehr und mehr zur Selbstdarstellung

des Regisseurs. Oft hart an der der Grenze zur Selbstverliebtheit, ist von Glasow stets versucht,

sich über seine Protagonisten zu erheben. Und oft gelingt der Versuch.

Ähnliches gilt für Marco Wilms, Regisseur von Ein Traum in Erdbeerfolie (2009). Wilms, ein

selbsterklärtes Ex-Topmodell, beschäftigt sich mit der Mode- und Modelszene in der ehemaligen

DDR, der auch er angehörte. Anfänglich interessiert es ihn noch, sich mit dem Schaffen einer mo-

debewußten DDR-Jugend auseinanderzusetzen. Doch spätestens, als Wilms, seinen Sohn auf

dem Arm, diesem das geteilte Berlin erklärt, übertritt er die Grenze zum Erträglichen. Und die am

Ende des Films à la frühen 1980ern ad hoc inszenierte Modeschau im Wilmsschen Wohnzimmer

– mit Wilms als reaktiviertem Model – besitzt kaum mehr als Homemovie-Qualität.

Auch der Österreicher Marko Doringer dreht sich in Mein halbes Leben (2008), ausschließlich

um sich selbst. Der Inhalt des Films, der 2008 Österreichs Dokumentarfilm des Jahres war, ver-

spricht genügend Selbstironie für 90 Minuten: Man behaupte etwas über sich, nämlich daß man

im Alter von 30 Jahren noch nichts geleistet habe und mache die Probe aufs Exempel, indem man

sich von Freunden, Verwandten und ehemaligen Freundinnen endlich einmal die Wahrheit gei-

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Page 76: cinearte XL 012

Das wahre Leben cınearte XL 012

76

gen läßt. Soweit, wie gesagt, ganz lustig. Das Problem entsteht dann, wenn nichts Tiefergehendes

bei dieser Wahrheitssuche herauskommt, sondern nur Banales, wie »Das Leben ist ein ewiger

Kampf, und der hört nie auf.« Dann wird das Betrachten des Films schnell mühsam und man fragt

sich, warum man der Selbstfindung eines Anfang-30ers beiwohnen solle.

Wolfsperger ist für den Auftritt im eigenen Film heftig kritisiert worden. Doch für ihn ist diese

Kritik nicht gerechtfertigt: »Meine Auftritte sind ganz genau kalkuliert. Bei jeder Einstellung von

mir haben mein Cutter Bernd Euscher und ich überlegt, ob wir die brauchen für die Geschichte

oder nicht. Denn ich wollte eine Selbstdarstellung auf jeden Fall vermeiden, weil ich dazu einfach

nicht der Typ bin.«

Die eigene Biografie wird auch von Künstlern anderer Gattungen zur Kunstform erhoben,

etwa in der Konzeptkunst von Tracey Emin und Sophie Calle. Doch anders als bei genannten Do-

kumentarfilmen entsteht hier die Kunst erst durch und mit dem Inszenierten, mit bewußt Künst-

lichem. Denn erst das Verschwinden des Künstlers hinter seiner Inszenierung gibt den Blick auf

das Kunstwerk frei. Eines der bekanntesten Werke der Engländerin Tracey Emin ist ihre Installa-

tion My Bed, von der sie behauptete, es sei ihr eigenes ungemachtes Bett, um das ihre blutver-

schmierte Unterwäsche und von ihr und ihren Lovern benutzte Kondome lagen. Doch die Erhe-

bung der Installation in den Kunstraum macht es überflüssig, den Wahrheitsgehalt dieser

Behauptung in Frage zu stellen.

Sophie Calle, eine ehemalige Stripperin aus Frankreich, geht noch einen Schritt weiter. Für das

Projekt The Detective bat sie ihre Mutter, einen Detektiv zu beauftragen, der sie beschatten sollte.

Die Fotos des Detektivs stellte sie anschließend aus. Aber was sie den Detektiv beobachten ließ,

bestimmte sie selbst, wie sie sagt: »Meine Projekte haben sich oft ineinander verschachtelt. Nach-

dem ich den Leuten nachgegangen bin, wollte ich selbst verfolgt werden, um dann damit zu

spielen.«

Wolfsperger weiß noch nicht, ob er jemals wieder einen Teil seines eigenen Lebens in den

Mittelpunkt eines Filmes stellen wird. Ausschließen möchte er es jedoch nicht: »Ich habe Gefal-

len gefunden an der Form, aber das heißt nicht, daß ich jetzt alle Filme so machen werde. Jeden-

falls hoffe ich nicht, daß ich noch einmal eine ähnlich schlimme Erfahrung mache, über die ich

dann einen Film machen muß.«

Weil die forcierte Entfremdung zwischen Wolfsperger und seiner Tochter bereits zu weit voran

geschritten ist, als daß man sie noch umkehren kann, bleibt dem verzweifelten Vater keine Wahl.

Er entscheidet sich für die endgültige Verabschiedung und gibt seiner Tochter im Beisein eines

Verfahrenspflegers ein letztes Mal die Hand. Am Ende des sehenswerten Filmes begleitet die Ka-

mera den verkleideten Wolfsperger auf einen Spielplatz, auf dem ganz nah ein Mädchen spielt,

das seine Tochter sein könnte. Als ihn das Mädchen einen Augenblick lang ansieht, übermittelt

Wolfsperger ihr eine Botschaft: »Ich bin immer für dich da.«

Und da spürt man, worum es Wolfsperger mit diesem Film eigentlich geht: Wenn er den Pro-

zeß des Kindesentzuges schon nicht mehr umkehren kann, möchte er doch immerhin ein Doku-

ment schaffen, damit seine Tochter erfährt, wie sehr er sich um sie bemüht. Später, wenn sie er-

wachsen ist.

Der entsorgte Vater startet am 11. Juni im Kino: www.der-entsorgte-vater.de

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Page 77: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Gesetze der Serie | Die Simpsons

77

Text Hartmut Tabakmann

Vorspann. Gibt es noch jeman-

den, der diese Szenenfolge nicht

kennt? Der Himmel über der

Stadt Springfield lichtet sich, ein

Chor singt den aufscheinenden

Titel »The Simpsons« mit. Der

kleine Rebell Bart muß nachsit-

zen und wieder und wieder ei-

nen Satz an die Schultafel

schreiben. Dann springt er auf

sein Skateboard. Sein Vater Ho-

mer verläßt seinen Arbeitsplatz

im Kernkraftwerk – mit einem

strahlenden grünen Brennstab

im Kragen. Das Baby der Fami-

lie, Maggie, wird im Supermarkt

über die Kasse gezogen, Mutter

Marge erschrickt nur kurz.

Dann geht es im Auto heim. Die

altkluge Tochter sprengt den

sich der Blick ins Universum

hinein und langt schließlich

über Atome und DNS-Stränge

wieder beim gelben Kahlschädel

von Homer Simpson an. In an-

deren Episoden treten die Simp-

sons als Knet- oder Lego-Figu-

ren auf. Es kommt zu Begeg-

nungen mit der Familie

Feuerstein, mit der Ästhetik der

Monty Pythons oder James

Bond. Nichts ist zu fordernd:

Auch René Magritte (die Familie

hängt im Museum als Bild an

der Wand, darunter steht der

Text »Ceci n’est pas un couch

gag«) und die Beatles (die Simp-

sons als Sergeant-Pepper-Trup-

pe) bekommt das Publikum

zum Lachen vorgesetzt. Klare

Ansage: Diese Serie ist so unbe-

rechenbar wie das Leben. Und

lest mal nach, was Magritte so

trieb.

Musikunterricht mit einem

Jazz-Solo. Die ganze Familie

sprintet vor den Fernseher, so

schnell, daß der ankommende

Homer fast überfahren wird.

Dieser Anfang zeigt, wie ver-

spielt und detailverliebt die Se-

rie ist: Die halbe Stadt tritt in ei-

nem Schwenk auf, ohne Pau-

sentaste erkennt man die

Figuren aber erst gar nicht. Jede

Episode wird schon hier zum

kleinen Kunstwerk: Ob bei Lisas

immer wieder variiertem Saxo-

fon-Solo, den stets neuen

Sätzen, die Bart an die Tafel

schreibt (»Ich genieße keine di-

plomatische Immunität«) oder

der Art, wie die Familie vor dem

Fernseher landet. Einmal ist

dieser »Couch-Gag« ein Zoom

aus dem Zimmer ins Weltall, als

ob man bei Google Maps gelan-

det wäre. Immer weiter entfernt

Wenn einer fünf Geschichten auf einmal erzählt,

sich dafür 1001 Minute Zeit nimmt und trotzdem

kein Ende findet, freuen sich die Zuschauer.

Fernsehserien wecken Begeisterung wie nur

wenige Kinofilme. Warum eigentlich?

Gesetze der Serie:

05_Die Simpsons

xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 77

Page 78: cinearte XL 012

Gesetze der Serie | Die Simpsons cınearte XL 012

78

Worum geht’s wirklich? Im

Spiegel sehen wir uns natürlich

selbst: Die Simpsons, das ist

Welttheater für die Postmoder-

ne, ernst gemeint und deshalb

dreifach durch die Metamangel

gedreht. Ob Religionswahn,

Umweltzerstörung, Kriegstrei-

berei und Profitgier – hier wer-

den heiße Themen angefaßt

und in Gelb getaucht. Nachdem

Homer schwule Paare in seiner

Garage traute, gingen Konserva-

tive in den USA auf die Straße.

Dieser Familienvater ist ehrlich

und geradeheraus: Mit seiner

täppischen Ignoranz untergräbt

er die Gleichgültigkeit der Ge-

sellschaft. Und entlarvt damit

immer wieder die Leute seiner

Stadt Springfield. Für den deut-

schen Bestseller-Autor Daniel

Kehlmann ist die amerikanische

TV-Comic-Serie eines der »intel-

Worum geht’s? Um den »Ame-

rican Way of Life« und seine Ab-

wege: Ständig strebt jemand

nach Profit, Aufmerksamkeit

oder dem Ersten Platz in einem

Vielfraß-Wettbewerb. Alles an-

dere als Hochglanzbilder. Den

USA wird mit Homer, der ge-

nauso zu epischen Taten wie zu

Völlerei und Trotteligkeit neigt,

der Spiegel vorgehalten.

ligentesten und vitalsten Kunst-

werke« unserer Zeit. Den Dreh-

buchautoren der Serie sei es ge-

lungen, aus wohl über hundert

wiederkehrenden Mitspielern

»runde, psychologisch reiche

Charaktere zu machen, die man,

ohne zu zögern, so manchen Fi-

guren der Weltliteratur an die

Seite stellen kann«, lobte Kehl-

mann in einem Beitrag für den

Spiegel: »Die Simpsons, das ist

die Synthese von Disneyscher

Buntheit und Tolstoischer Cha-

rakterzeichnung, von Voltaires

Schärfe und der massenkompa-

tiblen Präsenz von Pepsi, Star-

bucks und Burger King.« Das

zeigt vor allem eins: Zu den

Simpsons haben selbst Erfolgs-

autoren eine gut formulierte

Meinung. Weil man an dieser

Serie auch die eigene Welt ver-

messen kann.

Zeit und Ort. Matt Groening

wollte nicht, daß sein Spring-

field geographisch festzulegen

ist. Springfields gibt es in den

USA fast so häufig wie McDo-

nald’s an der Straßenecke… na

gut, zumindest in jedem Bun-

desstaat wenigstens eines. Als

der Simpsons-Kinofilm – übri-

gens kein Fortschritt zur Serie –

beworben wurde, stritten sich

14 Springfields darum, die offi-

zielle Heimpremiere abzuhal-

ten. Am Ende konnte sich eine

Stadt in Vermont freuen.

Und die Stadt ist scheinbar

aus der Zeit gefallen: Die Kinder

wachsen nicht, das Baby Maggie

fängt nicht an zu sprechen (wo-

bei sie einmal eine Ausnahme

macht und »Daddy!« sagt). Es

gibt kaum Entwicklung (und

wenn, sieht die Zukunft für Bart

ziemlich schlecht aus). Spring-

field, das ist vor allem ein

immerwährendes Jetzt, daß sich

direkt an den Zuschauer richtet.

xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 78

Page 79: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Gesetze der Serie | Die Simpsons

Helden. »Do the Bartman« war

die erste Berührung Deutsch-

lands mit dem gelben Univer-

sum. Ein seltsamer Pop-Rap mit

einer Piepsstimme, geschrieben

von Michael Jackson, der sich

1990 in den Charts festsetzte.

Erst danach lief die Serie im öf-

fentlich-rechtlichen Fernsehen,

und Bart stand damals im

Mittelpunkt. Weniger boshaft

und durchtrieben als heute,

eher ein Widerstandskämpfer

im System.

Sein Vater Homer wirkte da

eher blaß und mitleiderregend.

Das hat nicht lange gehalten:

Seine Ausfälle sind mittlerweile

glorreich überhöht, in manchen

Folgen kann das in einen Aktio-

nismus ausarten, der einiges be-

wegt. Manchmal scheint er so-

gar zu abstrakten Gedanken fä-

hig – Homer ist längst die

zentrale Figur. Seine Tochter

Lisa mag ihm intellektuell über-

legen sein, Marge ihre Haus-

frauenrolle immer wieder über

Bord werfen. Aber im Ernst:

Sind wir nicht alle vor allem ein

bißchen Homer?

79

Philosophischer Ansatz. Die

Serie kennt keine Gnade, wenn

sie mit dem Finger auf die kor-

rupte Natur der Menschen zeigt.

Aber das oder Skurrilität alleine

hätte den anhaltenden Erfolg

nicht begründet. Erfinder Matt

Groening sagte einmal: »Wir

tanzen an der Grenze zum dun-

klen Humor entlang. In den

Simpsons können wir uns im-

mer erkennen.«

Die Simpsons sind anti-süß,

anti-glamourös, aber auch anti-

zynisch. In dieser Stadt haben

alle Lebensmodelle und damit

auch philosophischen Haltun-

gen Platz. Deshalb ist es auch

kein Wunder, daß es eben kei-

nen einzige Philosophie gibt.

Das Buch Die Simpsons und die

Philosophie verstaut die Serie

nicht in einer Schublade: Der

Aufsatz »Homer und Aristote-

les« zeigt zum Beispiel, daß die

praktische Vernunft nicht in die-

sen Kahlschädel will. Und »Wa-

rum Maggie wichtig ist – Klänge

der Stille aus Ost und West«

stellt Sartres Philosopie der Wor-

te und das Schweigen der öst-

lichen Philosophen gegenein-

ander. Die Simpsons vertreten

keine geschlossene Ideologie,

machen aber Lust aufs Philoso-

phieren.

Stammpersonal. Das Stamm-

personal ist eine ganze Stadt.

Wen sollte man zuerst nennen?

Den verfetteten Chief Wiggum,

der es mit dem Gesetz nicht so

genau nimmt, wenn er gerade

Donuts ißt? Oder Montgomery

Burns, Atomkraftwerksbetreiber

und Machtechse von Springfield

in biblischem Alter? Seine kraft-

lose Körpersprache mit den

hängenden Händchen ist ein

treffendes Porträt der Gier. Oder

doch Apu, der indisches Besitzer

des »Kwik-E-Mart«, bei dem der

amerikanische Traum nicht so

recht ankommt und der seine

Kinder aus Not einmal an eine

Reality-Revue verscherbelt?

Jede Folge kann eine Neben-

figur in den Mittelpunkt zerren

und eine ganz neue Person be-

leuchten: Jahrelang hat Barney

nur gerülpst. Und dann gibt es

die Folge, in der er sich als Fil-

memacher kurz über die Gosse

erhebt – bis zum nächsten Duff-

Bier. Aber er hatte seine 30 Mi-

nuten Ruhm.

xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 79

Page 80: cinearte XL 012

Vorbilder. Die Serie ist wie

ein Schwamm. Ästhetisch,

philosophisch, soziologisch, po-

litisch – sie saugt ihre Zitate aus

allen Bereichen des Lebens.

Aber woher kommt der Stil? In

seiner Jugend wollte Matt Groe-

ning so wie Charles Schultz

zeichnen. Die Peanuts sind also

nähere Verwandte, auch wenn

Bart Simpson dem melancholi-

schem Charlie Brown vermut-

lich in den Bauch boxen würde.

Groening gibt zu, daß er

Schultz’ feinen Stil mit Skurri-

lität ersetzte – aber die Berüh-

rungspunkte sind deutlich: Na-

mentlich erinnert Barts Freund

Milhouse van Houten an den

Peanut Linus van Pelt.

Überhaupt die Namen: Die

Hauptcharaktere entstammen

dem persönlichen Umfeld von

Matt Groening: Sein Vater heißt

Homer, seine Mutter Margaret,

die beiden Söhne heißen Homer

und Abe. »Ay Caramba«, kann

man da nur mit Bart Simpson

sagen. Groenings Familie trägt

die Entfremdung angesichts des

Erfolgs mit Fassung.

Gesetze der Serie | Die Simpsons cınearte XL 012

80

Visuelle Merkmale. Gelb.

Musik. Erstaunlich frisch ist der

Score, den Danny Elfman für

Die Simpsons komponierte –

selbst nach zwei Serienjahr-

zehnten. Elfman hat für Tim

Burton und Sam Raimi viele an-

dere verquere Visionen erfolg-

reich vertont, und es ist erstaun-

lich, wie dieses Thema die

Widersprüche vereint: bombas-

tisch einerseits, aber ohne Pa-

thos, stets gehetzt – und doch zu

jedem Tempowechsel bereit.

Wunderbar, daß Lisas Saxofon-

Solo sich erlaubt, die Aufregung

und Perfektion quasi zu durch-

brechen – jeder hat hier seinen

eigenen Rhythmus.

Gimmicks. Wer Rang und Na-

men in den USA hat oder derzeit

hip ist, wird mit einem Simp-

sons-Auftritt erst geadelt. Die

Smashing Pumpkins oder John-

ny Cash gaben sich die Ehre,

aber genau schaute die doku-

mentarische Lasagne Michael

Moore vorbei. Pamela Anderson

wurde nachgemalt, aber auch

Star-Architekt Frank Gehry. Der

Zeitgeist wird gelb.

Legendär sind auch die Hel-

loween-Folgen, die zeigen, wie

wenig diese Serie (nur) für Kin-

der gemacht ist. Bezugnahmen

auf das Werk von Edgar Allan

Poe, B-Horror und psychedeli-

sche Filme aus den Sechzigern

zeigen, daß sich die Macher ge-

rade hier austoben – und ziemli-

che Nerds sind.

Auch sonst gilt: Das ständige

Aufbrechen von dramaturgi-

schen Strukturen gehört zu den

Simpsons wie das immergleiche

»Gute Nacht, John Boy« zu den

Waltons. Die Gimmicks sind

hart erarbeitet: An einer Folge

sitzen die Autoren und Zeichner

mindestens ein halbes Jahr.

xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 80

Page 81: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Gesetze der Serie | Die Simpsons

81

c

Einfluß. Zum 20. Jubiläum gibt

es Simpsons-Briefmarken in den

USA, schon im Jahr 2000 klebte

die gelbe Familie auf kirgisi-

schen Briefen. In der arabischen

Welt heißt Homer Simpson

Omar Shamsun; es herrscht

Bierverbot in der Serie. Überall,

wo sie zu sehen sind, wirkt die

Familie aus Springfield als

Gegenstimme und setzt sich im

kollektiven Gedächtnis fest. Sie

sind die Vorboten einer völlig

entpolitisierten Demokratie,

aber immerhin: die flache Mei-

nung lassen sie sich nicht ver-

bieten!

Die lose Struktur der Serie,

ihre stilistischen Brüche haben

Serien wie Southpark und Fami-

ly Guy erst möglich gemacht.

Die Simpsons sind bejahender,

versöhnlicher als ihre Nachfol-

ger – ein einigendes Element für

eine ganze Generation der 90er

Jahre. Der Autor Chris Turner

nannte sein Buch über das Phä-

nomen Planet Simpson, und Ge-

neration-X-Autor Douglas Cou-

pland schrieb das Vorwort dazu

– das sagt eigentlich schon alles.

Und doch hat die Serie ihre Be-

deutung bis heute nicht verlo-

ren. In einer der nächsten Staf-

feln soll eine Folge in Israel spie-

len. Nur auf eines können sich

Juden, Christen und Muslime

dabei einigen: Wut gegen Ho-

mer. Ein gelber Mann mit

Bauchansatz und wenig Haar

entspannt den Nahost-Konflikt

mit Ignoranz.

Suchtfaktoren. Die Welt ist un-

übersichtlich geworden, und

Die Simpsons wollen daran auch

nichts ändern. Es gibt mittler-

weile Hunderte Folgen – selbst

Matt Groening sagt, er kann sich

nur an einen Bruchteil erinnern.

Aber Die Simpsons so etwas wie

ein medialer Anker. Ein geziel-

tes, spitzes, Homersches »Nein!«

kann Freundschaften begrün-

den. Die Serie ist so etwas wie

das Wetten, daß…? der Thirty-

somethings; darüber reden geht

immer. Im übrigen hilft die Mi-

schung aus infantilem Humor

und extrem kultivierter Anspie-

lung, nicht zu früh erwachsen

zu werden.

Zahlen. Ganz einfach die erfolg-

reichste Zeichentrickserie der

Fernsehgeschichte: Die Simp-

sons überholten vor über einem

Jahrzehnt die Feuersteins, die

Muppets (okay, nicht ganz

Zeichentrick) brachten es auch

nicht auf mehr als 120 Episoden.

Die Simpsons haben die 400 Fol-

gen dagegen überschritten. Daß

die Serie 20 Jahre alt geworden

ist, sieht man ihr nicht an. Ab

1991, zwei Jahre nach dem US-

Start, fanden sie den Weg nach

Deutschland. Die jüngste Staffel

wurde hier noch nicht ausge-

strahlt, die letzte neue Episode

sahen im März 1,89 Millionen

Menschen auf Pro Sieben.

Die Serie hat einen eigenen

Stern auf dem Walk of Fame und

hat über die Jahre 24 »Emmys«

erhalten. Angesichts der vor-

abendlichen Dauerversorgung

mit Wiederholung und weiterer

geplanter Staffeln in den USA

wird auch die nächste Genera-

tion sicher mit ihrer Simpsons-

Dosis vorsorgt.

xl012_C2_Serie Simpsons 17.06.2009 15:59 Uhr Seite 81

Page 82: cinearte XL 012

Porträt | Marc Rothemund cınearte XL 012

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DerGeldsuchervon SchwabingMarc Rothemund will einen Film über die Schwabinger Bohème und ihre »Königin«

Fanny zu Reventlow drehen. Tolle Idee. Aber Geld bekommt er nicht dafür. Schade.

Unser Autor hätte es ihm gerne gegeben.

Text und Fotos Christoph Gröner

xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 82

Page 83: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Porträt | Marc Rothemund

83

Die Geschichte ist verrückt und wahr, zugleich

ein historischer Stoff und modern: Fanny Comtes-

se zu Reventlow, alleinerziehende Mutter, Lebens-

künstlerin und Schriftstellerin, widersetzte sich

zeitlebens den Forderungen der wilhelminischen

Gesellschaft. Ihr Leben umspannte genau die Kai-

serzeit – von 1871 bis zum endgültigen Zu-

sammenbruch 1918. Rebellisch blieben ihre An-

sichten bis zum Ende, den Beweis dafür führte sie

nicht nur mit ihren zahllosen Liebhabern an.

Ihr Biografie ist untrennbar mit der bayeri-

schen Hauptstadt verbunden, in der die gebürtige

Husumerin lebte, als hier der Himmel laut Tho-

mas Mann »von blauer Seide« war und »München

leuchtete«. Die Reventlow war das personifizierte

Leuchten. Ihr Leben sei »eines von denen (…), die

erzählt werden müssen«, schrieb ihr Verehrer Rai-

ner Maria Rilke. Marc Rothemund will genau das:

»Die Königin von Schwabing« auf die Leinwand

bringen. Wenn er denn könnte. Denn Geld hat er

derzeit nicht einmal für die Entwicklung.

Am Tag des Treffens mit dem Regisseur steht die

Sonne schon schräg, von blauer Seide am Himmel

sprechen höchstens Reiseführer, die man im Regal

lassen sollte. München wirkt manchmal, als hätte

es sich kreative Energiesparlampen eingedreht:

Bis es richtig leuchtet, vergeht Zeit. Aber wenn

Marc Rothemund mit seinem Koautor Hellmut

Fulss ins Synchronschwärmen über die Epoche

kommt, ist ein wenig vom alten Schwabing zu

spüren. Ein knapp 30seitiges Treatment hat er mit-

gebracht, es ist voll mit Fotos der Wende zum 20.

Jahrhundert, die Biografie der rebellischen Gräfin

findet hier kaum Platz. »Daß sich München Welt-

stadt nennen darf, liegt zum guten Teil an dieser

Zeit.«, erzählt Rothemund. Und Fulss: »Was für

eine Frau. Ihre Geschichte ist natürlich auch die

von Schwabing. Da schwärmen alle von der

Simplicissimus und mehr – Marc Rothemund auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 83

Page 84: cinearte XL 012

Porträt | Marc Rothemund cınearte XL 012

84

Vorgarten der Bohème: Der Regisseur am Kleinhesseloher See

im Englischen Garten (oben) und mit seinem Koautor Fulss im

»Alten Simpl« an der Türkenstraße auf der Suche nach Spuren

des alten Schwabings.

Irgendwie sah das hier auch mal anders aus: Marc

Rothemund an der Ecke Amalien- und Theresienstraße,

wo sich einst Künstlerkreise im »Café Stefanie« trafen:

Auferstehung eines anarchischen München. Bloß – wo

war das Café? Diskussionen in Schwabing.

xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 84

Page 85: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Porträt | Marc Rothemund

85

Künstlergruppe ›Der Blaue Reiter‹. Aber wie ist der

Weltruf dieses Viertels entstanden?«

Beide sitzen im »Alten Simpl« in der Türken-

straße. Als die Kneipe – nach der satirischen Wo-

chenschrift – noch »Simplicissimus« hieß, schlug

sich die Schwabinger Intellektuellenszene hier die

Nächte um die Ohren, die Reventlow diskutierte

mit und verdrehte den Männern den Kopf. Die

Speisekarte hier verkündet es noch immer nostal-

gisch: »Die barfüßige Gräfin Reventlow, die

Schwabing und den Rest der Welt als ›Wahnmo-

ching‹ verstand«, und Intellektuelle wie Erich

Mühsam, Oskar Maria Graf und Joachim Ringel-

natz gaben sich ein Stelldichein.

Die Bohemiens waren verrückt nach ihr, nach

ihrem Freiheitsdrang und ihrer Sinnlichkeit.

Schon 1899 hat sie in dem Essay Viragines oder

Hetären? ihre libertinären Ansichten verbreitet:

»Vielleicht entsteht noch einmal eine Frauenbe-

wegung in diesem Sinn, die das Weib als Ge-

schlechtswesen befreit, es fordern lehrt, was es zu

fordern berechtigt ist, volle geschlechtliche Frei-

heit, das ist, freie Verfügung über seinen Körper,

die uns das Hetärentum wiederbringt. Bitte, kei-

nen Entrüstungsschrei. Die Hetären des Altertums

waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen

(…). Das Christentum hat statt deßen die Einehe

und – die Prostituzjon geschaffen. Leztere ist ein

Beweis dafür, daß die Ehe eine mangelhafte Ein-

richtung ist.« Das wirkt heute noch kontrovers, die

Frauenbewegung stand quer zu diesen Ansichten.

Aber in München gab es Raum für wilde Le-

bensentwürfe unter dem Prinzregenten Luitpold,

die Stadt wurde zum Anziehungspunkt der Künst-

ler. »Das reizt uns: Wir zeigen ein liberales, anar-

chistisches München«, sagt Helmut Fulss. Qualitä-

ten, die man heute gemeinhin Berlin zuschreibt.

München ist zweifellos bedächtiger (und teurer),

die Betonung der Unterschiedlichkeit wirkt aber

oft albern. Marc Rothemund jedenfalls pendelt

zwischen den Städten und findet, beide hätten

eine »Seelenverwandschaft«.

Die Figur der Reventlow wäre auch in Berlin

Ausnahmerscheinung. Zahlreiche Biografien und

natürlich auch ihre Romane wie Herrn Dames Auf-

zeichnungen zeugen davon, in denen sie aus ih-

rem abenteuerlichen Leben schöpfte. Das ist weit

mehr als die domestizierte Postkarten-Weltstadt

mit Herz. Aber die dunkle Zeit Münchens als reak-

tionäre Hochburg, als Keimzelle der Nazi-Bewe-

gung hat das nachhaltig überdeckt. »Ich war scho-

ckiert, wie wenig ich wußte über die absolute

Hochzeit Schwabings«, gesteht auch Rothemund.

»Die Künstler verbrachten den Tag bei einer Tasse

Kaffee und konnten noch anschreiben«, sagt er.

Neubauten monatelang für wenig Geld »warmzu-

wohnen«, sei eine billige Unterkunftsmöglichkeit

gewesen.

Überall seien die Spuren noch zu finden, sagt

Rothemund und kommt mit auf eine kleine Spu-

rensuche durch Reventlows »Wahnmoching«. Ein

paar Minuten Fußweg vom »Simpl« entfernt, gab

es früher das »Café Stephanie« an der Amalien-

straße. Auf dem Weg dahin hängen in einem Anti-

quariat alte Simplicissimus-Ausgaben, das Stück

für fünf Euro. Rothemund greift zu, schließlich pu-

blizierte die Reventlow hier Artikel über die wilhel-

minische Obrigkeit, der ihren Verleger Albert Lan-

gen vier Monate ins Gefängnis brachten. Die

Geschichte der Künstler hängt hier noch in den

Schaufenstern, nicht selten liegt sie auf der Straße.

Nur das »Café Stephanie«, den zweiten großen

Treffpunkt der Bohemiens, gibt es längst nicht

mehr. Da hilft Rothemund und Fulss auch kein

historischer Bildband, mit dem sie die Kreuzung

an der Theresienstraße vergleichen. An den Neu-

bauten ist nichts mehr zu erkennen. Aber um

Motive machen sich Fulss und Rothemund keine

Sorgen: »Hier gibt es Aufgänge, Flure, Treppenauf-

gänge, Innenhöfe, die suchst du in der ganzen

Welt«, meint Rothemund. Er will seinen Film vor

allem als Kammerspiel in Kneipen und Wohnun-

gen anlegen, dort, wo sinnenfroh das Leben

genossen wurde und intellektuelle Kämpfe ausge-

fochten wurden. Als Höhepunkt ihres gesellschaft-

lichen Lebens gründete die Reventlow 1903 die er-

ste Wohngemeinschaft im Deutschen Kaiserreich

mit ihrer großen Liebe, dem polnischen Kunstma-

ler Bohdan von Suchocki, ihrem Sohn Rolf und

dem neun Jahre jüngeren Schriftsteller Franz Hes-

sel. Das »Eckhaus« an der Kaulbachstraße wurde

für wenige Jahre zum Mittelpunkt der Schwabin-

xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 85

Page 86: cinearte XL 012

Porträt | Marc Rothemund cınearte XL 012

86

ger Künstlerszene. Und Franz von Hessel später

ein Vorbild für Jules und Jim – München nahm die

Nouvelle Vague voraus.

Das damalige Schwabing war ein »Zustand« für

die Reventlow, den es gegen alles Reaktionäre zu

verteidigen galt. Etwa gegen den Kreis der soge-

nannten Kosmiker, die sich zunächst in elitären

Fantasien ergingen und ihre Feste in Togen feier-

ten und später zu brutalen Antisemiten wurden.

Im Gewand der Avantgarde steckte schon der

fürchterliche Spießer. Auch von diesem »Schwa-

binger Krach« will Rothemund natürlich erzählen,

Sechs Millionen Euro, so überschlägt er, würde die

ganze Geschichte kosten. Aber bislang hat ihm die

bayerische Filmförderung selbst 20.000 Euro für

die weitere Entwicklung des Drehbuchs verwei-

gert. Stattdessen dreht Rothemund nun erst ein-

mal Komödie: Alles für Lila. Als »Notting Hill für

Teenager« beschreibt er das – man merkt ihm an,

woran das Herz hängt.

Über die Ablehnung reden will Marc Rothemund

nicht. Schließlich vergrätzt es sich kein Regisseur

in Deutschland mit den Förderinstitutionen, ohne

die nichts läuft. Es mag an der derzeitigen Finanz-

krise liegen, daß vor allem große Produktionsfir-

men Geld zur Standortförderung bekommen, und

ein anderes Argument könnte sein, daß es bereits

einen Dreiteiler von Löwengrube-Regisseur Rainer

Wolffhardt über die Reventlow gibt. Aber das war

1980, und über die »Weiße Rose« und Sophie

Scholl gab es sogar schon zwei Filme, als Rothe-

mund mit Sophie Scholl ein preisgekröntes Werk

über die Widerstandskämpferin drehte. An dem

Schwabing-Film soll auch Julia Jentsch wieder

interessiert sein. Wie die Reventlow um die Drei-

ßig, sagt Rothemund, ebenfalls keine Münchne-

rin.

Nach seiner Filmografie kann man man jeden-

falls von echter Leidenschaft für die Münchner

Geschichte ausgehen. Nicht nur der Widerstands-

ikone Sophie Scholl hat er ein Denkmal gesetzt. Er

war Regieassistent bei Dietls Schickeria-Standard

Rossini, er hat Das merkwürdige Verhalten ge-

schlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit hier

untersucht. Wenig erfolgreich war zwar sein Por-

norama, der Ausflug in die Sexfilmindustrie der

1970er Jahre. Aber auch hier ist die persönliche

Verbindung nicht von der Hand zu weisen, denn

sein Vater hatte unter dem Pseudonym Siggi Götz

viele dieser Streifen gedreht. Rothemund kennt

das Viertel gut und auch seine Hinterhöfe. In ei-

nem der schönsten direkt am Englischen Garten

wird er sich am nächsten Tag noch einmal beim

Grillen ablichten lassen. Das steht für das Laissez-

Faire, daß er selber stets mit Cap, Sakko und Jeans

lebt und auch in seinem Film haben will. Aber je-

des dieser Bilder sagt auch: Ich kenne Schwabing!

Ich kann Schwabing! »Ich bin hier geboren und

aufgewachsen. Wenn du siehst, was hier allein in

den letzten 100 Jahren passiert ist, was es für ein

reichhaltiges Reservoir an Geschichten gibt, dann

fasziniert mich das besonders«, kommentiert Ro-

themund.

Seine Treatment ist bisher Stoffsammlung, ihm

fehlt noch die Form, die etwa Sophie Scholl zu ei-

nem intensiven Porträt machte. Aber das Leben

der Fanny zu Reventlow bietet zahllose Wendun-

gen. »Ich steh’ wieder auf, wenn der liebe Gott

mich 1000 Mal in die Kniekehlen schlägt«, schrieb

sie einmal in ihr Tagbuch, als sie mal wieder noto-

risch pleite war. Rothemund geht es zur Zeit mit

der Finanzierung auch nicht anders. Aber den an-

archischen Geist der Epoche auf die Leinwand zu

bringen, wird er sich kaum nehmen lassen. Dazu

ist er zu sehr in der Stadt und ihrem Filmschaffen:

Bei dem Treffen im »Simpl« klingelt schließlich

sein Telefon, er verabredet sich zum Abendessen –

natürlich im Stammitaliener »Rossini«. c

Ihren Verleger

brachten ihre

Ideen ins

Gefängnis: Fanny

zu Reventlow

verdrehte der

Münchner

Bohéme den

Kopf – nicht nur

in Gedanken.

Fot

o:A

rchi

v

xl012_B2_Marc Rothemund 17.06.2009 16:38 Uhr Seite 86

Page 87: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Abspann | Letzte Bilder

87

Abspann

a

f-

Casablanca

USA 1942

Regie Michael Curtiz

Drehbuch Julius J. Epstein, Philip G. Epstein und Howard Koch

Kamera Arthur Edeson

Szenenbild Carl Jules Weyl

Maske Perc Westmore

Kostüm Orry-Kelly

Montage Owen Marks

Musik Max Steiner

Produktion Hal B. Wallis

xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 87

Page 88: cinearte XL 012

Lange Zeit war der Vorspann nur eine Folge

von Texttafeln, die auflisteten, wer am Film so

mitgearbeitet hatte. Allmählich erhielten sie

mehr und mehr dekorative Elemente. Heute ist

ein gelungener Vorspann ein eigener Kurzfilm,

der in Stimmung und Stil des Hauptwerks

einführt. Das ist das Werk von Spezialisten –

genannt werden sie allerdings oft nicht einmal

im Abspann. Bis jetzt.

Abspann | Vorspann cınearte XL 012

88

Fantastische SchriftenF

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xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 88

Page 89: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Abspann | Vorspann

89

Es schneit auf das weltberühmte Logo der 20th Century Fox. Und nicht golden strahlt

der Schriftzug von der Leinwand, sondern ist in den fahlen blauen Schein eines Vollmonds

getaucht. Bei Tim Burtons Gruselmärchen Edward mit den Scherenhänden mußte sich

auch das mächtige Studio dem Gesamtkunstwerk unterordnen.

Der Vorspann ist eine subjekte Kamerafahrt durch das verwunschene Schloß, in dem

Edward von einem Wissenschaftler (dargestellt von der Horror-Ikone Vincent Price in ei-

ner seiner letzten Rollen) erschaffen wird: Schattenstarke Detailaufnahmen in bläulichem

Licht von Treppenstufen, verwitterten Skulpturen und seltsamen Apparaten, die inein-

andergeblendet werden. Alles ist in sanfter Bewegung – die Credits, deren Form in eine of-

fene Schere paßt, drehen sich leicht im Bild, das seinerseits unaufhörlich weiterfließt.

Darüber liegt die Musik von Danny Elfman, die der Komponist selbst einmal als sein

bestes Werk bezeichnet hat. Und selten klafft die Ton-Bild-Schere so weit auseinander: Vi-

suell könnte der Vorspann einem jener Mad-Scientist-B-Movies aus den 1940er Jahren

entstammen – die spieluhrartige Melodie verleiht den unheimlichen Bildern eine traum-

hafte Note. »Mit den Haupttiteln versuche ich immer, die Stimmung des jeweiligen Stücks

zu treffen«, erklärt Burton dazu. Edward war seine erste Zusammenarbeit mit dem Titel-

designer Robert Dawson, der uns schon den Kuß der Spinnenfrau versüßt hatte. Er führte

seitdem auch in die weiteren fantastischen Filme von Burton wie Sleepy Hollow oder Big

Fish ein. Die gleitenden Schriften haben es dem Designer angetan, wie man etwa im Ver-

mächtnis der Tempelritter nachschauen kann – nur einer der 120 Filme, die Dawson seit

einem Vierteljahrhundert geschaffen hat. Jan Fedesz

xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 89

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Abspann | Mein Arbeitsplatz cınearte XL 012

90

Wie arbeitet man eigentlich für den Film? Wir fragten die Filmkomponisten Jakob Ilja.

»Ich dachte früher, es sei besser, schon während der Drehbuchentwicklung einzusteigen. Aber zum

Komponieren brauche ich das Bild. Ich beginne in der Regel um 9 Uhr früh meinen Arbeitstag und be-

ende ihn so gegen 23 Uhr, wobei ich abends nur noch editiere und den administrativen Teil meiner Ar-

beit erledige. Drei Wochen vor der Endmischung wird es dann stressig, weil die Zeit davonrennt. Freizeit

gibt’s erst nach der Abgabe.

In der Regel beginne ich die Arbeit an einem Film, indem ich mir zunächst eine leicht zugängliche

Szene herausgreife. Dann nehme ich meine Gitarre und spiele einfach dazu, rein assoziativ: Töne, Frag-

mente, Rhythmen – ganz egal. Wenn es sich mit dem Bild verzahnt, zum Gestus, zur Atmosphäre paßt,

dann bin ich auf dem richtigen Weg. Natürlich gibt es auch Vorgaben vom Regisseur, die mit einfließen.

Bei dem aktuellen Projekt, dem DFFB-Abschlußfilm Schwerkraft von Maximilian Erlenwein, sollte die

Musik roh, laut und verstörend sein. Das waren Charakteristika, die gewünscht waren und die sich aus

den Bildern ergaben. Es geht mir aber auch immer um Wahrhaftigkeit. Gerade junge Regisseure haben

oft Angst vor der Emotion, also eine Liebesgeschichte als solche konkret zu benennen und nicht als Ver-

meidungsstrategie analytisch zu zerpflücken. Und dann mache ich da eben in der Musik Vorschläge.

Ich arbeite eher chaotisch, aber beständig. Wenn ich mein Leitthema gefunden habe, nehme ich es

auf. Ich bringe es in Form, instrumentiere und arrangiere es. Diese ›Layouts‹ schicke ich dann dem Re-

gisseur. Für manche Musikrichtungen engagiere ich aber auch Genre-Musiker. Bei Schwerkraft habe ich

für die Psychobilly-Stücke – das ist eine trashige Form des Rockabilly – auf den Musiker Moe Jaksch zu-

rückgegriffen. Der schüttelt mir so ein Stück quasi aus dem Ärmel. Der musikalische Kosmos des Films

muß ja oft verschiedene Aspekte umfassen. Mit dem Regisseur treffe ich mich meist einmal die Woche.

Dann wird diskutiert, nicht selten geht es heiß her. Alle zwei oder drei Wochen kommen auch die Pro-

duzenten hinzu. So ein Entscheidungsprozeß kann bis zu drei Monate dauern. Manchmal habe ich

schon produziert und produziert, und es war für die Katz. Manchmal gibt es eine kreative Kehrtwende

kurz vor der Mischung – dann muß ich eine Musik innerhalb von 24 Stunden komponieren und einspie-

len. In der Regel sind die Kompositionen aber eineinhalb Wochen vor der Endmischung fertig. Dann sage

ich: Das ist gut so, das lassen wir jetzt. Die Regie ist nämlich unersättlich.

Beim Komponieren verliere ich mich auch. Ich neige dazu, da noch ein Instrument und hier noch was

Kleines einzufügen. Das überfrachtet die Komposition sehr leicht. Eine große Hilfe ist mir da meine Frau

Ann-Katrin, die selbst Regie studiert hat. Ihr spiele ich alle meine Entwürfe vor, dann sagt sie: raus, raus,

raus – und dann bekommt es eine klare Linie. Wir lesen auch die Drehbücher zusammen und schauen

uns die Rohschnitte an. Deshalb bekommt sie im Abspann auch einen Credit als meine Koproduzentin.«

Protokoll und Foto Karolina Wrobel

Mein Arbeitsplatz

xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 90

Page 91: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Abspann | Mein Arbeitsplatz

91

Der Filmkomponist Jakob Ilja, Jahrgang 1959, heißt tatsächlich Jakob Friderichs und stand die meiste Zeit seiner Musikerkarriere

als Gitarrist von »Element of Crime« auf der Bühne. Ganz woanders, nämlich beim Abwaschen in der Küche, lernte er den Regis-

seur und Drehbuchautor Ingo Haeb kennen. Der überredete ihn, für seine Narren die Musik zu schreiben. »Warum nicht?«, stimm-

te Friderichs bei und ahnte nicht, wie nervenaufreibend das Komponieren für den Film sein kann. So schlimm war es dann aber

wohl doch nicht, denn Haeb stellte den Berliner kurz darauf auch Lars Jessen vor, für den er die Musikberatung bei Am Tag, als

Bobby Ewing starb übernahm und zuletzt die Kompositionen der Schimmelreiter und Dorfpunks schuf. Dabei behauptet der Auto-

didakt, er habe keine Ahnung von Noten: Mit über 30 Jahren Erfahrung als Musiker komponiert er heute noch alles nach Gehör.

xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 91

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Abspann | Statistik cınearte XL 012

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Filme und Fernsehserien, in denen Adolf Hitler in Haupt- oder Nebenrollen verkörpert wird 253

Filme und Fernsehserien, in denen Jesus Christus in Haupt- oder Nebenrollen verkörpert wird 278

Filme und Fernsehserien, in denen Santa Claus (auch bekannt als der Weihnachtsmann) in

Haupt- oder Nebenrollen verkörpert wird 725

Verhältnis der Auftritte von Jesus zu denen des Weihnachtsmanns 1:2,6

Platz, auf dem Disneys Hannah Montana mit ihrem Kinodebüt in den US-Charts einstieg 1

Wochen, die der Film diese Position hielt 1

Wochen, nach denen Hannah Montana auf Platz 10 stand 4

Filme unter den 15 kommerziell erfolgreichsten Filmen aller Zeiten, die kein Teil einer Reihe sind 1

Male, die das Wort »fuck« in Martin Scorseses Good Fellas gesprochen wird 296

Durchschnittliche Verwendung pro Minute 2

Male, die der Schauspieler Christian Bale in seiner fast vierminütigen Beschimpfung des

DoP Shane Hurlbut am Set von Terminator: Die Erlösung das Wort »fuck« verwendet 38

Durchschnittliche Verwendung pro Minute 10

Zahl der Lebewesen, die in Tobe Hoopers Kettensägenmassaker Blutgericht in Texas aus

dem Jahr 1974 getötet werden 5

Dauer des Originalfilms in Minuten 83

Ungefähre Minuten, um die die bis heute indizierte deutsche Version, gekürzt worden war 10

Alter, ab dem eine neue, um insgesamt 15 Minuten gekürzte Fassung heute in Deutschland

freigegeben ist, in Jahren 16

Mindestzahl der Lebewesen, die im Animationsfilm Shrek aus dem Jahr 2000 getötet werden 68

Alterbegrenzung der FSK für Shrek in Jahren 0

[1-3 | 9 | 14 | 18] Internet Movie Database [5-7] Movie Maze [8] Boxoffice Mojo [11] Youtube [13 | 17] DVD-Forum [15-16] Schnittberichte

Die Welt in Zahlen

xl012_X_Abspann 17.06.2009 18:42 Uhr Seite 92

Page 93: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Abspann | Lexikon

93

Das gab’s früher nicht. Vor 50 Jahren war das Kino noch eine Sache für Erwachsene. Höhepunkt

eines Wochenendes, der Gesprächsstoff für die übrige Zeit gab: Große Romanzen, wilde Abenteuer –

aber eben nichts für Kinder. Von Zeichentrickfilmen zur Unterhaltung und dem einen oder anderen pä-

dagogischen Stück mal abgesehen – die Teufelskerle etwa, wo Spencer Tracy als tapferer Pfarrer Vaterer-

satz für eine Bande renitenter Halbwüchsiger ist. Oder der Hitlerjunge Quex, mit dem die Nazis um die

gleiche Zeit dem Nachwuchs die Welt auf ihre Weise erklärten. Mit dem Leben ganz normaler Jugend-

licher hatte beides nichts zu tun. Und das Rollenmodell war immer ein Erwachsener.

Dann kam lange Zeit erst mal gar nichts. Bis in den USA James Dean als Rebel Without a Cause er-

schien, und in der Bundesrepublik Horst Buchholz als Halbstarker. Mitten im Wirtschaftswunder stell-

ten zwei jugendliche Helden unbequeme Fragen. Die Antworten waren noch die alten, die Erwachsenen

behielten das letzte Wort, und James Dean fuhr sich zu Tode, Horst Buchholz endete in der Astro-Show.

Aber es war etwas in Bewegung gekommen. Mit dem Rock’n’Roll strebten auch die jungen Musiker auf

die Leinwand und scherten sich wenig um Regeln – wie die Beatles in ihrem Dokuspiel A Hard Days

Night. Die alten Autoritäten machte kurz darauf ein rothaariges Mädchen vollends unmöglich: Pippi

Langstrumpf begründete Skandinaviens Vorsprung auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendfilms.

Es dauerte aber noch ein paar Jahre, bis die Teenager richtig als Zielgrupe entdeckt wurden. Genau

genommen hatten sie sich selber entdeckt: George Lucas, damals 29 Jahre alt, erzählte in seinem zwei-

ten Langfilm American Graffity in einer Nacht vom Ende der High-School-Zeit, Freundschaften, Erstem

Mal und den Träumen und Ängsten einer ungewissen Zukunft. Selbstfindung zwischen Drama und Ko-

mödie. Erstmals war die Jugend sich selbst ein Vorbild.

Und war als zahlungskräftige Kundschaft entdeckt. American Graffity gab die Themen vor. Doch die

Pubertät hat es in sich, wie jeder weiß, der schon mal da war. Weshalb die Teenie-Komödie auch leicht

abrutscht und die Selbstfindung an der Grenze des Geschmacks verläuft. Wenn American Pie etwa haar-

genau dieselben Fragen angeht wie American Graffity, unterscheidet sich das doch stark vom Vorbild.

Aber es geht auch anders. Lukas Moodyssons Raus aus Åmål etwa zur Homosexualität, Jason Reit-

mans Juno über eine Teenager-Schwangerschaft oder Benjamin Quabeck Nichts bereuen zur Frage, wie

das alles nun eigentlich weitergehen soll. Die Antworten finden die jungen Helden letztlich selbst. Und

zeigen, trotz angedrohter großer Dramen: Eigentlich ist doch alles ganz normal… Jan Fedesz

JJugendfilm

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Page 94: cinearte XL 012

Die bewegten Bilder werden immer kompakter.

Inzwischen hat der ganze Lawrence von Arabien

schon in einem Mobiltelefon Platz und kann sich

noch Dr. Schiwago zum Filmegucken einladen.

Das war mal ganz anders gedacht. Vor mehr als ei-

nem halben Jahrhundert sollten die Bilder mög-

lichst immer größer werden – ein Versuch gegen

das aufkommende Fernsehen zu bestehen. Das

konnte zwar nur schwarzweiß, in einem bullau-

genartigen Fenster, und das Programm war auch

nicht so besonders. Aber es wurde nun mal als die

Technik der Zukunft angepriesen, und wer hip

sein wollte, guckte in die Röhre.

Dabei waren die Filmingenieure doch viel krea-

tiver. Unter was für schillernden Namen sie sich

immer neue Wege zur gleichen Idee ausdachten,

war schon allein die Kinokarte wert: »Wondera-

ma«, »Panoramico«, »Vista Vision«… da kann das

Imax-Kino einpacken. Selbst der Ostblock machte

mit im Wettstreit der Systeme. »Sovscope« zeigte

die ganze Weite blühender Ähren und glücklicher

Kolchosen im Abendrot.

Die Berlinale hat dem kurzen Wunder, das bis

heute noch seine begeisterten Anhänger hat (Tom

Tykwer etwa hat sich als einer zu erkennen gege-

ben), in diesem Jahr eine Retrospektive gewidmet.

Und siehe da: Licht und klar strahlten die Bilder

von der Leinwand – feineres Korn, mehr Schärfe,

vollere Farben. So ungefähr stellen sich Fernseh-

ingenieure in Werbebroschüren wohl HD vor.

Schlau machen kann man sich aber auch nach-

her, im Buch zur Retrospektive. Das versammelt

nach einem einführenden Aufsatz zum Thema alle

»sogennannten echten Breitfilme«, nach Verfah-

ren sortiert und nennt nicht nur die Regisseure,

sondern auch die Bildermacher, vulgo Kameraleu-

te (dies nur als anerkennende Anmerkung, weil es

leider immer noch nicht selbstverständlich ist).

Die 21 Filme der Retrospektive werden ausführ-

licher vorgestellt, und obendrein gibt’s ein Glos-

sar, das all die Fachbegriffe zum Thema erklärt.

Damit man endlich weiß, was »Fox Grandeur« ist.

Das alles in zwei Sprachen auf 166 Seiten mit vie-

len Bildern von vor und hinter der Kamera.

Einen dicken Wermutstropfen gibt’s deshalb

leider auch: Das Buch soll halt nur der Katalog zur

Retrospektive sein. Was bedeutet: kein feineres

Korn, keine volle Farben, sondern Lawrence von

Arabien nur im Standardformat in Schwarzweiß.

Fast so wie auf dem Handy. Carlo Vivari

Die volle Breite

Deutsche Kinemathek (Hg.): 70 mm – Bigger than Life | Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2008 | ISBN

978-3-86505-190-5 | 22,90 Euro

Abspann | Buch cınearte XL 012

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Page 95: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Abspann | Musik

95

Es wird viel getanzt in Caroline Links Drama Im

Winter ein Jahr, die Bewegung verspricht Aus-

bruch aus dem emotionalen Stillstand einer Fami-

lie, eingefroren in Trauer nach dem Tod des Soh-

nes. Dieser dreht sich selbst am Anfang noch

quicklebendig im Schnee, die Kopfhörer über den

Ohren, wobei die Musik, die der Zuschauer hört,

von Niki Reiser stammt: minimalistische, inein-

andergeschichtete Motive, gespielt von Klavier

und Gitarre. So lakonisch und lauernd, daß man

meint, Reiser hätte für einen Western komponiert

– im Stil von Ennio Morricone, bei dem der heute

51jährige Schweizer Filmkomponist vor langer

Zeit tatsächlich mal einen einwöchigen Workshop

absolviert hatte.

Reiser spielt hier das Lied vom Tod und der

Trauerarbeit, ohne in pathostrunkene Melodien

zu verfallen. In diesem Jahr ausgezeichnet mit

dem »Deutschen Filmpreis«, übt sich sein Score,

die vierte Zusammenarbeit mit Caroline Link, in

Zurückhaltung. So, wie die Familie sich nur lang-

sam, mit Hilfe eines Malers, aus der Erstarrung be-

freit, so tastet sich Reisers Score in motivischen

Kreisbewegungen voran. Gitarren-Arpeggien er-

zeugen eine innere Spannung, die sich in keiner

Melodie entlädt.

Im Film drückt Tochter Lilli tanzend ihre Trauer

und Wut zu Peter Gabriels »Signal to Noise« aus.

Das episch stampfende Orchesterstück gab auch

der zentralen Kampfszene in Scorseses Gangs of

New York Drive; auf dem Soundtrack zu Im Winter

ein Jahr fehlt es. Stattdessen bringt der »Tango für

Max« Abwechslung, von Reiser à la Gotan Project

komponiert und mit belebender Wirkung: Wenn

Geige und Akkordeon mit elektronischen Beats

unterlegt werden, fährt selbst Josef Bierbichler (im

Film) der Tango in die Beine.

Zum versöhnlichen Finale von Im Winter ein

Jahr fällt erneut der Schnee – Sängerin Alev Lenz

summt und haucht Reisers introspektiver Musik

warme Gefühle ein. Auf der Score-Veröffentli-

chung wurden die zwei Tracks mit ihr an den An-

fang gestellt, was dramaturgisch eher unglücklich

ist, wartet man doch beim weiteren Hören verge-

blich auf ein Wiederauftauchen ihrer Stimme.

Stattdessen hört die CD mit einer Reprise eines

energetischen Gitarrenthemas auf, mit dem Reiser

Lillis letztlich scheiternde Affäre mit einem Künst-

ler unterlegt.

So steht, im Gegensatz zum Film, am Anfang

der CD die sanfte Erlösung. Die Krise kommt da-

nach. Michael Stadler

Tango zur Erlösung

Niki Reiser: Im Winter ein Jahr | Königskinder Schallplatten | ASIN B001JCZYN6

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Page 96: cinearte XL 012

Abspann | Musik cınearte XL 012

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Batman und der britische Fernsehmoderator

David Frost mögen auf den ersten Blick wenig ge-

mein haben. Und doch, musikalisch läßt sich

leicht eine Brücke schlagen, zumindest entsteht

dieser Eindruck, wenn man Hans Zimmers Musik

für Ron Howards Frost/Nixon mit seinen, zusam-

men mit James Newton Howard komponierten

Scores für die letzten beiden Batman-Filme ver-

gleicht. Resultat: verdächtig ähnlich. Cello und tie-

fe Streicher puschen im Ostinato die Helden vor-

an, der Rhythmus ist schnell wie der Puls eines

Sprinters, und da ergibt sich schon eine Verbin-

dung: jene Entschlossenheit, die Batman und

Frost auch brauchen, um sich im Duell mit ihren

irre smarten Kontrahenten zu beweisen.

Nixon ist ein Joker ohne Grinsen, dafür mit

Schweiß auf der Oberlippe. Um ihm nach Water-

gate ein Schuldgeständnis vor der Fernseh-Nation

abzuringen, müssen Frost und seine Helfer alles in

die Waagschale werfen, was sie an journalisti-

schen Kniffen drauf haben; das Vergnügen, das in

der Recherche, im riskanten Spiel liegt, kann man

den verspielten, gar beschwingten Tracks »Beverly

Hilton« und »Insanely Risky« ablauschen. Das ste-

te Ticken der Percussion läßt dabei keinen Zweifel:

Der Countdown zum Bekenntnis läuft.

Bis dahin gönnt die Musik kaum Atempausen,

»Frost Despondent« ist ein atmosphärisch dichter

Moment der Melancholie, Synthie-Geigen dürfen

im Track »Cambodia« schluchzen – im Film be-

kommt Nixon Dokumaterial vom Kambodscha-

Krieg gezeigt. Der Ex-Präsident soll berührt wer-

den.

Und gibt am Ende nach: Das schnelle Klavier-

Motiv von »The Final Interview« wird in »Nixon

Defeated« zur elegischen Untermalung einer

Niederlage ausgebremst. In der finalen Suite »First

Ideas« mischt Zimmer kalte Klang-Teppiche mit

Score-Motiven – es handelt sich dabei wohl tat-

sächlich um die Resultate erster Gedankengänge,

vor den im Film verwendeten Kompositionen. Da

hat einer wieder bei sich geklaut – und war doch

inspiriert. Kurioserweise funktioniert nämlich der

dunkle Zimmer-Sound im Politdrama besser als

bei Batman: Beim Dunklen Ritter zeichnet die

Musik eine Bewegung nach, die man sowieso

schon sieht. Bei Frost/Nixon dynamisiert sie eine

Geschichte, die sich in Gesprächen, im Stehen, auf

zwei Stühlen abspielt.

Die Action findet in den Köpfen statt. Zimmer

macht das Ticken der Hirnzahnräder hörbar.

Michael Stadler

Score reloaded

Hans Zimmer: Frost/Nixon | Colosseum | ASIN B001LHMVD0

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[5]

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Page 97: cinearte XL 012

cınearte XL 012 Abspann | Tip 5

97

Eigentlich ist Leben ganz einfach. Fünf talentierte Nichtsnutze, die zeigen, wie erträglich die

Leichtigkeit des Seins doch ist.

Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe [USA 1968] Weit im wilden Westen ist noch alles

möglich. Doch James Garner sucht bereits nach unbegrenzteren Möglichkeiten, die er

noch weiter westlich in Australien vermutet. Nur um die Reisekasse aufzubessern, ver-

längert er seinen Zwischenstop und übernimmt den Job des Sheriffs im Goldgräber-

städtchen Calendar. Wodurch er sich mit der örtlichen Verbrecherfamilie anlegt. Wel-

che allerdings an seinen unkonventionellen Methoden, für Recht und Ordnung zu

sorgen, alsbald verzweifelt. Die Tochter des Bürgermeisters erobert er nebenbei auch.

Diva [Frankreich 1981] Zwei Stunden dauert Jean-Jacques Beineix’ Kult-Debüt um eine

geklaute Kassette, die in der Tasche eines Postboten landet. Der hat seinerseits ein Kon-

zert illegal mitgeschnitten und erlebt nun, wie gefährlich der Verstoß gegen das Urhe-

berrecht sein kann. Fast zwei Stunden lang sitzt derweil Richard Bohringer scheinbar

teilnahmslos im Hintergrund herum und puzzlet. Als er endlich fertig ist, zeigen die

abertausend Teile nichts weiter als eine winzige Möwe vor einer riesigen Welle. Und der

Künstler erhebt sich und löst alle Probleme mit zwei trägen Handgriffen.

An deiner Schulter [USA, Großbritannien, Deutschland 2005] Dieser Titel steht garan-

tiert nicht zum letzten Mal hier. Demnächst werden wir uns fünf Filme mit Kevin Cost-

ner als Ex-Baseball-Spieler vornehmen. In Mike Binders Familiendrama verbringt er

also seine reichliche Freizeit als Radiomoderator, signiert Basebälle oder gießt sich ei-

nen hinter die Binde. Letzteres am liebsten und lieber noch mit der Nachbarin, um die

es in diesem Film eigentlich geht und deren Lebenskrise (der Mann ist ihr abhanden

gekommen, und die vier Töchter postpubertieren heftig) der Sportler nebenbei auflöst.

Stirb langsam [USA 1988] Zugegeben – nicht ganz der Lebensentwurf, den wir uns so

vorstellen, aber wie Bruce Willis barfuß und unbewaffnet ein Hochhaus zertrümmert

und mit dem Böse-Buben-Club abräumt, hat schon was. Erst recht, weil er das ganz

und gar nicht freiwillig tut. Denn eigentlich ist er nur auf die Weihnachtsfeier gekom-

men, um seine Eheprobleme zu lösen. Also stapft er blutend über Glasscherben und

jammert mehr als einmal, daß er ganz woanders sein will. Nicht sehr männlich. Aber

ungeheuer cool.

Im Zeichen der Jungfrau [USA 1988] Noch so ein Titel, der demnächst wieder auf-

taucht, wenn wir die fünf besten Serienmörderfilme empfehlen – zwischen Schweigen

der Lämmer und Sieben. Dabei nehmen Kevin Kline als Hippie-Profiler und Alan Rick-

man als sein abgedrehter Malerfreund und Computerexperte das Genre nicht zu ernst,

sondern spielen mit allen Stereotypen bis zur verblüffenden Auflösung. Zudem liefert

uns John Patrick Shanley einen der coolsten Aufreißsprüche, die sich ein Drehbuchau-

tor je erträumt hat. Auch wenn der in der Wirklichkeit nur selten funktioniert.

Genial daneben

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Page 98: cinearte XL 012

Abspann | Rätselraten cınearte XL 012

98

LebensweisheitenWeniger ins Kino gehen und lieber ein gutes Buch lesen? Die Weisheiten des Lebens lauern

mitunter da, wo man sie am wenigsten vermutet.

Unser Held hat sich nicht darum gerissen, daß die Massen ihm hinterherlaufen und von ihm Erleuch-

tung fordern. Darum fordert er sie auf, selber zu denken und ruft ihnen zu:

IIhhrr sseeiidd aallllee IInnddiivviidduueeeenn!!

Worauf die Menge antwortet:

WWiirr ssiinndd aallllee IInnddiivviidduueeeenn!!

Nur einer erwidert:

IIcchh nniicchhtt..

Wir wollen wissen: Aus welchem Meisterwerk der Kinematografie stammt dieses Zitat? Wenn Sie die Ant-

wort wissen, schreiben Sie sie bitte auf eine hübsche Postkarte und senden Sie das Ganze an:

cinearte – Peter Hartig, Friedrichstraße 15, 96047 Bamberg.

Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir gemeinsam mit der

Süddeutschen Zeitung 15 Mal je eine DVD aus der Reihe »Screwball

Comedy – Hollywoods schönste Beziehungskomödien«.

Einsendeschluß ist der 20. September. Der Rechtsweg ist ausgeschlos-

sen (das müssen wir schreiben).

Wonach wir voriges Mal gefragt hatten? Im Sumpf des Verbrechens. Fot

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Page 99: cinearte XL 012

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