SFSecurity and Peace Sicherheit und Frieden · Vedran Dzihic* Abstract: While the world is...

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Nomos Herausgeber: Dr. habil. Michael Brzoska Prof. Dr. Hans J. Giessmann Prof. Dr. Heiner Hänggi Heinz-Dieter Jopp Dr. Erwin Müller Andreas Prüfert Themenschwerpunkt: Der Westbalkan – Perspektiven für Bosnien-Herzegowina und Kosovo Zwischen Dayton und Brüssel: Bosnien-Herzegowina zehn Jahre nach Kriegsende – Ein Land auf der Suche nach sich selbst Vedran Dzihic Das Kosovo und die Statusfrage. Rechtliche Reflexionen und politische Optionen Alexander S. Neu Kosovo 2006 – Bilanz einer fortdauernden Krise Vedran Dzihic/Helmut Kramer Neue Wege bei der Planung und Durchführung von mili- tärischen Einsätzen im Rahmen von Friedensmissionen. Planungs- und Handlungsdefizite im Kosovo und im Irak Christian Millotat Weitere Beiträge von ... Mandana Biegi, Barbara Lochbihler, Christian Schaller und Jan Scheffler 2006 24. Jahrgang ISSN 0175-274X 2 Sicherheit und Frieden Security and Peace SF

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Nomos

Herausgeber:

Dr. habil. Michael Brzoska

Prof. Dr. Hans J. Giessmann

Prof. Dr. Heiner Hänggi

Heinz-Dieter Jopp

Dr. Erwin Müller

Andreas Prüfert

Themenschwerpunkt:Der Westbalkan – Perspektiven für Bosnien-Herzegowina und KosovoZwischen Dayton und Brüssel: Bosnien-Herzegowina zehn Jahre nach Kriegsende – Ein Land auf der Suche nach sich selbst Vedran DzihicDas Kosovo und die Statusfrage.Rechtliche Reflexionen und politische OptionenAlexander S. NeuKosovo 2006 – Bilanz einer fortdauernden KriseVedran Dzihic/Helmut KramerNeue Wege bei der Planung und Durchführung von mili-tärischen Einsätzen im Rahmen von Friedensmissionen.Planungs- und Handlungsdefizite im Kosovo und im IrakChristian Millotat

Weitere Beiträge von ...Mandana Biegi, Barbara Lochbihler, Christian Schaller und Jan Scheffler

200624. Jahrgang

ISSN 0175-274X2

Sicherheit und FriedenSecurity and PeaceS F

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S+F (24. Jg.) 2/2006 | I

EDITORIAL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III

THEMENSCHWERPUNKT

DER WESTBALKAN − PERSPEKTIVEN FÜR

BOSNIEN-HERZEGOWINA UND KOSOVO

Zwischen Dayton und Brüssel: Bosnien-Herzegowina zehn Jahre nach Kriegsende – Ein Land auf der Suche nach sich selbstVedran Dzihic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Das Kosovo und die Statusfrage. Rechtliche Reflexionen und politische OptionenAlexander S. Neu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Kosovo 2006 – Bilanz einer fortdauernden KriseVedran Dzihic/Helmut Kramer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

Neue Wege bei der Planung und Durchführung von militärischen Einsätzen im Rahmen von Friedensmissionen. Planungs- und Handlungsdefizite im Kosovo und im IrakChristian Millotat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

BEITRÄGE AUS SICHERHEITSPOLITIK UND

FRIEDENSFORSCHUNG

Schutz transnationaler Unternehmen in Konfliktregionen. Rechtliche Betrachtungen zum Einkauf privater SicherheitChristian Schaller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Möglichkeiten und Grenzen eines ständigen europäischen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten NationenJan Scheffler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

FORUM

Abu Ghraib und der Schlesinger-Report. Der Beitrag von Untersuchungskommissionen zur Transformation des Rechts- und Menschenrechtsbewusstseins nach 9/11Mandana Biegi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

Sicherheitspolitik versus Menschenrechtsschutz?Barbara Lochbihler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

NEUERSCHEINUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

BESPRECHUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

I N H A LTI M P R E S S U M

Schriftleitung: Prof. Dr. Hans J. Giessmann

Redaktion: Dr. Erwin Müller (V.i.S.d.P.)Susanne BundDr. Patricia SchneiderDr. Thorsten Stodiek

Redaktionsanschrift: S+Fc/o IFSH, Falkenstein 1, D-22587 HamburgTel. 0049-40-866077-0Fax 0049-40-8663615E-Mail: [email protected]

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Erscheinungsweise: vierteljährlich

Bezugspreis 2006: jährlich 64,– € (inkl. MwSt), Einzelheft 18,– €, Jahresabonnement für Stu-denten 52,– € (gegen Nachweis), zuzüglich Porto und Versand kosten; Bestellungen neh-men entgegen: Der Buchhandel und der Verlag; Abbestellungen mit Drei-Monats-Frist zum Jahresende. Zahlungen jeweils im Voraus an: Nomos Verlags gesell schaft, Postbank Karls-ruhe, Konto 73636-751 (BLZ 660 100 75) und Stadtsparkasse Baden-Baden, Konto 5-002266 (BLZ 66250030).

ISSN 0175-274X

24. Jahrgang, S. 55–112

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Sicherheit und FriedenSecurity and PeaceS+F

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E D I T O R I A L

S+F (24. Jg.) 2/2006 | III

Im Jahre 2006 steht die internationale Staatengemeinschaft mehr als zehn Jahre nach dem Friedensvertrag von Dayton und im siebten Jahr nach dem Krieg der NATO im Kosovo vor der Frage nach der weiteren Zukunft eines multi-ethnischen Staates Bosnien-Herzegowina und dem endgültigen Status der südserbischen Provinz Kosovo. Der Tod des kosovarischen Prä-sidenten Rugova lässt die bereits vorhandenen Zweifel an ei-ner friedlichen und insbesondere nachhaltigen Lösung weiter wachsen.

Im Vorfeld der im Februar dieses Jahres in Wien begonnenen Gespräche über den Status des Kosovo unter Leitung des Sondergesandten der Vereinten Nationen, des ehemaligen fi nnischen Staatspräsidenten Martti Ahtisaari, haben Serben und Albaner ihre bekannten Maximalforderungen noch ein-mal bekräftigt. Während der albanische Delegationsleiter Lutfi Haziri die Unabhängigkeit des Kosovo als Verhandlungsziel unterstrich, betonte der serbische Verhandlungsführer Slobo-dan Samardzic als Ziel die Selbstverwaltung der Serben im Ko-sovo als Teil des Staates Serbien-Montenegro. Völkerrechtlich gehört die Provinz nach wie vor zu Serbien-Montenegro; wird jedoch seit 1999 und dem Ende des Kosovo-Krieges von den Vereinten Nationen verwaltet.

Da die Statusfrage als das am schwierigsten zu lösende Pro-blem in Europa angesehen wird, soll in einem ersten Schritt versucht werden, eine Vertrauensbasis zwischen den Konfl ikt-parteien zu schaffen. Daher will man sich mit den künftigen Rechten nationaler Minderheiten, in diesem Falle also der ser-bischen Minderheit, befassen. Aber bereits bei diesem Punkt sind erhebliche Zweifel berechtigt, haben es doch die OSZE-Teilnehmerstaaten auf ihrem letzten Gipfel 1999 in Istanbul nicht geschafft, den Rechtsstatus nationaler Minderheiten im OSZE-Raum zu stärken. Weder Frankreich, noch Spanien oder Belgien wollten sich mit Blick auf Autonomiebestrebungen im eigenen Land auf eine verbindliche Regelung einlassen, die die Rechte von Minderheiten stärken sollte.

Auch dieser Umstand mag ein Grund dafür sein, dass sich die EU bis heute noch nicht auf eine gemeinsame Position zum künftigen Status des Kosovo einigen konnte. Dabei geht es 2006 nicht nur um das Kosovo, sondern um die mögliche Ver-

änderung der Architektur des südlichen Balkans. In Serbien-Montenegro läuft dieses Jahr die in der Verfassungscharta fest-geschriebene dreijährige Probezeit aus. Die Republiken könnten dann über ein Referendum aus der Union ausscheiden.

Wie sehen die Optionen für das Kosovo und für Bosnien-Her-zegowina aus? Wie wird sich die Sicherheitslage verändern? Welche Möglichkeiten ergeben sich für Streitkräfte im Rah-men von Friedensmissionen?

Vedran Dzihic beschreibt in seinem Beitrag die Situation in Bosnien-Herzegowina zehn Jahre nach Kriegsende als die eines Landes auf der Suche nach sich selbst, aber auch auf der Suche der eigenen Position in einem gewandelten Europa.

Alexander S. Neu untersucht den Rechtsstatus des Kosovo und leitet hieraus politische Optionen für die Zukunft der Provinz ab.

Vedran Dzihic und Helmut Kramer untersuchen die Situa-tion des Kosovo im Jahre 2006 und bilanzieren eine fortdau-ernde Krise.

Christian Millotat, der als aktiver General der Bundeswehr eigene Einsatzerfahrungen im Kosovo sammeln konnte, geht der Frage neuer Wege bei der Planung und Durchführung mi-litärischer Einsätze im Rahmen von Friedensmissionen nach.

In der Rubrik »Beiträge aus Sicherheitspolitik und Friedens-forschung« drucken wir zwei referierte Aufsätze ab: Christian Schaller beschäftigt sch aus juristischer Perspektive mit dem Schutz transnationaler Unternehmen in Konfl iktgebieten. Jan Scheffl er lotet die Chancen für die Etablierung eines stän-digen europäischen Sitzes im UNO-Sicherheitsrat aus.

Im »Forum« setzt sich Mandana Biegi mit dem »Schlesinger Report« zur Menschenrechtslage in Abu Ghraib auseinander. Barbara Lochbihler analysiert das Spannungsverhältnis von Sicherheitsproduktion und Menschenrechtsschutz.

Die nächste Ausgabe von S+F wird sich dem Themenschwer-punkt Terrorismusbekämpfung widmen.

Heinz-Dieter Jopp

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Zwischen Dayton und BrüsselBosnien-Herzegowina zehn Jahre nach Kriegsende − Ein Land auf der Suche nach sich selbst

Vedran Dzihic*

Abstract: While the world is primarily looking at Kosovo and Serbia and Montenegro, Bosnia-Herzegovina is entering a crucial phase in its post-war development. Shortly before the general elections in October 2006 there are some burning issues on the agenda, i.e. constitutional reforms, economic and social development and the question of the EU-integration. Ten years after the war it is also time to ask whether or not Dayton has failed, and which changes should be introduced in order to overcome the current political and economic problems and move beyond Dayton towards Brussels. This article provides a critical analysis of achievements and shortcomings of the Dayton-era, and tries to identify the major challenges Bosnia and the international community will face in the context of Europeanisation in the months and years to come.

Keywords: Bosnien-Herzegowina, Dayton, Internationale Gemeinschaft, Nation-Building, EU-Integration

Vor etwas mehr als zehn Jahren begann die entschei-dende diplomatische Initiative, um dem fast vierjäh-rigen Blutvergießen in Bosnien-Herzegowina ein Ende

zu setzen. Zwei Monate später wurde der brutalste Krieg auf dem europäischen Boden seit 1945 mit der Unterzeichnung des Daytoner Friedensabkommen durch Franjo Tudjman, Slo-bodan Milosevic und Alija Izetbegovic beendet. Die Akteure des Jahres 1995 sind längst von der politischen Szene ver-schwunden – Tudjman, Izetbegovic und Milosevic sind ver-storben. Gehört aber Dayton wirklich zur Geschichte? Und wie weit ist Bosnien in der Zwischenzeit gekommen?

* Mag. Vedran Dzihic, Universitätslektor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien.

Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges in Bosnien-Herzego-wina erleben wir eine Infl ation an Einschätzungen und Re-sümees der aktuellen Entwicklungen in diesem Land. Die meisten halten sich an das gewöhnliche Muster: Man zählt zunächst einmal einige Bereiche auf, in denen es scheinbare oder reale Fortschritte gibt, wird dann im zweiten Teil – um das optimistische Bild zurechtzurücken – ein wenig kritischer und erteilt am Schluss Ratschläge, was denn alles anders, bes-ser und effi zienter gemacht werden könnte. Zuletzt wurde diese »Resümierungs-Pfl ichtübung« von Paddy Ashdown an-lässlich seiner Abschiedsrede vor dem bosnischen Parlament am 30. Januar 2006 absolviert. Auch in dieser Rede wurde eine Normalität suggeriert, in dem die vorgegebenen Parameter des bosnisch-herzegowinischen Daseins akzeptiert bzw. affi rmiert

S+F Sicherheit und FriedenSecurity and Peace 22006

24. JahrgangS. 55–112

HerausgeberDr. habil. Michael Brzoska, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)Prof. Dr. Hans J. Giessmann, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität HamburgProf. Dr. Heiner Hänggi, Genfer Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte (DCAF), GenfKapitän zur See Heinz-Dieter Jopp, Führungsakademie der Bundeswehr, HamburgDr. Erwin Müller, ChefredakteurAndreas Prüfert, Europäische Organisation der Militärverbän-de (EUROMIL), Brüssel

SchriftleitungProf. Dr. Hans J. Giessmann

RedaktionDr. Erwin Müller (V.i.S.d.P.)Susanne BundDr. Patricia SchneiderDr. Thorsten Stodiek

BeiratDr. Alyson Bailes, Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), Stockholm

Dr. Detlef Bald, München

Prof. Dr. Joachim Betz, Universität Hamburg

Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Träger des Alternativen Nobelpreises, München

Prof. Dr. Pál Dunay, Genfer Zent-rum für Sicherheitspolitik, Genf

Prof. Dr. Wolfgang Gessenharter, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg

Dr. Sabine Jaberg, Führungsaka-demie der Bundeswehr, Hamburg

Prof. Dr. Charles A. Kupchan, Georgetown University, Washington, D.C.

Dr. Martin Kutz, Führungsakade-mie der Bundeswehr, Hamburg

Dr. Krzysztof Ruchniewicz, Willy- Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien, Wroclaw

Prof. Dr. Susanne Feske,Universität Münster

Dr. Martina Fischer, Berghof Forschungszentrum für Kon-struktive Konfl iktbearbeitung, Berlin

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wurden und man sich selbst anerkennend auf die Schulter klopft.1

Wenn Maria Todorova in ihrem ausgezeichneten Buch von den Ländern des Balkans als Ländern der Widersprüchlichkei-ten spricht, dann ist gerade das Dayton-Bosnien das Beispiel par excellence für eine von Widersprüchlichkeiten durchzoge-ne Gesellschaft.2 Die Gesamteinschätzung der Entwicklung Bosniens in den letzten zehn Jahren ist daher auch wider-sprüchlich und hängt stark von der subjektiven Sichtweise der bosnischen Realitäten ab. Die jeweilige Perspektive, ver-standen als die Sicht auf die Welt, auf das subjektiv verhandel-bare Faktische, beeinfl usst die Einschätzung der Fortschritte des Friedensprozesses und des Staatsaufbaus in Bosnien seit dem Dayton-Abkommen: Nimmt man den tragischen Krieg als Ausgangspunkt, ist Bosnien-Herzegowina tatsächlich be-eindruckend weit gekommen; geht man von den dem Krieg und seinen Ursachen zugrundeliegenden Prinzipien aus – also dem mit dem Territorium verbundenen ethno-nationalis-tischen Exklusivitätsgedanken, mobilisiert und aktualisiert von den als Politiker und Unternehmer getarnten »Gewalt-unternehmern«3 mit starken persönlichen ökonomischen In-teressen an der Perpetuierung des Krisenzustandes – fällt das Urteil bestenfalls sehr gemischt aus.

Jedenfalls ist bei der Bilanzierung der bosnischen Dayton-Pe-riode weder deklarativer Optimismus noch hemmender Pes-simismus erwünscht. Vielmehr brauchen wir eine realistische Position, aus der heraus eine nüchterne Einschätzung der Mängel des derzeitigen Status quo in Bosnien vorgenommen werden kann. Dies würde auch die Basis für die Erkundung der Möglichkeiten der Verbesserung der derzeitigen dysfunk-tionalen Staatlichkeit sowie der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Situation schaffen. Eine solche realistische Posi-tion nimmt Tihomir Loza ein:

»Of course, Bosnia started from a very low point. Along with ethnic pogroms, destruction and plunder, the country has suffered a devastating brain drain, losing much of its middle class. In fact, it is probably fair to say that Bosnia’s social fabric has changed beyond recognition. But while an appreciation of the blows that Bosnia suffered during the 1992-1995 war and immediately after must inform any analysis of its deve-lopment potential, Bosnia’s sorry condition almost nine years after the war cannot be explained away simply by pointing to the gory past.

Suffi cient time has passed for a new generation to appear, a generation of political, business and professional leaders who should be able and willing to carry the country forward. More than enough fi nancial resources and expertise have been thrown at Bosnia since 1995 for its new development poten-tial to make an appearance on the horizon. But stroll down any walk of Bosnian life and you’ll come across a sea of doom and gloom peppered by a few exceptions to the rule. Put sim-ply, Bosnia isn’t working and it doesn’t feel as if it will start to work soon.

1 OHR: High Representative’s Farewell Speach to the BiH House of Represen-tatives, Sarajevo, January 30, 2006.

2 Marija Todorova: Die Erfi ndung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999.

3 Michael Ehrke: Bosnien: zur politischen Ökonomie erzwungenen Friedens, Frieden und Sicherheit, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2003.

Yet it would be quite wrong to describe today’s Bosnia as a totally dysfunctional society of a failed state. (...)«4

Was sind die wichtigsten Parameter des von Loza diagnosti-zierten schwierigen bosnischen Daseins zu Beginn des Jahres 2006? Wie weit ist Bosnien demnach auf dem Weg von Day-ton nach Brüssel gekommen?

1. Widersprüche von Dayton

Das Friedensabkommen von Dayton mit seinem stark wider-sprüchlichen Charakter, dem versuchten Spagat zwischen der Bestätigung der gewaltsam erzielten ethnischen Terri-torialgrenzen und dem Versuch der Wiederherstellung des Vielvölkercharakters Bosniens und einer komplizierten und schwerfälligen staatlichen Konstruktion schuf keine optima-len Voraussetzungen für einen staatlichen und gesellschaft-lichen Neubeginn Bosnien nach dem Kriegsende.

Es wäre natürlich überzogen, alle derzeitigen Probleme des bosnischen Staates mit den Schwächen der Daytoner Kon-struktion zu erklären. Dayton hat den Krieg beendet, ist aber in den zehn Jahren seit Kriegsende von einer »Schwimmwe-ste« zu einer »Zwangsjacke« geworden und behindert die Ent-wicklung des Landes. Es ist offenkundig, dass die in Dayton abgesegnete, stark dezentrale und ethnisierte Staatsstruktur des Landes ein Hindernis für die Entwicklung Bosniens zu einem modernen Staatswesen darstellt. Es ist auch offenkun-dig, dass Bosnien mit einer aufgeblähten Verwaltungsstruktur langfristig nicht fi nanzierbar und überlebensfähig ist. Mit den gesamtstaatlichen Institutionen, den Entitäten, Kantonen, der mit einem Sonderstatus ausgestatteten Stadt Brcko und den Gemeinden existiert ein über alle Maße überproportionierter Staatsapparat mit 13 Ministerpräsidenten, mehr als 120 Mi-nistern, etwa 750 Gesetzgebern und rund 1200 Richtern und Staatsanwälten. Fast jeder zweite Beschäftigte wird in Bosnien heute aus den Staatskassen bezahlt.5

Aber nicht nur das von der Internationalen Staatengemeinde erfundene Dayton-Konzept, das von einem »Hohen Reprä-sentanten« mit außerordentlichen Interventionsbefugnis-sen überwacht wird, auch mangelnder politischer Wille und Konsens über einen gemeinsamen Weg innerhalb Bosniens und die mangelnde Selbstverantwortung der bosnischen Bür-ger – verstärkt durch nur in ihrem engen (macht)politischen Interesse agierende Eliten – sind schuld daran, dass sich das Land noch immer in einem »permanenten Krisenzustand« befi ndet.

2. Entwicklung Bosniens vom Ende des Krieges zur Erweiterung der Vollmachten des OHR Ende 1997

Die unmittelbare Phase nach der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens war vor allem durch den schwierigen Beginn in

4 Tihomir Loza: Unlocking the future, in: Christophe Solioz/Tobias K. Vogel (Hrsg.): Dayton and Beyond: Perspectives on the Future of Bosnia and Her-zegovina, Baden-Baden 2004, S. 205-220, hier: 205.

5 Vgl. Schwerpunkt Bosnien und Herzegowina in: Südosteuropa Mitteilungen, 04-05/2005, 45. Jahrgang, S. 61-135.

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so gut wie allen Bereichen des Lebens gekennzeichnet. Die militärische Stabilisierung erfolgte dank der 60.000 Mann starken IFOR-Truppe (Implementation Force) relativ schnell. Der physische Wiederaufbau des Landes ging mit Hilfe des großen internationalen fi nanziellen Aufwands einigermaßen zügig voran. So wurden bis Ende 1998 2,7 Milliarden USD an internationalen Hilfsgeldern in Bosnien ausgegeben, wo-von 70 Prozent in die Föderation und auf Grund zahlreicher Obstruktionen nur etwa 30 Prozent in die Republika Srpska (RS) fl ossen. Die wirtschaftliche Situation war anfangs kata-strophal, verbesserte sich aber bis 1997 durch den großen Zu-fl uss an internationalen Hilfsleistungen doch bis zu einem gewissen Grad.

Der zivile Wiederaufbau gestaltete sich deutlich schwieriger. Ein wesentlicher Fehler der Anfangszeit war die zu frühe Ab-haltung der Wahlen im September 1996. Dieses demokra-tische Experiment führte schlussendlich zur Bestätigung der alten national(istisch)en Eliten auf allen Ebenen des Staates, zur Verfestigung der ethnischen Teilung des Landes und damit zur Verlangsamung der Entwicklung Bosniens in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Das OHR unter dem ersten Ho-hen Repräsentanten Carl Bildt (1995-1997) war bis 1997 mit relativ wenigen direkten Vollmachten ausgestattet und daher kaum in der Lage, effi zient in das politische und wirtschaft-liche Geschehen in Bosnien einzugreifen.

Mit der Stärkung der Rolle des OHR in Bonn am 9./10. Dezem-ber 1997 und der Ermächtigung des Hohen Repräsentanten, obstruktive Politiker und öffentlich Bedienstete per Dekret ent-lassen sowie Entscheidungen mit Gesetzeskraft erlassen zu kön-nen, begann die Phase einer stärkeren Dominanz der internati-onalen Gemeinschaft im bosnischen Friedensprozess. So kann man ab Ende 1997 von einem Halbprotektorat oder einem Sy-stem der »Controlled Democracy«6 in Bosnien sprechen.

3. Von der nicht-nationalistischen Allianz hin zu alten ethnischen Gegensätzen

Unmittelbar nach dem Inkrafttreten der Bestimmungen von Bonn unternahm der damalige Hohe Repräsentant Carlos Westendorp einige Schritte, die spürbare praktische Fortschritte für die Einwohner von Bosnien mit sich brachten. So wurden einheitliche Autokennzeichen eingeführt, die wesentliche Verbesserungen der Bewegungsfreiheit mit sich brachten. Des Weiteren verabschiedete Westendorp Anfang 1998 ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz, führte eine gemeinsame Währung, die Konvertible Mark, ein, beschloss auch die Einführung neu-er staatlicher Symbole, einer neuen Flagge und einer Hymne für Bosnien-Herzegowina. Ebenso wurde eine ganze Reihe von Politikern abgesetzt, die die Umsetzung des Abkommens von Dayton blockiert hatten. Dennoch kam es auch in dieser Pha-se des internationalen Engagements zu keinen substantiellen Fortschritten in den strukturellen Bereichen der bosnischen Staatlichkeit wie z.B. bei der staatlichen Funktionsfähigkeit, der Dominanz des Ethnischen oder der schlechten wirtschaft-

6 Victor D. Bojkov: Political Development of Bosnia and Herzegovina after 1995: The Case for Controlled Democracy, Sarajevo o.J.

lichen Situation. Das OHR entwickelte sich dennoch immer mehr zu einer dominanten politischen Macht im Land, was schrittweise zur Ausbildung eines »Abhängigkeitssyndroms« innerhalb der bosnischen politischen und wirtschaftlichen Eliten führte.7 Das Muster der künstlichen wirtschaftlichen Entwicklung durch die Hilfsgelder der internationalen Staa-tengemeinschaft trug in dieser Phase zur Entstehung einer »Rentenökonomie« in Bosnien bei.8 So wuchs die Wirtschaft im Jahr 1997 um 37 Prozent, die durchschnittlichen Löhne stiegen, es konnte ein Anstieg des Bruttosozialprodukts ver-zeichnet werden, eine nachhaltige Stabilisierung der bosni-schen Wirtschaft oder größere Kapitalinvestitionen aus dem Westen konnten aber nicht registriert werden. Nach einigen Berechnungen hätte Bosnien in den Jahren 1998 und 1999 ohne internationale Hilfe sogar einen Rückgang des BSP aufge-wiesen. Dieses »Abhängigkeits- und Rentensyndrom« ist auch bis heute nicht vollständig abgelegt worden.

Die allgemeinen Wahlen im September 1998 brachten nicht die erhoffte Stärkung der nicht-nationalistischen Kräfte mit sich, sondern neuerlich eine Bestätigung der SDA, SDS und HDZ, die mit ihren weiterhin diametral entgegengesetzten Vorstellungen in Bezug auf den staatlichen Charakter Bosni-ens eine gegenseitige Blockadepolitik betrieben und vor allem die nationalen Gefühle für die Zwecke ihres eigenen Macht-erhaltes oder aus fi nanziellen Interessen zu instrumentalisie-ren wussten. Mit dem Amtsantritt von Wolfgang Petritsch im August 1999 und den ersten Erfolgen der nicht-nationalis-tischen Parteien in der Föderation und auf der gesamtstaat-lichen Ebene bei den Wahlen im November 2000 entstand in Bosnien der Eindruck eines »nicht-nationalistischen« Para-digmenwechsels.9 Die nicht-nationalistische Allianz, die sich aus der Sozialdemokratischen Partei Bosniens (SDP), der Partei für BiH (SbiH) und einigen Klein- und Kleinstparteien zusam-mensetzte, konnte mit Hilfe von einigen moderaten Parteien aus der Republika Srpska in den Repräsentantenhäusern des Gesamtstaates und in der Föderation eine Koalition bilden und die Regierungsgeschäfte übernehmen. Allerdings blieb die nicht-nationalistische Regierung auf Grund ihrer Hetero-genität, interner Konfl ikte und der überaus schwierigen wirt-schaftlichen und sozialen Probleme im Land ihre Amtszeit hindurch recht labil.

Durch den Tod des kroatischen Präsidenten Tudjman und den darauf folgenden Regierungswechsel in Kroatien sowie als Fol-ge der »serbischen Oktoberrevolution« und des Sturzes von Slobodan Milosevic veränderten sich die äußeren Rahmenbe-dingungen für den bosnischen Friedensprozess und schufen teilweise ein neues Aufbruchsklima. Der neue Hohe Reprä-sentant Wolfgang Petritsch (bis Mai 2002 im Amt) versuchte, dieses Klima für ehrgeizige Reformen zu nutzen. Er setzte sich für eine Überwindung des nationalistischen Diskurses und

7 Vgl. hierzu: Zarko Papic: BiH 6 godina poslije rata. Zavisnost ili odrzivost i odgovornost, in: Christophe Solioz/Svebor Dizdarevic: Bosna i Hercegovina: od ovisnosti do samoodrzivosti, Sarajevo 2002, S. 51-73 und Elisabeth M. Cousens: From Missed Opportunities to Overcompensation: Implementing the Dayton Agreement on Bosnia, in: Stephen John Stedmen/Donald Roth-child/Elizabeth M. Cousens (Hg.): Ending Civil Wars. The Implementation of Peace Agreements, Boulder/London 2002, S. 531-567.

8 Vgl. Micheal Ehrke: a.a.O. 9 Vgl. dazu: Reinhold Vetter: Bosnien-Herzegowina – vom Protektorat zum

Partner?, in: Osteuropa, 4/2002, S. 476-490.

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Dzihic, Bosnien-Herzegowina zehn Jahre nach Kriegsende | T H E M E N S C H W E R P U N K T

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für eine Hinwendung der politischen Eliten zu wirklichen Problemen Bosniens ein. Mit dem Konzept der »Ownership«, also der Stärkung des Verantwortungsbewusstseins und der Selbstverantwortlichkeit der einheimischen Bevölkerung und politischer und wirtschaftlicher Eliten, versuchte Petritsch, das in Bosnien stark ausgeprägte Abhängigkeitssyndrom zu überwinden – weg von einer »aid-driven« hin zu einer »in-vestment driven economy«.10 Petritsch setzte aber gleichzeitig die Bonner-Vollmachten immer stärker ein, begründet mit der Notwendigkeit, Reformen voranzutreiben. 2001 gab es 54 Er-lasse, 2002 waren es bereits 153. Bis Ende 2002 wurden auch mehr als 100 Personen aus ihren Ämtern entlassen. Die Kritik an dieser Protektoratshaltung stieg, das Abhängigkeitssyn-drom wurde kaum geringer.

In der Amtszeit Petritschs und durch den Wahlerfolg der nicht-nationalistischen Kräfte werden zum ersten Mal Stim-men laut, die eine Veränderung oder Adaptation des Dayton-Abkommens vorschlagen, was aber gleichzeitig vehement von den politischen Kräften in der Republika Srpska abgelehnt und von den bosnischen Kroaten und der HDZ mit der Forderung nach der dritten Entität konterkariert wurde. Mit dem so ge-nannten »Mrakovica-Sarajewo-Abkommen« und der damit verbundenen Verfassungsreform, die die Grundrechte der drei konstitutiven Völker in den Entitäten gleichberechtigt festschreibt, wurde das erste Mal nach 1995 die Daytoner-Ver-fassung »korrigiert«.11 Auch wenn mit diesem ersten Schritt die Dominanz des ethnischen Prinzips in der Praxis nicht durchbrochen werden konnte, war das »Mrakovica-Sarajewo-Abkommen« ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu weiteren Änderungen der Verfassung von Dayton, der eine Basis für weitere Verfassungsdiskussionen schuf. Trotz der Schwierig-keiten bei der Verfassungsreform konnten einige andere Re-formen initiiert bzw. umgesetzt werden. So wurde ein neues Wahlgesetz verabschiedet, bei der Eigentumsrückgabe konnten durch neue gesetzliche Regelungen Fortschritte erzielt werden, Bosnien wurde im April 2002 in den Europarat aufgenommen etc. Im Bereich der Flüchtlingsrückkehr gab es vor allem in den Jahren 2001 und 2002 signifi kante Fortschritte bei den Minderheitenrückkehrern. Die großen wirtschaftlichen Pro-bleme blieben aber bestehen.

Die Wahlen vom Oktober 2002 brachten den neuerlichen Sieg der drei national(istisch)en Parteien SDS, HDZ und SDA und in der Folge eine an die Vorkriegszeit erinnernde Aufteilung der Macht und der Privilegien untereinander. Ausschlagge-bend für ihren Sieg waren die schlechte wirtschaftliche und soziale Situation und die Enttäuschung der Wähler darüber, dass die Reformallianz viele ihrer Ziele nicht erreicht hatte; folglich musste sie bei den Wahlen schwere Verluste hinneh-men. Dem erhofften Prozess des nicht-nationalistischen Pa-radigmenwechsel wurde jäh ein Ende gesetzt: SDS, HDZ und SDA vertreten nach wie vor ähnliche Positionen wie bereits während ihrer zehnjährigen Regierungszeit in Bosnien, stel-len das »Nationale« bzw. das »Ethnische« in den Mittelpunkt ihrer Politik, geschmückt mit zwischenzeitlich gelernten mo-

10 Vgl. Wolfgang Petritsch: Bosnien-Herzegowina 5 Jahre nach Dayton. Hat der Friede eine Chance?, Klagenfurt/Celovec 2001, S. 120-196.

11 International Crisis Group: Implementing Equality: The »Constituent Peop-les« Decision in Bosnia & Herzegovina, Sarajevo/Brussels, 16. April 2002.

derateren Tönen für die westlichen Politiker. Die Partikula-rinteressen, Korruption, niedriges Reformtempo und offen-sichtliches Interesse an der Prolongierung des Status quo sind die wesentlichen Kennzeichen der »neuen« alten Machthaber. Viele sahen in der damaligen politischen Situation Bosnien mit der national(istisch)en Koalition an der Macht und ei-ner machtlosen und desorganisierten Opposition an einem absoluten Tiefpunkt angelangt und sprachen von der ernst-haftesten politischen Krise der letzten acht Jahre.12

Die großen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten blieben aber bis heute bestehen. So lag das BSP pro Kopf im Jahr 2004 bei etwa 1.800 Euro. Mit den durchschnittlichen Wirtschaftswachstumsraten von etwa drei bis fünf Prozent pro Jahr konnte Bosnien bis heute erst etwas mehr als 60 Prozent des BSP-Vorkriegsniveaus erreichen.13 Das bislang vorhandene wirtschaftliche Wachstum geht größtenteils auf Mittelzufl üs-se aus dem Ausland zurück, die Direktinvestitionen in die Industrie und den Dienstleistungssektor sind nach wie vor verschwindend gering. Die durchschnittliche Arbeitslosenrate liegt bei etwas mehr als 40 Prozent, der Anteil der in der Schat-tenwirtschaft Beschäftigten bei etwa 20 Prozent. Nach den Berichten des UNDP leben etwa 20 Prozent der Menschen in Bosnien unter der Armutsgrenze; die soziale Unsicherheit ist groß und die Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Schichten nehmen zu.14

4. Bosnien als Land des permanent Ethnischen und der nationalistischen Eliten

Die gewaltsame Ethnisierung der frühen 1990er Jahre, die Er-fahrung des brutalen Krieges und ein ethnisierter bosnischer Dayton-Staat bestimmen die Parameter des Denkens in Bos-nien und des Nachdenkens über dieses Land auch heute noch dermaßen stark, dass jegliche andere Form der geschichtlichen Erfahrungen – wie die bosnische staatliche Kontinuität, die gelebten Gemeinsamkeiten der einheitlichen Alltagskultur, ein Leben abseits der Dominanz des Ethnischen – als unwahr, falsch und als ideologisch schöngefärbt und idealisiert abge-tan wird. Auch zehn Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton werden viele gesellschaftliche, politische und soziale Fragen – wie zuletzt in der Debatte um die Verfassungsände-rungen – zu einer Frage der »vitalen nationalen Interessen« der eigenen Volksgruppe hochstilisiert, so dass die nationale bzw. ethnische Identifi kation den Grundgehalt des gesellschafts-politischen Diskurses ausmacht. Themen von politischer, so-zialer, wirtschaftlicher oder auch kultureller Relevanz werden vom Primat des Ethnischen mitbestimmt.15

12 Dani, 05.03.2004, S. 12-15; Radio Free Europe, 09.03.2004, www.slobodnae-vropa.org.

13 Directorate-General for Economy and Financial Affairs (Hg.): The Western Bal-kans in transition, Occasional Papers, No. 5, January 2004, S. 35ff und Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, siehe: www.wiiw.ac.at.

14 UNDP: Early Warning System Bosnia and Herzegovina, 2. Quarterly Report 2005, Sarajevo 2005.

15 Dieser Punkt wurde ausführlich mit einem der führenden Intellektuellen Bosniens, Ivan Lovrenovic, in einem Gespräch am 29.9.2004 in Sarajewo diskutiert. Lovrenovic vertritt die Meinung, dass das Hochhalten des natio-nalen Prinzips und seine fortdauernde Wirkung seit dem Ende des Krieges den Weg Bosniens in die EU entscheidend bremsen.

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Bosnien befi ndet sich folglich in einem Zustand des permanent Ethnischen. Das Ethnische ist mit dem Krieg und der Bestäti-gung seiner Ergebnisse im Dayton-Abkommen zum obersten Prinzip der Politik- und der Lebensgestaltung geworden. Somit zeichnet sich Bosnien heute vor allem dadurch aus, dass es als eine homogene und funktionale Gesellschaft nicht existiert. Nimmt man an, dass unter dem Begriff »Gesellschaft« ein ge-wisser Zusammenhalt innerhalb der Bevölkerung, das Teilen gemeinsamer geschichtlicher und aktueller Erfahrungen, ein konsensuales Handeln in Bezug auf die Entwicklung und die Zukunft des Landes verstanden werden können, stellt die heu-tige bosnische Gesellschaft die Negation eines solchen Gesell-schaftsbegriffs dar.

5. Die Internationale Staatengemeinschaft in Bosnien-Herzegowina

Einige der bereits konstatierten Schwierigkeiten in der Ent-wicklung Bosnien-Herzegowinas seit dem Ende des Krieges sind auch auf die Fehler der internationalen Staatengemein-schaft im Staatsbildungsprozess zurückzuführen bzw. wurden durch diese verstärkt. Die in Bosnien-Herzegowina seit dem Ende des Krieges tätigen internationalen Organisationen (Büro des Hohen Repräsentanten [OHR], SFOR, UN, EU, OSZE, Eu-roparat, Weltbank etc.) weisen eine ganze Reihe von internen Widersprüchlichkeiten auf, die sich auf den Friedensprozess stark ausgewirkt haben. Dazu zählen Rivalitäten, Konkurrenz, mangelnde Koordinierungsfähigkeit und Kompetenzstreitig-keiten zwischen einzelnen Organisationen sowie das bisherige Fehlen einer klaren und konsistenten Strategie für den Pro-zess des Staatsaufbaus in Bosnien. Nicht unwesentlich sind die manchmal vorhandenen Gegensätze zwischen den Interessen der in Bosnien präsenten Nationalstaaten. Bedingt durch die zu frühe Abhaltung der ersten Wahlen im Jahr 1996 und die mangelnde operative Fähigkeit des OHR kam es zu einer Bestä-tigung und Stärkung der bereits im Krieg agierenden nationa-listischen Kräfte in den wichtigen politischen und wirtschaft-lichen Machtzentren, die sich forthin in der Blockadepolitik und der persönlichen Bereicherung übten. Im späteren Verlauf des Friedensprozesses kam es durch den extensiven Einsatz der Bonner Befugnisse zur Überkompensierung der Macht und gleichzeitig wurde dem OHR eine imperialistische Protekto-ratshaltung vorgeworfen.16

Während man jahrelang die vielen internen kritischen und antinationalistischen Töne über die internationale Staaten-gemeinschaft in Bosnien kaum beachtet hat, wurde im Jahr 2003 auch im Ausland die Kritik am Handeln und Verhalten des OHR und des Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown im-mer lauter, der die Bonner Vollmachten von allen Amtsinha-bern am stärksten einsetzte. Felix Martin und Gerald Knaus von der Berliner Expertengruppe European Stability Initiative (ESI) kritisierten in einem im Juli 2003 erschienenen pole-misch-provokativen Bericht die Metamorphose der interna-tionalen Staatengemeinschaft in Bosnien zu »gut meinenden

16 Christine von Kohl/Christophe Solioz/Vedran Dzihic (Hg.): Bosnien-Herzego-wina: 8 Jahre nach Dayton – Krisen, Kritik und Perspektiven, Balkan-Südost-europäischer Diskurs, Diskurs 1, Wien/Sarajevo/Sofi a/Tirana/Zagreb 2003.

Despoten«. Die Autoren forderten die Abschaffung der Bonner Vollmachten, eine strengere Kontrolle des OHR im Sinne von »checks and balances« und den schrittweisen Abbau der Ka-pazitäten und der Präsenz des Hohen Repräsentanten in Bos-nien. Knaus und Martin trafen in manchen Punkten den Kern des Problems der protektoratsähnlichen Nation-Building-Ver-suche, in einigen Punkten schossen sie über das Ziel hinaus. Eine breite Diskussion über die Position der internationalen Gemeinschaft konnte aber dennoch angeregt werden.17 Ab 2003 gab es dann eine ganze Reihe von internen und externen Vorschlägen zur Überwindung des Problems der »wohlmei-nenden Despotie« und zur Reform der Rolle der internatio-nalen Gemeinschaft in Bosnien, die regelmäßig im Kontext der Diskussion rund um die Änderung der Dayton-Verfassung geführt werden.

6. Die Diskussion über die Änderung der Verfas-sung von Dayton: Eine »never ending story«?

Die ab 2002 mit einer starken Vehemenz geführten Diskus-sionen über die Veränderung der Dayton-Verfassung bestim-men maßgeblich die letzten Jahre und werden im Kontext der europäischen Integration zunehmend zu einem der entschei-denden politischen Themen.

So lagen in den Jahren seit 2002 einige konkrete Vorschläge auf dem Tisch. Ende 2003 verlangte eine Gruppe von 24 promi-nenten europäischen Politikern, u.a. Doris Pack und Tadeusz Mazowiecky, die Änderung des Dayton-Abkommens und for-derte Verfassungsänderungen mit dem Ziel, den Weg nach Europa zu beschleunigen.18 Die ESI präsentierte einen Plan zur Abschaffung der Entitäten und zur Schaffung von zwölf gleichberechtigten Kantonen nach dem Schweizer Vorbild.19 Die Diskussionen über die Änderung der Daytoner Verfassung setzten sich auch im Jahr 2004 und 2005 fort.20 Einer der viel beachteten Vorschläge zur Verfassungsreform und damit auch zum schrittweisen Abbau der Bonner Vollmachten kam im März 2005 von der so genannten »Venedig-Kommission« des Europarates. Die Venedig-Kommission bezeichnete die Dayto-ner Verfassung als »anachronistisch« und als eine Verfassung, mit der der Weg Bosniens in die EU ausgeschlossen ist. Ihr Vorschlag sieht die Stärkung des Gesamtstaates auf Kosten der Entitäten vor, die im Konsens zwischen den drei bosnischen Konstitutivvölkern erreicht werden soll.21

Rund um die Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der Un-terzeichnung des Dayton-Abkommens stand vor allem die US-amerikanische Initiative des ehemaligen stellvertretenden Leiters des OHR, Donald Hays, im Mittelpunkt. So konnten

17 Vgl. Ebd. 18 Declaration: To Ensure Peace in BiH by Further Annexing of the Dayton

Agreement, 18. Dezember 200319 ESI: Making Federalism Work – A Radical Proposal for Practical Reform, Ber-

lin/Brüssel/Sarajewo 8 January 2004. 20 Unter den zahlreichen Vorschlägen aus unterschiedlichsten politischen La-

gern in Bosnien ist auch ein interessanter Entwurf einer neuen, Post-Day-toner Verfassung, der von der jungen Generation rund um ACIPS (Alumni Association of the Centre for Interdisciplinary Postgraduate Studies) im Sommer 2004 präsentiert wurde. Siehe dazu: Midhat Izmirlija/Dennis Gratz: Ustav Savezne Republike BiH, in: Novi pogledi, godina I, No. 3, Sommer 2004, S. 6-12).

21 Slobodna Bosna, 17.3.2005, S. 23-25.

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in einer ganzen Reihe von Sitzungen in Europa und dann in Washington am 21. November 2005 die Führer der größten bosnischen Parteien an einem Tisch versammelt und zu ei-nigen Zusagen für zumindest geringfügige Verfassungsände-rungen gedrängt werden. Nach der Vereinbarung, die bis März 2006 umgesetzt werden sollte, sollen die Kompetenzen des gesamtstaatlichen Regierungschefs gestärkt, zwei neue Mini-sterien auf der staatlichen Ebene eingerichtet sowie gewisse Veränderungen in den parlamentarischen Versammlungen Bosnien-Herzegowinas implementiert werden.22

Jedenfalls kommt in allen Vorschlägen zur Verfassungsreform der Perspektive der Integration Bosniens in die Europäische Union, die von vielen als der archimedische Punkt für die Zukunft Bosniens und einer der wenigen politischen und wirtschaftlichen Anker betrachtet wird, eine immer größere Bedeutung zu. Die Notwendigkeit der Abkehr von Dayton und Orientierung nach Brüssel, die natürlich spezifi sche Re-formnotwendigkeiten vor allem im konstitutionellen Bereich nach sich zieht, wird mittlerweile vom überwiegenden Teil der Experten und Analytiker der bosnischen Situation hervorge-hoben. So Christophe Solioz vom Centre for European Inte-gration Strategies: »This ‚historic’ position of Bosnia which is at the verge of leaving the post-Dayton period of international reconstruction, state-building, and intervention to become a regular pre-accession and thus candidate country for EU membership necessitates fundamental changes and strategic adjustments that must be introduced immediately.«23 Ange-sichts des bevorstehenden Wahlkampfes für die gesamtstaat-lichen Wahlen im Oktober 2006 werden sich die Reformbe-mühungen im Verfassungsbereich aus politisch-strategischen Gründen auf die technischen Aspekte der Umsetzung der bereits beschlossenen Verfassungsänderungen beschränken. Nach den Wahlen und unter einer stärkeren Anleitung des neuen OHR-Leiters Christian Schwarz-Schilling (im Amt seit 1. Februar 2006) und der Europäischen Union könnte dann ein neuer Diskussionsprozess initiiert werden, der am Ende zu einer Gesamtänderung der Daytoner Verfassung im Kontext des Weges Bosniens in die EU führen sollte.

7. Von Dayton nach Brüssel

Bosnien-Herzegowina befi ndet sich heute nach der Transfor-mation der Gesellschaft aus einem Kriegszustand in das Sta-dium des Friedens (zumindest im Sinn der Abwesenheit von Gewalt) mitten in der nächsten Transformationsstufe, und zwar in der − symbolisch gesprochen − Phase der Transforma-tion von »Dayton« nach »Europa«.24 In Bosnien-Herzegowina spielt Europa bzw. die EU auf unterschiedlichen gesellschafts-politischen Ebenen eine entscheidende Rolle. Einerseits sind Vertreter der internationalen Organisationen (in Bosnien sind dies abgesehen von Amerikanern vor allem Vertreter europä-

22 Vgl. OHR: Communiqé by the PIC Steering Board, December 15, 2005; siehe auch: Radio Free Europe, www.slobodnaevropa.org sowie die regelmäßige Berichterstattung der bosnischen Tageszeitung Oslobodenje zu diesem The-ma unter www.oslobodenje.ba.

23 Christophe Solioz: Turning-Points in Post-Was Bosnia. Ownership Process and European Integration, Baden-Baden 2005, S. 133.

24 Vgl. Emir Hadzikadunic: Od Dejtona do Brisela (Von Dayton bis Brüssel), ACIPS, Sarajevo 2005.

ischer Staaten) in Bosnien wegen ihrer protektoratsähnlichen Machtausübung starker Kritik ausgesetzt.25 Gleichzeitig erwar-tet man gerade von den Staaten der EU und damit vom sym-bolischen »Europa«, dass sie entscheidende Impulse setzen, um die schwache und komplizierte bosnische Staatlichkeit zu reformieren und zu stärken. Bei den Diskussionen über die Staatlichkeit in Bosnien-Herzegowina konstituiert »Europa« in Gestalt der EU die entscheidende Kontextvariable für die Verhandlung wichtiger gesellschaftspolitischer Fragen.

Was waren die bisherigen konkreten Schritte auf dem EU-Inte-grationsweg Bosniens? Im März 2000 wurde von der EU die so genannte »Road Map« für Bosnien-Herzegowina verabschie-det, in der 18 Grundvoraussetzungen für die Erarbeitung der Durchführbarkeitsstudie und den Beginn der Verhandlungen über den SAP festgelegt wurden. Die Erfüllung der einzelnen Bedingungen aus der »Road Map« als Messlatte des politischen Willens in Bosniens für die Lösung vieler Fragen in politischer, wirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Hinsicht verzögerte sich deutlich und konnte schlussendlich nur mit einer ganzen Rei-he von Interventionen des Hohen Repräsentanten Wolfgang Petritsch realisiert werden. Im September 2002 verkündete die Europäische Kommission, dass die »Road Map« »im Wesent-lichen« abgeschlossen sei.

Auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 wurde die prinzipielle Beitrittsperspektive bekräftigt, aber auch die sehr langsame Durchführung der Reformen in vielen Bereichen betont. Folglich legte die Europäische Kommission im No-vember 2003 die Durchführbarkeitsstudie zur Aufnahme von Verhandlungen über das Stabilisierungs- und Assoziierungsab-kommen (SAA) mit Bosnien vor. In dieser Studie wurde klar festgehalten, dass in Bosnien trotz Fortschritten in manchen Bereichen weiterhin gravierende strukturelle Schwächen be-stehen. In Folge wurden 16 Reformprioritäten aufgelistet, die Bosnien 2004 in Angriff nehmen müsste, um den Vo-raussetzungen für die Aufnahme der Verhandlungen für den Abschluss des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens (SAA) zumindest nahe zu kommen.

Seitens der Europäischen Kommission wurden keine kon-kreten Fristen für die Erfüllung der einzelnen Schritte aus der Durchführbarkeitsstudie festgelegt, allerdings wurde den bos-nischen Behörden nahe gelegt, die Reformen nach Möglich-keit bis zum Ende des Jahres 2004 abzuschließen. Wie sich später zeigen sollte, war diese Fristsetzung illusorisch. Nach dem in langen Verhandlungen (halbherzige) Kompromisse bei der Landesverteidigungs- und Polizeireform erzielt werden konnten, wurden am 25. November 2005 die Verhandlungen

25 Vgl. Christine von Kohl/Christophe Solioz/Vedran Dzihic (Hg.): Bosnien-Herzegowina: 8 Jahre nach Dayton – Krisen, Kritik und Perspektiven, Balkan-Südosteuropäischer Diskurs, Diskurs 1, Wien/Sarajevo/Sofi a/Tirana/Zagreb 2003. In diesem Sonderband der Zeitschrift »Balkan anders« wird schwer-punktmäßig auf die durch den Artikel zum Protektorat in Bosnien von Ger-ald Knaus und Felix Martin (siehe: Gerald Knaus und Felix Martin: Wohlwol-lende Despoten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.7.2003) ausgelöste Diskussion über eine abgehobene und imperialistische Herrschaftsweise der Internationals in Bosnien eingegangen. Im Mittelpunkt der Kritik stehen hier die Machtausübung durch den Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown aus Großbritannien, der auf Grund der Ermächtigung durch die so genann-ten »Bonn Powers« in der Lage ist, in Bosnien Gesetze per Dekret zu erlas-sen bzw. die nicht-kooperativen Politiker aus ihrem Amt zu entlassen. Vgl. hiezu auch. Vedran Dzihic: Nation-Building in Bosnien und Herzegowina, in: Erich Reiter/Predrag Jurekovic (Hg.): Bosnien und Herzegowina. Europas Balkanpolitik auf dem Prüfstand, Baden-Baden 2005, S. 15-33.

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Bosnien-Herzegowinas mit der EU über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) eröffnet.

Unabhängig vom SAA-Verhandlungsbeginn, der offi ziell mit einer ersten Verhandlungsrunde am 25. Januar 2006 ein-geleitet wurde, besteht noch eine ganze Reihe von Schwie-rigkeiten und strukturellen Schwächen auf der bosnischen Seite, die den weiteren EU-Integrationsverlauf entscheidend beeinfl ussen werden. Wie schon bei der Umsetzung der 16 Reformprioritäten aus der Durchführbarkeitsstudie werden auch in der Zukunft die größten Schwierigkeiten vor allem im Bereich der Implementierung der von der Parlamentarischen Versammlung beschlossenen Gesetze und der tatsächlichen Funktionsfähigkeit der neu gegründeten Institutionen liegen. Konkret bedeutete dies bislang, dass die beschlossenen Ge-setze kaum oder gar nicht implementiert werden, die neu ge-schaffenen Institutionen zwar formal existieren, de facto aber zu schwach besetzt sind und daher wenig effi zient arbeiten. Nerzuk Curak, einer der renommiertesten Politologen des Landes, spricht in diesem Zusammenhang von einem »bloßen Institutionalismus ohne jegliches Leben«26. Allgemein deutet dieses Problem der schwachen Institutionen und der ineffi -zienten öffentlichen Verwaltung auf ein Grunddilemma für Bosnien hin: Für einen erfolgreichen Weg in die EU und eine spätere Mitgliedschaft ist vor allem eine effi ziente und fähige öffentliche Verwaltung notwendig, die in der Lage sein sollte, die komplizierten und äußerst differenzierten Vorgaben der EU effi zient zu erfüllen. Das heißt, dass in Bosnien die öffent-liche Verwaltung noch ausgebaut werden müsste, um diesem Ziel gerecht zu werden. Gleichzeitig ist aber Bosnien-Herzego-wina mit seinen vielen Verwaltungsebenen derzeit ein Land mit einer überdimensionierten Beamtenschaft und mit einer öffentlichen Verwaltung, die nach Schätzungen 60 bis 70 Pro-zent aller zur Verfügung stehenden Budgetmittel des Staates für sich beansprucht. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist der-zeit nicht in Sicht. Jedenfalls lässt sich feststellen, dass der seit dem Jahr 2000 konkreter gewordene EU-Annäherungsprozess und der politisch tagtäglich hergestellte Bezug zu Europa in Bosnien eine gewisse neue Reformdynamik ausgelöst hat, die tendenziell zu einem Selbstläufer wird. So stimmen in Bosnien politische Eliten und Parteien – zumindest deklarativ und mit gewissen Unterschieden bei den drei konstitutiven Völkern (Bosniaken, Kroaten und Serben) – überein, dass die Zukunft Bosniens in der Europäischen Union liegen muss. Die poli-tischen Verantwortlichen in Bosnien verstehen mittlerweile, dass die Frage der Integration in die EU auch in den nächsten Jahren einen der prioritären Bereiche ihrer Arbeit darstellen wird.27 So fungierte bei den letzten Kommunalwahlen im Sep-tember 2004 das Thema »Europa« als eines der wesentlichen in der Wahlkampagne. Gleichzeitig lässt sich aber selbst bei den Parteifunktionären ein sehr niedriges und eingeschränktes Wissen über die Strukturen der EU und die tatsächlichen Kon-sequenzen des EU-Integrationsprozesses für Bosnien feststel-len. Zudem wird aus opportunistischen Gründen auf Europa zurückgegriffen, in dem vor allem in öffentlichen Äußerungen mit einer »Europa-Rhetorik« eigene Fortschrittlichkeit, Moder-

26 Emir Hadzikadunic: Od Dejtona do Brisela, ACIPS, Sarajevo 2005, S. 162.27 Vgl. hier die Beiträge im Buch: Evropska Unija i Bosna i Hercegovina: Izme-

du upravljanja krizom i izgradnje drzave, Heinrich Böll Stiftung, Sarajevo 2005.

nität und Zukunftsgerichtetheit demonstriert wird.28 Gerade auf der politischen Ebene lässt sich am bosnischen Beispiel deutlich zeigen, dass durch die intensivere Berichterstattung der Massenmedien über die Frage der EU-Integration »Europa« zu einem Symbol politischer Imagekonstruktionen wird. Das heißt, dass die Bedeutung »Europas« für politische Kommu-nikation in den letzten Jahren zugenommen hat. »Europa« ist zu einem essentiellen politischen Topos oder besser gesagt zu einer »fi gurativen (Um)Deutungsmasse« geworden, mit der sowohl die Notwendigkeit progressiver gesellschaftlicher Reformen als auch ein rückwärtsgewandter ethno-nationalis-tischer Diskurs legitimiert werden. Prozesse der politischen Selbstlegitimierung, Selbstdarstellungen, Durchsetzung parti-kularer Interessen, aber auch populistische Agitation werden daher in Bosnien immer stärker auch mit »Europa« und seinen (Um)Deutungen argumentiert und legitimiert.

Generell betrachtet lässt sich festhalten, dass der »archime-dische Punkt« für den Weg Bosniens in die EU bis heute nicht gefunden worden ist – weder auf bosnischer Seite noch auf der Seite der EU. Der bisherige EU-Annäherungsprozess war vielfach ein »Prozess per Dekret«, in dem so gut wie alle Re-formfortschritte erst unter einem gewaltigen Druck der inter-nationalen Gemeinschaft zustande kamen.29 Zu genuinen und selbsttragenden Reformen waren die politischen Eliten Bos-nien-Herzegowinas auf Grund ihrer noch immer zu starken Verankerung in exklusiv-ethnischen und partikularistischen Denkmustern nicht fähig. Folglich fi ndet in Bosnien-Herze-gowina ein grundlegender Prozess der »Europäisierung«, der in der Lage wäre, die Parameter der bosnischen Gesellschaft substantiell zu verändern und Demokratie, Rechtsstaatlich-keit und seit mehr als zehn Jahren herbeigesehnte Staats- und Alltagsnormalität zu garantieren, derzeit kaum statt. Bislang ist also die »Europäisierung« nicht mehr als eine fortgesetzte Hypermutation der aufgeblasenen bürokratischen Verwaltung in Bosnien geblieben, eine technokratische Reaktion auf den Status quo ohne visionäre Ideen und Konzepte.

8. Resümee: Die Suche nach dem »archime-dischen Punkt« für eine europäische Zukunft

Bosnien benötigt eine Systemkorrektur. Der Abschied Bosni-ens von einem artifi ziellen Staat und von einem quasi-demo-kratischen System − von einem Zustand der permanenten Ge-genwart – muss möglichst schnell vollzogen werden. Bis jetzt gibt es nur spärliche Hinweise darauf, dass der »archimedische Punkt« für Stabilisierung und zukünftige Entwicklung, für den endgültigen Abschied von Kriegen und Konfl ikten und den Weg Richtung Kooperation und Stabilität – für die Existenz als ein normales Land − in Bosnien-Herzegowina gefunden

28 Vgl. vor allem die Diskussionen rund um die Annahme der Polizeireform in der Republika Srpska als notwendiger Voraussetzung für die Fortsetzung des Prozesses der EU-Integration in Bosnien. (Vgl. Ugo Vlaisavljevic: Odumiranje policije i naroda,, in: Nezavisne novine am 8.10.2005, Slavo Kukic: Europa i dalje sanak pusti, in: Nezavisne novine am 7.10.2005, Dragan Risojevic: Historijsko »da«, in: Nezavisne Novine am 7.10.2005 sowie Senka Kurtovic: Dejton mjesto Dejtona, in: Oslobodenje am 2.10.2005).

29 Vgl. Gerald Knaus/Marcus Cox: Bosnia and Herzegovina: Europeanisation by decree?, in: Judy Batt (Hrsg.): The Western Balkans: Moving On, Paris, Chaillot Paper no. 70, October 2004.

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worden ist. Es gibt aber sowohl für die lokalen als auch für die internationalen Akteure keine Alternativen zur Suche nach diesem Punkt, zum langwierigen Rekonstruktionsprozess der bosnischen Gesellschaft – zum bereits eingeschlagenen euro-päischen Weg.

Die Daytoner »Zwangsjacke« kann auf dem Weg kontinuier-licher und schon begonnener Reformen im EU-Integrations-kontext »step by step« abgelegt werden. Dazu bedarf es gerade seitens der EU Visionen; es bedarf der Bereitschaft und Ar-beit an der Vision eines modernen, demokratischen, auf dem Konzept einer Zivilgesellschaft beruhenden, europäischen Bosnien-Herzegowina. Sowohl in Bosnien-Herzegowina als auch in anderen Staaten des Westbalkans setzte die EU aber bis jetzt zu sehr auf bürokratische Aspekte der Entwicklung, vertraute zu sehr einer institutionellen und technokratischen Logik. Das vorläufi ge Scheitern der EU-Verfassung und die da-raufhin in einigen EU-Staaten erhobenen Forderungen nach einer Verlangsamung der künftigen Erweiterung der Union zeigen nicht nur die internen Probleme und Grenzen der EU auf, sondern wirkten sich geradezu negativ auf jene Nachbar-region aus, deren volle Integration sowohl der Region selbst als auch der EU nutzen würde.

Die EU muss daher gerade in den nächsten Monaten durch eine aktive, mutige und gestalterische Politik auf dem Balkan

abseits diplomatischer Floskeln und leerer Versprechungen

zeigen, dass ihr die südosteuropäischen Nachbarn wichtig

sind. Mehr Aufmerksamkeit, größere Anstrengungen, konkrete

und an Bosnien-Herzegowina und den Balkan angepasste Stra-

tegien und fi nanzielle Mittel aus Brüssel werden vor allem

2006 entscheidend sein, um für die Lösung der anstehenden

Probleme stabile Rahmenvoraussetzungen zu schaffen. Die

Strategie muss auch der Tatsache Rechnung tragen, dass ohne

eine verbindliche Einbindung der lokalen Entscheidungsträ-

ger in die Entscheidungen Fortschritte nur sehr langsam zu

erreichen sein werden. Die Region kann keine »Diktate von

oben« brauchen, vielmehr braucht sie gleichberechtigte und

konstruktive Partner.

Daher müssen auch die bosnischen Behörden und Bürger viel

stärker und entschiedener als bislang ihr Schicksal in die ei-

genen Hände nehmen und offensiver an der Umsetzung der

notwendigen Reformen auf dem europäischen Weg arbeiten.

Dazu bedarf es neuer, junger und nicht-nationalistischer Ak-

teure, die mit einem neuen Selbstbewusstsein und in Partner-

schaft mit der internationalen Gemeinschaft den Reformpro-

zess gestalten. Eines muss dabei klar sein: Dayton und Brüssel

sind nicht kompatibel!

Das Kosovo und die StatusfrageRechtliche Refl exionen und politische Optionen

Alexander S. Neu*

Abstract: Six years after the UN-Protectorate on Kosovo (UNMIK) has been established, the international community seems to feel an exhaustion in regard to Kosovo. New crises such as international terrorism emerged and demand a shift of the political and military attention. Solving the outstanding issue of the status of the Kosovo became an urgent necessity. Despite the need for a quick settling, the international community is still struggling for a consensus on how to deal with the uncompromising stance between Serbia and the Kosovo Albanians: should Kosovo remain part of Serbia or gain independence? Based on an analysis of the legal issues, like international law and constitutional law, this essay outlines the political options available to the international community.

Keywords: Kosovo, Rechtsfragen, politische Optionen, internationale Organisationen

Im Oktober 2005 entschied der UN-Sicherheitsrat, den Weg für Verhandlungen zur Klärung des endgültigen recht lichen Status der serbischen Provinz freizugeben. Die so genann-

te Balkan-Kontaktgruppe ist die einfl ussreichste Kraft bei den anstehenden Verhandlungen. Sie besteht aus Frankreich, Rus-sland, Deutschland, Großbritannien, Italien und den USA. Die Kontaktgruppe ist eine Fortführung der Bosnien-Kontaktgrup-pe, die sich während des Bosnienkrieges Anfang der neunziger Jahre gebildet hatte. Als externer Akteur erhebt sie einen Re-

* Dr. phil. Alexander S. Neu, Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit e.V., Berlin.

gulierungs- und Gestaltungsanspruch für den gesamten West-balkan. Der UN-Sicherheitsrat soll schließlich das letzte Wort haben und die angestrebte Lösung völkerrechtlich absegnen.

All dem vorausgegangen waren die gewaltsamen Übergriffe von Kosovo-Albanern gegen im Kosovo lebende Serben im Jahre 2004. Seitdem stand die serbische Provinz Kosovo wie-der verstärkt auf der internationalen Agenda. Die März-Un-ruhen 2004 werden vor allem von den Protagonisten der staatlichen Unabhängigkeit als Nachweis dafür gesehen, dass diese zwingend notwendig sei, um Stabilität in der Region zu erreichen.

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Bemerkenswert ist, dass diese Kräfte es vermocht haben, die so genannte »Statusfrage« zum Gegenstand einer völkerrecht-lichen Betrachtung zu machen, obgleich dies vor dem Hin-tergrund der eindeutig defi nierten Resolution 1244, die un-missverständlich nur eine staatsrechtliche Lösung zulässt, gar nicht Gegenstand der Verhandlungen sein kann.

1. Die Republik Serbien und ihre Provinz Kosovo

Die serbische Provinz Kosovo ist historisch und verfassungs-rechtlich ein fester Bestandteil der Republik Serbien. Eine staatliche Unabhängigkeit des Kosovo käme einer Teilung der Republik Serbien gleich.1 Die Teilung der Republik Serbien wäre vergleichbar mit der Teilung der Republik Bosnien-Her-zegowina oder Kroatiens, was die internationale Staatenge-meinschaft unter Anwendung von Waffengewalt seinerzeit verhinderte.

Mit der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo würde die bislang mit Blick auf Jugoslawien als oberste Maxime prak-tizierte Politik der territorialen Integrität der jugo slawischen Nachfolgerepubliken gebrochen. Die daraus entstehende po-litische und völkerrechtliche Inkonsistenz und Opportuni-tät ist nicht nur im Hinblick auf die künftige Statusfrage des Kosovo, sondern angesichts weltweit bestehender Unabhän-gigkeitsbestrebungen für die künftige völkerrechtliche Praxis generell von entscheidender Bedeutung. Um die Problematik in ihrer Komplexität verständlich zu machen, ist es zunächst erforderlich, den genauen verfassungs rechtlichen Status des Kosovo zu analysieren: Das Recht der externen Selbstbestim-mung wurde in der jugoslawischen Verfassung lediglich den sechs jugoslawischen Republiken zuteil, nicht jedoch den bei-den serbischen Provinzen Kosovo und Vojvodina.

Als Träger der staatlichen Souveränität wurden die einzelnen Völker (Nationen) sowie die »Arbeiterklasse und alle Werk-tätigen« defi niert: »Die sozialistische Republik ist ein auf der Souveränität des Volkes und auf der Macht und der Selbstver-waltung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen beruhender Staat.«2

Als Volk anerkannt wurden die Slowenen, Kroaten, Serben, bosnischen Muslime, Montenegriner und Makedonier. Die übrigen Volksgruppen erhielten den Status von »Völker-schaften« (Nationalitäten), der als Status für anerkannte Minderheiten zu bewerten ist. Der Zweck dieser auf den er-sten Blick seltsam anmutenden Differenzierung zeigt sich bei näherer Betrachtung. Es handelte sich um eine Vorkehrung, die Grenz verschiebungen sowohl mit Blick auf den jugoslawi-schen Gesamtstaat als auch mit Blick auf die Republik Serbien verhindern sollte. Die beiden größten Ethnien Jugoslawiens, denen lediglich der Status einer Nationalität zuerkannt wurde, leben größtenteils in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihren Mutterländern (Albanien und Ungarn), so dass die Furcht vor Vereinigungsforderungen groß war und ist. Vor diesem Hin-tergrund wurden diesen Regionen zwar weitgehende Autono-mierechte (Provinzstatus) innerhalb Serbiens – sogar mit pa-

1 Verfassung der SFR Jugoslawien – Erster Teil – Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien – Artikel 1, 4, S. 9f.

2 Ebd., S. 92 f.

ritätischen Beteiligungsrechten auf Bundesebene – zuerkannt, jedoch der Republikstatus aufgrund des damit verbundenen Sezessionsrechts nicht verliehen.

Mit dem Terminus »Provinz« wurden zwei wesentliche recht-liche Unterschiede zu den Republiken gezogen: Erstens kam den Provinzen keine Staatlichkeit zu, da der Terminus Repu-blik eine Rechtskategorie darstellte, die die Möglichkeit des externen Selbstbestimmungsrechts implizierte. Und zweitens wurden die Nationalitäten nicht einmal als Träger der Autono-mie anerkannt. Lediglich die »Arbeiterklasse und alle Werktäti-gen«, also eine soziale Klasse, wurde als Träger der autonomen Rechte, die den Provinzen zuerkannt wurden, defi niert: »Die sozialistische Provinz ist eine auf der Macht der Arbeiterklas-se und aller Werktätigen beruhende autonome, sozialistische, selbstverwaltende, demo kratische gesellschaftlich-politische Gemeinschaft.«3

Somit ist die oft zu vernehmende Aussage, die Albaner hätten Autonomierechte gehabt, rechtlich ebenso unzutreffend wie die Behauptung, sie hätten auch oder zumindest quasi einen Republikstatus genossen. Lediglich der »Arbeiterklasse und allen Werktätigen« der geographischen Region Kosovo – und das waren nahezu alle Einwohner ungeachtet ihrer Nationali-tät und somit auch die Kosovo-Serben – wurde eine Autono-mie innerhalb der Republik Serbien eingeräumt.

2. Der völkerrechtliche Status der serbischen Provinz Kosovo

Die den NATO-Krieg 1999 beendende UN-Resolution 1244 stellt unzweideutig fest, dass das Kosovo ein Bestandteil der Bundesrepublik Jugoslawien ist: »[...] Kosovo kann eine sub-stantielle Autonomie innerhalb der Bundesrepublik Jugosla-wien genießen [...]«.4

Die Resolution spiegelt das Ergebnis des Krieges von 1999 wi-der, den die Bundesrepublik Jugoslawien zwar verlor, aus dem die NATO jedoch auch nicht als eindeutiger Sieger hervorging. Die Resolution 1244 bestätigt die UN-Sicherheits ratsresolution 1199 aus dem Jahre 1998, die verabschiedet wurde, als Belgrad noch die Hoheitsgewalt über das Kosovo ausübte. In dieser Resolution wurde ebenfalls das »Bekenntnis aller Mitglied-staaten zur Souveränität und territorialen Unver sehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien« bekräftigt. Der Sicherheitsrat unterstützte bereits hier »einen erhöhten Status für Kosovo, eine substantielle Autonomie und eine bedeutsame Selbstver-waltung des Kosovo«. Nichts anderes besagt eine weitere UN-Sicherheitsratsresolution (1345) aus dem Jahre 2001, als die Provinz bereits nahezu zwei Jahre von der UNMIK verwaltet wurde. Auch in diesem Beschluss bekräftigte der Sicherheitsrat seine »Verpfl ichtung zur Souveränität and territorialen Unver-sehrtheit der Bundes republik [...] wie in der Helsinki-Schluß-akte ausgeführt«.5

3 Ebd., Artikel 4. 4 Resolution 1244 (1999). 5 Resolution 1199 (1998), adopted by the Security Council at its 3930th meeting

on September 1998, <http://daccessdds.un.org/doc/UNDOC/GEN/N98/279/96/PDF/N9827996.pdf?OpenElement>; Resolution 1345 (2001), adopted by the Security Council at its 4301st meeting, on 21 March 2001, <http://daccessdds.un.org/doc/UNDOC/GEN/N01/298/89/PDF/N0129889.pdf?OpenElement>.

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Angesichts der politischen Entwicklung von 1998 bis heute kommt hier eine Kontinuität im Hinblick auf den Status des Kosovo in Jugoslawien und in der Republik Serbien zum Aus-druck. Diese Haltung scheint nicht nur im UN-Sicherheitsrat vorzuherrschen, sondern war auch zwischen den ehemaligen Kriegsparteien, der NATO und der BR Jugoslawien, Konsens: Im Military Technical Agreement, das die Kriegsparteien am 9. Juni 1999 zur Beendigung der Kämpfe unterzeichneten, wird das Kosovo mehrfach indirekt als Teil der Bundesrepu-blik Jugoslawien (»[…] Kosovo Provinzgrenze in den Rest des Territoriums der Bundesrepublik Jugoslawien6« sowie »[…] Kontrolle der Grenzen der Bundes republik Jugoslawien in Kosovo mit Albanien und Makedonien […]«) und sogar der Republik Serbien (»[…] zu Orten in Serbien außerhalb Koso-vo«) genannt.7 Selbst die Status änderung der BR Jugoslawien hin zu der Staatenunion Serbien-Montenegro ändert nichts an der Souveränität Belgrads über das Kosovo, da die Staa-tenunion sich als völkerrechtlicher Rechtsnachfolger der BR Jugoslawien mit einheitlicher Rechts persönlichkeit betrachtet und so auch von der internationalen Staatengemeinschaft ak-zeptiert wird.

Auch wenn Montenegro den Staatenbund verlassen sollte, so würde verfassungsrechtlich Serbien die Souveränität über das Kosovo beibehalten. Bereits in der Präambel der Verfassungs-urkunde wird die territoriale Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien bekräftigt: »[...] der Staat Serbien, welcher die autono-me Provinz Vojvodina und die autonome Provinz Kosovo und Metohija einschließt [...].«

Darüber hinaus und vorsichtshalber mit Blick auf das Kosovo wird im Falle des Austritts Montenegros aus der Staatenunion die alleinige völkerrechtliche Rechtsnachfolge Serbien zu er-kannt: »[...] Sollte Montenegro aus der Staatenunion Serbien und Montenegro austreten, würden die internationalen In-strumente [Angelegenheiten], die für die Bundes republik Jugoslawien von Bedeutung waren, insbe sondere UN Sicher-heitsratsbeschluss 1244, in ihrer Gesamtheit auf Serbien als Rechtsnachfolger übergehen.«8

Angesichts dessen kann unter juristischem Aspekt – nehmen die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ihre eigenen Resoluti-onen und die UNO ernst – der Gegenstand der Verhandlungen über die Statusfrage nur staatsrechtlicher, nicht indes völker-rechtlicher Natur sein. Mit anderen Worten: Nicht die staat-liche Unabhängigkeit steht zur Diskussion, sondern lediglich die konkrete Ausgestaltung einer substantiellen Autonomie kann Gegenstand der Verhandlungen sein. Was aber kann eine für alle Seiten akzeptable und zuletzt auch tragfähige Lö-sung der Kosovofrage sein?

3. Lösungsmodelle

Eine sinnvolle und tragfähige Lösung muss einerseits den po-litischen Realitäten und Interessen und andererseits den völ-ker- und verfassungsrechtlichen Grundlagen gerecht werden,

6 FRY: Federal Republic of Yugoslavia 7 Military Technical Agreement, Art. I. und II. 8 Constitutional Charter of the State Union of Serbia and Montenegro, 2003,

Präambel und Art. 60, S. 10.

so dass das Modell nicht zu dem allseits gefürchteten völker-rechtlichen Präzedenzfall wird. Nur so ist zum einen der Vor-behalt jener Staaten im UN-Sicherheitsrat, die mit ähnlichen nationalpolitischen Konfl ikten konfrontiert sind, zu überwin-den, und zum anderen der Präzedenzfall zu verhindern, auf den sich andere nationale Bewegungen berufen könnten. Vier Modelle lassen sich diskutieren:

3.1 Das Preševo-Modell

Das Preševo-Tal, das von den Albanern als »Ost-Kosovo« be-zeichnet wird, liegt östlich der serbischen Provinz Kosovo und ist Bestandteil Zentralserbiens, d.h. Serbien ohne seine Provinz Kosovo. In dieser Region leben ca. 70.000 Albaner. In den Jahren 2000/2001 hatte sich dort ein UÇK-Ableger breit gemacht und terroristische Anschläge verübt. Ähnlich wie im Kosovo zielte die UÇK darauf ab, das Eingreifen des Westens zu erzwingen.9 Der Westen machte diesmal indessen keine Anstalten, dem Manöver der UÇK zu folgen.

Stattdessen verabschiedete der UN-Sicherheitsrat eine Resolu-tion, in der die Aktivitäten der albanischen Seite mit scharfen Worten abgelehnt wurden.10 Zusätzlich wurde den jugosla-wischen Sicherheitskräften erlaubt, in der Pufferzone auch mit militärischen Mitteln die staatliche Ordnung wiederher-zustellen. Die Operation verlief unproblematisch; eine OSZE-Mission begleitete die Transformation der Gemeindeverwal-tung zugunsten multi ethnischer Strukturen.11 Seitdem ist das Preševo-Tal im Wesentlichen befriedet.

Die Frage ist, ob sich dieses Modell auch auf die Provinz anwen-den ließe. Das Modell hätte eine reale Chance gehabt – wenn der Westen von Anfang an, also zu Beginn der Kosovo-Krise, Belgrad diplomatisch darin unterstützt hätte, einen besseren Weg zu fi nden, den Konfl ikt in der Region beizulegen, anstatt zugunsten der kosovo-albanischen Seite Partei zu ergreifen, Ultimaten zu formulieren und diese unter Androhung und Durchführung militärischer Maßnahmen zu unterstreichen. Letztlich bekamen kosovo-albanische Separationsforderungen erst durch die Parteinahme der NATO den entsprechenden Auftrieb.12 Selbst nach Beendigung des Krieges und der Errich-tung des UN-Protektorats wäre eine »Preševo-nahe Lösung« möglich gewesen, wenn die UNMIK die Resolution 1244 text-nah interpretiert und implementiert hätte.

Ein feste Position gegenüber beiden Konfl iktparteien und nicht nur gegenüber Serbien oder den Kosovo-Serben hätte wesent-lich mehr Druck auf die kosovo-albanische Seite ausgeübt, mit Belgrad über die konkrete Ausgestaltung substantieller Auto-nomierechte zu verhandeln. Da allerdings die UNMIK nichts unversucht gelassen hat, um den kosovo-albanischen Wün-schen zu entsprechen, ist es problematisch, bereits gewährte Rechte wieder zurückzunehmen.

9 Die Politik der UÇK bedroht die bestehenden Grenzen, in: Le Monde diplo-matique, 12.4.2001.

10 UNO-Resolution 1345 (2001).11 OSCE Press Release, »OSCE welcomes constitution of municipal assembly

of Bujanovac«, Belgrade 16.9.2002, (http://www.osce.org/item/6979.html); Konfl iktbarometer (HIIK), Jugo slawien, http://www.hiik.de/de/barome-ter2001/texte/jugoslawien.htm.

12 Heinz Loquai: Der Kosovo-Konfl ikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg – Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999, Baden-Baden 2000.

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3.2 Das Junktim-Modell

Das Junktim-Modell hat eine rein staatsrechtliche Dimension und verbindet zwei Ebenen,

• die Republik Serbien und ihre Provinz Kosovo;

• die Provinz Kosovo und ihre Enklaven sowie das nahezu ausschließlich serbisch bewohnte Nordkosovo.

Das Junktim-Modell verbindet die an die Kosovo-Albaner zu verleihenden Autonomierechte mit den Autonomierechten, die den Kosovo-Serben zu gewähren sind. Das Junktim-Mo-dell setzt dort an, wo die Verantwortlichen in Pristina und Belgrad die Entscheidung in gegenseitigem Einvernehmen durch Verhandlungen herbeiführen müssten. Dieser Ansatz beinhaltet zudem einen pädagogischen Aspekt: Beide Seiten sind gezwungen, miteinander und verantwortlich eine Lösung zu fi nden, die für diese Region, in der beide Volksgruppen leben, eine nachhaltige Stabilität erzeugt. Die internationale Staaten gemeinschaft wäre nur für die Überwachung der Um-setzung verantwortlich.

3.3 Das Modell des begrenzten südwestlichen Territorialverlustes Serbiens

Das Modell des begrenzten südwestlichen Territorialverlustes stellt die konsequente Fortsetzung des Junktim-Modells dar für den Fall, dass die kosovo-albanische Seite sich mit sub-stantieller Autonomie im Rahmen Serbiens nicht anzufreun-den vermag. Die bisherigen Verwaltungsgrenzen dürfen nicht als sakrosankt betrachtet werden. Um dies verständlicher zu machen, bedarf es eines Perspektivwechsels. Von der Annah-me eines multi ethnisch einheitlich existierenden Kosovo ist Abschied zu nehmen: Nicht das Kosovo wird geteilt, da es ohnehin im Rahmen der jugoslawischen Verfassung keine Staatlichkeit besaß, geteilt würde vielmehr Serbien. Die Frage ist, ob Serbien den gesamten Südwesten seines Staatsgebietes (29 Gemeinden13) verliert oder nur den größten Teil (26 Ge-meinden).

Das mantrahaft wiederholte Argument, die bestehenden Grenzen müssten aufrechterhalten werden, kann angesichts der internationalen Handhabung der Desintegration der jugo-slawischen Föderation, des Umgangs mit der Republik Serbien und seiner Provinz Kosovo sowie der nun vermutlich auch zur Disposition gestellten Gemeindegrenzen im Kosovo und der veränderten Gemeindegrenzen in Makedonien14 zugun-sten der dortigen albanischen Bevölkerung nicht überzeu-gen. Es ist auffällig, dass das Uti-possidetis-Prinzip dann dem eigentlich nur sekundären, d.h. im Notfall anzuwendenden, externen Selbstbestimmungsrecht untergeordnet wird, wenn die territoriale Integrität und Souveränität des jugoslawischen Gesamtstaates und der Republik Serbien zur Diskussion ge-stellt werden. Dasselbe Prinzip wird hingegen als prioritäre, ja unausweich liche Option behauptet, wenn es um die territori-ale Mitnahme – ungeachtet darin lebender Minderheiten − der

13 Die OSZE-Homepage spricht fälschlicherweise von 30 Gemeinden, zählt dann aber nur 29 auf, <http://www.osce.org/kosovo/13985.html>.

14 Informationen zur Deutschen Außenpolitik, »Entweder oder«, 7.11.2004, http://www.german-foreign-policy.com/de/news/art/2004/47472.php.

jugoslawischen Erbmasse der nicht-serbischen Volksgruppen geht.

Vor diesem Hintergrund ist die Argumentation, mit einer Teilung des Kosovo und der damit einhergehenden Grenzver-änderung würde man einen Präzedenzfall schaffen, ein rein politisch-opportunistisch motiviertes Argument, da man in Wirklichkeit eine politische und unter Umständen gewalt-same Konfrontation mit radikalen Kosovo-Albanern fürchtet. Ebenso wenig ist die These einer ethnischen Kettenreaktion haltbar: Erstens hat eine solche Kettenreaktion bereits auf dem gesamten Gebiet des ehemaligen Jugoslawien stattgefunden und wurde vom Westen nachträglich weitgehend anerkannt. Zweitens hat die internationale Staatengemeinschaft in den Jahren 2000 und 2001 im Presevo-Tal und in Makedonien ge-meinsam mit den Regierungen in Belgrad und Skopje durch entschiedenes Handeln schließlich der ethnischen Ketten-reaktion ein Ende gesetzt.15

3.4 Das Modell einer konditionierten Unabhän-gigkeit mit EU-Perspektive

Folgt man gegenwärtigen Diskussionen, etwa den Über-legungen der »International Commission on the Balkans«, so wird eine konditionierte Unabhängigkeit eines ungeteilten Kosovo mit europäischer Perspektive favorisiert.16 Was diese jedoch beinhalten soll, bleibt weitgehend unklar. Die konditi-onierte Unabhängigkeit soll temporär sein und in eine EU-Mit-gliedschaft münden. Mit anderen Worten: In dem Moment, in dem das konditionale Moment aufgehoben würde und das Kosovo theoretisch die uneingeschränkte Unabhängig keit be-säße, würde mit dem Beitritt zur EU genau diese politische Un-abhängigkeit wieder eingeschränkt werden. Auf diese Weise würde das Kosovo zwar einen souveränen, aber eben keinen unabhängigen Staat darstellen, da es ein erhebliches Maß an politischen Kompetenzen an die EU delegieren müsste.

Wie dies angesichts der Tatsache, dass das Kosovo die ärmste und unberechenbarste Region Europas ist und dies auf unab-sehbare Zeit bleiben wird, politische Realität werden soll, bleibt unklar. Wenig überzeugend an dem Bericht der »Inter-national Commission on the Balkans« sind die Äußerungen zu den Minderheitenrechten. Wie will die internationale Ge-meinschaft nicht nur die geschriebenen, sondern vor allem die gelebten Rechte garantieren? Wie will die internationale Staatengemein schaft eine schleichende Vertreibung und Ver-drängung der nicht-albanischen Bevölkerungsteile verhin-dern?

Hierzu favorisiert die »International Commission on the Balkans« zwar eine Dezentralisierung des Kosovo, was eine Übertragung möglichst vieler Verwaltungskompetenzen von Pristina auf die Gemeinden bedeutet. Dieser an sich begrü-ßenswerte Ansatz ist allerdings wiederum mit einer Konzes-sion an die albanische Seite verbunden und höhlt damit das

15 Ebd.16 Report of the International Commission on the Balkans: The Balkans in

Europe’s Future, Sofi a [Centre for Liberal Strategies]. April 2005, S. 19 ff., www.balkan-commission.org/activities/Report.pdf.

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eigentliche Ziel wieder aus, diese Volksgruppen zu schützen. Gefordert wird eine Dezentralisierung mit einer Reform der Gemeindegrenzen, so dass es keine rein serbischen Gemein-den geben soll.17 Legitimiert wird dieser Ansatz durch die immer noch aufrechterhaltene, jedoch empirisch wider legte, Vorstellung von der Existenz einer multiethnischen kosova-rischen Gesellschaft.18

Eine Untersuchung der International Commission on the Bal-kans zeigt ungewohnt offen die erschreckende Tatsache, dass 72 Prozent der befragten Menschen in Kosovo und 68 Prozent in Albanien einen ethnisch »reinen« Staat bevorzugen. Diese Auffassung teilen in Serbien vergleichsweise wenige (19 Pro-zent) und selbst in Bosnien-Herzegowina »nur« 29 Prozent.19 Das mittelfristige und langfristige Resultat eines Konzeptes, das darauf zielt, die Gemeindegrenzen zu verändern, wird die Verdrängung der Serben und anderer Volksgruppen aus den lokalen Verwaltungsstrukturen und infolgedessen aus dem Kosovo sein.

Was die Skepsis gegenüber dem »konditionierten Unabhängig-keitsmodell« und den darin erwähnten Minderheitenrechten begründet, ist die Frage, woher die Befürworter dieses Modells den Optimismus für den Erfolg eines multiethnischen Kosovo nehmen. Denn bislang hat die internationale Staatengemein-schaft in Gestalt der UNMIK und KFOR dies nicht einmal ansatzweise vermocht. Im Gegenteil, sie hat 1999 der Flucht und Vertreibung von über 200.000 Nicht-Albanern tatenlos zugesehen und bis heute die Grundlagen für die Rückkehr einer nennenswerten Zahl von Betroffenen nicht geschaffen. Dieses Versagen räumt sogar der »Report of the International Commission on the Balkans« ein: »Die internationale Staa-tengemeinschaft hat in ihrem Versuch, Sicherheit und Ent-wicklung in die Provinz zu transportieren, ganz offensichtlich versagt. Ein multi ethnisches Kosovo existiert nicht – außer in den bürokratischen Einschätzungen der internationalen Staatengemeinschaft. […] Die Situation der serbischen Min-derheit in Kosovo ist die größte Anklage gegen den Willen und die Fähigkeit Europas, seine eigenen proklamierten Werte zu verteidigen.«20

Die konditionierte Unabhängigkeit, wie sie auch von dem Be-richt der International Commission on the Balkans favorisiert wird, wirft mehr Fragen auf, als gesicherte Antworten gefun-den werden können. Geht dieses Experiment schief, wofür angesichts der Erfahrungen mehr spricht als dagegen, dann sind die Opfer dieses westlichen Experiments erneut die Men-schen vor Ort.

4. Bilanz

Diese Analyse zeigt, dass das Presevo-Modell nicht tragfähig ist. Nicht minder unrealistisch ist das konditionierte Unabhängig-keitsmodell, da es einer monoethnische Bevölkerungsstruktur

17 So Rolf Ekeus, Hoher Kommissar der OSZE für Nationale Minderheiten, auf der Veranstaltung »Der westliche Balkan. Politische Ordnung, wirtschaft-liche Stabilität und internationales Engagement: Kosovo«, Berlin 2005.

18 Report of the International Commission on the Balkans, S. 19.19 Ebd. Siehe auch Graphik 22, S. 53.20 Ebd., S. 19.

der Region Kosovo mit faktischer Duldung durch die interna-tionale Staatengemeinschaft Tür und Tor öffnet.

Demgegenüber stellen das Junktim-Modell und das Modell des begrenzten südwestlichen Territorialverlustes realistische Modelle dar, um weiteres menschliches Leid zu verhindern und dem internationalen Recht wieder Geltung zu verschaf-fen. Diese Modelle weisen weitere Vorteile auf: Zunächst bleibt festzustellen, dass sich beide Varianten nicht gegenseitig aus-schließen. Entweder könnte das Modell des begrenzten süd-westlichen Territorialverlustes generell in den Mittelpunkt gestellt werden oder aber als ultimative Lösung Anwendung fi nden, wenn die kosovo-albanische Seite eine substantielle Autonomie innerhalb Serbiens nicht akzeptiert. Das birgt zahlreiche konkrete Vorteile.

Das Gefühl in der serbischen Gesellschaft, ungerecht behan-delt zu werden, würde erheblich reduziert, die Gefahr einer Hinwendung zu radikalen Parteien somit merklich abnehmen. Es wäre ein Signal an die Serben, dass ihre Reformen auch wirklich anerkannt und sie nicht für die Taten Milosevics weiterhin bestraft werden würden. Hierdurch würde Serbien aufgrund seiner Größe und zentralen geographischen Lage zu einem Stabilitäts faktor in Südosteuropa.

Ein monoethnisches Kosovo – gedacht nicht als politische Gemeinschaft, sondern als Region – würde damit verhindert. Mit der Unabhängigkeit – ungeachtet ob konditioniert oder unkonditioniert – würden Flucht, Vertreibung und schlei-chende Verdrängung der nichtalbanischen Ethnien nicht ge-stoppt, sondern geradezu herbeigeführt. Umgekehrt könnte und würde eine Vielzahl nichtalbanischer Vertriebener und Flüchtlinge in die drei nördlichen Gemeinden des Kosovo und nach Nord-Mitrovica zurückkehren und dort siedeln. Auf di-ese Weise könnte die internationale Gemeinschaft öffentlich-keitswirksam auf die Rückkehr einer großen Zahl Vertriebener und Flüchtlinge verweisen, die zwar nicht an ihre Heimatorte, so doch in ihre Region zurückgekehrt sind.

Darüber hinaus kann Belgrad im Rahmen des Junktim-Modells oder des Modells des begrenzten südwestlichen Territorial-verlustes bis zum Ibar-Fluss die Grenze effektiver vor illegalen Grenzüberschreitungen überwachen als dies irgendwo in den unübersichtlichen Bergen hinter den Gemeinden Leposavic und Zubin Potok der Fall wäre.

Die sowohl in Nord- als auch Süd-Mitrovica arbeitenden Trep-ca-Werke würden von den Regierungen in Belgrad und Pristi-na in einer Art Joint-Venture paritätisch verwaltet werden. Der Zwang, Trepca gemeinsam zu verwalten und das beider seitige Interesse an einem funktionierenden und gewinn bringenden Werk dürften einen gewaltigen pädagogischen Effekt für beide Seiten mit sich bringen.

Den radikalen albanischen Kräften würde damit deutlich si-gnalisiert, dass ihre berechnenden Gewaltexzesse von 1998 bis heute nicht durch ständiges Einlenken und Parteinahme des Westens belohnt würden. Die Gewalt als bislang erfolgreiches Instrument zur Durchsetzung ihrer Ziele würde damit defi ni-tiv als nicht mehr wirksam wahrgenommen werden müssen. Auf diese Weise müssten sie lernen, ihre politischen Interes-sen Serbien und der ganzen Region gegenüber durch verant-

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wortungsvolle Politik und nicht durch Gewalt und Boykott zu artikulieren.

Die internationale Staatengemeinschaft würde mit beiden Modellen, die in einer Verhandlungslösung zwischen Belgrad und den Kosovo-Albanern erreicht oder auch nicht erreicht werden würde, aus dem völkerrechtlichen Dilemma heraus-kommen:

1. Sollten die Kosovo-Albaner eine substantielle Autonomie (Junktim-Modell) akzeptieren, wäre die Resolution 1244 er-füllt, da die Statusfrage keine völkerrechtliche Dimension be-käme, sondern eine staatsrechtliche Ange legenheit innerhalb Serbiens bliebe. Die internationale Staatengemeinschaft (hier UNO und EU) würde ihrerseits als externer Garant des Abkom-mens Pate stehen.

2. Sollte sich die kosovo-albanische Seite dem Junktim-Modell komplett verschließen, so würde damit der Automatismus für das Modell des begrenzten südwestlichen Territorialverlustes als Bedingung ihrer (temporär) konditionierten oder auch un-konditionierten Unabhängigkeit eintreten. Die internationale Gemein schaft würde auf diese Weise gegenüber Belgrad ein wirkliches substantielles Entgegenkommen für dessen freiwil-lige Zustimmung zum Verlust des größten Teiles der serbischen Provinz signalisieren. Durch den freiwilligen Verzicht Belgrads auf den größten Teil seines südwestlichen Territoriums wäre das Faktum einer von außen aufgezwungenen Teilung der Re-publik Serbien nicht mehr gegeben. Das internationale Recht würde dadurch nicht weiter ad absurdum geführt. Eine un-erwünschte Signalwirkung an andere Minderheiten entfi ele. Ebenso würde das Selbstbestimmungsrecht der Völker in die-sem Falle gleichermaßen den Kosovo-Albanern wie auch den Serben zuteil werden.

Schließlich spricht für das Junktim-Modell oder für das Mo-dell des begrenzten südwestlichen Territorialverlustes, dass die Vereinten Nationen und die EU mit den bereits erdrückenden wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Problemen des wesentlich größeren albanischen Teiles der Region Koso-vo noch in den nächsten Dekaden in ausreichendem Maße beschäftigt sein werden.

Die Frage, ob das Modell des begrenzten südwestlichen Ter-ritorialverlustes dem Junktim-Modell vorzuziehen sei, muss sich nicht die internationale Staatengemeinschaft stellen. Die Antwort wird die kosovo-albanische Seite zu liefern haben: Entweder werden die Kosovo-Albaner für eine substantielle Autonomie Kosovos in Serbien und somit auch für eine sub-stantielle Autonomie der serbischen Gemeinden innerhalb des Kosovo stimmen, oder sie werden ungeachtet des Preises des Verzichts auf nahezu rein serbisch besiedelte Gemeinden des nördlichen Kosovo zugunsten Zentralserbiens die Unabhän-gigkeit favorisieren.

Auf diese Weise müssen die Albaner akzeptieren und lernen, dass das von ihnen eingeforderte Selbstbestimmungsrecht – ungeachtet ob intern oder extern – gemäß dem Reziprozitäts-prinzip ebenso den Serben zuteil werden muss. Eine Rück-führung der nahezu rein serbisch bewohnten Gemeinden Zubin Potok, Zvecan, Leposavic und Nord-Mitrovica unter serbische Hoheitsgewalt stellt angesichts des unmittelbar an-

grenzenden Rest-Serbiens keinerlei Probleme dar. Ferner wird sich die Frage der serbischen Enklaven im Falle einer konditi-onierten oder wie auch immer zu beschreibenden Unabhän-gigkeit so oder so mittelfristig erübrigen. Auch hier sprechen die Erfahrungen seit Sommer 1999 für sich.

5. Fazit

Will die internationale Gemeinschaft für alle beteiligten Ak-teure eine trag- und zukunftsfähige Lösung fi nden, so dass auf der einen Seite die gültigen internationalen Normen nicht weiter ad absurdum geführt werden und auf der anderen Sei-te verhindert wird, dass durch Vertreibung und Verdrängung nichtalbanischer Bevölkerungsteile eine monoethnische Re-gion Kosovo entsteht, so muss ihre Phantasie über die bishe-rigen Modelle hinausreichen. Selbstgesetzte politische Tabus müssen auf ihre Realitätstauglichkeit hin überprüft und gege-benenfalls gebrochen werden, um nicht von vornherein den Handlungsspielraum aller Verhandlungsparteien unproduktiv einzuschränken. Auch die beiden Konfl iktparteien müssen be-reit sein, Tabus zu brechen: So sehr sich Belgrad und die Koso-vo-Albaner darüber im Klaren sind, dass Belgrad kein ehrliches Interesse daran haben kann, ein Volk gegen seinen dezidierten Willen zu verwalten, so sehr sollte auch Pristina sich selbst gegenüber ehrlich sein und eingestehen, dass es kein Interesse daran haben kann, die serbische Ethnie im Norden des Koso-vo gegen deren nicht weniger dezidierten Willen zu regieren. Das eingeforderte Selbstbestimmungsrecht muss dem Rezi-prozitätsprinzip Rechnung tragen. Das jugoslawische Verfas-sungsrecht, die Verfassungsurkunde der Staatenunion Serbien und Montenegro und das internationale Recht bieten diese Möglichkeit. Hingegen wird das Problem nicht gelöst, wenn eine alte Minderheitenproblematik durch eine neue ersetzt wird. Dies schafft vielmehr neues Leid. Die Minimierung des Leidens der betroffenen Menschen, über die entschieden wird, muss im Vordergrund stehen und nicht strategische Interessen externer Akteure, versteckt hinter opportunistisch genutzten oder − besser gesagt − missbrauchten Prinzipien. Die beiden favorisierten Modelle bieten die Möglichkeit, beide Aspekte − Minimierung des Leidens durch Selbstbestimmungsrecht sowie die Pfl ege des internationalen Rechts − miteinander zu harmonisieren. Eine unilaterale Anerkennungspolitik vorbei am UN-Sicherheitsrat würde hingegen einen völkerrechtlichen Supergau bedeuten. Der Westen sollte sich seine Lösungsopti-onen genau überlegen, denn es steht weit mehr auf dem Spiel als die global betrachtet kleine und unbedeutsame Region Ko-sovo. Allein vor diesem Hintergrund existiert für den Westen schlichtweg kein Grund, den Forderungen der albanischen Seite vollständig nachzugeben oder sich durch Drohungen ein-schüchtern oder durch mitleidserweckende Attitüden lenken zu lassen. Das Kosovo ist auf Jahrzehnte von westlichen, d.h. vor allem aus Brüssel kommenden, Finanzspritzen abhängig. Die EU und die gesamte internationale Gemeinschaft sind die machtvolleren Akteure und sollten dementsprechend die Ge-staltungskompetenz wieder an sich reißen.

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Kosovo 2006 – Bilanz einer fortdauernden Krise1 Vedran Dzihic/Helmut Kramer*

Abstract: The death of Kosovo’s president Ibrahim Rugova on 21 January pushed Kosovo once again in the headlines of the international media. The loss of Rugova shortly before talks on the province’s fi nal status should start makes an already diffi cult political and economical situation even more complicated. In our assessment of the development in Kosovo from the end of the military operations in June 1999 up to present time, we have come to the conclusion that the state of affairs in Kosovo’s central social sectors is still to be considered as a crisis situation, with limited positive exceptions. The article provides a systematic and critical assessment of the six years of state-building process in Kosovo led by the UN and other international organizations, asking for possible ways to overcome the present crisis and the blockade.

Keywords: Kosovo, internationale Organisationen, state-building, politische und wirtschaftliche Entwicklung

Das Ableben des langjährigen Präsidenten des Kosovo, Ibrahim Rugova, brachte den Kosovo zurück in die Schlagzeilen der westlichen Medien. Man dachte über

die Zukunft des Kosovo nach Rugova nach, sinnierte über sei-nen Nachfolger, sprach über die Statusverhandlungen und die Gefahren, die dieser Prozess mit sich bringt. In vielen Kom-mentaren wurde die Metapher vom Jahr 2006 als dem »Jahr der Entscheidung« bemüht. Für aufmerksame Kosovo-Betrach-ter stellt sich dabei schnell der Déjà-vu-Effekt ein: Hatten wir das nicht schon jedes Jahr seit dem Kriegsende 1999? Warum gelingt es der internationalen Staatengemeinschaft und den lokalen Akteuren schon seit mehr als sechs Jahren nicht, einen Ausweg aus der tiefen Krise zu fi nden? Oder anders gefragt: Wie sieht die Bilanz des Kosovo im Jahr 2006 aus?

1. Kosovo im Kontext des ex-jugoslawischen Staatszerfalls2

Für viele Beobachter der Entwicklungen auf dem Balkan be-gann die akute Krise des ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 1980er Jahre ausgerechnet im Kosovo. Im Kontext des erstarkten serbischen Nationalismus und stärkerer kosovo-al-banischer Forderungen nach mehr Selbstbestimmung kam es zu einer wesentlichen Intensivierung der serbischen Repressi-onsakte gegen die Albaner im Kosovo. Die politische Unzufrie-denheit der Kosovo-Albaner mit der bestehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation stieg in den 1980er Jahren deutlich an und manifestierte sich fortan im Rahmen von Demonstrationen, Petitionen und Streiks. Der erste Hö-hepunkt waren die Demonstrationen der albanisch-kosova-rischen Studenten 1981, später in den 1980er Jahren waren

1 Diese Ausführungen stützen sich auf die Veröffentlichung der beiden Au-toren, die bereits in der 2. Aufl age vorliegt. Siehe: Helmut Kramer/Vedran Dzihic: Die Kosovo Bilanz. Scheitert die internationale Gemeinschaft?, 2. Aufl ., Wien 2006.

* Mag. Vedran Dzihic, Universitätslektor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien/Prof. Dr. Helmut Kramer, Institut für Politikwissen-schaften an der Universität Wien.

2 Vgl. hierzu vor allem: Wolfgang Petritsch/Karl Kaser/Robert Pichler: Koso-vo – Kosova. Mythen, Daten und Fakten, Klagenfurt/Celovec et al. 1999; Noel Malcolm: Kosovo. A Short History, London 1998; Marko Joseph: Die staatsrechtliche Entwicklung des Kosovo von 1913–1995, in: Joseph Marko (Hg.): Gordischer Knoten Kosovo: Durchschlagen oder entwirren? Völker-rechtliche, rechtsvergleichende und politikwissenschaftliche Analysen und Perspektiven zum jüngsten Balkankonfl ikt, Baden-Baden 1999, S. 15-27; Wolfgang Petritsch/Robert Pichler: Kosovo − Kosova. Der lange Weg zum Frieden, Klagenfurt/Celovec 2004, S. 23-91.

es vor allem Arbeiter in den Minen von Trepca im Norden des Landes, die sich stellvertretend für die albanische Bevölkerung gegen die serbische Staatsmacht aufl ehnten. Die ohnehin angespannten interethnischen Beziehungen verschlechter-ten sich durch die Krise der 1980er und 1990er Jahre nach-haltig. Im Kosovo existierten jedenfalls kaum Ansätze eines multiethnischen Lebens im Sinne eines »Miteinander«. Dies steht im Gegensatz etwa zu Bosnien-Herzegowina, wo es vor dem Krieg eine lange Tradition des gemeinsamen Lebens zwi-schen Serben, Kroaten und Muslimen gegeben hat, was sich nicht zuletzt auch in einer hohen Anzahl an »Mischehen« niederschlug. Im Kosovo waren Mischehen selten. Hier gab es auch vor dem Krieg – beeinfl usst durch die historisch kon-fl iktreichen Beziehungen zwischen den Albanern und Serben – bestenfalls ein »Nebeneinander« der beiden Volksgruppen.

Die Zuspitzung der Situation im Kosovo erreichte ihren Höhe-punkt mit der Aufhebung der Autonomie im Jahr 1989 und der als Antwort darauf verfolgten Strategie des gewaltlosen Widerstandes durch die Kosovo-Albaner in den 1990er Jahren. Dieser Widerstand der Kosovo-Albaner gegen die Repression des serbischen Regimes wurde vor allem mit Unterstützung der kosovo-albanischen Diaspora in Form eines »Schattenstaates« institutionalisiert. Dieser seit 1989/1990 vorangetriebene Auf-bau von staatlichen, gesellschaftspolitischen und sozialen Strukturen verstand sich als Gegenstruktur zur Repressions-politik Milosevics mit klaren politischen Vorstellungen von einem unabhängigen Kosovo. In dieser Zeit wird auch die LDK (Lidhja Demokratike e Kosoves/ Demokratische Liga Kosovo) gegründet, die unter der Führung Ibrahim Rugovas bis zu sei-nem Tod im Januar 2006 die dominante politische Partei im Land blieb.

In der Zeit des Zerfalls Jugoslawiens und der Kriege in Slo-wenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina wurden der Ko-sovo und die Repressionen des Milosevic-Regimes gegen die albanische Mehrheitsbevölkerung ungeachtet immer wieder vorgebrachter Mahnungen von der internationalen Staaten-gemeinschaft weitgehend ignoriert. So wurde der Kosovo im Dayton-Abkommen von 1995 völlig ausgeklammert. Mit dem Auftauchen der UCK (Ustria Climitare e Kosoves/Kosovarische Befreiungsarmee) und der zunehmenden Eskalation der Situ-ation im Kosovo kam es auch zu einer weiteren politischen Polarisierung in der kosovo-albanischen Gesellschaft.

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Die Krise im Kosovo wurde durch die grundlegenden Entwick-lungsschwächen der kosovarischen Wirtschaft vertieft. Die strukturellen Voraussetzungen für den Aufbau einer moder-nen und leistungsfähigen Wirtschaft sind im Kosovo denkbar schlecht. Kosovo war das »Armenhaus« Tito-Jugoslawiens. Auf Grund einer kaum vorhandenen wirtschaftlichen und infra-strukturellen Basis, einer zu starken Konzentration der Indus-trialisierungsmaßnahmen auf die bereits in den 1980er Jahren defi zitären Minen von Trepca und der allgemein geringen Pro-duktivität kam es nie zu einer stabilen wirtschaftlichen Ent-wicklung. So ist auch die heute grassierende Arbeitslosigkeit kein strukturell neues Phänomen: 1987 wurden im Kosovo bereits Arbeitslosenraten von 55,8 Prozent registriert.3

Diese Krisenspirale, in der sich der Kosovo ohne größere Un-terbrechungen seit dem Beginn der 1980er Jahre befi ndet und die im letzten Krieg in der langen Abfolge der ex-jugoslawi-schen Staatszerfallskriege – im Krieg im Kosovo 1998-1999 – ihren vorläufi gen Endpunkt erreichte, schuf gemeinsam mit sehr schwachen wirtschaftlichen Strukturen äußerst ungünsti-ge Voraussetzungen für den 1999 begonnenen Friedensprozess und den Aufbau der kosovarischen Gesellschaft.

2. Kosovo 1999-2006: Eine Bilanz

Wie sieht vor dem Hintergrund der ungünstigen historischen Ausgangsbedingungen die Bilanz des Kosovo im siebten Jahr der internationalen Intervention aus?

Die Kosovo-Mission ist sowohl bezüglich der Aufgabenstel-lung als auch der fi nanziellen Ausstattung das bisher ambitio-nierteste und kostspieligste Projekt zur Friedenssicherung und zum Aufbau demokratischer Strukturen in einer Nachkriegsge-sellschaft unter Leitung und Koordination der Vereinten Nati-onen. »The Kosovo case is one of postconfl ict building piloted by a third party with full authority and almost unlimited re-sources.«4 Das Engagement der internationalen Gemeinschaft im Kosovo war im Unterschied zu vielen anderen mit einem Mandat der Vereinten Nationen ausgestatteten Interventionen von Anfang an langfristig konzipiert.

2.1 Sicherheitssituation

Gemessen an den ambitionierten Zielen und am immensen Kosteneinsatz der seit Juni 1999 andauernden Operation der internationalen Staatengemeinschaft kann festgehalten wer-den, dass die Jahre des Aufbauprozesses nicht die erhofften Erfolge und positiven Entwicklungen erbracht haben. So wur-de zwar durch den massiven Einsatz von KFOR-Soldaten, die internationale UNMIK-Polizei und durch den Aufbau eines kosovarischen Polizei-Korps (KPS) eine Stabilisierung der Si-cherheitslage und Schaffung eines einigermaßen sicheren Um-felds für die zivilen Aufbauaufgaben erreicht. Ein »positiver

3 Vgl. European Stability Initiative (ESI): De-industrialisation and its conse-quences. A Kosovo story, Prishtinë/Priština-Berlin, March 2002.

4 Jose Luis Herrero: Building State Institutions, in: Gerd Junne/Willemijn Ver-koren (Hg.): Postconfl ict Development, Meeting New Challenges, Boulder-London 2005, S. 44.

Frieden«, die Voraussetzung für eine Koexistenz zwischen der albanisch-kosovarischen Mehrheitsbevölkerung und den Min-derheiten im Alltagsleben sowie für eine Rückkehr der 1999 vertriebenen Flüchtlinge (Serben, Roma, Ashkali) konnte bis-lang aber nicht verwirklicht werden. Dieser Zustand einer »ge-spannten Stabilität«, in der – wie die Unruhen im März 2004 gezeigt haben – die weiter existierenden Spannungen jederzeit wieder eskalieren können, dauert weiter an.

2.2 Wirtschaftliche Situation und Kriminalität

Nicht positiv hat sich zweifellos die wirtschaftliche Lage ent-wickelt. Hier hat sich die Situation nach einem anfänglichen Boom als Folge des Wiederaufbaus der zerstörten Häuser und der Präsenz von rund 100.000 konsumkräftigen »Internatio-nals« weiter verschlechtert. Trotz der enormen Mittelzufl üs-se, vor allem seitens der EU, ist es nur in wenigen Ansätzen zur Entwicklung leistungsfähiger wirtschaftlicher Strukturen gekommen. Die Arbeitslosigkeit ist vor allem bei den jün-geren Kosovaren außerordentlich hoch, im Privatisierungs-prozess wurden zahlreiche Fehler begangen, zuletzt stockte das gesamte Wirtschaftswachstum deutlich. Die Geduld der kosovarischen Bevölkerung wird sechs Jahre nach Ende der Kriegshandlungen durch eine weiterhin katastrophale Ener-gieversorgung, für die UNMIK und die EU verantwortlich sind, in höchstem Maße strapaziert.

Wenig oder gar nicht erfolgreich waren auch die Bemühungen der internationalen Akteure, die organisierte Kriminalität ein-zudämmen. Die Aktivitäten der organisierten Kriminalität und der Mafi a stellen eines der größten Probleme im Kosovo und in den Nachbarländern dar. Im Kosovo sind so gut wie alle gesellschaftlichen Bereiche von den Erscheinungsformen und den Auswirkungen einer außerordentlich aggressiven Ausfor-mung der Kriminalität betroffen und werden davon negativ beeinfl usst. Das hohe Ausmaß der organisierten Kriminalität im Kosovo und die bisher sehr mäßigen Erfolge in der Be-kämpfung dieses Phänomens werden oft als eines der großen Hindernisse für eine Unabhängigkeit des Kosovo genannt. Es wird nämlich befürchtet, dass ohne ein fortdauerndes inter-nationales Monitoring der Kosovo noch stärker als bisher zu einem Ausgangs- bzw. Transitland der organisierten Krimina-lität in Europa werden könnte.5

2.3 Politische Entwicklung

Eine gemischte Bilanz muss für den Bereich des Aufbaus der politischen Institutionen und der Demokratieentwicklung gezogen werden. Fortschritte gab es in Bezug auf die Einfüh-rung und Durchsetzung der institutionellen Grundlagen einer modernen Demokratie: die ordnungsgemäße Durchführung von Wahlen, die Bildung einer Provisorischen Regierung, die Konstituierung des Parlaments sowie der Aufbau einer Lokal-verwaltung und eines Verwaltungs- und Justizsystems.

5 Vgl. hierzu: Norbert Mappes-Niediek: Balkan-Mafi a. Staaten in der Hand des Verbrechens – Eine Gefahr für Europa, Berlin 2003.

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Auf der anderen Seite sind die beträchtlichen Probleme in Be-zug auf die Performanz, die Effektivität und die Kompetenz von politischen Institutionen und politisch Verantwortlichen nicht zu übersehen. So ist es der Provisorischen Regierung und den politischen Führungspersönlichkeiten nur zum Teil gelungen, in den ihnen von der UN-Verwaltung übertragenen Politik- und Verwaltungsbereichen jene Fähigkeiten zu de-monstrieren, die für den Aufbau einer funktionierenden und selbstverwalteten Staatlichkeit erforderlich sind. Diese Schwä-chen und strukturellen Probleme des politischen Systems sind auch dadurch bedingt, dass die Politik von UNMIK und der anderen internationalen Akteure im Kosovo den effektiven Handlungsspielraum der kosovarischen politischen Verant-wortlichen stark einengt.

Das größte Hindernis für den Versuch, ein politisches System aufzubauen, in dem sich über die formell-institutionellen Be-lange hinaus eine lebendige Demokratie entwickelt, in der die existentiellen Probleme der Bevölkerung produktiv behandelt und der Schutz der Minderheiten ernst genommen wird, liegt aber in der bei der politischen Klasse und in der Bevölkerung dominierenden traditionalistischen Grundeinstellung zu Po-litik und Staat: Regierungs- und Machtpositionen werden als Einfl ussdomäne von klientelistisch operierenden Parteien aufgefasst und benutzt, die Entwicklung einer unabhängigen Beamtenschaft wird blockiert, anstatt komplexer Sachfragen werden in der politischen Debatte Unabhängigkeits-Phanta-sien thematisiert, ethno-nationalistische Rhetorik und Symbo-lik bestimmen das öffentliche Erscheinungsbild von Politikern und Politik. Es ist der UNMIK und der OSZE bei ihren Bemü-hungen, die Grundlagen einer modernen parlamentarischen Demokratie aufzubauen, offensichtlich nicht gelungen, die Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur zu fördern und abzustützen und die »politische Führung zu deut-lich auf Versöhnung und Ausgleich gerichteten Schritten zu veranlassen«.6

Es gelang somit nicht oder nur in Ansätzen, den Prozess der institutionellen politischen Modernisierung in Richtung einer demokratischen Kultur zu entwickeln, in der die Werte der To-leranz und der gegenseitigen Respektierung von Mehrheit und Minderheiten ernst genommen und auch praktisch umgesetzt werden. Noch immer dominiert das »Prinzip des Ethnischen als exklusives gesellschaftliches Organisationsprinzip«, noch immer sind eine »Zivilgesellschaft im Geiste europäischer To-leranz und Partnerschaft« sowie die Bereitschaft »zur gemein-samen Aufarbeitung der Vergangenheit abseits aller Grenz- und Statusfragen«7 kaum oder zu wenig entwickelt.

2.4 Vom März 2004 bis zum Beginn der Status-verhandlungen im Frühjahr 2006 – aktuelle Entwicklungstendenzen

Die Erfüllung der Standards und die Demokratisierung des politischen und gesellschaftlichen Systems werden von der

6 Stefan Dehnert: Unruhiger Kosovo: Konfl iktstrukturen und Lösungsansätze, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, 2004, S. 10.

7 Wolfgang Petritsch: Als die Hoffnung starb, in: Die Presse 13.3.2004.

kosovo-albanischen Führung im Wesentlichen als taktisches Problem und Mittel zum Zweck – nämlich zur Erreichung der Unabhängigkeit – gesehen. Erschwert wurde der Aufbau de-mokratischer politischer Institutionen durch die Boykott-Hal-tung der Kosovo-Serben, die, gegängelt durch die Regierung in Belgrad, seit dem Frühjahr 2004 die Mitarbeit in den poli-tischen Institutionen und die Teilnahme an den Parlaments-wahlen verweigern.

Als Folge dieser Probleme und der tiefen Unzufriedenheit der kosovarischen Bevölkerung mit der wirtschaftlichen und po-litischen Situation kam es im März 2004 zu pogromähnlichen Ausschreitungen der albanisch-kosovarischen Mehrheitsbe-völkerung gegen Serben, Ashkali und Roma, in deren Verlauf Häuser und Kirchen der Minderheiten zerstört und ein groß-er Teil der wenigen zurückgekehrten Flüchtlinge wieder aus ihren Wohnstätten vertrieben wurde. Bis zum Sommer 2004 stagnierte der Entwicklungsprozess im Kosovo, und insbe-sondere die UNMIK wurde von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung immer negativer beurteilt. Ab August 2004 wurde durch die energische und zielgerichtete Politik des neu-en »Special Representative of the Secretary-General« (SRSG) Jessen-Petersen eine Beschleunigung der Erfüllung der priori-tären Standards und eine politische Entscheidung für den bal-digen Beginn der Statusverhandlungen erreicht. Mit der nach den Oktoberwahlen 2004 gebildeten neuen Regierung von Premierminister Haradinaj schien ein verlässlicher und dyna-mischer Partner auf dem Weg zur Umsetzung der Grundziele der Intervention der internationalen Gemeinschaft gegeben zu sein. Durch die Anklageerhebung gegen Ramush Haradinaj in Den Haag und die Wahl von Bajram Kosumi zum neuen Premierminister des Kosovo kam es wieder einmal zu einem Stopp der Reformen und der Erfüllung der Standards.

Der UN-Sonderbeauftragte Kai Eide schlug in seinem Anfang Oktober 2005 abgeschlossenen »Comprehensive Review« über die Lage im Kosovo vor, dass trotz vieler Schwächen bei der Erfüllung der Entwicklungsstandards »die nächste Phase des politischen Prozesses« (Kofi Annan) eingeleitet werden solle.8 Der UN-Generalsekretär und der UN-Sicherheitsrat setzten den früheren fi nnischen Präsidenten Martti Ahtisaari als »Gesand-ten für den künftigen Status« ein. Damit wurde die nächste Phase des Friedensprozesses im Kosovo eingeleitet, die bislang durch die diametral entgegengesetzten Positionen der Kosovo-Albaner und der Serben gekennzeichnet ist.

3. Die Strategie der internationalen Staatenge-meinschaft im Kosovo und ihre Schwächen

Wie die vielen im letzten Kapitel aufgezählten Probleme deut-lich zeigen, weisen die Politik und die Operationen der UN-MIK und anderer internationaler Organisationen im Kosovo deutliche und zum Teil sehr gravierende Schwächen auf. In entscheidenden Bereichen konnten – wie oben skizziert – trotz des immensen Mittelaufwandes keine Erfolge erzielt werden. Auch von Seiten maßgeblicher internationaler Politiker, von westlichen Thinktanks und erfahrenen Balkanexperten wurde

8 Vgl. Kai Eide: A Comprehensive Review of the Situation in Kosovo, New York, 7.10.2005.

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und wird eine sehr harte und weitgehende Kritik an der Ar-beit der UNMIK vorgebracht. So urteilte der frühere deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Präsentation des Berichtes der »International Commission for the Balkans« im April 2005: »(N)ever had so much assets been allocated to any region of the world, with such poor results as in Ko-sovo.«9 Und Misha Glenny, einer der führenden Balkanex-perten, in einem Gespräch mit den Mitgliedern des »Foreign Affairs Committee« des britischen Parlaments: »UNMIK (is) a government which frankly has been lamentable in its failure, its economic record is simply unspeakable … It has alienated the population.«10

Wir meinen, dass eine solche Kritik – wenn sie sich nicht auf eine systematische Untersuchung der Arbeit der UNMIK stützt – kursorisch bleibt und in gefährlicher Weise in die Richtung eines »UN-Bashing« gewendet werden kann. Damit ist jene in der westlichen Politik, insbesondere in der USA, gängige Ten-denz gemeint, die UNO für Probleme verantwortlich zu ma-chen, die eigentlich durch die eigensüchtige und kurzsichtige Interessenpolitik der Großmächte – eingeschlossen die budge-täre Aushungerung der Vereinten Nationen – entstehen.

Auf jeden Fall aber sind die Probleme und die Misserfolge der UNMIK in einen allgemeineren Rahmen zu stellen. Es ist zu fragen, ob die Kapazität der Vereinten Nationen, ihr Personal und ihre politische Handlungskompetenz für so schwierige Aufgaben wie den Aufbau staatlicher und administrativer Strukturen in von Krieg und ethnischen Gegensätzen ver-heerten Gesellschaften wie im Kosovo wirklich geeignet sind bzw. ob hier nicht grundlegende Veränderungen in der Strate-gie und auch in der Mandatierung von humanitären Interven-tionen der UN zu überlegen sind. Diese Frage systematisch, kritisch, aber auch in Solidarität mit dem durch die Verein-ten Nationen repräsentierten Prinzip der Demokratisierung und Verrechtlichung der internationalen Politik zu stellen, ist umso dringlicher, als angesichts der weltweiten Zunahme der Zahl von »schwachen« bzw. »gescheiterten« Staaten (»weak and failed states«) der Problemdruck immer größer wird. »Staaten zu bauen bedeutet, neue Regierungsinstitutionen zu schaffen und bestehende zu stärken.« So schreibt Francis Fu-kuyama in seinem 2004 veröffentlichten Buch »Staaten bau-en. Die neue Herausforderung internationaler Politik«, dass »der Staatenaufbau eine der wichtigsten Aufgaben der Welt-gemeinschaft werden wird, weil schwache oder gescheiterte Staaten die Ursachen für viele ernste Probleme unserer Zeit sind, von der Armut über Aids bis hin zu Drogen und Terro-rismus. Ich behaupte auch, dass wir zwar eine Menge über den Aufbau von Staaten wissen, noch viel mehr aber nicht, und insbesondere nicht, wie man Entwicklungsländern zu tat-kräftigen Institutionen verhilft«11. Somit muss auch die Kritik an der UNMIK so vorgebracht werden, dass sie einen Beitrag zum Lernprozess der internationalen Gemeinschaft und zu einer sinnvollen Reform der humanitären Interventionen der Vereinten Nationen und anderer internationaler Akteure in Post-Konfl ikt-Gesellschaften leisten vermag.

9 UNMIK, Main Stories, 22.4.2005.10 House of Commons Foreign Affairs Committee, The Western Balkans, S. 43.11 Francis Fukuyama: Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler

Politik, Berlin 2004, S. 8 (State-Building: Governance and World Order in the 21st Century, New York 2004).

3.1 Schwächen der UNMIK

»Das Mandat der UNSCR ging von falschen Prämissen aus und ließ zu viele Fragen offen – darunter die entscheidende, welche politische Perspektive dem Kosovo gegeben werden sollte.«12 Im Unterschied zur Aktion der UNO in Osttimor wurde der zukünftige völkerrechtliche Status des Kosovo offen gelassen. Die Großmächte und die UN-Spitze weigerten sich, dieses Problem zu behandeln. Den maximalistischen Vor-stellungen der Kosovo-Albaner von uneingeschränkter und möglichst sofortiger Unabhängigkeit des Kosovo wurde nie entschieden entgegengetreten. Das von SRSG Michael Steiner im Jahr 2002 entwickelte Strategie-Konzept »Standards before Status« brachte keine Lösung, sondern eine Intensivierung dieses Grunddilemmas der Kosovo-Mission und war eine rei-ne »Zeitkaufstrategie«.

Aber auch andere zentrale strategische Ansätze im Mandat der UNMIK erwiesen sich angesichts der politischen Situation im Kosovo als unrealistisch bzw. verfehlt. Dies hatte zur Folge, dass die UNMIK immer mehr den Eindruck vermittelte, Ge-fangene der Entwicklungen im Kosovo zu sein und in vielen Situationen nicht schnell und adäquat genug reagieren zu können. Das gilt in besonderem Maße für die Handhabung der Gegensätze zwischen Mehrheitsbevölkerung und Minder-heiten. Hier ging die UNMIK von der – wie sich bald heraus-stellen sollte – völlig unrealistischen Zielsetzung eines »mul-tiethnischen« Kosovo aus. Ihre Strategie, bei der Einrichtung der politischen Institutionen im Kosovo auf proportionale Vertretung aller ethnischen Gruppen zu dringen, verstärkte die Tendenz zur »Ethnisierung der Politik«. Das heißt, alle politischen Akteure wurden noch stärker als bisher motiviert, sich vor allem entlang ethnischer Linien zu defi nieren und dementsprechend auch zu agieren.

Die Erfüllung des Mandats der internationalen Gemeinschaft im Kosovo war von Beginn der Intervention an dadurch be-einträchtigt, dass für die konkreten alltäglichen Operationen zu wenig klare und positive Prioritäten und Ziele formuliert werden konnten. So waren die im »Standards before Status«-Ansatz defi nierten Vorgaben für eine Nachkriegsgesellschaft mit so großen strukturellen Entwicklungsproblemen wie im Kosovo eindeutig überzogen. Ebenso fehlte in diesem Strate-giekonzept eine klare Operationalisierung sowohl hinsichtlich des Zeitrahmens als auch hinsichtlich klarer Bedingungen der Implementierung und der Erfüllung der Standards. Ähnlich wie in Bosnien-Herzegowina wurde zu wenig beachtet, dass das erste entscheidende Stadium beim Aufbau einer Gesell-schaft in der Herstellung eines Basisniveaus an Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit – das vor allem einen effektiven Schutz der Minderheiten einschließt – besteht, und dass die Durchfüh-rung von Wahlen und die Einrichtung von politischen Insti-tutionen erst nachdem ein derartiges »Rule of Law«-System etabliert ist, politisch sinnvoll wird.

Ein weiterer Schwachpunkt in der Strategie der UNMIK, der in einer ähnlichen Form auch in der Politik der internationalen Gemeinschaft in ihrer Mission in Bosnien-Herzegowina nach-

12 Thomas Mühlmann: Internationale Verwaltung am Beispiel des Kosovo, Dissertation Universität Wien, 2002, S. 427.

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gewiesen werden kann, war die mangelnde Priorisierung wirt-schaftlicher Fragen in der ersten Phase des Engagements. So konnten im Kosovo wichtige Initiativen für die Entwicklung einer stabilen und nachhaltigen Wirtschaft – wie z.B. in Be-reichen der Privatisierung, der Klärung von Eigentumsverhält-nissen, der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Stärkung von Klein- und Mittelbetrieben oder des Aufbaus der wirtschaft-lichen Infrastruktur – viel zu spät und schlecht vorbereitet in Angriff genommen werden. Darüber hinaus wurde in Bezug auf Prioritätensetzung und Einsatz der materiellen Mittel zu wenig Gewicht auf die so genannten »Soft-Sector-Bereiche« wie Bildung, Erziehung, Medien sowie Einbeziehung von Frauen gelegt. Die Vernachlässigung des Problems der orga-nisierten Kriminalität und die diesbezüglichen halbherzigen Strategien von UNMIK und KFOR hatten besonders negative Folgen für den gesamten Entwicklungsprozess im Kosovo.

Eine erfolgreiche Strategie zum Aufbau einer Nachkriegsgesell-schaft setzt vor allem eine klare Vorstellung von einer sorgfäl-tig sowie mittel- und langfristig geplanten optimalen Abfolge von Entwicklungsschritten voraus. Ganz besonders wichtig ist es aber auch, dass in bestimmten kritischen Situationen schnell und effektiv reagiert und gehandelt wird. Dass UNMIK und KFOR in der ersten Phase der Intervention im Sommer und Herbst 1999 zu spät und nicht energisch genug gegen die Gewaltakte der Kosovo-Albaner gegenüberr Serben und anderen Minderheiten im Kosovo vorgingen, so dass es zu einer »umgekehrten Vertreibung« von Serben, Roma, Ashkali und Egyptians kam, war sicherlich der schwerste Fehler in der Strategie der internationalen Gemeinschaft. Hiermit wurden Tatsachen geschaffen, die den gesamten weiteren Verlauf der Mission in negativer Weise beeinfl ussten. Sie führten zum Rückzug der Serben in den Norden des Kosovo und in die von der KFOR geschützten Enklaven. Ab diesem Zeitpunkt wurde der serbisch besiedelte Norden de facto ein im Wesentlichen autonomer Teil des Kosovo mit deutlicher Anlehnung an Serbien und somit gemeinsam mit den im Kosovo verstreuten serbischen Enklaven bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein po-litisch praktisch unlösbares Problem für die UNMIK.

Die wenig zufriedenstellende Bilanz in Bezug auf Erfüllung der Standards und den Transfer von Kompetenzen an die ko-sovarischen Autoritäten beruht auf der mangelnden Fähigkeit der UNMIK, klare und entschiedene »Konditionalitäten« im Kosovo zu setzen. So konnte zu keinem Zeitpunkt ein erfolg-reicher Druck auf die Kosovo-Albaner in Bezug auf Flücht-lingsrückkehr und mehr Toleranz gegenüber Minderheiten erzeugt werden. Allgemein gesprochen, verstanden die Ver-treter der internationalen Gemeinschaft zu wenig, wie stark der ethnische Hass und die interethnischen Gegensätze im Kosovo in den historischen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlich Rahmenbedingungen strukturell verwur-zelt und verankert sind. Aus einem solchen Wissen und einer solchen Einsicht heraus hätten sie von Anfang an versuchen sollen, mit einer klaren Politik – einer Mischung von stren-gen Aufl agen und motivierenden Strategien – Grundvoraus-setzungen für eine Veränderung der von Hass und Misstrauen geprägten Haltung der Serben und Albaner zu defi nieren.

Die Leistungen der internationalen Verwaltung im Kosovo wurden weiterhin wesentlich durch Probleme in der Koordi-

nation und Kooperation der internationalen Organisationen beeinträchtigt.13 Man hatte diesbezüglich versucht, aus den Erfahrungen in Bosnien-Herzegowina zu lernen und alle in-ternationalen Organisationen unter einem Dach (der UNMIK) zu vereinen. Allerdings ging dieser Versuch offensichtlich nicht weit genug – so gab es kein klares Primat der UNMIK über die KFOR – bzw. wurde die Tendenz zum Eigenleben der internationalen Organisationen und die Dynamik des unter ihnen herrschenden Wettbewerbs unterschätzt. Die durch die vier Pfeiler konstruierte UNMIK-Struktur mit ihren Doppel-strukturen und einer oft unklaren Arbeitsteilung erwies sich jedenfalls auf vielen Ebenen als zu wenig effi zient. So kam es vom Beginn des Einsatzes an zu einem zuweilen erbitterten Wettbewerb zwischen UN-Vertretern, OSZE, EU und KFOR um das Abstecken eigener Einfl uss- und Machtbereiche, was zur Folge hatte, dass sich kaum ein »Wir«-Gefühl innerhalb der UNMIK herausbildete. Auch an den Schnittstellen zwischen der KFOR und der UNMIK kam es im Laufe des Einsatzes im-mer wieder zu Schwierigkeiten, vor allem im Kontext der Un-ruhen im März 2004. Im Zusammenhang mit diesen Proble-men innerhalb der Struktur der internationalen Verwaltung im Kosovo sprechen manche Beobachter von »Interblocking Institutions«.

Viele der dargestellten Schwächen der internationalen In-tervention und des State-Building-Engagements im Kosovo müssen schließlich im Kontext des grundsätzlichen Dilem-mas einer »Demokratisierung von außen« betrachtet werden. So weist Michael Ignatieff darauf hin, dass sich in den In-terventionen in Bosnien-Herzegowina, Afghanistan und im Kosovo der fundamentale Widerspruch einer Demokratisie-rung mit »imperialen Mitteln« zeigt: »Demokratische Zwecke mit imperialen Mitteln erreichen zu wollen, ist offenkundig ein widersprüchliches Unterfangen. Eine wirkliche Demokra-tie kann nicht von Fremden betrieben werden.«14 Vor dem Hintergrund dieses immanenten Widerspruchs muss die Frage gestellt werden, ob eine adäquat auf die lokalen Bedingungen abgestellte Politik, eine differenzierte Strategie der Konditiona-lität, eine Abfolge von durchdachten Schritten von Wiederauf-bau, Einführung eines Basisniveaus von Rechtsstaatlichkeit, die Abfolge von Einführung und Demokratisierung politisch-demokratischer Institutionen überhaupt von Seiten der UN und der westlichen Interventionsländer im Kosovo oder in Bosnien-Herzegowina hätte entwickelt und erfolgreich umge-setzt werden können. Aber trotz all dieser Schwierigkeiten und Misserfolge – die in Afghanistan, Haiti und in afrikanischen »failed states« noch um vieles potenziert sind – müssen, wie die Erfahrungen im Kosovo seit 1999 zeigen, neue verbesserte Strategien entwickelt werden.

So dominierte bei der UNMIK und den SRSG – eine deutliche Ausnahme bildet hier nur der derzeitige SRSG Jessen-Petersen – die Grundauffassung von Politik und politisch-administra-tiver Intervention, wonach Demokratie- und Modernitätsap-

13 Vgl. Thomas Mühlmann, a.a.O., S. 418ff. und David Maleninsky: Post Con-fl ict Kosovo. Eine Analyse über die Zusammenarbeit der internationalen Organisationen beim Wiederaufbau des Kosovo, Diplomarbeit Universität Wien 2005, behandelt.

14 Michael Ignatieff: Empire lite. Die amerikanische Mission und die Grenzen der Macht, Hamburg 2003 (Empire Lite Nation-building in Bosnia, Kosovo and Afghanistan, New York 2003), S. 102.

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pelle, die Präsenz von »Internationals« und die Einführung von formal-technischen bzw. politisch-institutionellen Vo-raussetzungen zu einer schrittweisen und sozusagen selbst tragenden Lösung der entscheidenden politischen und ge-sellschaftlichen offenen Grundfragen führen würden. Man könnte diesen Politikstil, der stark, zu stark auf die formalen-institutionellen Dimensionen von Politik und Gesellschaft fo-kussiert ist, die »harten« Seiten der (Macht)Politik ausblendet und sich verbindet mit einem Glauben an die Vorbildwirkung der »Internationals« durch ihre Präsenz im Interventionsland, als Strategie eines »technokratischen Attentismus« bezeich-nen. Auch im Jahr 2005 gab es trotz der dynamischen Politik von SRSG Jessen-Petersen viele Anzeichen dafür, dass diese Grundhaltung einer zu wenig entschlossenen und zu wenig politischen Haltung die Politik der internationalen Staatenge-meinschaft dominiert.

Insgesamt macht der Fall Kosovo deutlich, dass das grund-sätzliche Dilemma einer »Demokratie- und Gesellschaftsauf-bau-Hilfe von außen« nur dann gelöst bzw. wesentlich ent-schärft werden kann, wenn die internationale Gemeinschaft differenzierte und auf lokale Gegebenheiten abgestimmte Strategien einer »demokratischen Beeinfl ussungspolitik« ent-wickelt. Voraussetzung hierfür ist eine durchdachte Abfolge von Schritten, mit denen die Erreichung eines Basisniveaus von Rechtsstaatlichkeit den Aufbau demokratischer Instituti-onen sichert. Darüber hinaus wären Maßnahmen zu setzen, die nicht nur auf ein ehrliches und konsequentes »Empower-ment« der Bevölkerung im Interventionsland abzielen. Die Wahrung und Umsetzung wichtiger demokratischer Grund-werte muss Eingriffe in lokale Traditionen riskieren, allerdings unter Vermeidung jeglicher zivilisatorischer Modernisierungs- und Demokratie-Arroganz.

4. Resümee: Fortgesetzte Krise und Status als »Scheinausweg«

Der Kosovo befi ndet sich seit sechs Jahren in einem Schwe-bezustand, in dem es der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen ist, einen positiven Frieden herbeizuführen. So bleibt die Situation der Minderheiten weiterhin alarmierend, die Rückkehr der Flüchtlinge ist laut Kai Eide »an einem toten Punkt«, von einer Koexistenz zwischen Kosovo-Albanern und Kosovo-Serben kann ebenfalls keine Rede sein. Die wirtschaft-liche und soziale Situation ist katastrophal, was die Geduld der kosovarischen Bevölkerung jeden Tag aufs Neue strapaziert und das ohnehin große Frustrationspotential erhöht.

Die diplomatischen Floskeln der Vertreter der internationa-len Gemeinschaft und die (Selbst)Täuschungen der kosova-rischen politischen Eliten können nicht die Tatsache verber-

gen, dass es im Kosovo in Wahrheit schon seit einiger Zeit kaum Bewegung in substantiellen Bereichen gibt. Wir haben es im Kosovo mit einer Krise in Permanenz zu tun, die all die »Entscheidungsjahre« ohne Entscheidung und unter kräftiger Beteiligung der internationalen Gemeinschaft in ihrer Pose des »wohlmeinenden Despoten« anhält.

Auch im Vorfeld der Statusverhandlungen, die in den näch-sten Wochen und Monaten in einer Art Pendeldiplomatie zwischen Pristina, Belgrad und Wien abgespult werden, sind systematische und umfassende Einschätzungen der Lage im Kosovo selten zu lesen. Alles wird überlagert durch die Dis-kussionen über den Status. Und das nicht erst seit gestern, sondern de facto seit dem Jahr 2004.

Die serbische Seite ist stur und lehnt jede Möglichkeit eines unabhängigen Kosovo kategorisch ab. Die kosovo-albanischen Politiker – und hier ist der verstorbene Rugova nicht ausge-nommen – bewegen sich in ihrer Fixierung auf die Unabhän-gigkeit ebenfalls keinen Millimeter. Die »Unabhängigkeit« wird hier immer mehr zu einer diffusen und noch weitge-hend unklaren Projektionsfl äche für eine bessere Zukunft. Beide Seiten machen sich zu wenig ernsthaft Gedanken über den derzeitigen Zustand der kosovarischen Gesellschaft, über die wirtschaftliche Entwicklung, über die vielen arbeitslosen Jugendlichen, über die miserable Lage der Frauen, usw. Noch seltener werden konkrete Pläne für die Zeit nach der Lösung der Statusfrage entwickelt und diskutiert. Die Aufmerksamkeit der lokalen Politiker und der internationalen Gemeinschaft ist so einmal bei einer Bombenexplosion in Pristina, ein anderes Mal beim Tod von Rugova, ständig bei der Statusfrage, aber viel zu selten beim Nachdenken über die Zukunft des Kosovo nach der Unabhängigkeit.

Viele Beobachter weisen darauf hin, dass der heutige Kosovo de facto unabhängig sei und Serbien mit seiner Repressionspo-litik in den 1990er Jahren das Recht verwirkt habe, im Kosovo als Staatsmacht aufzutreten. Gleichzeitig haben die serbischen Bewohner des Kosovo und Angehörige anderer Minderheiten legitime Interessen in ihrem Land und das Recht, ein norma-les Leben ohne Angst führen zu können. Dennoch dürfte es auch im Jahre 2006 keine volle Unabhängigkeit und Souve-ränität des Kosovo geben. Zu unterschiedlich sind die Positi-onen der einzelnen Parteien, zu divergierend die Positionen der großen internationalen Akteure. Am Ende wird wohl eine Art »bedingter« oder positiver gewendet – wie es vor kurzem Wolfgang Petritsch ausdrückte – »kreativer« Unabhängigkeit stehen. Es sollte aber dafür gesorgt werden, dass dieser »krea-tive« Rahmen dazu beiträgt, dass die substantiellen Probleme des Kosovo endlich offensiv und mutig angesprochen und angegangen werden.

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Dzihic/Kramer, Kosovo 2006 – Bilanz einer fortdauernden Krise | T H E M E N S C H W E R P U N K T

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Neue Wege bei der Planung und Durchführung von mi-litärischen Einsätzen im Rahmen von FriedensmissionenPlanungs- und Handlungsdefi zite im Kosovo und im Irak

Christian Millotat*

Abstract: The outbreak of hostilities in Mitrovica in March 2004 was an unexpected brutal signal for the International Com-munity and made clear that fi ve years of state building did not change the political situation principally. The United Nations, UNMIK administration, NATO, EU and OSCE started an examination and asked themselves how and why things went wrong. The whole process of post-confl ict reconstruction came under political fi re. For the military it became clear that the force com-manders had different mainly national views about the concept of state building and ways and means for the protection and the support of missions like those. International organizations must reorganize the whole process of personnel recruitment and the working together in the fi eld operations.

Keywords: Kosovo, Internationale Organisationen, state-building, post-confl ict reconstruction

1. Einleitung

Sechs Jahre kräfteintensiver und kostenträchtiger Auf-bauarbeit der »United Nations Interim Administration Mission in Kosovo« (UNMIK-Administration) unter dem

Schutz der »Kosovo Force« haben offensichtlich nur einen Firnis von abendländisch-europäischer Gesittung über diese geschundene Provinz zu ziehen vermocht. Unter ihm gärt der Hass der Kosovo-Albaner auf die Minderheit der Kosovo-Serben weiter. Max Weber hat in seiner Religionssoziologie eine Erklärung dieses Sachverhalts gegeben: »Die Weltbilder, welche durch Ideen geschaffen werden«, hat er geschrieben, »haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegt.«

Die Hierarchie der Antriebskräfte von Kosovo-Serben und Ko-sovo-Albanern sowie ihr Selbstverständnis wurzelt weiterhin in identitätsstiftenden blutigen Ereignissen und deren Inter-pretation durch Intellektuelle im Kosovo und in Serbien. Die spirituelle Heimat der Kosovo-Serben ist die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389, in der die Türken ein südslawisch-ser-bisches Heer besiegten. Ob sie in der von Nationalisten im 19. Jahrhundert nachempfundenen Form stattgefunden hat, wissen wir nicht. Zur spirituellen Heimat vieler Kosovo-Alba-ner ist die von jugoslawischen Polizisten erschossene Familie Jaschari geworden, deren Oberhaupt Adem die erste bewaff-nete Gruppe der »Front zur Befreiung des Kosovo«, die UCK, 1997 gebildet hat. Das blutige Wirken dieses Freischärlers wird im heutigen Kosovo von Politikern und Meinungsführern verklärt und für ihre anachronistischen, auf Vertreibung oder Restaurierung früherer Zustände abzielenden Bemühungen instrumentalisiert.

Dieses aus blutigen Ereignissen der Vergangenheit schöpfen-de Selbstverständnis vieler Kosovaren liegt bis heute wie eine Unheil verheißende Wolkendecke über der Provinz. Ohne dass die Kosovo Force und ihre NATO-Vorgesetzten und die Vertre-

* Generalmajor a.D. Christian Millotat. In den Jahren 2001/2002 für 13 Mo-nate Stellvertretender Kommandeur der Kosovo Force in Pristina. Nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst im Jahre 2004 u.a. Lehrbeauftragter an der ETH in Zürich.

ter der UNMIK-Administration es bemerkten, ballte sich diese Wolkendecke im März 2004 zu gefährlichen Gewitterwolken zusammen, die sich mit Donnern und Blitzen entluden. Hass-erfüllte Kosovo-Albaner brachten 19 Mitbürger der serbischen Minderheit um, 900 wurden verletzt, 29 Kirchen und Klöster zerstört und 800 Häuser niedergebrannt.

Der gewaltsame Ausbruch nach fünf Jahren Aufbauarbeit der UNMIK-Administration und der noch immer etwa 27.000 Mann starken Kosovo Force löste unterschiedliche Reaktionen aus. Seine Gründe sind bei der UNMIK-Administration und der Kosovo Force, vor allem aber bei der NATO und den Ver-einten Nationen zu fi nden.

Deutsche Politiker und hochrangige Soldaten waren von den Ereignissen im März 2004 besonders enttäuscht. Sie wurden als Rückschlag der kostenträchtigen Aufbauarbeit der Deutschen im Raum von Prizren empfunden. Politiker und hochrangige Soldaten hatten nach kurzen Besuchen des deutschen Kontin-gents die Leistungen ihrer Soldaten vor Presse, Parlament und in der Öffentlichkeit mit Lobeshymnen gepriesen und nicht bedacht, dass solches Selbstlob die Leistungen der Soldaten aus den anderen Ländern herabsetzt. Die deutschen Soldaten seien wegen ihres freundlichen Zugehens auf die Bevölkerung besonders beliebt, wurde bis zum März vorgebracht. Weil von den Grundsätzen der Inneren Führung durchdrungen und geleitet, seien sie erfolgreicher als Soldaten in den Kontin-genten der anderen Nationen der Kosovo Force, war zu hören. Solchen Trugschlüssen über vermeintlich Erreichtes erlagen die anderen, im Kosovo Truppen stellenden Nationen weniger als die Deutschen. Diese erwachten im März aus einem das Urteilsvermögen trübenden »Liebesrausch«, und in der Presse wurden die bisher gepriesenen Soldaten als »Hasen vom Am-selfeld« verspottet.

Im Protektorat der Vereinten Nationen Kosovo müssen beim Aufbau und in Fragen der Sicherheit alle Abteilungen und Ein-richtungen der UNMIK-Administration, der nicht-staatlichen Organisationen und der Kosovo Force nicht nur so eng wie möglich zusammenarbeiten, sie müssen vor allem auch die Hand am Puls der Bevölkerung halten. Die in der UNMIK-Administration zusammenwirkenden Vertreter der Vereinten

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Nationen, der Europäischen Union (EU) sowie der Organisati-on für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Führer der Kosovo Force müssen Idealismus, Gestaltungs-wille- und Kraft, Durchsetzungsvermögen sowie persönliche Integrität auszeichnen. Vor allem beim Chef der UNMIK-Ad-ministration und beim Befehlshaber der Kosovo Force müssen sie ausgeprägt sein.

Charaktermängel und Führungsschwächen werden auf dem Balkan durch fachliche Kompetenz oder Verdienste in früheren Verwendungen nicht ausgeglichen. Von den bislang vier Be-auftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, den Chefs der UNMIK-Administration, haben zwei nach überwie-gend glücklosem Agieren ihre vorzeitige Ablösung erwirkt.

Gestaltungswille und Durchsetzungsvermögen der bisher acht Befehlshaber der Kosovo Force waren sehr unterschiedlich. Of-fensichtlich haben die UNMIK-Administration und Kosovo Force in den zurückliegenden fünf Jahren insgesamt zu sehr nebeneinanderher gearbeitet. Ansätze, die Zusammenarbeit immer mehr zu verzahnen, sind rasch wieder versandet, und die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung blieb ohne Tiefe. Warnungen, dass jederzeit mit Ausbrüchen wie im März 2004 zu rechnen sei, wurden überhört, bürokratisches Denken und Handeln von UNMIK-Administration und Kosovo Force legten sich wie Mehltau über eine Provinz, in der drängendes per-spektivisches Handeln notwendig ist.

Die Verstärkung der Kosovo Force ist eine hilfl ose, unperspek-tivische und langfristig untaugliche taktische Maßnahme, die Versäumnisse der internationalen Gemeinschaft im Kosovo zu reparieren. Auch die Aussage deutscher Politiker, noch lange müssten Soldaten im Kosovo eingesetzt werden, muss so be-wertet werden.

Die gewichtigeren Ursachen für die verfahrene Lage im Ko-sovo liegen weiter zurück. In der Resolution 1244 des Sicher-heitsrats der Vereinten Nationen vom 30. Juni 1999, dem Weisungsdokument für den Kosovo-Einsatz der NATO und der Vereinten Nationen, ist es unterlassen worden, den für diese Friedensmission verantwortlichen Planungsgremien und dem designierten Befehlshaber der Kosovo Force Richtlinien und Weisungen zu erteilen, so früh wie möglich Maßnahmen für einen von der Bevölkerung mitgestalteten Aufbau der Pro-vinz einzuleiten. Solche »Post-confl ict reconstruction«-Maß-nahmen, wie diese von den Amerikanern genannt werden, hätten darauf abzielen müssen, nach Gewinnen von Mei-nungsführern im Kosovo eine »Offensive der Versöhnung« zwischen allen Bevölkerungsgruppen einzuleiten, den Blick in die Zukunft zu richten, den aufgestauten Hass zu überwinden und die Ärmel hochzukrempeln. Dazu hätte auch gehört, der serbischen Seite, deutlicher als geschehen, zu sagen, dass sie den Krieg verloren hat und nichts mehr so werden kann wie vorher. So wurde versäumt, an die Herzen der Bevölkerung des Kosovo heranzukommen, als ihre Gedanken noch von den Schrecken des Krieges besetzt waren. Unter dem Eindruck des verlorenen Krieges wäre damals auch Belgrad zu einem fl exib-leren Verhalten zur Zukunft des Kosovo zu gewinnen gewesen. Vertreter der späteren Abteilung der UNMIK-Administration, der »Pillars« »Judicial«, »Civil Administration«, »Institution Building« und »Reconstruction« sowie der zukünftigen fünf

Verwaltungsbereiche der UNMIK-Polizei hätten von Anfang an im Stab des Befehlshabers der Kosovo Force vertreten sein müssen, um die bei der Besetzung des Kosovo eingeleiteten Aufbaumaßnahmen und gewonnenen Erfahrungen bruch-los in die spätere UNMIK-Administration einzubringen und fortzuführen. Wie später gezeigt wird, haben weder die Ver-einten Nationen noch die Verantwortlichen in der NATO in ihre Weisungen und Befehle an die Kosovo Force »Post-con-fl ict-reconstruction«-Maßnahmen aufgenommen. In diesem Versäumnis liegt aus heutiger Sicht die Hauptursache dafür, dass der psychologische und materielle Aufbau des Kosovo noch nicht zustande gekommen ist.

Die Amerikaner haben erkannt, dass sie bei der Planung und Führung der Operation »Iraqi Freedom« 2003 die gleichen Fehler gemacht haben. »Post-confl ict-reconstruction«-Auf-gabenfelder waren in den Weisungen und Befehlen an die militärischen Führer dieser ersten Phase des Irakkriegs nicht enthalten. Die Folgen dieser Unterlassung sind für die Ame-rikaner katastrophal. Das Zulassen von Plünderungen durch ihre Soldaten und das Versäumnis, die Kulturgüter des Irak wirkungsvoll vor Vandalismus und Diebstahl zu schützen, gehören ebenso in diesen Bereich wie das nicht vorhandene Konzept über die Zukunft der irakischen Streitkräfte und der Polizei des Irak während und nach der Besetzung. Auch dort ist keine »Offensive der Versöhnung« mit dem Ziel des Gewin-nens der Bevölkerung eingeleitet worden. Die Truppe hatte hierzu keinen Auftrag. »We cannot make yesterday perfect«, sagte jüngst ein einfl ussreicher amerikanischer General über diese Versäumnisse. Die Amerikaner haben aber erkannt, dass sie Vorkehrungen entwickeln müssen, dass »Post-confl ict-re-construction«-Weisungen und Befehle bereits bei der Planung von Einsätzen und beim Führen der Anfangsoperationen durch Kampf erteilt und durchgeführt werden können. Zahl-reiche Stellen in den amerikanischen Streitkräften arbeiten be-reits in diesem bislang vernachlässigten Bereich an Lösungen, allen voran die »United States Armed Forces University« in Washington. Ihre Überlegungen und Konzepte werden, so zeichnet sich ab, Auswirkungen auf die Struktur des Kräfte-dispositivs zukünftiger Einsätze haben. Neben Einsätzkräfte für den Kampf werden von Anfang an neu strukturierte und ausgerüstete Truppenkörper treten, die bereits während der Anfangsoperationen Maßnahmen zum Aufbau eines Einsatz-gebiets einleiten können und nach Abschluss der Kampfhand-lungen hierzu weiterhin zur Verfügung stehen. Das Aufstellen von Stabilisierungskräften von 70.000 Soldaten, die neben die für den Kampf optimierten 35.000 Soldaten der zukünftigen Bundeswehr treten werden, weist in die gleiche Richtung. Andere Streitkräfte wollen hingegen am »allround« ausgebil-deten Soldaten festhalten, der alle Tätigkeitsfelder wahrneh-men kann.

Das Aufnehmen und Durchführen von »Post-confl ict-re-construction«-Feldern in die Planungs- und Entscheidungs-prozesse und bei der Führung von militärischen Operationen ist Neuland für die meisten Soldaten. Die Weisungen und Befehle an die Truppenführer der Kriegskoalitionen beider Weltkriege gegen Deutschland enthielten keine Aufträge aus diesem Bereich. Das Ziel der politisch-strategischen Führungs-ebenen der Kriegskoalitionen war die Kapitulation Deutsch-

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Millotat, Planungs- und Handlungsdefizite im Kosovo und im Irak | T H E M E N S C H W E R P U N K T

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lands, das der darunterliegenden Ebenen die Vernichtung der deutschen Streitkräfte. Auch in der militärstrategischen Weisung an General Schwarzkopf für die Operation »Desert Storm« von 1991 sind keine Elemente für »Post-confl ict-re-construction«-Aktivitäten zu fi nden. »Führen Sie die Operati-onen so, dass sich die irakischen Truppen vollständig aus Ku-wait zurückziehen, zerschlagen Sie die irakischen Streitkräfte, befreien Sie Kuwait, dass seine Regierung wieder eingesetzt werden kann«, nur solche klassischen militärischen Aufträge wurden General Schwarzkopf erteilt. Die Amerikaner haben seit 2003 im Irak bitter lernen müssen, dass bei der Einsatz-planung Maßnahmen zum Wiederaufbau eines Einsatzgebiets ein unverzichtbarer, integraler Bestandteil der militärischen Planung und der Operationsführung sein müssen, will man die Bevölkerung gewinnen und den Aufbau ziviler Verwal-tungsstrukturen zielgerichtet vorbereiten.

Im Kosovo haben die Führer der Multinationalen Brigaden, der taktischen Ebene also, während und unmittelbar nach der Besetzung des Kosovo spontan humanitäre Hilfe geleistet und Aufbauarbeiten begonnen. Diese werden erst seit 2002 vom Hauptquartier der Kosovo Force orchestriert. Nach dem überkommenen Axiom deutscher Streitkräfte, »Unentschlos-senheit und zögerliches Handeln sind meist verhängnisvoller als ein Fehlgreifen in der Wahl der Mittel«, handelten auch die deutschen Brigadekommandeure darauf los, reparierten Häuser, sammelten Spielzeug, richteten ein Gefängnis ein und legten Hand an, wo es ihnen geboten schien. Sie trieben auch kindlich-naiv anmutende Projekte mit Eifer voran. So richteten die deutschen Soldaten eine kostenintensive »Wein-fabrik« ein, in der für den europäischen Markt zu teurer und gesundheitsschädlicher Wein produziert wurde. Politiker und hohe Offi ziere, die das Kosovo besuchten, wurden mit diesem, von den Soldaten als »Chateau Migraine« charakterisierten Wein traktiert und waren von diesem Aufbauprojekt hell be-geistert. Deutsches Geld, das für die Verbesserung der Am-selfelder Weinkulturen, vom damaligen Bundesminister der Verteidigung unterstützt, in das Kosovo fl ossen, versickerte in den dortigen mafi osen Strukturen. Auch aus den Bereichen der anderen Multinationalen Brigaden können kuriose Auf-bauprojekte berichtet werden.

Dieses Handeln ohne Auftrag der Brigadekommandeure zeigt auf, dass beim Formulieren und Erteilen von »Post-confl ict-reconstruction«-Aufträgen an die Truppenführer jede Füh-rungsebene eine unverzichtbare Aufgabe zu erfüllen hat, die politisch-strategische, die militärstrategische, die operative und die taktische Ebene. Wenn die taktische Ebene im Koso-vo tatendurstig Aufgabenfelder im Bereich des »Post-confl ict reconstruction« angepackt hat und Resultate erzielen konnte, sollten auch die Planer und militärischen Führer der darüber liegenden Ebenen keine Probleme haben, auf Wiederaufbau gerichtete Weisungen und Befehle zu entwickeln. Natürlich muss für dieses neue Aufgabenfeld ausgebildet werden, in Truppenschulen, Akademien und in der Truppe. Das Führen mit Auftrag, die Auftragstaktik, ist auch in diesem Bereich das beste und fl exibelste Führungsprinzip, mit dem solche Wei-sungen und Befehle lagegerecht umzusetzen sind. Der jeweils vorgesetzte militärische Führer unterrichtet dabei seine nach-geordneten Führer − wie bei den klassischen militärischen

Operationen – über seine Absichten im Bereich des »Post-con-fl ict reconstruction«. Er stellt hierzu die benötigten Kräfte und Mittel zur Verfügung und räumt seinen Untergebenen größt mögliche Handlungsfreiheit ein. Er koordiniert jedoch diese Maßnahmen unter Berücksichtung seines gesamten Einsatzge-biets und erteilt Aufl agen. Ein unkoordiniertes »Daraufl oswur-steln« der taktischen Führer, wie im Kosovo geschehen, wird so vermieden. Der befehlende Vorgesetzte kontrolliert, dass seine leitenden Gedanken, etwa das Gewinnen der Bevölke-rung, beachtet werden. In diesem sensitiven, für den Erfolg eines Einsatzes so wichtigen Bereich, darf nicht nach dem spa-nischen Sprichwort verfahren werden: »Es gibt keine Wege, sie entstehen beim Gehen.«

2. »Post-confl ict reconstruction« – Weisungen und Befehle der verschiedenen Führungs-ebenen

»Post-confl ict-reconstruction«-Maßnahmen müssen also auf allen Führungsebenen für die jeweils nachfolgende Ebene in Richtlinien, Weisungen und Befehlen formuliert werden.

• Die politisch-strategische Ebene entwickelt ihre Richtli-nien und Weisungen mit Beratung der militärstrategischen Ebene. Sie werden aus dem angestrebten politischen End-zustand im jeweiligen Einsatzgebiet abgeleitet. Kann dieser vor Einsatzbeginn nicht formuliert werden, können solche Richtlinien und Weisungen nur allgemein sein. Der für die Führung des Einsatzes bestimmte General erhält eine mili-tärstrategische Weisung, die neben klassischen militärischen Aufträgen Richtlinien und Weisungen für die von ihm zu treffenden »Post-confl ict-reconstruction«-Maßnahmen ent-hält. Dies schließt die Vertreter einer nach Abschluss der Kampfhandlungen vorgesehenen Zivilverwaltung und ihre rechtliche Stellung im Stab des Befehlshabers der Kräfte im Einsatzgebiet ein. Die politisch-strategische Führung muss auch regeln, wer nach Abschluss der militärischen Kampf-handlungen im Einsatzgebiet führen soll, entweder weiter-hin der höchste Soldat, der Chef der Aufbauverwaltung oder beide zusammen als gleichberechtigte Partner, die auf enge Zusammenarbeit angewiesen sind.

• Auf der militärstrategischen Ebene entwickelt der den Einsatz führende General neben seinem streitkräftegemeinsamen Plan zum Führen seiner Operation durch Kampf einen Plan für die während und unmittelbar nach den Kampfhand-lungen zu treffenden Aufbaumaßnahmen im Einsatzgebiet. Er muss so konzipiert sein, dass eine von den Vereinten Nati-onen, der EU, der OSZE oder von einer Koalition von Staaten bereits während oder unmittelbar nach den militärischen Operationen entstehende zivile Verwaltung ohne Reibungs-verluste auf ihm aufbauen kann. In diesem Plan muss auch geregelt werden, wie die zivilen Experten, die in dieser Verwaltung später Schlüsselpositionen einnehmen sollen, konkret eingebunden werden. Während der Friedenserzwin-gungshandlungen und solange die Verwaltung noch nicht arbeitsfähig ist, müssen sie dem Befehlshaber der Kräfte im Einsatzgebiet unterstellt werden. Das erfordert die Einheit der Führung in klar defi nierten Führungsstrukturen. Es muss

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geregelt werden, wann sie aus diesem Unterstellungsverhält-nis ausscheiden und unter den Chef der Verwaltung treten. Der den Einsatz führende General der militärstrategischen Ebene schlägt im Falle eines multinational strukturierten Einsatzes der poltisch-strategischen Ebene den Befehlshaber der Kräfte im Einsatzgebiet vor. Dieser ist Truppenführer der Ebene der operativen Führung, auf der politische Absichten und militärstrategische Weisungen in Weisungen und Be-fehle für die taktische Ebene umgesetzt werden.

• Der Befehlshaber der Kräfte im Einsatzgebiet entwickelt so-wohl sein Konzept für die Kampfhandlungen als auch einen konkreten Plan für »Post-confl ict-reconstruction«-Maßnah-men. Darin regelt er, welche Aufgabenfelder und Bezie-hungen zu Meinungsführern im Einsatzgebiet er persönlich oder Offi ziere seines Stabes wahrnehmen sollen, und welche Maßnahmen an die Führer der taktischen Ebene delegiert werden. Er befi ehlt auch, wie ein Gefl echt an Beziehungen zu im Einsatzgebiet vorhandenen Einrichtungen und Mei-nungsführern aufgebaut wird. Mit den zivilen Experten, die zunächst in seinen Stab eingebunden sind, legt er konkrete Arbeitsfelder fest, und er entwickelt mit ihnen zusammen ein Informationskonzept zum Gewinnen der Bevölkerung mit Richtlinien für die taktische Ebene der Multinationalen Brigaden.

• Die Führer der taktischen Ebene leisten »Post-confl ict-re-construction«-Arbeiten im Rahmen der Weisungen und Be-fehle des Befehlshabers im Einsatzgebiet nach dem Prinzip des Führens mit Auftrag. Dies ist schwierig und verlangt Disziplin sowie die Fähigkeit, sich in die Gedanken des Vor-gesetzten hineinzuversetzen.

3. Die Regelungen der Resolution 1244 des Si-cherheitsrats der Vereinten Nationen für das Kosovo

Wie bereits festgestellt, enthält das höchste Dokument der politisch-strategischen Ebene für den Einsatz im Kosovo, die Resolution 1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, keine Richtlinien und präzisen Weisungen für »Post-confl ict-reconstruction«-Aktivitäten der Kosovo Force während und unmittelbar nach der militärischen Besetzung dieser Provinz. Folglich sind sie auch in der militärstrategischen Weisung der NATO nicht enthalten.

• Als »roter Faden« durchzieht die Resolution das Ziel, Streit-kräfte der Republik Jugoslawien daran zu hindern, im Ko-sovo wieder aktiv zu werden, und dort Gewaltausbrüche zu verhindern. Hierzu soll die Befreiungsarmee des Kosovo in ein ziviles »Kosovo Protection Corps« umgewandelt wer-den.

• Die ungehinderte Rückkehr von Flüchtlingen und Vertrie-benen an jeden Ort ihrer Wahl im Kosovo soll gewährleistet werden.

Die Resolution 1244 legt fest, dass im Kosovo zwei gleich-berechtigte Handlungssäulen tätig werden, die Kosovo Force unter Führung eines Generals aus einem NATO-Land und die UNMIK-Administration unter einem Beauftragten des Gene-

ralsekretärs der Vereinten Nationen. Beide Partner sind auf enge Zusammenarbeit angewiesen. Die Kosovo Force erhält in der Resolution 1244 den Auftrag, die Demobilisierung der Be-freiungsarmee des Kosovo voranzutreiben, ein sicheres Umfeld in der Provinz zu schaffen, in das Flüchtlinge und Vertriebene ungehindert zurückkehren können und in dem die UNMIK-Administration wirken kann.

Die Resolution 1244 enthält keine Richtlinien und Weisungen, wie all dies konkret erreicht werden soll, etwa, wie oben aufge-führt, durch das Gewinnen einfl ussreicher Meinungsträger für die gemeinsame Sache, mit denen zusammen eine »Offensive der Versöhnung« zwischen den Feinden von gestern ange-schoben werden könnte. Das Fehlen einer Regelung über das Einbinden ziviler, für leitende Positionen der UNMIK-Admi-nistration vorgesehene Experten im Stab des ersten Befehlsha-bers der Kosovo Force hatte zur Folge, dass die Verwaltung spä-ter von Personen aufgebaut wurde, die nicht von Anfang an dabei gewesen waren und von der Truppe eingeleitete »Post-confl ict-reconstruction«-Maßnahmen der ersten Wochen nicht aufgegriffen und weitergeführt wurden. So blieb die UN-MIK-Administration für die Bevölkerung ein ihr oktroyierter Fremdkörper, wo man als Putzhilfe und Dolmetscher mehr Geld verdienen kann als anderswo im Kosovo. Die aus fähigen Mitarbeitern, aber auch aus »Unterbringungsfällen«, in ihren Ländern gescheiterten Politikern und Diplomaten, sowie aus »Mission Junkies« zusammengesetzte UNMIK-Administrati-on sucht keine Dialoge mit Meinungsträgern, Politikern und Geistlichen im Kosovo, um deren Auffassungen zur Zukunft und zum Aufbau ihrer Heimat kennenzulernen und bei ihrer Arbeit zu berücksichtigen; die Vertreter des »United Nations High Commissioner for Refugees« (UNHCR) bauten keine Or-ganisation für die Erfüllung dieses wichtigen Anliegens der Resolution 1244 bis in die Gemeinden hinein auf, wodurch die meisten Rückkehrerprojekte scheiterten.

Trotz erfolgreicher Wahlen, Regierungsbildung, Schaffung eines Grundgesetzrahmens und neuen Rechts, der Verbes-serung des Bildungswesens und des Aufbaus einer starken Polizeitruppe, um nur einige Felder zu nennen, ist es den Vertretern der internationalen Gemeinschaft offenkundig nicht gelungen, die Herzen der Bevölkerung des Kosovo zu gewinnen. Denken und Handeln vieler Bewohner des Kosovo gründen, wie ausgeführt wurde, noch immer tiefer in blutigen Ereignissen der Vergangenheit dieser Provinz als auf zukunfts-gerichteten europäischen Perspektiven, in denen Hass und ein anachronistisches Selbstverständnis keinen Platz mehr haben. Der in der Resolution 1244 nicht defi nierte politische Endzu-stand des Kosovo und die zum Überbrücken dieses Mangels ergriffene Aushilfe, dass im Kosovo von der UNMIK-Admini-stration 2003 entwickelte »Standards« erreicht werden müs-sen, bevor über die politische Zukunft des Kosovo gesprochen werden soll, führt bei den dortigen Politikern, Meinungsträ-gern und Machtgruppierungen zunehmend zu Unmut und Spannungen. Wer könnte dies den Menschen im Kosovo ver-übeln?

»We cannot make yesterday perfect«, das ist wahr. Wir müssen aber aus Fehlern lernen und neue Wege beschreiten, wenn alle bisherigen Bemühungen gescheitert sind. Wenn sich im Verlauf einer von den Vereinten Nationen geführten Friedens-

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mission zeigt, dass, wie im März 2004 im Kosovo deutlich geworden, das Schlüsseldokument der politisch-strategischen Ebene, die Resolution 1244, nicht mehr tauglich ist, muss es geändert werden. Auch eine Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist Menschenwerk und nicht sakrosankt. Nach den Gewaltausbrüchen im Kosovo im März 2004 sind neue Ansätze unumgänglich. Je früher sie entwickelt werden, desto mehr wird die Bevölkerung des Kosovo die Gestaltung ihrer Zukunft anpacken können. Und um sie geht es doch bei dieser bisher glücklos verlaufenen Friedensmission.

Wenn die Verhandlungen des Sonderbeauftragten des Ge-neralsekretärs der Vereinten Nationen über die staatliche

Zukunft des Kosovo endlich vorankämen, und wenn diese geschundene Provinz von der internationalen Völkergemein-schaft endlich eine »Roadmap« erhielte, an deren Ende die Unabhängigkeit des Kosovo stünde, ginge es dort endlich nach Jahren lähmender Stagnation voran.

In allen zukünftigen politischen Prozessen müssten aber mehr als bisher die jungen Eliten des Kosovo einbezogen werden. Die UNMIK-Administration und die Kosovo Force müssten da-bei mehr und mehr die Rolle von Beraterorganisationen über-nehmen, die den wirtschaftlichen Aufbau vorantrieben. Dann könnte langfristig ein albanisches Kosovo entstehen, das die vertriebenen Serben wieder zurückholt.

Schutz transnationaler Unternehmen in Konfl iktregionenRechtliche Betrachtungen zum Einkauf privater Sicherheit

Christian Schaller*

Abstract: Many transnational corporations operate in zones of confl ict, where government authorities have forfeited their monopoly on the use of force and public order has broken down. As a consequence, such corporations increasingly contract private security companies (PSCs) to provide for the safety of their operations. This article explores some of the legal problems arising out of the involvement of PSCs in zones of confl ict. The pertinent norms of international humanitarian law as well as of domestic penal and civil law regulating the conduct of PSCs are examined and issues of accountability are discussed. Subse-quently, the strengths and weaknesses of non-binding regulatory instruments such as codes of conduct are evaluated.

Keywords: Transnationale/multinationale Unternehmen, private Sicherheitsfi rmen, Privatisierung von Sicherheit, Unterneh-mensverantwortung in bewaffneten Konfl ikten, Regulierung privater Sicherheitsfi rmen

Viele der Regionen, in denen bewaffnete Konfl ikte aus-getragen werden, sind im Zuge der Globalisierung zu Investitionsstandorten für transnational tätige Unter-

nehmen geworden. Insbesondere multinationale Konzerne im Energie- und Rohstoffsektor sind aufgrund der geogra-phischen Verteilung bestimmter Ressourcen häufi g darauf angewiesen, größere Projekte in instabilen und unsicheren Regionen durchzuführen. Beispielhaft ist die Förderung von Rohöl im Irak, der Abbau von Diamanten und Coltan in Zen-tralafrika oder die Abholzung von Edelhölzern in Liberia. Darüber hinaus spezialisieren sich auch Firmen aus der Bau-wirtschaft sowie aus den Bereichen Transport, Logistik und Kommunikation immer häufi ger auf Kriseneinsätze, etwa im Auftrag von Staaten und internationalen Organisationen oder im Rahmen von Hilfsprogrammen. Die Rolle, die ausländische

* Dr. Christian Schaller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Insti-tuts für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin.

Wirtschaftsunternehmen in zwischen- und innerstaatlichen Konfl ikten spielen, kann sehr unterschiedlich sein. Einer-seits können internationale Investitionen in den betroffenen Staaten zu wirtschaftlicher Erholung und Stabilität beitragen. Andererseits besteht die Gefahr, dass externe Akteure aus der Situation gezielt Profi t ziehen und die Spannungen zwischen den Parteien erhöhen.1 Unabhängig von ihrer Rolle und Mo-tivation tragen die investierenden Unternehmen jedoch stets besondere konfl iktbedingte Risiken. Vor allem das vor Ort täti-ge Personal und die dort installierten Einrichtungen und Anla-gen sind häufi g enormen physischen Gefahren ausgesetzt. Da die öffentliche Sicherheit und Ordnung in solchen Situationen von staatlicher Seite meist nicht mehr in ausreichendem Maße gewährleistet werden kann, beauftragen viele Unternehmen private Sicherheitsdienste mit ihrem Schutz.

1 Volker Rittberger, Transnationale Unternehmen in Gewaltkonfl ikten, in: Die Friedens-Warte, 79 (2004) 1-2, S. 15 ff.

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BEITRÄGE AUS SICHERHEITSPOLITIK UND FRIEDENSFORSCHUNG

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Der folgende Beitrag befasst sich mit den rechtlichen Rahmen-bedingungen und möglichen Folgen des grenzüberschreiten-den Einsatzes privater Sicherheitsfi rmen in Konfl iktregionen, und zwar sowohl aus der Sicht der Sicherheitsfi rmen als auch aus der Perspektive ihrer Auftraggeber. Darüber hinaus werden Aspekte der hoheitlichen Regulierung und freiwilligen Selbst-kontrolle des privaten Sicherheitssektors thematisiert. Einlei-tend folgt zunächst ein kurzer Überblick über die allgemeine Risikosituation von Unternehmen in Konfl iktregionen.

1. Wenn hoheitliche und diplomatische Schutz-mechanismen versagen

Grundsätzlich ist jeder Staat dafür verantwortlich, diejenigen Personen, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten, vor Rechtsverletzungen zu schützen. Diese Verantwortung ist an die Souveränität und die Gebietshoheit des Staates gekoppelt. Sie besteht nicht nur gegenüber eigenen, sondern auch ge-genüber fremden Staatsangehörigen. Der Umfang der Schutz-pfl icht bestimmt sich wesentlich nach den völkerrechtlichen Bindungen des jeweiligen Staates. Besonders der internatio-nale Schutz der Menschenrechte hat zur Konkretisierung ei-ner universellen Schutzverantwortung gegenüber Individuen beigetragen.2 Aber auch die Absicherung von Unternehmen, Kapital und Investitionen wird durch multilaterale und bilate-rale völkerrechtliche Verträge bestimmt. Im Notfall kann der Heimatstaat diplomatischen Schutz gewähren. Dieser wird je-doch nur dann wirksam, wenn der Gaststaat tatsächlich hand-lungsfähig ist. Staaten, die in einen bewaffneten Konfl ikt ver-wickelt sind, laufen indes häufi g Gefahr, ihre Kernfunktionen zur Gewährleistung von Sicherheit und Wohlfahrt nicht mehr in der gebotenen Weise wahrnehmen zu können. Die denk-baren Szenarien reichen von kurzfristigen und partiellen Kon-trollverlusten, Steuerungsausfällen und Versorgungsengpässen bis hin zum vollständigen Wegfall der Staatsgewalt, einem Zustand, in dem der betroffene Staat mitunter als gescheitert oder zerfallen bezeichnet wird. Je stärker staatliche Organe, die in Friedenszeiten mit Aufgaben der Gefahrenabwehr, Ju-stiz, Verwaltung und Daseinsvorsorge betraut sind, durch die Austragung des Konfl ikts in Mitleidenschaft gezogen werden, desto eher können sich private Gewalt, organisierte Krimi-nalität und Schattenwirtschaft, aber auch Krankheiten und Hungersnöte in dem betroffenen Staat ausbreiten. Dieser ist in einer solchen Situation meist nicht mehr in der Lage, den Schutz grundlegender öffentlicher und individueller Rechts-güter zu garantieren.

Bei der Analyse der Sicherheitsrisiken, die Unternehmen in Gewaltkonfl ikten im Ausland eingehen, ist auch zu bedenken, dass der Heimatstaat zum Schutz eigener Angehöriger nur in Ausnahmefällen gezielte militärische Rettungsaktionen auf fremdem Territorium durchführen darf. Solche Einsätze sind am völkerrechtlichen Interventions- und Gewaltverbot zu messen, wodurch auch gescheiterte Staaten geschützt werden. Die Einsätze müssen sich daher nach dem Grundsatz der Ver-hältnismäßigkeit auf kurzfristige Evakuierungsmaßnahmen

2 International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Re-sponsibility to Protect, Report (2001), S. 11 ff.

beschränken.3 Ausgeschlossen ist dagegen die eigenmäch-tige Errichtung einer militärischen Präsenz mit dem Ziel, den dauerhaften Verbleib eigener Staatsangehöriger zu wirtschaft-lichen Zwecken in der Konfl iktregion zu sichern. Ausnahmen gelten lediglich für Konstellationen, in denen ein Staat auf der Basis eines Sicherheitsratsmandats oder als Besatzungs-macht gemäß Art. 43 der Haager Landkriegsordnung für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Ordnung und öffentlichem Leben in einer Konfl iktregion verantwortlich ist und in diesem Zusammenhang unter Umständen auch beson-dere Vorkehrungen zum Schutz ausländischer Unternehmen zu treffen hat.

2. Die Vermittlung von Sicherheit durch private Anbieter

In einem solchen Konfl iktumfeld stellt die Inanspruchnahme privater Sicherheitsdienste aus Sicht vieler Unternehmen eine notwendige Maßnahme dar, um die eigenen Mitarbeiter und den Geschäftsbetrieb insbesondere vor nichtstaatlicher Ge-walt zu schützen. Die Nachfrage trifft mittlerweile auf einen weltweiten Markt für grenzüberschreitende Sicherheitsdienst-leistungen. Allerdings hat nicht allein der deutlich gestiegene zivile Bedarf in den letzten Jahren zum rasanten Wachstum dieses Wirtschaftszweiges beigetragen.4 Die seit dem Ende des Kalten Krieges zu beobachtende Reduzierung der Truppenstär-ke hat bei vielen Streitkräften dazu geführt, dass militärisches Personal in großem Umfang abgebaut wurde und seitdem dem privaten Markt zur Verfügung steht. Gleichzeitig droht zahl-reichen Staaten angesichts des wachsenden Engagements im Rahmen internationaler Friedenseinsätze und in Anbetracht der zunehmenden Komplexität der Kriegführung eine Über-dehnung ihrer militärischen Kapazitäten. Daher beauftragen auch immer mehr Staaten spezialisierte Unternehmen mit der Unterstützung ihrer Truppen bei Auslandseinsätzen. Die Auslagerung spezifi scher Sicherheits- und Militäraufgaben auf den privaten Sektor ermöglicht den Streitkräften häufi g eine kostengünstigere und bedarfsorientierte Nutzung externer Fä-higkeiten.

Der Markt für private Sicherheit wird heute von professio-nellen Unternehmen beherrscht, die offen am Wirtschafts-verkehr teilnehmen, meist über hochspezialisiertes und gut ausgebildetes Personal verfügen und daher eine breite Ange-botspalette abdecken können. Das Spektrum moderner Si-cherheits- und Militärfi rmen reicht von logistischem Service, Informations- und Nachrichtendiensten über Beratung und Ausbildung, den bewaffneten Objekt- und Personenschutz bis hin zur Beteiligung an Kampfeinsätzen.5 Während Streitkräfte Aufträge über das gesamte Spektrum vergeben, steht aus Sicht privater Auftraggeber vor allem der Einkauf von Sicherheit im Vordergrund, auf den sich auch der vorliegende Beitrag konzentriert. Der massive Einsatz privater ausländischer Si-

3 Yoram, Dinstein, War, Aggression and Self-Defence, 3. Aufl age (2001), S. 203 ff. 4 Vgl. Herbert Wulf, Privatisierung der Sicherheit – Ein innergesellschaftliches

und zwischenstaatliches Problem, in: Vereinte Nationen 4(2002), S. 144, 147. 5 Vgl. Gerhard Kümmel, Die Privatisierung der Sicherheit. Private Sicherheits-

und Militärunternehmen in den internationalen Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 12 (2005) 1, S. 141, 146 ff.

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cherheitskräfte, selbst wenn sie nicht in militärischem Auf-trag tätig sind, birgt jedoch grundsätzlich das Risiko, dass das staatliche Gewaltmonopol des Gaststaates ausgehöhlt wird. Dies gilt insbesondere, wenn der betreffende Staat bereits konfl iktbedingt geschwächt ist. Aus diesem Grund gewinnt die Regulierung und Überwachung der Aktivitäten solcher Firmen anhand konkreter rechtlicher Maßstäbe vor allem bei Auslandseinsätzen zunehmend an Bedeutung.

3. Rechtlicher Rahmen für die Tätigkeit privater Sicherheitsfi rmen in Konfl iktregionen

In erster Linie unterliegen private Sicherheitsfi rmen sowie die Unternehmen, in deren Auftrag sie tätig werden, im Ausland dem Recht des Gaststaates. Dementsprechend ziehen sich die im Einzelfall anwendbaren Normen durch sämtliche Rechts-bereiche vom Ordnungs- und Steuerrecht über das Strafrecht bis hin zum Zivilrecht. Beispielsweise bedürfen in- und aus-ländische private Sicherheitsfi rmen, bevor sie ihre Tätigkeit aufnehmen, in vielen Staaten einer besonderen behördlichen Registrierung oder Genehmigung. Auch die Einreise und der Aufenthalt der Firmenmitarbeiter sowie die Einfuhr von Waf-fen und Ausrüstung unterliegen in aller Regel der rechtlichen Aufsicht des Gaststaates. Kommt es während des Einsatzes zu Rechtsverstößen, müssen sowohl die Unternehmen als auch die verantwortlichen Personen je nach Rechtssystem mit un-terschiedlichen Sanktionen rechnen. Gerade Staaten, die seit längerem unter einem internen bewaffneten Konfl ikt leiden, sind jedoch häufi g so geschwächt, dass sie ihre eigenen Ge-setze nicht mehr wirksam vollziehen können. Daher darf der tatsächliche Einfl uss der Rechtsordnung des Gaststaates auf das Verhalten privater Sicherheitsfi rmen in solchen Szenarien nicht überschätzt werden. In jedem Fall wird den Mitarbei-tern dieser Firmen als Ausländern durch das völkerrechtliche Fremdenrecht ein Mindeststandard an Menschenrechten ga-rantiert, die der Gaststaat zu beachten hat.6

Kommen private Sicherheitskräfte in einer Region zum Ein-satz, die von einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konfl ikt betroffen ist, unterstehen sie zusätzlich unmittelbar dem Schutz und den Bindungen des humanitären Völkerrechts. Diese Rechtsmaterie unterscheidet sich von den meisten anderen völker rechtlichen Regelwerken vor allem dadurch, dass sie nicht nur Staaten, sondern ausnahmsweise auch Einzelpersonen in größerem Umfang individuell berech-tigt und verpfl ichtet.7 Dahinter steht der Ge danke, dass die wirksame Durchsetzung der humani tären Schutzvorschriften im extremen Spannungsfeld eines bewaffneten Konfl ikts nicht allein über eine Verpfl ichtung der staatlichen Akteure sicher-gestellt werden kann, sondern voraussetzt, dass die tatsächlich handelnden und betroffenen Personen über eine eindeutig vorgeschriebene subjektive Rechtsposition verfügen. Kodifi -ziert ist das humanitäre Völkerrecht in erster Linie in den vier Genfer Abkommen von 1949 und ihren beiden Zusatzproto-

6 Knut Ipsen, in: Knut Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 5. Aufl age (2004), § 50, Rn. 6. 7 Christopher Greenwood und Rüdiger Wolfrum, beide in: Dieter Fleck (Hg.),

Handbuch des humanitären Völker rechts in bewaffneten Konfl ikten (1994), §§ 133 und 1224.

kollen von 1977 (GA I-IV, ZP I-II). Darüber hinaus hat sich ein umfassender Bestand an völkergewohnheitsrechtlichen humanitären Normen herausgebildet, die auch auf nichtin-ternationale bewaffnete Konfl ikte Anwendung fi nden.8

Das für internationale bewaffnete Konfl ikte geltende huma-nitäre Völkerrecht unterscheidet zwischen Kombattanten und Zivilpersonen. Nur Kombattanten sind berechtigt, sich unmittelbar an Feindseligkeiten zu beteiligen, ohne dafür strafrechtlich belangt zu wer den.9 Zivilpersonen fehlt diese Be-rechtigung. Sie sind dafür jedoch umfassend durch das Genfer Recht geschützt.10 Da der Kombattantenstatus nur von einem am Konfl ikt beteiligten Staat oder einer internationalen Orga-nisation verliehen werden kann, handelt es sich bei privaten Sicherheitskräften, die lediglich im Auftrag von Unternehmen tätig sind, mangels organschaftlicher Zuordnung zu einem solchen Völkerrechtssubjekt stets um Zivilisten. Daher ändert sich dieser Status selbst dann nicht, wenn die betreffenden Personen wie Soldaten bewaffnet sind oder sogar rechtswidrig an Feindseligkeiten teilnehmen.11

Obwohl private Sicherheitskräfte als Zivilisten völkerrechtlich keinen geringeren Schutz genießen als die Zivilbevölkerung, gehen sie bei Einsätzen im Rahmen bewaffneter Konfl ikte erhebliche Risiken ein. Je näher Private an das eigentliche Kampfgeschehen heranrücken, desto größer ist die Gefahr, dass sie den rechtlichen Rahmen verlassen, der ursprünglich konstruiert wurde, um Zivilpersonen vor den Auswirkungen bewaffneter Konfl ikte zu schützen. Obgleich selbst widerrecht-lich kämpfende Zivilisten ihren primären Status behalten, kön-nen sie sich vorübergehend nicht auf den damit verbundenen Schutz berufen. Zum einen müssen sie damit rechnen, gezielt von den Kon fl ikt parteien bekämpft zu werden. Zum anderen drohen ihnen später empfi ndliche Sanktionen, wenn ihnen eine illegale Teilnahme an Feind seligkeiten nachgewiesen wird. In Gebieten, in denen militärische Kampfhandlungen stattfi nden, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass auch private Sicherheitskräfte unbeabsichtigt in bewaffnete Ausei-nandersetzungen verwickelt werden.12 Dies gilt vor allem für Personen, die im Unternehmensauftrag Industrieanlagen, Rundfunkstationen, Fahrzeugkonvois oder andere Objekte schützen sollen, deren Einnahme oder Ausschaltung aus Sicht der Konfl iktparteien besondere Vorteile mit sich bringt.

Auch eine defensive Gewaltanwendung durch Zivilisten kann in einem bewaffneten Konfl ikt nach Art. 49 ZP I grundsätz-lich als unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten aufgefasst werden und zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen. Nur wenn es sich um einen Fall von Notwehr oder Nothilfe han-

8 Jean-Marie Henckaerts/Louise Doswald-Beck, in: International Committee of the Red Cross (Hg.), Customary International Humanitarian Law, 3 Bde. (2005).

9 Art. 43 Abs. 2, 50, 51 ZP I. Zum Völkergewohnheitsrecht: Henckaerts/Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law (Fn. 8), Bd. I, S. 3 ff.

10 In internationalen Konfl ikten sind Zivilpersonen durch das IV. Genfer Ab-kommen und das I. Zusatzprotokoll geschützt. Im nichtinternationalen Konfl ikt ergibt sich ihr Schutz aus dem gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Abkommen, dem II. Zusatzprotokoll und dem Völkergewohnheitsrecht.

11 Zum Status privater Sicherheits- und Militärkräfte, die im Auftrag staatlicher Streitkräfte tätig sind: Christian Schaller, Operieren private Sicherheits- und Militärkräfte in einer humanitär-völkerrechtlichen Grauzone?, in: Humani-täres Völkerrecht – Informationsschriften, 19 (2006) 1 (im Erscheinen).

12 Im April 2004 wurden in Falluja beispielsweise vier Mitarbeiter der amerika-nischen Firma Blackwater Security Consulting von Aufständischen getötet (The Associated Press, US Relies on Private Security in Iraq, in: The New York Times, nytimes.com, 27.4.2004).

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delt, lässt sich das Verhalten strafrechtlich ausnahmsweise rechtfertigen. Diese Rechtsfi guren sind sowohl in zahlreichen nationalen Strafrechtsordnungen als auch im Völkerstraf-recht verankert.13 Danach hat jede Person unabhängig von ihrem Status das Recht, sich oder andere mit Waffengewalt gegen eine unmittelbar drohende und rechtswidrige Anwen-dung von Gewalt zu verteidigen. Dies kann im Ergebnis zum Ausschluss der Strafbarkeit führen. Unter welchen Vorausset-zungen ein Angriff im Rahmen eines bewaffneten Konfl ikts rechtswidrig ist und damit eine Notwehrlage begründen kann, bestimmt sich ebenfalls nach den Normen des humanitären Völkerrechts.14 Sie legen fest, wie lange, mit welchen Me-thoden und Mitteln und gegen welche Objekte bewaffnete Schädigungshandlungen vorgenommen werden dürfen. Da jegliche Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte durch die die Art. 51 ff. ZP I und das humanitäre Völkergewohnheits-recht strikt verboten und damit stets rechtswidrig im Sinne der Notwehrdefi nition sind, kann der Waffengebrauch durch private Sicherheitskräfte zum Schutz von Unternehmen und Privatpersonen vor solchen Angriffen grundsätzlich durch das Notwehr- und Nothilferecht gedeckt sein.15

Dies gilt allerdings nicht, wenn Private in einem internati-onalen Konfl ikt damit beauftragt werden, militärische Ziele zu schützen. Die Anwendung von Gewalt gegen militärische Ziele in einem solchen Konfl ikt ist unter der Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich erlaubt.16 Daher sind alle Zivilpersonen gemäß Art. 58 ZP I zu ihrem eigenen Schutz nach Möglichkeit aus der Umgebung militärischer Ziele zu entfernen. Im Umfeld militärischer Objekte ist der bewaffnete Einsatz zivilen Sicherheitspersonals zu Verteidigungszecken nicht zulässig. Im Falle der Gewaltanwendung zur Erwiderung eines rechtmäßigen Angriffs, der sich gegen ein militärisches Ziel richtet, können sich private Sicherheitskräfte jedenfalls nicht auf ein individuelles Notwehr- oder Nothilferecht be-rufen.

Neben dem humanitären Völkerrecht gelten die menschen-rechtlichen Gewährleistungen in bewaffneten Konfl ikten grundsätzlich fort, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Im Gegensatz zu den humanitären Normen entfalten die in-ternationalen Menschenrechtsverträge jedoch keine unmit-telbar bindende Wirkung gegenüber Individuen. Die darin enthaltenen Vorgaben müssen erst von den Staaten auf na-

13 Vgl. z.B. § 32 StGB und Art 31 Abs. 1(c) IStGH-Statut. Zur Notwehr im Völ-kerstrafrecht Gerhard Werle, Völkerstrafrecht (2003), S. 122 ff.

14 Die individuelle Notwehr ist im völkerrechtlichen Kontext strikt vom Selbst-verteidigungsrecht der Staaten zu unterscheiden. Beide Rechtsfi guren stehen zueinander in keinerlei Beziehung.

15 Schaller, Operieren private Sicherheits- und Militärkräfte in einer humanitär-völkerrechtlichen Grauzone? (Fn. 11).

16 Militärische Ziele sind gemäß Art. 52 Abs. 2 ZP I nicht nur Streitkräfte, son-dern sämtliche Objekte, die aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Standorts, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren Zerstörung, Inbesitznahme oder Neutra-lisierung unter den gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt. Die Abgrenzung zu zivilen Objekten kann besondere Schwierigkeiten bereiten, wobei im Zweifel eine Vermutung für den zivilen Charakter spricht. Problematisch ist insbesondere die Beurteilung der Frage, ob eine wirtschaftliche Einrichtung im Einzelfall wirksam zu militärischen Handlungen beiträgt. So ist jedenfalls nicht schlechthin ausgeschlossen, dass auch Objekte, die im Friedensfall eine zivile Zweckbestimmung haben, wie Industrieanlagen und Verkehrseinrichtungen, im Konfl iktfall als militärische Ziele einzustufen sind und angegriffen werden dürfen (Stefan Oeter, in: Dieter Fleck, Handbuch des humanitären Völker rechts in bewaffneten Konfl ikten (Fn. 7), §§ 443 ff.).

tionaler Ebene implementiert werden, damit sie auf das Ver-halten Privater einwirken können, beispielsweise in Form von Strafvorschriften oder Verwaltungsgesetzen. Eine Ausnahme bilden allerdings die fundamentalen Menschenrechtstatbe-stände, deren Verletzung wie im Fall von Völkermord, Verbre-chen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen durch das Völkerstrafrecht besonders sanktioniert ist und die damit unmittelbar eine individuelle Verantwortlichkeit begründen.

4. Mögliche Haftungsfolgen im Fall von Rechts-verletzungen

Begehen die Mitarbeiter einer privaten Sicherheitsfi rma im Rahmen ihres Einsatzes Verstöße gegen die Gesetze des Gast-staates oder verletzen sie humanitäres Völkerrecht und funda-mentale Menschenrechte, können sich daraus einschneidende ordnungsrechtliche, strafrechtliche und zivilrechtliche Haf-tungsfolgen ergeben, die sowohl die einzelnen Mitarbeiter als auch die dahinter stehenden Unternehmen treffen können.

4.1 Strafrechtliche Verantwortlichkeit

Während das deutsche Strafrecht bislang lediglich eine straf-rechtliche Verantwortlichkeit natürlicher Personen vorsieht, können in vielen anderen Staaten auch Unternehmen straf-rechtlich zur Rechenschaft gezogen werden.17 Sind zum Bei-spiel Industrieanlagen großräumig gegen Angriffe und Sabo-tageakte zu schützen, kann es gerade in Konfl iktregionen, in denen die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch die Be-hörden nicht mehr gewährleistet werden kann, vorkommen, dass die beauftragten Sicherheitskräfte mit massiver Bewaff-nung auch Kontrollen im öffentlichen Verkehrsraum durch-führen, gegebenenfalls sogar verdächtige Personen befragen, durchsuchen und vorläufi g festnehmen. Sofern ein solches Vorgehen nicht durch die Behörden des Gaststaates autorisiert wurde, kann darin eine strafrechtlich relevante Anmaßung hoheitlicher Exekutivbefugnisse liegen. Dabei handelt es sich um ein Verhalten, das zumindest für natürliche Personen prinzipiell in jedem Staat unter Strafe gestellt ist.

Kommt es während des Einsatzes zu schweren Verstößen18 ge-gen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte, in-dem die Sicherheitskräfte beispielsweise Zivilisten foltern oder töten, gelangt das Völkerstrafrecht zur Anwendung. Nach den Genfer Abkommen ist jeder Staat verpfl ichtet, das humani-täre Völkerrecht auch gegenüber Privaten durchzusetzen und solche Taten zu verfolgen, unabhängig davon, ob die Straftat innerhalb oder außerhalb seines Hoheitsgebiets und ob sie von einem eigenen oder fremden Staatsangehörigen begangen wurde.19 Das hierin zum Ausdruck kommende Universalitäts-prinzip trägt dem besonderen Rang der geschützten Rechts-güter Rechnung. Statt eigene Gerichte zu be fassen, kann ein

17 Albin Eser/Günter Heine/Barbara Huber (Hg.), Criminal Responsibility of Legal and Collective Entities, Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Insti-tut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i.Br. (1999).

18 Art. 50 GA I, Art. 51 GA II, Art. 130 GA III, Art. 147 GA IV, Art. 85 ZP I.19 Gem. Art. 1 GA I–IV, Art. 1 ZP I, Art. 49 GA I, Art. 50 GA II, Art. 129 GA III,

Art. 146 GA IV, Art. 85 ff. ZP I.

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Staat einen Täter auch an eine andere Vertragspartei auslie-fern, soweit eine effektive Verfolgung garantiert ist. Kriegsver-brechen fallen, ebenso wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auch in die Jurisdiktion des Internatio-nalen Strafgerichtshofs. Damit steht zusätzlich zu den indi-rekten Durchsetzungsmechanismen vor staatlichen Gerichten ein ständiges Forum zur direkten Durchsetzung des Völker-strafrechts bereit, falls ein Staat gemäß Art. 17 des Römischen Statuts nicht willens oder in der Lage ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben.

Mit Inkrafttreten des Völkerstrafgesetzbuchs im Juni 2002 wurde das deutsche Strafrecht an die Normen des Römischen Statuts angepasst. Das Gesetz gilt für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegs verbrechen auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zur Bun des repu blik aufweist. Besonders hervorzuheben ist, dass das Gesetz die Figur der Vorgesetztenverantwortlichkeit übernimmt, bei der es sich um eine originär völkerstrafrecht-liche Rechtsschöpfung handelt.20 Danach machen sich auch Personen strafbar, die in einem Unternehmen tat sächliche Führungsgewalt und Kontrolle ausüben, sofern sie einen Untergebenen nicht an der Begehung eines der genannten Verbrechen hin dern. Darüber hinaus stellt das Gesetz auch Aufsichtspfl ichtverletzungen und das Unterlassen der Mel-dung einer solchen Tat unter Strafe. Im Übrigen gelten die allgemeinen Prin zipien des Strafgesetzbuchs, wonach Hinter-männer wegen mittelbarer Täterschaft und andere Beteiligte gegebenenfalls wegen Anstiftung oder Beihilfe straf rechtlich zur Verantwortung ge zogen werden kön nen. Auf der Basis die-ser Vorschriften können damit auch völkerrechtliche Verbre-chen in Deutschland verfolgt werden, die von ausländischen Mitarbeitern privater Sicherheits fi rmen im Ausland begangen wurden, selbst wenn die Taten keinerlei Inlands bezug aufwei-sen.

4.2 Zivilrechtliche Haftung

Kommen durch den Einsatz Dritte zu Schaden, können die Geschädigten ihre Schadensersatz- oder sonstigen Ansprüche auf der Grundlage nationalen Zivil- und Prozessrechts gel-tend machen. Unterstehen die für die Rechtsgutsverletzung unmittelbar verantwortlichen Sicherheitskräfte nicht nur ih-rer eigenen Firmenleitung, sondern auch der Weisungs- und Kontrollbefugnis des Auftraggeberunternehmens, kann dieses Unternehmen nach zivilrechtlichen Zurechnungsgrundsätzen unter Umständen ebenfalls einer Haftung ausgesetzt sein.

In den Fällen, in denen Sicherheitsfi rmen im Ausland tätig sind, weisen die anspruchsbegründenden Sachverhalte Bezie-hungen zu mehreren Rechtsordnungen auf. Betroffen sind neben der Rechtsordnung des Staates, in dem die unerlaubte Handlung begangen wurde, meist auch die Rechtsordnungen der Staaten, in denen das Unternehmen seinen Sitz hat, oder deren Staatsangehörige der Geschädigte und der Schädiger sind. Welche dieser Vorschriften die Gerichte des Gaststaates

20 §§ 4, 13, 14 VStGB. Vgl. auch Art. 28 IStGH-Statut. Dazu Werle, Völkerstraf-recht (Fn. 13), S. 178 ff.

im Einzelfall anzuwenden haben, regelt das jeweils geltende nationale Kollisionsrecht, das auch als internationales Privat-recht bezeichnet wird. Danach unterliegen Ansprüche aus unerlaubter Handlung in der Regel dem Recht des Staates, in dem der Ersatzpfl ichtige gehandelt hat.21

Ein besonderer Problemkomplex betrifft die zivil rechtliche Haf-tung transnationaler Unternehmen für im Ausland begangene Völkerrechtsverletzungen. In den USA existiert mit dem Alien Tort Claims Act22 ein Gesetz, wonach amerikanische Bundes-gerichte über Klagen von Ausländern entscheiden können, die auf eine Ver let zung völkerrechtlicher Normen gestützt sind. Auf dieser Grundlage ist sogar die Gel tendmachung von Scha-denersatzansprüchen gegen ausländische Unternehmen zuläs-sig, denen eine Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen im Ausland vorgeworfen wird.23 Die Klage ist jedoch nur zu-lässig, wenn das beklagte Unternehmen generell Geschäfte in den USA führt, dort eine Tochtergesellschaft kontrolliert oder zumindest durch eine solche in den USA vertreten wird.24 Auf diese Weise können die amerikanischen Gerichte auf der Basis nationalen Rechts und unter mittelbarer Anwendung völkerrechtlicher Normen zu einem gewissen Grad Lücken in der Durchsetzung dieser Normen kompensieren, die entste-hen, wenn die am Tatort geltenden gesetzlichen Standards unzureichend sind oder die lokale Justiz nicht willens oder in der Lage ist, den geschädigten Personen Rechtsschutz zu gewähren. Weitere Voraussetzung ist, dass eine hinreichend bestimmte Völkerrechtsnorm betroffen ist. Danach besteht die Zuständigkeit der Gerichte in jedem Fall für Klagen im Zu-sammenhang mit den universellen Verbrechenstatbeständen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Darunter fallen auch Mord, Folter, Sklave-rei, Zwangsarbeit, Vertreibung, Vergewaltigung und das Ver-schwindenlassen von Personen sowie schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen.

Dem Unternehmen muss allerdings eine eigene Beteiligung nachzuweisen sein. Zunächst ist jeder Mitarbeiter für völker-rechtliche Verbrechen, die er begeht, nach dem Völkerstraf-recht unmittelbar und individuell verantwortlich. Daraus leiten die US-Gerichte in einem weiteren Schritt die völker-rechtliche Verantwortlich keit von Unternehmen ab.25 Diese Konstruktion lässt sich jedoch nicht auf die völkerrechtliche Praxis stützen. Insbesondere spiegeln die für Unternehmen entworfenen internationalen Verhaltenskodizes nicht den

21 Vgl. z.B. Art. 40 ff. des deutschen Einführungsgesetzes zum BGB.22 Title 28 United States Code, § 1350: »The district courts shall have original

jurisdiction of any civil action by an alien for a tort only, committed in violation of the law of nations or a treaty of the United States.«

23 Zur Rechtsprechung der US-Gerichte in Bezug auf transnationale Unterneh-men: Anja Seibert-Fohr/Rüdiger Wolfrum, Die einzelstaatliche Durchsetzung völkerrechtlicher Mindest standards gegenüber transnationalen Unterneh-men, in: Archiv des Völkerrechts, 43 (2005) 2, S. 153 ff.; Jens-Christian Gaedtke, Der US-ameri kanische Alien Tort Claims Act und der Fall Doe v. Unocal: Auf dem Weg zu einer Haftung transnationaler Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen?, in: Archiv des Völker rechts, 42 (2004) 2, S. 241 ff. Die Rechtsprechung zum Alien Tort Claims Act wurde zuletzt im Juni 2004 vom US Supreme Court konkretisiert (Sosa v. Alvarez-Machain et al., Case No. 03–339, 29.6.2004).

24 US Court of Appeals for the Ninth Circuit, John Doe I et al. v. Unocal Cor-poration et al. Per Curiam Opinion, Case No. 99-55576, 27.4.2001.

25 Vgl. Seibert-Fohr/Wolfrum, Die einzelstaatliche Durchsetzung völkerrecht-licher Mindest standards (Fn. 23) m.w.N., S. 166 ff.

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Stand des Völkergewohnheitsrechts wider.26 Werden dage-gen Menschenrechtsnormen unterhalb der Schwelle völker-rechtlicher Verbrechen verletzt, an die private natürliche und juristische Personen auch nach der amerikanischen Recht-sprechung nicht unmittelbar gebunden sind, soll sich eine Haftung des Unternehmens gleichwohl aus dem Zusammen-wirken mit staatlichen Organen im Sinne einer Mittäterschaft ergeben können. Dies ist der Fall, wenn das Unternehmen quasi-hoheitliche Funktionen übernimmt und dabei vom Staat unterstützt wird. Darüber hinaus soll sogar eine Beteiligung in Form der Anstiftung oder Beihilfe zu völkerrechtlichen Verbre-chen genügen, die von hoheitlicher Seite begangen werden. Davon ist zum Beispiel auszugehen, wenn ein Unternehmen staatliche Organe für die Durchführung bestimmter Aufga-ben in Anspruch nimmt, obwohl es davon Kenntnis hat oder haben musste, dass es bei der Ausführung zu schweren Men-schenrechtsverletzungen kommt.27 Betroffen sind vor allem Unternehmen, die sich bei der Sicherung von Projekten in Konfl iktregionen nicht nur privater Firmen bedienen, son-dern auch die Polizei oder das Militär des Gaststaates mit dem Schutz ihrer Anlagen beauftragen. Zahlreiche Verfahren gegen transnationale Unternehmen sind auf der Grundlage des Alien Tort Claims Act noch immer anhängig. Aktuell be schäf tigen sich amerikanische Gerichte mit diesen Problemen unter an-derem im Zusammenhang mit den Klagen irakischer Staats-angehöriger gegen zwei amerikanische Sicherheitsfi rmen we-gen der Vorfälle im Militär gefängnis Abu Ghraib.28

5. Zur Regulierung des privaten Sicherheitssektors

Da der Einsatz privater Sicherheitsfi rmen in Konfl iktregionen stets besondere Risiken birgt, die sich über repressive Mecha-nismen des Strafrechts und des zivilen Haftungsrechts allein nicht abfedern lassen, besteht ein Bedürfnis, die grenzüber-schreitende Ausübung solcher Tätigkeiten auf nationaler und internationaler Ebene präventiv zu regulieren und zu überwa-chen.29 Die primäre Verantwortung trifft diejenigen Staaten, in denen die Firmen ihre Niederlassung haben und von wo aus sie ihr Geschäft betreiben. Neben der Aufsicht über die Unternehmen und ihre Mitarbeiter kann in Einzelfällen auch eine gezielte Überwachung besonderer sicherheitsrelevanter Projekte geboten sein.

26 Kritisch Gaedke, Der US-ameri kanische Alien Tort Claims Act (Fn. 23), S. 247; Kirsten Schmalenbach, Multinationale Unternehmen und Menschenrechte, in: Archiv des Völkerrechts, 39 (2001) 1, S. 57, 63, 80. Positiver gegenü-ber einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen: Karsten Nowrot, Nun sag, wie hast du’s mit den Global Players? – Fragen an die Völ-kerrechtsgemeinschaft zur internationalen Rechtsstellung transnationaler Unternehmen, in: Die Friedens-Warte, 79 (2004) 1-2, S. 119 ff.

27 Vgl. Seibert-Fohr/Wolfrum, Die einzelstaatliche Durchsetzung völkerrecht-licher Mindest standards (Fn. 23) m.w.N., S. 168 ff.

28 Vgl. Deborah Hastings, For former prisoners who say they were abused in Iraq, the best recourse may be US civil suits, in: San Francisco Chronicle, 24.10.2004. US District Court, District of the District of Columbia, Ilham Nasir Ibrahim et al. v. Titan Corporation et al., Docket No. 1:04-CV-01248.

29 Zu den Möglichkeiten der Regulierung und Überwachung des privaten Si-cherheits- und Militärsektors vgl. das »Green Paper« der britischen Regierung (Foreign and Commonwealth Offi ce, Private Military Companies: Options for Regulation, 2002). Dazu auch Caroline Holmqvist, Private Security Companies. The Case for Regulation, SIPRI Policy Paper No. 9 (2005); Christian Schaller, Private Sicherheits- und Militärfi rmen in bewaffneten Konfl ikten – Völker-rechtliche Einsatzbedingungen und Kontrollmöglichkeiten, SWP-Studie S 24 (2005), S. 19 ff.; Chaloka Beyani/Damian Lilly, Regulating Private Military Companies: Options for the UK Government, International Alert (2001).

Ein staatliches Registrierungs- und Lizenzsystem für Anbieter grenzüberschreitender Sicher heitsdienstleistungen bildet die Grundlage für eine effektive Beaufsichtigung und dient dazu, die Zuverlässigkeit von Unternehmen zu dokumentieren. Ty-pische Regelungsrahmen sind ge werberechtliche Vorschriften. Entsprechende Lizen zen sind je nach Art und Ausmaß der mit dem Ge schäftsbetrieb verbundenen Risiken an unterschied-lich strenge Voraussetzungen geknüpft. Bei privaten Sicher-heitsfi rmen sind insbesondere an die Auswahl, Ausbildung und Zuverlässigkeit der Mitarbeiter erhöhte Anforderungen zu stellen. In einigen Staaten existieren neben solchen ge-werberechtlichen Vorschriften für Sicherheitsdienste auch Spezialgesetze zur Regulierung militärischer Dienstleistungen mit Auslandsbezug.30 Die meisten Rechtsordnungen weisen in Bezug auf diesen besonders problematischen Sektor jedoch erhebliche Lücken auf.

Unabhängig davon sollten die rechtlichen Voraussetzungen für den Export nichtmilitärischer Sicherheitsdienstleistungen in Konfl iktregionen auch auf internationaler Ebene möglichst einheitlich geregelt werden. Da kein Staat alleine in der Lage ist, das Verhalten seiner Staatsangehörigen außer halb seiner Jurisdiktion effektiv zu kontrollieren und zu beeinfl ussen, müssten zusätzlich regionale und internationale Aufsichts-mechanismen und Kooperationsforen geschaffen werden, damit sichergestellt ist, dass die natio nalen Kontrollverfahren effektiv in einander greifen und keine aufsichtsfreien Räume entstehen.31

6. Perspektiven unternehmerischer Selbstkontrolle

Ebenso wichtig ist die Sensibilisierung und Förderung des unternehmerischen Verantwortungsbewusstseins auf Seiten der Sicherheitsfi rmen und ihrer Auftraggeber. Spätestens seit den siebziger Jahren werden auf internationaler Ebene immer wieder Initiativen ins Leben gerufen, die transnational tätige Unternehmen dabei unterstützen sollen, ihre Geschäfte unter Achtung menschenrechtlicher, arbeitsrechtlicher, ökologischer und anderer professionell-ethischer Standards verantwor-tungsvoll zu führen. Prominente Beispiele sind die Richtli-nien der OECD für multinationale Unternehmen,32 diverse Erklärungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO,33 die Global-Compact-Initiative der Vereinten Nationen34 und die innerhalb der Menschenrechtskommission zusammengestell-ten Normen über die Verantwortlichkeiten transnationaler

30 Beispiele sind der amerikanische Arms Export Control Act (United States Code, Tile 22, Chapter 39, §§ 2751 ff.) und der südafrikanische Regulation of Foreign Military Assistance Act von 1998 (Republic of South Africa, Go-vernment Gazette, Vol. 395, No. 18912, 20.5.1998), der jedoch gegenwärtig bereits umfassend überarbeitet wird (Republic of South Africa, Prohibition of Mercenary Activity and Prohibition and Regulation of Certain Activities in an Area of Armed Confl ict Bill, 2005).

31 Dazu im einzelnen Schaller, Private Sicherheits- und Militärfi rmen in bewaff-neten Konfl ikten (Fn. 29), S. 25.

32 OECD, Guidelines for Multinational Enterprises: Text, Commentary and Clarifi cations (2001).

33 International Labour Organization, Tripartite Declaration of Principles Con-cerning Multinational Enterprises and Social Policy (1977/2000); Declarati-on on Fundamental Principles and Rights at Work (1998).

34 UN, The Global Compact (<http://www.unglobalcompact.org>).

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Unternehmen im Bereich der Menschenrechte.35 Schließlich befasste sich sogar der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 2004 auf Initiative Deutschlands in einer thematischen Debat-te mit der Rolle von Unternehmen in Konfl ikten.36

Die Normen, die in der Menschenrechtskommission erarbei-tet wurden, bekräftigen, dass sich die Unternehmen weder an völkerrechtlichen Verbrechen beteiligen noch aus ihnen Nutzen ziehen dürfen. Sie sehen außerdem vor, dass die von ihnen getroffenen Sicherheitsvorkehrungen mit den Men-schenrechten und dem nationalen Recht des Gastsstaates vereinbar sein müssen und dass sie jegliche Aktivitäten zu unterlassen haben, durch die Staaten oder andere Akteure bei Menschenrechtsverletzungen unterstützt oder dazu er-mutigt werden. Da der Normenkatalog noch weitergehende Verpfl ichtungen in anderen Bereichen proklamiert und strik-te Durchsetzungsmechanismen vorschlägt, ist er trotz seines rechtlich unverbindlichen Charakters äußerst umstritten. Vor allem die Interessenvertreter der Unternehmerseite und einige Staaten stehen einem derart weitreichenden Durchgriff men-schenrechtlicher Normen in den unternehmerischen Bereich kritisch gegenüber.

Gleichwohl bilden solche internationalen Initiativen eine Grundlage zur Erarbeitung fi rmen- und verbandsinterner Ver-haltenskodizes, an die sich die Unternehmen freiwillig binden können.37 Ihnen bleibt es unbenommen, völkerrechtliche Nor-men und internationale Standards, die sich unmittelbar an die Staaten richten, in den privatwirtschaftlichen Sektor zu trans-ferieren und den eigenen Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen zugrunde zu legen. In der Rüstungsindustrie existieren solche Kodizes bereits seit längerer Zeit. In den USA haben sich sogar einige der führenden privaten Sicherheitsfi rmen und verschie-dene Nichtregierungsorganisationen zu einer inter nationalen Vereinigung, der International Peace Operations Association (IPOA), zusammengeschlossen. Das gemeinsame Interesse der Mitglieder besteht darin, dass sie allesamt Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Verhütung und Beilegung bewaff-neter Konfl ikte, dem Wieder aufbau in Konfl iktregionen und der Durchführung humanitärer Ret tungsaktionen anbieten. Die Vereinigung verfolgt daher zum einen das Ziel, die inter-nationale Öffent lichkeit über die Aktivitäten und Expertise ihrer Mitglieder zu informieren und Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern zu vermitteln. Zum anderen bemüht sich die IPOA um die Einhaltung professionell-ethischer Stan-dards zur Wahrung von Frieden und menschlicher Sicherheit. Zu diesem Zweck verabschiedeten die Mitglieder 2005 einen umfassenden Verhaltenskodex, der unter ande rem die strikte Beachtung der Menschenrechte und des humanitären Völker-rechts vorschreibt, Selbst verpfl ichtungen zur Sicherung von

35 UN Commission on Human Rights, Norms on the Responsibilities of Trans-national Corporations and Other Business Enterprises with Regard to Hu-man Rights, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/2003/12/Rev.2, 26.8.2003.

36 UN Security Council, The Role of Business in Confl ict Prevention, Peacekee-ping and Post-confl ict Peace-building, UN Doc. S/PV.4943, 15.4.2004.

37 Z.B. Confederation of European Security Services (CoESS)/Union Network International (UNI) – Europe, Code of Conduct and Ethics for the Private Se-curity Sector, 18.7.2003. Einzelne Unternehmen haben auch auf der Grund-lage der von der VN-Generalversammlung ver abschiedeten Prinzipien zum Gewalteinsatz durch Vollzugsbeamte eigene Standards für ihre Mitarbeiter entwickelt. Vgl. Gilles Carbonnier, Corporate Responsibility and Humanitari-an Action: What Relations Between the Business and Humanitarian Worlds?, in: International Review of the Red Cross, 83 (2001) 844, S. 947, 954 ff.

Transparenz ent hält und konkrete Ver antwortlichkeiten in Fäl-len von Fehlverhalten schafft.38 Vor allem sieht der Kodex vor, dass die Mitglieder ausschließlich für legitime und an erkannte Regierungen, internationale Organisa tio nen, Nichtregierungs-organisationen oder legal operierende private Unternehmen tätig werden. Schließlich fi nden sich darin detaillierte Vor-gaben zur Auswahl, Ausbil dung, Kontrolle und zum Schutz von Personal sowie einige weitere Standards zum Einsatz von Waffen gewalt und zur Förderung humanitärer Zwecke.

Ein Vorteil unternehmerischer Selbstregulierung be steht darin, dass der auf den Firmen lastende Wett bewerbsdruck gezielt genutzt werden kann, um sie zur Übernahme humanitärer Verantwortung und zur Einhaltung entsprechender Standards zu moti vieren. Gleichzeitig kann ein System der freiwilligen Selbstkontrolle in Verbindung mit Maßnahmen zur Förderung der Trans parenz ähnliche Wirkung entfalten wie die Vergabe staatlicher Lizenzen. Im positiven Fall trägt es zur Reputation der beteiligten Firmen bei. Auf der anderen Seite wird es po-tentiellen Kunden dadurch erleichtert, seriöse Unternehmen für ihre Aufträge zu fi nden. Dass sich jedoch die Geschäftstä-tigkeit privater Sicher heitsfi rmen allein mit Hilfe frei williger Verhaltenskataloge nicht effektiv regulieren und steuern lässt, ist auf die mangelnde recht liche Bindungswirkung dieser In-strumente zurückzuführen. Ihre Be fol gung kann anders als die Einhaltung einer staatlichen Rechtsnorm nicht unmittelbar mit Zwang voll streckt werden. Denkbar ist allen falls, dass sich die Firmen auf vertraglicher Basis einem ver bands internen Sanktionsinstrumentarium unter werfen. Dieses müsste unter den Mitgliedern notfalls gerichtlich durchgesetzt werden. Sol-che Sank tionen erstrecken sich jedoch grundsätzlich nur auf die verbandsinternen Rechtsbeziehungen. So regelt bei spiels-weise der IPOA-Verhaltenskodex, dass Mit glieder, die gegen den Kodex ver stoßen, vom Vorstand aus der Ver einigung ausgeschlossen werden können. Dies hätte für das betroffene Unternehmen einen erheblichen Ansehensverlust und damit spürbare wirtschaftliche Nachteile zur Folge. Fraglich ist aber, wie im Ernstfall auf das Fehlverhalten marktbeherrschender und ent sprechend einflussreicher Unternehmen rea giert wer den kann. Ein nachgewiesenes kodexwidriges Verhal ten könnte allenfalls ein Indiz für die Unzuverlässigkeit des Un-ternehmens darstellen und zur Ein lei tung eines verwaltungs-rechtlichen Verfahrens führen.

Im bilateralen Bereich entwickelten die USA und Großbritannien zusammen mit Vertretern von Nicht regierungsorganisationen und Unternehmen aus dem Energie- und Rohstoffsektor frei-willige Prinzipien zur Gewährleistung von Sicherheit und Menschenrechten.39 Die 2001 veröffentlichten Grund sätze richten sich in erster Linie an transnationale Kon zerne, die Projekte in Risikoregionen durchführen und dort auf den Schutz durch staatliche oder private Sicherheitsdienste an-gewiesen sind. Von den Konzernen wird insbesondere eine sorgfältige Auswahl, In struktion und Überwachung ihrer Si-cherheitskräfte erwartet. Sie sind außerdem gehalten, Fehlver-halten zu untersuchen und darauf entschlossen zu reagieren.

38 International Peace Operations Association, Code of Conduct, 31.3.2005, <www.ipoaonline.org/code. htm>.

39 US Department of State, Voluntary Principles on Security and Human Rights, 20.2.2001.

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Inhaltlich orientieren sich die Prinzipien im Wesent lichen an denselben Standards, die innerhalb der Sicher heitsindustrie entwickelt wurden.

Bei der Sensibilisierung der Firmen und ihrer Mit arbei ter für die Normen des humanitären Völker rechts übernimmt das In-ternationale Komitee vom Roten Kreuz einen wichtigen Part. Die Organisation bemüht sich bereits seit längerer Zeit um einen kon struktiven Dialog mit Unternehmen, die in Konfl ikt-regionen tätig sind.41 Ziel dieses Dialogs ist es, das humanitäre

41 International Committee of the Red Cross (ICRC), For the Private Sector: Humanitarian Responsibilities in War-prone Areas, <www.icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/htmlall/private_sector_responsibility?OpenDocument>; Gilles Carbonnier/Marie-Servane Desjonquères, Corporate Responsibility – What Does It Mean for Humanitarian Action?, in: The Magazine of the International Red Cross and Red Crescent Movement, (2002) 3.

Verantwortungsbewusstsein dieser Akteure zu stärken und

sie bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu unterstüt-

zen.42 In jedem Fall müsste sich bei solchen Unternehmen die

Haltung durchsetzen, nur Fir men unter Vertrag zu nehmen,

die sich zur Erfül lung bestimmter rechtlicher und ethischer

Standards ver pfl ichtet haben und ausreichend transparent

agie ren.

42 ICRC, The ICRC to Expand Contacts with Private Military and Security Com-panies, 4.8.2004, <www.icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/iwpList100>.

Möglichkeiten und Grenzen eines ständigen europä-ischen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten NationenJan Scheffl er*

Abstract: For more than a decade, the reform of the United Nations’ Security Council has been on the international agenda. In this context, wouldn’t it be a good idea to give a permanent seat to the European Union in order to take into account the changing structure of international relations? Due to numerous obstacles which include the opposition of France and the United Kingdom as well as structural defi cits of the CFSP, a European seat cannot be implemented in the medium term. But there are several leverages for improving the representation of common European interests in the Security Council. In this way, a »de facto-communitarization« of EU members’ seats can be envisaged successively.

Keywords: Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), EU-Sitz, europäischer Außenminister

1. Einleitung

Der Millennium+5-Gipfel der Vereinten Nationen (VN) war für viele Betrachter eine Enttäuschung.1 Auch wenn einige Beschlüsse wie die grundsätzliche Verständigung

über die Einrichtung eines Menschenrechtsrats herbeigeführt werden konnten, haben die Mitgliedstaaten in wesentlichen Punkten der ambitionierten Reformagenda von VN-Generalse-kretär Kofi Annan keine Einigung erzielt.2 Dies gilt nicht zuletzt für die Neuordnung des Sicherheitsrats (SR), die nach heftigem Streit im Vorfeld des Gipfels bis auf weiteres verschoben ist.

Damit hat die Diskussion um die Reform des höchsten VN-Gremiums, dessen Struktur nach wie vor die Mächtekonstel-

* Doktorand an der Universität St. Gallen; M.A. in International Affairs and Governance (Universität St. Gallen), Diplômé de Sciences Po Paris, B.A. in Europäischen Studien (Universität Osnabrück).

1 Vgl. für eine kritische Bewertung die Analyse von Wagner (2005). 2 Vgl. das Abschlussdokument des Gipfels: Vereinte Nationen (2005).

lation vom Ende des Zweiten Weltkriegs widerspiegelt, aber keineswegs an Aktualität verloren. Die Zweifel an seiner Re-präsentativität und Legitimität, an seiner Effi zienz und Effek-tivität bestehen fort. Will der SR langfristig seiner in der VN-Charta defi nierten Aufgabe nachkommen, die internationale Friedensordnung zu schützen, müssen seine Zusammenset-zung und seine Arbeitsweise den weltpolitischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden.

Über die jüngsten Scharmützel zwischen den Befürwortern unterschiedlicher Erweiterungsszenarien hinaus stellt sich die Frage nach einer stärkeren Einbindung der Europäischen Uni-on (EU) in die Arbeit des SR. Wäre es nicht eine Option, im Zuge einer grundlegenden Reform einen ständigen Sitz3 an

3 Im Zusammenhang mit einer EU-Repräsentanz im SR wird stets nur von einem ständigen Sitz gesprochen. Eine nicht-ständige Mitgliedschaft wäre wohl in jeder Beziehung dysfunktional und soll daher im Weiteren keine Beachtung fi nden.

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die EU zu vergeben? Den Implikationen eines solchen inno-vativen Konzeptes ist der folgende Beitrag gewidmet. Welche Überlegungen stehen hinter diesem Projekt? Welche Chancen bietet es, welche Risiken birgt es? Und welche konkreten insti-tutionellen Arrangements sind denkbar?

Nun greift man der Analyse nicht vor, wenn man angesichts der festgefahrenen Reformdiskussion in den VN einerseits und der Krise um die Ratifi kation des EU-Verfassungsvertrages an-dererseits zumindest die kurzfristige Schaffung eines gemein-samen europäischen Sitzes im SR für unwahrscheinlich hält.4 Insofern erscheint es angemessen, auch mögliche Alternativen im Blick zu behalten, die mit den übergreifenden Zielen eines gemeinsamen europäischen Sitzes (Stärkung der EU als inter-nationaler Akteur, Verbesserung von Repräsentativität und Handlungsfähigkeit des SR) im Einklang stehen.

2. Die EU in den Sicherheitsrat: Argumente und Fürsprecher im Überblick

2.1 Die Ratio für eine permanente Mitgliedschaft der EU

Die europäische Integrationsgemeinschaft hat sich seit jeher dem System der VN verbunden gefühlt. Im aktuell gültigen Vertrag über die Europäischen Union (EUV) ist in Art. 11 Abs. 1 als ein Ziel der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-politik (GASP) »die Wahrung des Friedens und der internati-onalen Sicherheit entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen« defi niert. Die EU und die VN haben einen sehr ähnlichen Blickwinkel auf die Welt, setzen sich für dieselben Werte und Ordnungsprinzipien (u.a. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Nachhaltigkeit und Soli-darität) ein und kooperieren in zunehmendem Maße auch im operativen Bereich wie im Falle der »Artemis«-Operation im Kongo oder des »Concordia«-Einsatzes in Mazedonien.5 Da-mit ist aber nicht bereits die Frage beantwortet, warum dieser offensichtlich fruchtbaren Kooperation noch besser als unter dem gegenwärtigen Regime gedient wäre, wenn die EU über einen eigenen permanenten Sitz im SR verfügte.

Dafür lassen sich aus dem Blickwinkel beider Organisationen Argumente anführen: Aus Sicht der VN wäre es sehr nützlich, einen starken und verlässlichen Akteur, der die gleichen Ziele und Grundsätze hat, am Tisch des SR zu wissen. Als regio-naler Akteur, der nicht ausschließlich den nationalen Inte-ressen der EU-Mitgliedstaaten verpfl ichtet wäre, könnte die EU mit einer eigenen Vertretung im höchsten Gremium der VN nachdrücklich für eine verantwortungsbewusste »global governance« eintreten.

Aus Sicht der EU wäre eine ständige Mitgliedschaft im SR in-sofern gewinnbringend, als diese dort direkt für ihre Ziele,

4 Wenn hier wie im Folgenden von einem »europäischen Sitz« gesprochen wird, ist damit immer eine gemeinsame Vertretung der EU-Mitgliedstaaten im SR gemeint, nicht aber eine kollektive Repräsentanz aller europäischen Staaten.

5 Vgl. Europäische Union (2004: 6).

Grundsätze und Interessen eintreten könnte. EU-Standpunkte haben erheblich mehr Chancen, in der internationalen Po-litik gehört zu werden, wenn sie (auch institutionell) ein-heitlich vorgebracht werden. Dafür bietet eine permanente Mitgliedschaft im SR – mit einem dort die EU vertretenden Außenminister oder Hohen Vertreter für die GASP – günstige Aussichten. Auch im Sinne der Repräsentativität nach innen würde ein gemeinsamer europäischer Sitz einen Fortschritt bedeuten, weil an dessen politisch-inhaltlicher Ausgestaltung alle EU-Mitgliedstaaten beteiligt wären.

Bei diesen Perspektiven darf aber nicht übersehen werden, dass die EU kein einheitlicher Block und schon gar kein Staat ist, der als SR-Mitglied staatsähnliche Handlungsfähigkeit besäße. Über die damit zusammenhängenden Probleme wird noch zu sprechen sein. Interessant ist aber, dass sich der Rohbauzu-stand der GASP auch als Argument für einen gemeinsamen Sitz anbringen lässt. In diesem Fall würde die institutionelle Integration quasi vorausgeschickt und den Zwang schaffen, dass sich die Realität der politischen Prozesse und Entschei-dungsverfahren den Funktionserfordernissen der gemein-samen Repräsentanz im SR anpasst.

2.2 Politische Unterstützung und deren Motive

Betrachtet man nun den Kreis derer, welche die vorstehenden Argumente teilen, ergibt sich ein bemerkenswertes Bild. Er-stens handelt es sich bei den Befürwortern eines gemeinsamen EU-Sitzes nicht um ein paar versprengte Idealisten, auch wenn ihre Motive variieren; zweitens sind sie quer durch alle poli-tischen Parteien anzutreffen; und drittens werden sie immer zahlreicher. Einige Beispiele: Der ehemalige italienische Mi-nisterpräsident Giulio Andreotti hatte schon 1990 vor dem Europäischen Parlament gefordert, Frankreich und das Verei-nigte Königreich sollten auf ihre beiden Sitze zugunsten von Japan und der EG verzichten.6 Zuletzt haben sich die itali-enischen Außenminister Frattini7 und Fini8 als Befürworter eines europäischen Sitzes hervorgetan.

Auch in Deutschland spielte in den vergangenen Jahren die europäische Dimension im SR immer wieder eine Rolle. Die inzwischen abgewählte rot-grüne Bundesregierung sprach in ihrem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 1998 von einem »grund-sätzlich bevorzugte[n] europäische[n] Sitz«.9 Bekanntlich ist sie allerdings von diesem Ziel zugunsten des Werbens um eine ständige deutsche Mitgliedschaft abgerückt. Dennoch sind die Stimmen, die sich für eine EU-Repräsentanz im SR aussprechen, keineswegs verklungen, wie die Ansichten des ehemaligen CDU-Vorsitzenden Schäuble,10 des EVP-Frakti-onsvorsitzenden Pöttering11 oder des FDP-Chefs Westerwel-le12 belegen.

6 Vgl. Winkelmann (2000: 416). 7 Vgl. Frattini (2004). 8 Vgl. Fini (2004). 9 Sozialdemokratische Partei Deutschlands und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

(1998). 10 Vgl. Schäuble (2005). 11 Vgl. Bacia (2004b). 12 Vgl. Carstens (2003).

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Wenig Beachtung in der Öffentlichkeit hat ganz zu Unrecht eine Entschließung des Europäischen Parlaments auf der Grundlage des Laschet-Berichts gefunden.13 Danach soll die EU als ständiges Mitglied in den SR aufgenommen werden, sobald sie Rechtspersönlichkeit besitzt. Ihrem integrations-politischen Zeichen haben die Europaparlamentarier in ihrer Entschließung dank einer Auslassung sogar ein »Sahnehäub-chen« aufgesetzt: Der Antrag, in den Text einen Passus aufzu-nehmen, wonach Frankreich und das Vereinigte Königreich ihre ständigen Sitze in jedem Fall behalten dürften, wurde abgelehnt.14

Ganz so weit möchten die Protagonisten der europäischen Au-ßenpolitik nicht gehen. Aber auch »Mr. GASP« Javier Solana hat zumindest seine Sympathie für einen europäischen Sitz erklärt.15 Und EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner hat sich wiederholt16 für die gemeinsame EU-Vertretung im SR ausgesprochen.

Gemeinsam ist nahezu allen Forderungen nach einem EU-Sitz, dass sie keine oder nur sehr vage Aussagen zu den an-gestrebten Modalitäten einer Implementierung machen. Dies deutet darauf hin, dass sich hinter der Parteinahme für die ge-meinsame europäische Vertretung sehr unterschiedliche Mo-tive verbergen können. Während sich auf der einen Seite die föderalistisch orientierten Kräfte von dem kontinuierlichen Verweis auf das (noch) schemenhafte Ziel der gemeinsamen Vertretung eine Stärkung der GASP versprechen, kann die glei-che Forderung auf der anderen Seite eine Feigenblattfunktion erfüllen. Es ist recht gefahrlos, sich als »guter Europäer« darzu-stellen, obwohl eigentlich andere Absichten verfolgt werden, da kurzfristig mit einer Umsetzung des Projekts »gemeinsamer Sitz« ohnehin nicht zu rechnen ist. Die italienische Position unterliegt zumindest teilweise dem Verdacht, dieser Logik zu folgen.17

3. Hindernisse auf dem Weg zu einem ständigen EU-Sitz

3.1 Die EU und die alten ständigen Mitglieder Frankreich und Großbritannien

Alle anderen Schwierigkeiten bei dem Bemühen um einen ge-meinsamen EU-Sitz werden davon überlagert, dass Frankreich und Großbritannien wenig bis keine Bereitschaft zeigen, ihre Privilegien als ständige SR-Mitglieder und Vetomächte zugun-sten einer gemeinsamen europäischen Repräsentanz aufzuge-ben. Beide Länder haben ihre Sitze im SR immer als nationale Vertretung verstanden – und nicht etwa als europäische, auch nicht seit der Einführung von Konsultationsmechanismen mit dem Vertrag von Maastricht.

13 Vgl. Europäisches Parlament (2003). 14 Vgl. dazu Coûteaux (2004). In einer Entschließung zur VN-Reform vom

09.06.2005 haben die Straßburger Parlamentarier ihre Position im Wesent-lichen bestätigt, sprechen nun allerdings etwas moderater davon, »einen zusätzlichen ständigen Sitz an die Europäische Union zu vergeben«. Vgl. Europäisches Parlament (2005).

15 Vgl. Mann (1999). 16 Vgl. etwa Ferrero-Waldner (2004) und Berliner Zeitung (2005).17 Siehe dazu Abschnitt 3.3.

Wäre es daher vielleicht denkbar, einen EU-Sitz zusätzlich zu den Vertretungen Frankreichs und Großbritanniens oder wo-möglich in Ergänzung zu allen bisherigen Sitzen von EU-Mit-gliedstaaten zu schaffen? Da der EU-Sitz dazu dienen soll, dass Europa mit einer Stimme spricht, wird eine solche Konstrukti-on zu Recht als »unlogisch und in sich widersprüchlich«18 be-zeichnet. Dieser erste Eindruck verfestigt sich, wenn man die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine EU-Mitgliedschaft im SR betrachtet.

3.2 Die Mitgliedschaft der EU im Sicherheitsrat als völkerrechtliches Problem

Die zentrale völkerrechtliche Barriere für eine Mitgliedschaft der EU im SR liegt in Art. 4 Abs. 1 VN-Charta begründet: Mit-glieder der Weltorganisation können nur Staaten werden. Die EU aber kann beim besten Willen nicht als Staat gelten. Daher würde es für einen EU-Sitz im SR nicht genügen, die Bestim-mungen des Art. 23 VN-Charta bezüglich dessen Zusammen-setzung zu ändern. Da dort von »Mitgliedern der Vereinten Nationen«, aus denen der SR besteht, die Rede ist, und da Art. 4 Abs. 1 VN-Charta wie erwähnt für eine solche Mitglied-schaft die Voraussetzungen benennt (nämlich u.a. die Staats-eigenschaft), kann die EU nicht gleichsam durch die Hintertür in den SR aufgenommen werden.

Selbstverständlich könnte man die VN-Charta dahin gehend ändern, dass die Mitgliedschaft nicht mehr nur Staaten offen stünde. Allerdings ist zu bezweifeln, dass dafür die Formierung der notwendigen Mehrheit gemäß des Vertragsänderungs-verfahrens nach Art. 108 VN-Charta inklusive Vetorecht der ständigen Mitglieder gelänge. Auch die konkrete Umformu-lierung der Charta würde sich sehr problematisch gestalten: Entweder man würde durch eine explizite »lex EU« eine unge-rechtfertigte Sonderbehandlung festschreiben oder aber durch einen allgemeinen Bezug zu regionalen Organisationen die unlösbare Frage aufwerfen, welche der unzähligen regionalen Organisationen noch Mitglied der VN oder gar des SR wer-den könnten.19 Zudem müssten der Leitsatz der souveränen Gleichheit aller Mitglieder (Art. 2 Ziff. 1 VN-Charta) und das Problem der Mitgliedschaft von Staaten und bzw. oder regio-nalen Organisationen in der Generalversammlung dann über-dacht werden.

Die Vollmitgliedschaft internationaler Organisationen in an-deren internationalen Organisationen ist im Völkerrecht zwar kein unbekannter Fall. Die wenigen vorliegenden Fälle – wie die Mitgliedschaft der EG in der WTO und in der FAO – eignen sich allerdings nur sehr begrenzt als Vorbild für die VN und den SR. In der FAO ist die EG seit einer Charta-Änderung im Jahr 1991 Vollmitglied. Die Staaten der EG sind neben der Gemeinschaft aber weiterhin als eigenständige Mitglieder in der Welternährungsorganisation vertreten. Dieses schwierige Nebeneinander wird institutionell durch die Formel der alter-nativen Ausübung der Mitgliedschaftsrechte je nach Politik-feld und Zuständigkeitsbereich geregelt.

18 Bacia (2004a). 19 Vgl. Govaere, Capiau & Vermeersch (2004: 177).

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Wendet man dieses Modell auf den VN-SR an, so ergeben sich diverse Schwierigkeiten. Die erste betrifft die Kompetenzfrage: Exklusive Zuständigkeiten der EU bestehen im Bereich der Au-ßen- und Sicherheitspolitik bisher nicht. Zweitens hat die EU im Gegensatz zur EG (noch) keine explizite eigene Rechtsper-sönlichkeit. Drittens ist es nur schwer vorstellbar, wie der SR als hoch politisches und hoch sensibles Organ seine Funktionsfä-higkeit aufrechterhalten könnte, wenn es zu einer alternativen Ausübung der Mitgliedschaftsrechte kommen sollte. Insofern erscheint die radikalere Lösung eines originären EU-Sitzes im SR – die EU-Mitgliedstaaten müssten also auf eine eigene nati-onale Repräsentanz verzichten – als weniger heikel. Im Bereich der internationalen Fischereiorganisationen gibt es Beispiele für eine solche Lösung.20 Der entscheidende Unterschied zur Außen- und Sicherheitspolitik und damit zum VN-SR bleibt aber, dass die EG mit der Gemeinsamen Fischereipolitik über eine exklusive Zuständigkeit verfügt, während die GASP in der EU im intergouvernementalen Rahmen verortet ist.

3.3 Der Streit um Deutschlands Wunsch nach einer ständigen Mitgliedschaft

Vor dem Hintergrund der Debatte um eine gemeinsame EU-Vertretung im SR ist das Streben Deutschlands nach einem ei-genen ständigen Sitz besonders interessant: Ebnet ein solcher den Weg für eine genuin europäische Komponente im SR, oder bedeutet er den Rückfall in überholte nationalstaatliche Muster der Außenpolitik?

Die beiden Vetomächte Frankreich und Großbritannien haben nach anfänglichem Widerstand den deutschen Wunsch nach einem ständigen Sitz unterstützt.21 Dies geht aber mitnichten mit einem begeisterten Eintreten für eine Vergemeinschaftung der europäischen SR-Sitze einher. Zumindest unterschwellig dürfte in der französischen und britischen Position die Hoff-nung mitschwingen, dass ein ständiger deutscher Sitz die in ihren Augen lästige Diskussion um die gemeinsame europä-ische Vertretung endgültig verstummen ließe.

Ist – europäisch gedacht – ein ständiger deutscher Sitz schon aus diesem Grund abzulehnen? Nicht unbedingt. Für die langfristige Perspektive einer europäischen Vertretung wäre es nicht nachteilig, wenn der SR bereits jetzt eine grundsätz-liche Reformfähigkeit bewiese. Deutschland könnte in diesem Fall als ständiges SR-Mitglied durch eine nachhaltig integrativ ausgeprägte Außen- und Sicherheitspolitik einen wichtigen Beitrag zu einer stärkeren Europäisierung der VN-Politik der EU-Mitgliedstaaten leisten.

Das ist nicht widersprüchlich, wie einige Autoren meinen,22 die in der Regel die Möglichkeiten einer dynamischen Evolu-tion verkennen; es ist aber auch kein Automatismus, der ganz von allein auf das europäische »Gute« zusteuert. Das fragile europäische (und internationale) Gleichgewicht scheint die Bundesregierung unter Gerhard Schröder bei ihrem aktiven, mitunter forschen Werben um einen deutschen Sitz allerdings

20 Vgl. ausführlich Frid (1995: 319ff). 21 Vgl. Andreae (2002: 200ff).22 Vgl. etwa Stelzenmüller (2004) und Zumach (2005).

nicht immer im Blick gehabt zu haben. So hat der Streit mit Italien, das sich vehement gegen eine Erweiterung des SR um neue ständige Mitglieder wehrt, dem koordinierten Auftreten der EU zweifellos geschadet. Während Berlin die Partner also nicht genügend eingebunden hat, muss sich Rom seinerseits vorhalten lassen, eine prinzipielle Blockadehaltung einge-nommen zu haben, die das erklärte Ziel mehrerer italienischer Regierungen seit den 1990er Jahren – nämlich die Schaffung eines EU-Sitzes – gerade nicht fördert.23

Ob dieser Antagonismus in der italienischen Politik auf eine inkonsistente Strategie zurückzuführen ist oder doch auf die rhetorische Instrumentalisierung des EU-Sitzes als »Fei-genblatt«, um eine national motivierte Gangart gegen die deutschen Ambitionen zu verbrämen, ist schwer zu sagen. In jedem Fall kann als Ergebnis festgehalten werden, dass die Option eines ständigen deutschen Sitzes zwar zu einer Stär-kung der europäischen Dimension im SR führen kann, aber nur dann, wenn sich alle beteiligten Akteure auf die Tugenden der Einbindung und der Konzertation besinnen.

3.4 Strukturelle Defi zite der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik

Die bisher genannten Probleme hängen alle zumindest indi-rekt mit der Struktur der GASP zusammen. Da sie intergou-vernemental ausgelegt ist und nach dem Prinzip der Einstim-migkeit funktioniert, bietet sie praktisch keinen Hebel für eine gemeinsame Außenvertretung, falls sich die Regierungen der Mitgliedstaaten nicht einigen können oder wollen. Selbst wenn eine einheitliche Position vorliegt, beeinträchtigt der fehlende institutionelle Überbau die Effektivität der GASP.

Für die Artikulation europäischer Interessen im SR fi ndet sich in Art. 19 Abs. 2 EUV eine komplizierte Regelung. Dort heißt es zunächst, dass sich die EU-Mitgliedstaaten, die auch im SR vertreten sind, untereinander abstimmen werden und die üb-rigen Mitgliedstaaten in vollem Umfang unterrichten. Dem Wortlaut ist also zu entnehmen, dass die gegenseitige Abstim-mung nicht unter allen EU-Mitgliedstaaten erfolgen muss, sondern nur unter denjenigen, die auch dem SR angehören. Zudem genießen Frankreich und Großbritannien eine Son-derrolle: Als EU-Mitgliedstaaten, die ständige Mitglieder des SR sind, haben sie sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben für die Standpunkte und Interessen der Union einzusetzen, aller-dings »unbeschadet ihrer Verantwortlichkeiten aufgrund der Charta der Vereinten Nationen«. Diese »Unbeschadet-Klausel« des Art. 19 Abs. 2 EUV eröffnet Frankreich und Großbritan-nien eine erhebliche Bewegungsfreiheit, die ihnen durchaus gelegen kommt.24

Die dem SR angehörenden europäischen Staaten nehmen ihre Aufgabe in dem Gremium also grundsätzlich individuell wahr; sie handeln nicht als EU.25 Zwar fi nden bisweilen abgestimmte EU-Positionen explizit Eingang in die Diskussionen im SR. Sie

23 Zusammenfassend zu den Motiven des italienischen Handelns sowie zur Entwicklung der italienischen Position vgl. Andreae (2002: 250ff).

24 Vgl. Regelsberger & Kugelmann (2003: Art. 19, Rn 2).25 Vgl. Kaufmann-Bühler (2003: Art. 11, Rn 26).

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werden von der Ratspräsidentschaft in offenen SR-Sitzungen präsentiert oder – in seltenen Fällen – auch von »Mr. GASP« Javier Solana, wenn er vom SR dazu eingeladen wird. Das än-dert aber nichts daran, dass der momentane Zustand der GASP einem ständigen EU-Sitz entgegensteht. Das Fehlen einer su-pranationalen Entscheidungsstruktur verhindert, dass eine solche europäische Vertretung effektiv funktionieren würde. Unter dem Einstimmigkeitsprinzip wäre die EU bei divergie-renden Interessen ihrer Mitglieder mangels eindeutiger Wei-sungen folglich gezwungen, sich im SR zu enthalten. Damit wäre Europa handlungsunfähig und könnte seine Verantwor-tung auf der Weltbühne nicht wirkungsvoll wahrnehmen.26

All dies soll aber nicht nahe legen, dass eine stärkere Akzen-tuierung der europäischen Komponente im SR unmöglich ist. Vielversprechender als institutionell mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, scheint es dabei allerdings zu sein, die beste-henden GASP-Instrumente besser auszunutzen und behutsam weiterzuentwickeln.

4. Jenseits eines ständigen Sitzes: Ansatzpunkte für eine wirksame Vertretung gemeinsamer europäischer Interessen

4.1 Effektive Nutzung der GASP-Instrumente

Die Europäische Sicherheitsstrategie, die im Dezember 2003 von der EU verabschiedet wurde, enthält eine grundlegende Feststellung: »Entscheidend (...) ist, dass wir stärker sind, wenn wir gemeinsam handeln.«27 Wie lässt sich diese Einsicht für ein integrativeres europäisches Auftreten im SR nutzen? Der Schlüssel zu einer besseren Aufgabenerfüllung liegt vor allem in der Korrektur gewisser eingefahrener Verhaltensmuster. Dies betrifft in erster Linie die Unterrichtungskultur zwischen europäischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern des SR. Das Ziel sollte es sein, eine wirkliche Koordinierung zu gewährlei-sten, bei der die EU-Mitglieder im SR von ihren europäischen Partnern eindeutige Informationen über die gemeinsame Po-sition zu sicherheitspolitisch relevanten Fragen bekommen und diese dann auch entsprechend einbringen. Unterstützend könnte in diesem Kontext ein stärkerer Einbezug der betref-fenden Ratsarbeitsgruppe in Brüssel (CONUN) oder auch des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) wir-ken.28 Zu bedenken wäre ferner die Inkorporierung von Ver-tretern der nicht dem SR angehörenden EU-Mitgliedstaaten und von Repräsentanten der Gemeinschaftsinstitutionen in die Delegationen von europäischen SR-Mitgliedern.29

Diese Vorschläge bringen keine spektakulären Neuerungen, sondern beschreiben vielmehr einen »langen mühsamen Marsch durch die Ebene«,30 der auf eine schrittweise faktische »Vergemeinschaftung« der von den EU-Staaten eingenom-

26 Vgl. Winkelmann (2000: 436).27 Vgl. Europäische Union (2003: 14). 28 Vgl. Sucharipa (2003: 790), Europäische Kommission (2003: 17f). 29 Skeptisch dazu: Kaufmann-Bühler (2003: Art. 19, Rn 12). 30 Sucharipa (2003: 794).

menen Sitze im SR abstellt. Dafür bedarf es zunächst gar kei-ner Änderung des EUV, sondern lediglich einer gemeinschafts-freundlicheren, offensiveren Auslegung des Art. 19 Abs. 2.

Mit Blick auf die EU-internen Entscheidungsverfahren wäre es bereits ein Fortschritt, wenn die im Vertrag vorgesehenen Möglichkeiten zu Mehrheitsentscheidungen und vor allem zur konstruktiven Enthaltung tatsächlich genutzt würden. Denkbar – und institutionell mutiger – wäre es natürlich, Ent-scheidungen per qualifi zierter Mehrheit auch im GASP-Rah-men als Grundregel einzuführen und gegebenenfalls gewisse Ausnahmen zuzulassen. Die Erfahrungen mit dem Regime der Mehrheitsentscheidungen in der EG-Säule haben gezeigt, dass allein die Möglichkeit einer veritablen Abstimmung eine er-folgreiche Konsenssuche fördert, ohne dass es dann letztlich zum Votum kommt.31

4.2 Perspektiven im Verfassungsvertrag

Angesichts der aufgeworfenen Probleme ist zu fragen, ob der Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) Neuerungen bereithält, welche jenen abhelfen könnten. Selbst wenn der VVE nicht wie ursprünglich geplant in Kraft tritt, besitzen die dort festgeschriebenen Regelungen zur GASP Chancen, später in der einen oder anderen Form doch noch umgesetzt zu wer-den, weil der Streit um die Ratifi kation diese Bestimmungen kaum betrifft.

Im VVE ist das auswärtige Handeln der Union erstmals in ei-nem einheitlichen Titel zusammengefasst worden; die Säu-lenstruktur existiert nicht mehr. Die grundlegende intergou-vernementale Logik der GASP und damit die Dominanz der Mitgliedstaaten bleiben aber bestehen. Des Weiteren sucht man eine eindeutige Regelung zum Beitritt der EU zu inter-nationalen Organisationen und erst recht einen Verweis auf einen anzustrebenden Sicherheitsratssitz vergeblich.32 Insge-samt ist aber trotz restriktiver Beschlussfassungsmodi eine ge-wisse Verbesserung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Union zu erwarten33 – unter anderem aufgrund der Ver-leihung einer eigenen Rechtspersönlichkeit an die EU sowie der Einführung eines hauptamtlichen Präsidenten des Euro-päischen Rates, eines Europäischen Auswärtigen Dienstes und eines Außenministers der Union.

Bezüglich der Neufassung des Art. 19 Abs. 2 EUV hat man die umstrittene »Unbeschadet-Klausel« zwar übernommen, den Bezug zu den ständigen Mitgliedern aber gestrichen. Da-mit entfällt für das Vereinigte Königreich und Frankreich die derzeit noch festgeschriebene Exklusivität des »Unbeschadet-Vorrechts«. Es gilt nun genauso für die anderen EU-Mitglied-staaten mit Sitz im SR und ist nicht als Privileg, sondern aus-schließlich als gemeinschaftsrechtliche Bezugnahme auf die VN-Charta zu werten.

Diese nur vorsichtigen Weiterentwicklungen bieten noch kei-ne Gewähr für eine stärker europäisch ausgelegte Aufgaben-wahrnehmung der im SR vertretenen EU-Mitgliedstaaten. Im

31 Vgl. Jopp, Reckmann & Regelsberger (2002: 232).32 Vgl. Govaere et al. (2004: 186). 33 Vgl. Jopp & Regelsberger (2003: 562).

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Kontext einer fortschreitenden Vergemeinschaftung bedeuten sie aber ein leichtes Plus, weil sie eine zunehmende Bewusst-seinsbildung für das Erfordernis einer starken und handlungs-fähigen Außenvertretung erkennen lassen.

4.3 Aufwertung des europäischen Außenmini-sters bzw. des Hohen Vertreters

Der Wille der EU, nach außen mit einer Stimme zu sprechen, fi ndet im VVE besonders in der Schaffung des Amtes eines europäischen Außenministers Ausdruck. In einer »Doppel-hut«-Lösung zugleich Beauftragter des Rates für die GASP und Vizepräsident der Europäischen Kommission, wird der Außenminister u.a. für die Leitung der GASP sowie für die Organisation der Koordinierung mitgliedstaatlichen Handelns in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen zuständig sein. Dem Außenminister sind zwar im Prinzip die Hände gebunden, wenn die Mitgliedstaaten nicht zu einem Konsens kommen, und er könnte in seiner Mehrfachfunktion auch in einen Loyalitätskonfl ikt geraten. Er verfügt aber über weit reichende Möglichkeiten, selbst in den Politikformulierungs- und Entscheidungsprozess einzu-greifen.34

Mit konkretem Bezug auf den SR verfügt der VVE, dass, wenn die Union einen Standpunkt zu einem im SR zu behandeln-den Thema festgelegt hat, der Außenminister diesen vertre-ten soll. Selbstverständlich greift diese Formel nur, falls ein gemeinsamer Standpunkt überhaupt existiert. Im Grundsatz aber wäre die Systematisierung der Präsentation von EU-Posi-tionen der Visibilität der GASP in jedem Fall zuträglich.

Eine solche Reform wäre auch dann anzustreben, wenn der VVE vorläufi g nicht in Kraft träte. Unterhalb der förmlichen Vertragsänderung haben die EU-Mitgliedstaaten die Möglich-keit, häufi ger und klarer als bisher den Hohen Vertreter für die GASP als Sprachrohr und Verhandlungspartner im SR zu man-datieren. Zweifelsohne sind die Kompetenzen des Hohen Ver-treters gegenwärtig wesentlich beschränkter, als es diejenigen eines zukünftigen Außenministers wären. Doch der bisherige Amtsinhaber Javier Solana hat bewiesen, dass es möglich ist, der Rolle des Hohen Vertreters auch mit begrenzten institu-tionellen Voraussetzungen eine eigene Kontur zu geben. Mit der Unterzeichnung des VVE haben die EU-Mitgliedstaaten deutlich gemacht, dass sie prinzipiell ein stärker gemeinschaft-lich ausgerichtetes Handeln der EU im SR wünschen. Darauf könnte der Hohe Vertreter für die GASP aufbauen, selbst wenn er vorläufi g weiter unter den Bedingungen des Vertrages von Nizza agieren muss.

5. Schlussbetrachtung

Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Schaffung einer ge-meinsamen europäischen Vertretung im SR auf mittlere Sicht nicht realisierbar ist. Weder auf der internationalen noch auf der europäischen Ebene sind die Hindernisse, die einem

34 Vgl. im Detail Jopp & Regelsberger (2003: 558).

ständigen EU-Sitz entgegenstehen, mit einfachen Mitteln zu überwinden. Gewiss bedeuten die gescheiterten Verfassungs-referenden in Frankreich und den Niederlanden ebenfalls ei-nen Rückschlag für eine schnelle Modernisierung der GASP. Auf diese Entwicklung kann Resignation aber keine politisch sinnvolle Reaktion sein. Die EU wird als internationaler Ak-teur im sicherheitspolitischen Bereich benötigt, und es gibt zahlreiche Möglichkeiten, mit denen sie auch im SR ihr Profi l schärfen kann. Der effektive Gebrauch der Instrumente, wel-che die GASP anbietet, würde diesbezüglich wertvolle Dienste leisten.

Wenn die EU und namentlich ihre Mitgliedstaaten die darge-legten Potenziale mittelfristig ausschöpfen, werden sie dadurch auf dem Weg zu einer substanziellen Vergemeinschaftung ih-rer sicherheitsratsrelevanten Politiken weit vorangeschritten sein. Möglicherweise stellt sich die Frage nach einer Formali-sierung durch eine kollektive Vertretung im höchsten Gremi-um der VN dann neu.

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Abu Ghraib und der Schlesinger-ReportDer Beitrag von Untersuchungskommissionen zur Transformation des Rechts- und Menschenrechtsbewusstseins nach 9/11

Mandana Biegi*

Abstract: Fact-fi nding committees like the Schlesinger Commission are there to fi nd out about individual and collective re-sponsibilities for criminal or political acts. They may be instrumental in enlightening about societal collective myths, thus building faith and norm conciousness. Does the Schlesinger Report fulfi ll these premises? The paper highlights key fi ndings and recommendations of the Report. Though the Schlesinger Report is shown to be informative in some aspects, it is a central point of this article that the Commission missed the chance to weigh the Abu Ghraib abuse cases in the light of the Guantánamo precedent where the proliferation of abusive treatment was started. The suspension of ethical and legal standards in the name of necessities of the war on terror might turn out to transform at least in parts the military and thus a society’s sense of justice, since it is assumed that the results of fact-fi nding committees enter human rights awareness with relative ease.

Keywords: Menschenrechte, Humanitäres Völkerrecht, USA, Untersuchungskommissionen

F o r u m

1. Einführung

Der Untersuchungsbericht der Schlesinger-Kommission wurde im August 2004 veröffentlicht.1 Benannt ist der Bericht nach dem Vorsitzenden der Kommission, die Se-

cretary of Defense Donald Rumsfeld eingesetzt hatte, um die Folter-vorwürfe gegen amerikanisches Wach- und Verhörpersonalim Gefängnis Abu Ghraib im Irak zu überprüfen. Dieservor-läufi g letzte Untersuchungsbericht basiert auf den Ergebnissen von elf bereits vorliegenden militärinternen Berichten2,

* Dr. Mandana Biegi ist Lise Meitner-Stipendiatin des Ministeriums für Inno-vation, Wissenschaft, Forschung und Technik NRW. Sie forscht und lehrt am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den die Verfasserin auf dem Workshop der Ad-hoc-Gruppe Menschenrechte der DVPW »Menschenrechtspolitik und Men-schenrechtskultur im Wandel« vom 8. bis 9. Juli 2005 an der Universität Magdeburg gehalten hat.

1 Der vollständige Name des Untersuchungsberichts lautet: Final Report of the Independent Panel to Review DoD Detention Operations, August 2004, un-ter www.defenselink.mil/news/Aug2004/d20040824fi nalreport.pdf (im Folg. zit. als Schlesinger Report 2004). Alle im Text aufgeführten Angaben sind dem Bericht entnommen, sofern keine andere Quelle angegeben ist. Der Untersuchungsbericht liegt ebenfalls in Buchform vor, ergänzt durch einen einleitenden Aufsatz und Fotos von Misshandlungen. Vgl. Steven Strasser (ed.) 2004: The Abu Ghraib Investigations. The Offi cial Reports of the Inde-pendent Panel and Pentagon to the Shocking Prisoner Abuse in Iraq, New York: Public Affairs.

2 Dabei handelt es sich um folgende Untersuchungsberichte: Joint Staff Exter-nal Review of Intelligence Operations at Guantanamo Bay, Cuba, September 28, 2002 (Custer Report); Joint Task Force Guantanamo assistance visit to Iraq to assess intelligence operations, September 5, 2003 (Miller Report); Army Provost Marshal General assessment of detention and corrections op-erations in Iraq, November 6, 2003 (Ryder Report); Administrative investiga-tion under Army Regulation 15-6 (AR 15-6) regarding Abu Ghraib, June 8, 2004 (Tabuga Report); Army Inspector General assessment of doctrine and training for detention operations, July 23, 2004 (Mikolashek Report); The Fay investigation of activities of military personnel at Abu Ghraib and related LTG Jones investigation under the direction of GEN Kern, August 16, 2004; Naval Inspector General’s review of detention procedures at Guantanamo Bay, Cuba, and the Naval Consolidated Brig, Charleston, South Carolina; Naval Inspectors General’s review of DoD worldwide interrogation opera-tions, due for release on September 9, 2004; Special Inspection of Detainee Operations and Facilities in the Combined Forces Command-Afghanistan AOR (CFC-A), June 26, 2004 (Jacoby Report); Administrative Investigation of Alleged Detainee Abuse by the Combined Joint Special Operations Task Force − Arabian Peninsula, due for release in August 2004. Assessment not yet completed and not reviewed by the Independent Panel (Formica Report); Army Reserve Command Inspector General Assessment of Military Intelli-gence and Military Police Training, due for release in December 2004. Einige der genannten Berichte fi nden sich in der umfassenden Dokumentation: Karen J. Greenberg/Joshua L. Dratel (eds.) 2005: The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, Cambridge: Cambridge University Press.

Interviews3, den Urteilen abgeschlossener Strafverfahren, Un-terlagen aus den Departments und einem Meinungsaustausch mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).

Welchem Zweck diente die Kommission? James Schlesinger und seine drei Mitstreiter sollten dazu beitragen, Licht in das Dunkel der Misshandlungsvorwürfe von Abu Ghraib zu brin-gen. Dabei stand nicht die Frage im Vordergrund, ob Folter und Misshandlungen im jeweiligen Einzelfall erfolgt sind, denn diese Frage ist von amerikanischen Gerichten bereits mehrfach eindeutig bejaht worden. Vielmehr sollte geklärt werden, inwieweit die chain of command, die Befehlskette, nach oben reichte. Aus der Perspektive der Öffentlichkeit ging es implizit auch um die Frage, welche Rolle Donald Rumsfeld und der frühere Rechtsberater des Präsidenten und jetzige At-torney General Alberto Gonzalez in diesem Kapitel amerikani-scher Militärgeschichte gespielt haben. Um das Ergebnis gleich vorweg zu nehmen: Der Schlesinger-Report gibt darauf keine Antworten. Eine mögliche Involvierung des hochrangigen politischen Personals wird nicht weiter aufgeklärt: »There is no evidence of a policy of abuse promulgated by senior of-fi cials or military authorities.«4 Die Kommission weist aber nachdrücklich darauf hin, dass der Zugang zu Quellen des

3 Folgende Personen wurden persönlich oder per Videokonferenz befragt: MG Keith Dayton, Director, Iraq Survey Group (ISG), Baghdad, Iraq; MG Geoffrey Miller, Director, Detainee Operations, CJTF-7, Baghdad, Iraq; Do-nald Rumsfeld, Secretary of Defense; Steve Cambone, Under Secretary of Defense for Intelligence; MG Walter Wojdakowski, Deputy Commanding General, V Corps, USAREUR and 7th Army; MG Donald Ryder, Provost Mar-shal, U.S. Army / Commanding General, U.S. Army Criminal Investigation Command, Washington, D.C.; COL Thomas Pappas, Commander, 205th Military Intelligence Brigade, V Corps, USAREUR and 7th Army; LTG Da-vid McKiernan, Commanding General, Third U.S. Army, U.S. Army Forces Central Command, Coalition Forces Land Component Command; MG Bar-bary Fast, CJTF-7 C-2, Director for Intelligence, Baghdad, Iraq; LTG Ricardo Sanchez, Commanding General, CJTF-7, Commanding General, V Corps, USAREUR and 7th Army in Iraq; Daniel Dell’ Orto, Principal Deputy General Counsel, DoD; LTG Keith Alexander, G-2, U.S. Army, Washington, D.C.; LTG William Boykin, Deputy Undersecretary of Defense for Intelligence, Intel-ligence and Warfi ghting Support, Offi ce of the Under Secretary of Defense for Intelligence; Douglas Feith, Under Secretary of Defense for Policy; COL Marc Warren, Senior Legal Advisor to LTG Sanchez, Iraq; BG Janis Karpin-ski, Commander (TPU), 800th Military Police Brigade, Uniondale, NY; Paul Wolfowitz, Deputy Secretary of Defense; William Haynes, General Counsel DoD; John Rizzo, CIA Senior Deputy General Counsel; GEN John Abizaid, Commander, U.S. Central Command; MG George Fay, Deputy to the Army G2, Washington, D.C.; VADM Albert Church III, Naval Inspector General.

4 Schlesinger Report 2004: 5.

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CIA nicht gewährleistet war, weswegen die Ergebnisse des Un-tersuchungsberichts der Kommission selbst unter Vorbehalt gestellt werden: »If additional information becomes available, the Panel´s judgments might be revised.«5

Es stellt sich die Frage, warum die Misshandlungsvorwürfe ge-gen amerikanisches Personal im Gefängnis Abu Ghraib nicht unabhängig von der Praxis der Inhaftierungen in Guantána-mo Bay betrachtet werden können. Der parallele Blick auf Gu-antánamo ist deswegen notwendig, weil Guantánamo gleich-sam eine Folie darstellt, unter der die Vorkommnisse im Irak betrachtet werden müssen. In Guantánamo wurden die ersten Inhaftierten im amerikanischen War on Terror festgehalten, und die amerikanische Politik im Umgang mit allen weiteren Inhaftierten orientierte sich auch in ihren abweichenden Praktiken und policies an diesem Präzedenzfall.

Der Tatbestand der Folter im Irak ist unstrittig; der Umfang der Folterpraxis lässt sich, wenngleich womöglich nur unzu-reichend, in Strafverfahren klären. Bis August 2004 gab es 66 gerichtlich bestätigte Misshandlungsfälle, bis Dezember 2005 ist eine Reihe von Verurteilungen hinzugekommen. Politisch bedeutsamer ist, und das wird auch für die Zukunft gelten, die Frage nach der Verantwortlichkeit an höherer, also politischer Stelle. Diese Aufklärungsfunktion können Strafverfahren sehr oft nicht leisten, weil sie in der Regel mikroskopisch die indi-viduelle Schuld Einzelner festzustellen haben. In den meisten demokratischen Rechtsstaaten wird dieses Aufklärungsvaku-um von Untersuchungskommissionen gefüllt, die mit ihrem jeweiligen, durchaus heterogenen Mandat Fragen von poli-tischer Verantwortung meist jenseits strafrechtlich relevanter Schuld klären sollen. Die Kommission unter dem Vorsitz von James Schlesinger hatte die Aufgabe, diese Verantwortungs-frage für die Misshandlungen im Gefängnis Abu Ghraib zu beantworten.

2. Die Kommission

Zum Vorsitzenden der Kommission berief Donald Rumsfeld seinen Amtsvorgänger unter den Präsidenten Nixon und Ford, James Schlesinger, der außerdem kurzzeitig als Direktor des amerikanischen Geheimdienstes CIA gewirkt hatte. Weitere Mitglieder der Kommission waren Harold Brown, ebenfalls ehemaliger Secretary of Defense unter Präsident Carter, die ehemalige Abgeordnete des Repräsentantenhauses Tillie Fow-ler aus Florida und der pensionierte Air Force-General Charles Horner. Unterstützt wurde die Kommission von 29 weiteren Mitarbeitern, die im Anhang des Untersuchungsberichts na-mentlich aufgeführt werden.

3. Der Untersuchungsbericht

Im Zuge des amerikanischen War on Terror wurden seit Ende 2001 etwa 660 Personen vorwiegend in Afghanistan, aber eini-ge wenige auch in anderen Staaten von amerikanischen Streit-kräften inhaftiert und werden seit Januar 2002 in den meisten

5 Schlesinger Report 2004: 25.

Fällen ohne Anklageerhebung oder richterliche Anhörung auf dem amerikanischen Militärstützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba festgehalten. Im Irak sind bislang einige tausend Perso-nen inhaftiert worden. Problematisch ist, dass die amerika-nischen Verantwortlichen in Regierung und Militär für diese Inhaftierten einen rechtlichen Sonderstatus geschaffen haben, den es bislang im Völkerrecht nicht gibt: »I [Präsident Bush, Anm. d. Verf.] determine that the Taliban detainees are un-lawful combatants and, therefore, do not qualify as prisoners of war under Article 4 of Geneva. I note that, because Geneva does not apply to our confl ict with al Qaeda, al Qaeda de-tainees also do not qualify as prisoners of war.«6 Die interne Debatte über die juristische Behandlung der Inhaftierten hatte in den zuständigen amerikanischen Institutionen recht spät eingesetzt. Erst seit Anfang 2002 wurde darüber beraten, ob und inwieweit internationales Vertragsrecht und amerikani-sches Recht auf die festgenommenen mutmaßlichen Al-Qai-da- und Taliban-Terroristen anzuwenden seien. In der Folge gab es einen zuweilen konfus wirkenden Austausch zwischen dem Präsidenten, seinem Rechtsberater, den Vertretern der Departments of Justice und Defense und den juristischen Bera-tern des Nationalen Sicherheitsrats. In einem Memorandum vom 7. Februar 2002 autorisierte Präsident Bush die Nicht-Anwendung der Genfer Konventionen auf Gefangene, die der Al Qaida zugerechnet werden. Er verfügte außerdem, dass für den Konfl ikt mit den Taliban die Genfer Konventionen zwar Anwendung fänden, sprach aber gleichzeitig den Gefangenen aus den Reihen der Taliban den Status als Kriegsgefangene ab.7 Ergänzend merkt George W. Bush in seinem Memorandum an: »Of course, our values as a Nation, values that we share with many nations in the world, call for us to treat detain-ees humanely, including those who are not legally entitled to such treatment. Our Nation has been and will continue to be a strong supporter of Geneva and its principles. As a matter of policy, the United States Armed Forces shall continue to treat detainees humanely and, to the extent appropriate and con-sistent with military necessity, in a manner consistent with the priciples of Geneva.«8

Inwieweit die Rechtsauffassung des Präsidenten, wie sie in diesem Memorandum geäußert wird, mit internationalem und amerikanischem Recht vereinbar ist, soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Völkerrechtler werden noch lan-ge über die Frage der Legalität des amerikanischen Handelns streiten, aber diesen Fragestellungen soll hier nicht nachge-gangen werden. Vielmehr wird hier der Blick auf die zentra-le Frage gelenkt, die der Schlesinger Report stellt, nämlich, wie es dazu kommen konnte, dass die amerikanische Praxis der Gefangenenbehandlung über Einzelfälle hinaus offenbar wenig vereinbar gewesen ist mit Sinn und Inhalt der Genfer Konventionen und der Konvention gegen Folter und andere grau-same, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (im folgenden Konvention gegen Folter), deren Vertragsstaat die USA ebenfalls sind.

6 White House Memorandum February 7, 2002. 7 Vgl. dazu die Analyse von George H. Aldrich 2002: The Taliban, al Qaeda,

and the Determination of Illegal Combatants, in: Humanitäres Völkerrecht 15.4, 202-206 (im folg. zit. als Aldrich 2002).

8 White House Memorandum February 7, 2002.

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Biegi, Abu Ghraib und der Schlesinger-Report | F O R U M

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Am 1. August 2002 teilten die Juristen des Department of Ju-stice dem Weißen Haus und dem DoD ihre Rechtsauffassung über die Anwendbarkeit der Konvention gegen Folter mit. Demnach entsprächen alle Praktiken, die nicht gegen ame-rikanisches Recht verstießen, auch den Bestimmungen der Konvention. Außerdem stellten sie fest, dass Präsident Bush als Oberbefehlshaber mittels seiner wartime powers sogar Folter autorisieren dürfe. Bislang waren die Praktiken, die zur Ver-nehmung von Inhaftierten seitens der Militärpolizei anzuwen-den sind, im Army Field Manual 34-52 von 1992 festgelegt.9 Im Oktober 2002 erbaten Guantánamo-Verantwortliche, die im Schlesinger Report nicht namentlich genannt werden, die Autorisierung zusätzlicher Verhörpraktiken, »strengthened counter-interrogation techniques«,10 um zusätzliche geheim-dienstlich verwertbare Informationen aus den Verhören der mutmaßlichen Terroristen zu gewinnen. Daraufhin setzte in den damit befassten Ministerien und Arbeitsgruppen hekti-sche Aktivität ein, einzelne Praktiken wurden zunächst ge-stattet und dann wieder untersagt. Dieser Prozess konfuser Entscheidungsfi ndung dauerte von Oktober 2002 bis April 2003, bis Rumsfeld in einem Memorandum eine Liste der nun erlaubten Verhörpraktiken mitteilte, die allerdings nur für Guantánamo galt: »Use of these techniques is limited to interrogations of unlawful combatants held at Guantanamo Bay, Cuba.«11 Nach Ansicht der Kommissionsmitglieder sei hier die entscheidende Weiche für den missbräuchlichen Um-gang mit Inhaftierten gestellt worden: »The legal resources of the Services´ Judge Advocates and General Counsels were not utilized to their fullest potential. Had the Secretary of Defense had the benefi t of a wider range of legal opinions and a more robust debate regarding detainee policies and operations, his policy of April 16, 2003 might well have been developed and issued in early December 2002. This could have avoided the policy changes which characterized the December 2, 2002 to April 16, 2003 period.«12 Dieser vorsichtig formulierte Vor-wurf, Rumsfeld habe sich schlecht beraten lassen und hätte den vorhandenen juristischen Sachverstand besser nutzen sollen, ist der schärfste Angriff gegen Rumsfeld, der sich im Schlesinger-Report fi ndet. Die Mitglieder stellen fest, dass der durch das Memorandum legitimierte Einsatz zusätzlicher und schärferer Verhörpraktiken die Überzeugung genährt habe, dass diese Praktiken im Umgang mit den Inhaftierten des War on Terror grundsätzlich vonnöten seien. Für Afghanistan gal-ten bis Ende 2002 die Richtlinien des Army Field Manual 34-52. Trotzdem wurden offenbar durchaus weitere, schärfere Ver-hörpraktiken verwendet, die in einer Standard Operating Proce-dure (SOP) genannten Aufl istung der Verhörpraktiken auch in schriftlicher Form veröffentlicht wurden. Auf diese Praktiken, die beteiligten Akteure und Verantwortlichen und mögliche Misshandlungen geht der Untersuchungsbericht nicht weiter ein, allerdings liegen diese möglichen Vorkommnisse auch au-ßerhalb des Mandats der Kommission. An Verhörsituationen

9 Dabei handelt es sich um folgende 17 Praktiken: »Direct questioning; Incen-tive / removal of incentive; Emotional love; Emotional hate; Fear up harsh; Fear up mild; Reduced fear; Pride and ego up; Pride and ego down; Futility; We know all; Establish your identity; Repetition approach; File and dossier; Rapid Fire; Silence; Change of Scene«, Quelle: Naval IG Investigation, zit. nach Schlesinger Report 2004: Appendix E.

10 Schlesinger Report 2004: 35.11 Zit. nach Schlesinger Report 2004: 35.12 Schlesinger Report 2004: 36.

in Afghanistan beteiligt war auch das 519th Military Intelligence Batallion, das später eine Kompanie in den Irak schickte.

Für den Irak galten nach Anordnung des CENTCOM (Unites States Central Command) die im Army Field Manual 34-52 auf-geführten Verhörpraktiken als handlungsweisend. Nachdem im Juli und August 2003 eine Kompanie des 519th Military Intelligence Batallion zur Unterstützung bei Verhören von Inhaftierten aus Afghanistan in den Irak ins Gefängnis Abu Ghraib beordert worden war, stellte der verantwortliche Of-fi zier Verhörrichtlinien auf, die eine fast vollständige Über-nahme der in Afghanistan praktizierten SOP darstellten, die sich wiederum an den für Guantánamo geltenden Regelungen orientierte. Im Untersuchungsbericht wird diese eigenmäch-tige Ausdehnung von Handlungsoptionen damit erklärt, dass die Aufmerksamkeit der Befehlshaber auf den fortdauernden gewalttätigen Konfl ikt gerichtet gewesen sei, weswegen die Belange der Inhaftierten als nicht vorrangig behandelt worden seien. Im Zuge dieser Unaufmerksamkeit sei es möglich gewe-sen, dass sowohl das Verhörpersonal als auch die verwende-ten Praktiken von Guantánamo über Afghanistan in den Irak quasi migriert seien. Hierzu stellt die Kommission ferner fest: »It is important to note that techniques effective under care-fully controlled conditions at Guantánamo became far more problematic when they migrated and were not adequately safeguarded.«13 Im August 2003 reiste Generalmajor Geoffrey Miller aus Guantánamo in den Irak, um eine Bewertung der Verhör- und Haftpraxis vor Ort vorzunehmen. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, wie die Inhaftierten zur Preisgabe ge-heimdienstlich verwertbarer Informationen zu bewegen sei-en. Nachweislich überbrachte er der CJTF-7 das Memorandum Rumsfelds vom April 2003 mit der Liste der autorisierten Ver-hörpraktiken für Guantánamo und empfahl, eine einheitliche Vorgehensweise durchzusetzen. Allerdings wies Miller darauf hin, dass die Genfer Konventionen im Irak zu berücksichtigen seien. Die Mitglieder der Kommission merken an dieser Stelle an, dass es zusätzlich zu diesen aufgrund schriftlicher Quellen nachweisbaren Zusammenkünften und der dort ausgesproche-nen Empfehlungen formellen Charakters auch Austausch in-formeller Natur zwischen den beteiligten Akteuren gegeben habe. Mangels ausdrücklicher und einheitlicher Informatio-nen und Richtlinien seitens der CENTCOM stützte sich das Verhörpersonal im Irak auf das Army Field Manual 34-52, aber eben zusätzlich auch auf nicht-autorisierte Praktiken, die aus Afghanistan übernommen wurden.

Es dauerte bis Oktober 2003, bis verbindliche Regelungen für Verhöre in Abu Ghraib getroffen wurden. Bis dahin gab es ein ständiges Hin und Her autorisierter und wieder verbotener Praktiken: »This clearly led to confusion on what practices were acceptable. We cannot be sure how much the number and severity of abuses would have been curtailed had there been early and consistent guidance from higher levels.«14

Die Fotos aus Abu Ghraib, die weltweit in den Medien präsen-tiert wurden und die die Misshandlungen von Inhaftierten dokumentieren, zeigen Vorkommnisse, die außerhalb von Verhörsituationen geschehen sind. Der bereits zuvor ent-

13 Schlesinger Report 2004: 37.14 Schlesinger Report 2004: 38.

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standene Untersuchungsbericht von Jones und Fay über Abu Ghraib hatte ergeben, dass es aber auch während Verhörsitu-ationen Misshandlungen gegeben hat, für die in der Mehr-zahl der gerichtlich bewerteten Fälle die Geheimdienstmitar-beiter des Militärs die Verantwortung tragen. Die Mitglieder der Kommission verweisen darauf, dass das Verhörpersonal infolge unterbliebener Schulungen und der widersprüch-lichen Auslegung der geltenden rechtlichen Vorgaben die Verhörpraktiken, insbesondere die zusätzlich genehmigten, nach eigenem Gutdünken verwendet habe. Im Januar 2004 wurde den Strafverfolgern der Army eine CD mit Fotos, die Misshandlungen dokumentieren, übermittelt. Im April 2004 wurden die Misshandlungsvorwürfe bereits publik, lediglich die Fotos wurden von CBS auf Bitten des Generalstabschefs Richard B. Myers noch für eine kurze Weile zurückgehalten. An dieser Stelle stellt die Kommission fest, dass es im Kommu-nikationssystem der Akteure an einer »effective information pipeline« gemangelt habe, die den Secretary of Defense über »high-profi le incidents«15 hätte in Kenntnis setzen können. Hier bestätigt das Panel weitgehend die Eigendarstellung des DoD, wonach die dortigen Verantwortlichen, an der Spitze Donald Rumsfeld, von den Misshandlungsvorwürfen in Abu Ghraib erst durch die Medienberichte erfahren haben wollen. Die Kommission klärt diesen Umstand nicht weiter auf, es wird auch an dieser Stelle kein Hinweis auf die verwendeten Quellen für diese Feststellungen gegeben.

Unter der Überschrift »Command Responsibilities« stellt die Kommission fest, dass es übereinstimmend mit den Ergebnis-sen der vorangegangenen Untersuchungen Führungsversagen der militärischen Führung erkennt. Obwohl die schlimmsten Misshandlungsfälle von einer begrenzten Zahl von Soldaten und Offi zieren der Nachtschicht in Abu Ghraib zu verant-worten seien, vertritt die Kommission die Ansicht, dass ver-schiedene Führungsebenen der direkt involvierten Akteure versagt hätten und dass dieses Versagen direkt oder indirekt zu Misshandlungen beigetragen habe.16 Hinsichtlich weiterer Verantwortlichkeit heißt es: »The Panel fi nds that the weak and ineffectual leadership of the Commanding General of the 800th MP Brigade and the Commanding Offi cer of the 205th MI Brigade allowed the abuses at Abu Ghraib. There were serious lapses of leadership in both units from junior non-commissioned offi cers to batallion and brigade levels. The commanders of both brigades either knew, or should have known, abuses were taking place and taken measures to prevent them. The Panel fi nds no evidence that organizations above the 800th MP Brigade- or the 205th MI Brigade-level

15 Schlesinger Report 2004: 40.16 »At the leadership level, there was friction and a lack of communication be-

tween the 800th MP Brigade and the 205th MI Brigade through the summer and fall of 2003. There was no clear delienation of responsibility between commands and little coordination at the command level. Both the Director of the Joint Interrogation and Debriefi ng Center (JIDC) and the Commander of the 320th MP Batallion were weak and ineffective leaders. Both failed to ensure their subordinates were properly trained and supervised. They failed to establish and enforce basic soldier standards, profi ciency, and account-ability. Neither was able to organize tasks to accomplish their missions in an appropriate manner. By not communicating standards, policies and plans to soldiers, these leaders conveyed a sense of tacit of abusive behaviors toward prisoners. This was particularly evident with respect to prisoner-handling procedures and techniques, including unfamiliarity with the Geneva Con-ventions. There was a lack of discipline and standards of behavior were not established nor enforced. A lax and dysfunctional command climate took hold.« Schlesinger Report 2004: 75.

were directly involved in the indicents at Abu Ghraib. Ac-cordingly, the Panels concurs in the judgment and recom-mendations of MG Taguba, MG Fay, LTG Jones, LTG Sanchez, LTG McKiernan, General Abizaid and General Kern regard-ing the commanders of these two units. The Panel expects disciplinary action may be forthcoming.«17 Die Personen, ge-gen die sich diese Vorwürfe richten, werden im Anhang des Untersuchungsberichts namentlich genannt. Außerdem stellt die Kommission fest, dass in Guantánamo und Afghanistan »effective command relationships«18 entwickelt worden seien, was aber in Abu Ghraib aufgrund des Versagens des Führungs-personals des CENTCOM und der CJTF-7 nicht gelungen sei. Konkret erhebt die Kommission insbesondere die Vorwürfe, dass kein weiteres Personal angefordert worden sei und dass es keine eindeutigen Anweisungen bezüglich Verhörpraktiken gegeben habe.19

Spätestens seit Juli 2003 hätten die militärischen Verantwort-lichen die instabile Situation im Irak neu bewerten müssen, was zu einer dringend notwendigen Neuausrichtung der In-haftierungspraxis geführt hätte. Insbesondere die Unterlas-sung der Anforderung weiteren Personals für die Haftanstalten sei angesichts der chronischen Unterbesetzung ein vermeid-bares Versäumnis gewesen, das auch das Panel offensichtlich nicht weiter erklären kann. Weiterhin stellt die Kommission fest, dass die Misshandlungen nicht schnell genug nach ihrem Bekanntwerden gemeldet worden seien, so dass die gesamte Befehlskette nicht zeitnah informiert wurde. Die Misshand-lungsvorwürfe sind seit Januar 2004 bekannt gewesen und auch intern bereits untersucht worden, aber die Schwere der Vorwürfe sei Rumsfeld nicht mitgeteilt worden. Der militä-rinterne Tabuga Report inklusive Fotos war im März 2004 an General John Abizaid und an Lieutenant General Ricardo San-chez weitergeleitet worden, aber es sei unklar, ob sie die Fotos je gesehen hätten. Wieso sich diese doch zentralen Fragen nicht eindeutiger klären lassen, darauf gibt allerdings auch der Schlesinger-Report keine Antworten. Da es im Anhang des Untersuchungsberichts keine Mitschriften der Interviews gibt, bleibt unklar, ob Abizaid und Sanchez nicht eindeutig antwor-ten konnten oder wollten.

Der Untersuchungsbericht versucht in einem nächsten Schritt, die Frage zu klären, welche Faktoren die Misshandlungen in Verhörsituationen möglich gemacht haben. Zusammenfas-send kommt die Kommission zu folgenden Erklärungen: Die Militärpolizei sei nicht ausreichend ausgebildet, nicht ange-messen organisiert und nur dürftig ausgestattet gewesen. Au-ßerdem sei die Auswahl der Haftanstalt Abu Ghraib als Haupt-standort aufgrund der Sicherheitsdefi zite vor Ort ein Fehler gewesen. Die Kommission stellt fest: »Some incidents of abuse were clearly cases of individual criminal misconduct. Other incidents resulted from misinterpretations of law or policy or

17 Schlesinger Report 2004: 43.18 Schlesinger Report 2004: 46.19 »The CJTF-7 Deputy Commander failed to initiate action to request ad-

ditional military police for detention operations after it became clear that there were insuffi cient assets in Iraq. The CJTF-7 C-2 Director for Intelligence failed to advise the commander properly on directives and policies needed for the operation of the JIDC, for interrogation techniques and for appro-priately monitoring the activities of Other Government Agencies (OAGs) within the Joint Area of Operations. The CFTF-7 Staff Judge Advocate failed to initiate an appropriate response to the November 2003 ICRC report on the conditions at Abu Ghraib.« Schlesinger Report 2004: 47.

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confusion about what interrogation techniques were permit-ted by law or local SOPs. The incidents stemming from mis-interpretation or confusion occured for several reasons: the proliferation of guidance and information from other theaters of operation; the interrogators’ experiences in other theaters; and the failure to distinguish between permitted interroga-tion techniques in other theater environments and Iraq. Some soldiers or contractors who committed abuses may honestly have believed the techniques were condoned.«20 Dennoch sei als wesentlicher Vorwurf das Führungsversagen der Verant-wortlichen der 800th Military Police Brigade und der 205th Mi-litary Intelligence Brigade festzuhalten. Zu Misshandlungsfällen außerhalb von Verhörsituationen stellt die Kommission − wie die Untersuchungsberichte zuvor − massive, zumeist sadistisch motivierte oder aus Überforderung resultierende Verstöße fest, die bereits Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung seien oder sein werden.

Diese Erkenntnisse führen die Kommission zu der Schlussfol-gerung, dass durch die mangelhaft durchgeführte Praxis der Inhaftierungen und Verhöre der Sinn und Zweck der gesamten Maßnahme konterkariert worden sei, nämlich geheimdienst-lich verwertbare Informationen von den Inhaftierten zu erhal-ten. Im Gegensatz zum Versagen der Verantwortlichen im Irak hätten die Verhöre von Al-Qaida-Gefangenen in Guantánamo aufgrund eines »effective operating model«21 wertvolle Infor-mationen erbracht, die zum Abbruch und zur Prävention ter-roristischer Akte genutzt worden seien.

4. Die Empfehlungen der Kommission

Wesentliche Erkenntnis des Schlesinger-Reports ist seine un-missverständliche Feststellung, dass die Misshandlungen im Gefängnis Abu Ghraib im Hinblick auf ihren Umfang, ihre Intensität und ihre Dauer auf ein Versagen der militärischen Führung vor Ort zurückzuführen seien. Zwar wird den po-litischen Akteuren eine gewisse Verantwortungsbeteiligung hinsichtlich der Konfusion über geltendes Recht und anzu-wendende Praxis im Irak zugesprochen, für die Misshand-lungen direkt verantwortlich seien aber die Befehlshaber des Militärs und der Militärpolizei im Irak gewesen. Aus diesem Grund schließt sich die Kommission den Empfehlungen vo-rangegangener Untersuchungsberichte hinsichtlich der diszi-plinarischen und strafrechtlichen Konsequenzen für einzelne Beteiligte an. Die Einschätzung der Kommission hinsichtlich der Verantwortlichkeit für die Misshandlungen auf den Füh-rungsebenen entspricht ebenfalls den zuvor durchgeführten internen Untersuchungen, nämlich dass es keine Hinweise auf die Verantwortlichkeit der politischen Akteure gäbe. Die Emp-fehlungen der Kommission zur Optimierung der Informati-onsgewinnung im Irak zielen auf Verbesserung der Ausbildung und Anpassung der militärischen und militärpolizeilichen Or-ganisationsstrukturen an die spezifi schen Erfordernisse eines Krieges ohne erkennbare Front und identifi zierbare Kombat-tanten. Der Bericht schließt mit 14 weiteren Empfehlungen, die Weisungen für die zukünftige Politik darstellen, hier aber

20 Schlesinger Report 2004: 68.21 Schlesinger Report 2004: 72.

wegen des fehlenden Bezugs zum Erkenntnisinteresse nicht im Einzelnen vorgestellt werden.

Die wesentlichen Übereinstimmungen des Untersuchungsbe-richts mit den vorherigen internen Untersuchungsberichten offenbaren eine sehr wichtige Erkenntnis: Vorausgesetzt, dass eine öffentliche Erwartungshaltung hinsichtlich Aufklärung existiert und die Medien eine Überwachungsfunktion ausü-ben, funktionieren die Aufklärungs- und Selbstreinigungs-mechanismen des amerikanischen Militärs entgegen den oftmals selbstgerechten Vorverurteilungen vieler Kritiker der USA weltweit recht gut. Es ist gerade nicht so, wie oftmals behauptet wird, dass Corpsgeist und Kadavergehorsam in den amerikanischen Streitkräften vorherrschen und Aufklärung über Rechtsverstöße verhindern. Die bislang erfolgten Urteile der Militärgerichte und die militärischen Disziplinarmaßnah-men gegen Folterer lassen auch weiterhin erwarten, dass die Mehrzahl der Täter, die Gefangene jenseits von Verhörsitua-tionen misshandelt haben, nicht strafl os ausgehen werden. Demnach lässt sich zunächst feststellen, dass der Schlesinger-Report einen aufschlussreichen Beitrag zur Aufklärung über die Ursachen der Misshandlungen und insbesondere die Ver-antwortlichkeit des militärischen Führungspersonals leistet, da er die Ergebnisse der internen Untersuchungsberichte zu-sammenführt und ergänzt.

5. Die Defi zite des Untersuchungsberichts

Die Kommission unter dem Vorsitz von James R. Schlesinger akzeptiert ausdrücklich, dass die in Guantánamo inhaftierten mutmaßlichen Terroristen »are not combatants entitled to the protections of Geneva Convention III«.22 Die IV. Genfer Kon-vention zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konfl ikten und das nationale Strafrecht seien allerdings auch nicht aus-reichend, um eine angemessene Inhaftierungs- und Strafver-folgungspraxis von gefangenen Terroristen zu gewährleisten. Gleichzeitig verweist die Kommission aber auf eine Bestim-mung der Genfer Konventionen, wonach keine Person als »outlaw« behandelt werden dürfe. Dies führt die Kommission zur Kritik an der Politik der Regierung: »The Panel fi nds the details of the current policy vague and lacking.«23 Dabei beru-fen sich die Mitglieder auf den amerikanischen Supreme Court, der der Regierung im Juni 2004 das Versäumnis attestierte, den amerikanischen Gerichten bislang keine Kriterienliste vorgelegt zu haben, um »enemy combatants« zu klassifi zie-ren.24 Das Votum des prinzipiell stets zurückhaltenden IKRK in dieser Frage ist eindeutiger als das des höchsten amerika-nischen Gerichts: Der Rechtsstatus des enemy combatant ist inakzeptabel, da es nach den Regelungen des Humanitären Völkerrechts nur zwei Kategorien zur Differenzierung gibt, nämlich Kombattanten und Zivilisten: »What is important to know is that no person captured in the fi ght against terrorism can be considered outside the law. There is no such thing as a »black hole« in terms of legal protection.«25 Demnach

22 Schlesinger Report 2004: 81.23 Schlesinger Report 2004: 81.24 Die Urteile des Supreme Court sind zugänglich über www.supremecourtus.gov.25 Vgl. die ausführlichen Stellungnahmen des IKRK auf seiner Homepage www.

icrc.org.

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seien Inhaftierte, denen kein Status als Kriegsgefangene zuge-standen werde, als Zivilisten zu behandeln, die im Falle einer strafrechtlichen Verfolgung nationalem Recht unterlägen.26 Von diesen Positionen des IKRK distanziert sich das Panel und stellt fest: »The Panel also believes the ICRC, no less than the Defense Department, needs to adapt itself to the new realities of confl ict, which are far different from the Western European environment from which the ICRC’s interpretation of Geneva Conventions was drawn.«27

Das wesentliche Defi zit des Schlesinger-Untersuchungsberichts ist hier bereits zu erkennen. Die Genfer Konventionen mit ih-ren umfassenden Schutzregeln und ihre beiden Zusatzproto-kolle haben über 50 Jahre lang als Notstands-Menschenrechte fungiert. Darin werden die Rechte garantiert, die Individuen und Gruppen auch dann genießen müssen, wenn jegliche Ordnung und der von ihr bestenfalls ausgehende Schutz zu-sammenbrechen. Die Genfer Konventionen verfolgen keine Maximalziele, sondern garantieren Mindeststandards, wie Menschen angemessen behandelt und versorgt werden müs-sen, und legen fest, dass niemandem jenseits von Kampfhand-lungen Gewalt angetan werden darf. Das sind Mindeststan-dards, die aus den Erfahrungen zweier Weltkriege und ihren Folgen resultieren, und die sich in den Jahrzehnten danach als tragfähige rechtliche Grundlage für das Handeln in bewaff-neten Konfl ikten erwiesen haben. Es ist durchaus diskussions-würdig, ob die bestehende internationale Rechtsordnung dem notwendigen Einsatz gegen Terrorismus weltweit angemessen ist. Das fragile Regelwerk internationaler Normen aber mit dem Verweis auf »Gefahr im Verzug« in seinem sensibelsten Bereich, nämlich den Schutzrechten des Individuums, außer Kraft zu setzen, ist keine angemessene Antwort. Die Akzeptanz der in Guantánamo praktizierten Normenrelativierung seitens der Kommission refl ektiert die Illusion, einzelne Schutzregeln des Rechts seien zum Erreichen eines vermeintlich höheren Guts kurzzeitig außer Kraft zu setzen und dann wieder um-standslos einsetzbar. Die Erfahrung lehrt, dass das Aufweichen von Normen Dammbrüche bewirken kann. Es ist nicht nach-vollziehbar, warum die Kommission der Auffassung der Regie-rung folgt, dass einzelne Praktiken wie »removal of clothing, isolating people for long periods of time, use of stress positi-ons, exploiting fear of dogs, and sleep and light deprivation«28 im einen Fall gestattet sein dürfen und im anderen nicht. Das IKRK hat eindeutig festgestellt, dass einige der angewendeten Verhörpraktiken verboten sind. Die Kommission hält dem entgegen, dass die USA durch den angenommenen Verlust der gewonnenen Informationen aus Verhören einer wichti-gen Quelle im War on Terror beraubt würden. Zwar mahnt die Kommission vorsichtig eine Verbesserung der Beziehungen zwischen dem DoD und dem IKRK an, dennoch ist unver-kennbar, dass auch die Rechtsauffassungen der Kommission mit denen des IKRK nicht vereinbar sind.

Das wesentliche Defi zit des in Teilen durchaus wertvollen Schlesinger-Reports ist diese Ausblendung der grundsätzlichen Debatte um Legalität und Legitimität Guantánamos. Durch die Verweigerung der Infragestellung der amerikanischen Ge-

26 So auch Aldrich 2002.27 Schlesinger Report 2004: 88.28 Schlesinger Report 2004: 68.

fangenenpolitik im War on Terror bleibt der Eindruck haften, dass Abu Ghraib ein bedauerlicher Betriebsunfall gewesen sei, insbesondere unter Berücksichtigung der im Schlesinger-Report ausgesprochen positiven Darstellung Guantánamos, das von den Kommissionsmitgliedern als vorbildliche und effi ziente Haftanstalt skizziert wird. Die Erkenntnis liegt auf der Hand, dass der Präzedenzfall Guantánamo und die unbe-kümmerte Selbstverständlichkeit, mit der hier rechtliche und ethische Standards suspendiert worden sind, die Folterpraxis in Abu Ghraib mehr als begünstigt haben. Dies mag für die in den Fotos dokumentierten Fälle außerhalb von Verhörsi-tuationen nicht gelten, die womöglich tatsächlich aus indi-vidualpsychologischen Motiven Einzelner und kollektiver Überforderung Vieler resultieren, wie es die Verfahren und Urteile der amerikanischen Militärgerichtsbarkeit nahelegen.29 Diese Fälle von Folter außer Kontrolle geratener Soldaten und Militärpolizisten haben dem amerikanischen Ansehen zwei-fellos Schaden zugefügt und insbesondere den selbsterklär-ten Anspruch, als legitime Ordnungsmacht weltweit zu agie-ren, in Frage gestellt. Dennoch liegt in den Folterfällen der Nachtschicht von Abu Ghraib nicht der Kern des Skandals. Der Schlesinger-Report bestätigt vielmehr, dass es Folter auch im Verhör, also unter Aufsicht und auf Anordnung gegeben hat und weiterhin gibt und diese Praxis ist als direkte Folge der Relativierung des Humanitären Völkerrechts zunächst in Guantánamo und offenbar auch in weiteren Haftanstalten zu werten. Für die Frage, ob menschliche Ängste vor Hunden in Verhörsituationen genutzt werden oder ob Gefangene nackt verhört werden dürfen, ist es unerheblich, ob diese im Zuge der Operation Enduring Freedom oder der Operation Iraqi Freedom inhaftiert worden sind. Die Konvention gegen Folter und die Genfer Konventionen bieten ein ausreichend robustes recht-liches Gerüst, um ein absolutes Verbot solcher Praktiken fest-zustellen. Die Relativierung dieser Normen ist von der ameri-kanischen Regierung autorisiert worden, so dass ein Teil der Verantwortung für die Folterfälle in Abu Ghraib auch hier zu verorten ist und zwar unabhängig von der Frage strafrechtlich feststellbarer Schuld. Der Kommission ist es nicht gelungen, diesen Teil der Verantwortungsfrage angemessen zu klären.

6. Der Beitrag von Untersuchungskommissionen zur Transformation des Rechts- und Men-schenrechtsbewusstseins nach 9/11

Wie bereits festgestellt, ist es der Kommission nicht gelungen, ihre wesentliche Aufgabe, nämlich Aufklärung der Verantwor-tungsfrage zu erfüllen. Nun ließe sich nahezu refl exhaft fest-stellen, dass eine vom DoD eingesetzte Kommission erwar-tungsgemäß nicht zu einer Feststellung von Verantwortung desselben gelangen könne. Dieser Refl ex wäre aber in dieser Frage unangemessen, denn erfahrungsgemäß haben nicht-parlamentarische Untersuchungskommissionen oft sehr un-terschiedliche Mandate und Kompetenzen, die aber dennoch zu überzeugenden Ergebnissen führen können. Als Beispiel lässt sich hier trotz der zweifellos auch vorliegenden Defi zite

29 Vgl. exemplarisch New York Times 15.5.2005, Kate Zernike: Behind failed Abu Ghraib plea, a tale of breakups and betrayal.

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die Tower Commission zur Aufklärung der Iran-Contra-Affäre an-führen. Dass die Ergebnisse des hier vorliegenden Fallbeispiels weitgehend nicht überzeugend sind, mag an verschiedenen Faktoren liegen, darunter ideologische Prädispositionen der Kommissionsmitglieder, unbekannte Loyalitäten oder ähn-liches. Da diese Annahmen aber verschwörungstheoretisch behaftet sind, muss die Motivsuche hier zumindest zum jet-zigen Zeitpunkt erfolglos bleiben.

Bestürzend erscheint vielmehr ein anderer Aspekt, der in der gesamten Debatte um die amerikanische Gefangenenpolitik nur am Rande beachtet wird, nämlich die bis zum Sommer 2005 weitreichende Selbstentmachtung des amerikanischen Kongresses. Wie in allen rechtsstaatlichen Demokratien stün-de es dem Kongress frei, eine eigene parlamentarische Unter-suchungskommission einzusetzen. Offenbar herrscht hier aber mehrheitlich die Ansicht vor, dass die Aufklärungsmechanis-men des Militärs und der Exekutive adäquat funktionieren und kein weiterer Handlungsbedarf besteht, als Vertreter der Exekutive zu einem Hearing des Senats vorzuladen, wie im Juni 2005 im Judiciary Committee unter dem Vorsitz des re-publikanischen Senators Arlen Specter geschehen.30 Bislang bleibt festzuhalten, dass lediglich die Ergebnisse der militä-rischen Untersuchungen und insbesondere der Bericht der Schlesinger-Kommission zur Aufklärung der Foltervorwürfe in Abu Ghraib vorliegen. Das bisherige Ausbleiben parlamen-tarischer Kontrolle hat daher eine fatale Folge: Die von Un-tersuchungskommissionen festgehaltenen Ergebnisse fi nden zeitnah und nachhaltig Eingang in gesellschaftliches Bewusst-sein und prägen und transformieren somit auch Rechts- und Menschenrechtsbewusstsein. Diese Erkenntnis leitet sich aus der Forschung ab, die die Aufklärungsfunktion von Untersu-chungs- und Wahrheitskommissionen nach Systemtransfor-mationen und Makroverbrechen untersucht. Es gibt kaum empirisch gesicherte Erkenntnisse über die Funktion und Wir-kung von Aufklärung, die von Untersuchungskommissionen in demokratischen Rechtsstaaten geleistet wird. Aus diesem Grund sind die hier formulierten Aussagen unter dem Vorbe-halt zu betrachten, eine plausible These zu sein. Es ist bereits zuvor skizziert worden, welche Ergebnisse der Schlesinger-Re-port hier produziert hat und, vorsichtig ausgedrückt, in welche Schiefl age er die Normen des Humanitären Völkerrechts und der Konvention gegen Folter gerückt hat. Zwar ist zu erwarten, dass die amerikanischen Gerichte einen Großteil der interna-tionalen Normen wieder aufrichten werden, aber diese Ent-scheide fi nden nur schwerfällig Eingang in gesellschaftliches

30 Vgl. New York Times 18.6.2005: Who we are.

Bewusstsein. Das hängt mit den Spezifi ka von Strafverfahren und verfassungsrechtlichen Gerichtsentscheiden zusammen, die sehr oft einen technisch-legalistischen Charakter haben (was in einem Rechtsstaat aber eben auch geboten ist) und außerdem semantisch schwer vermittelbar sind. Eben diese Lücke zwischen rechtsstaatlich gebotener Sorgfalt im Detail und einem dem common sense verpfl ichteten Gerechtigkeits-empfi nden füllen Untersuchungskommissionen. Dieser Effekt ist bei der Schlesinger-Kommission ausgeblieben.

7. Resümee

Wesentliches Verdienst des Schlesinger-Reports ist die Offen-herzigkeit, mit der eingestanden wird, welche Verhörmetho-den im War on Terror als legitimes Mittel zur Informationsge-winnung eingesetzt werden. Der Maxime folgend, dass der Zweck die Mittel heilige, wird von den Kommissionsmitglie-dern ohne Zaudern akzeptiert, dass die Regierung permanent die Notwendigkeit durchaus fragwürdiger Mittel betont. Im Untersuchungsbericht wird nicht an einer Stelle darauf ver-wiesen, dass es eigentlich ein zivilisatorischer Standard aller Rechtsstaaten ist, dass Aussagen und Geständnisse, die un-ter Folter zustande kommen, zum einen hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes in der Regel wertlos sind, zum anderen in Gerichtsverfahren gar nicht verwendet werden dürften. Dabei ist die amerikanische Regierung bislang jeden Beweis schuldig geblieben, dass die Verhöre der Inhaftierten in Gu-antánamo, Abu Ghraib und anderen Haftanstalten tatsächlich geheimdienstlich verwertbare Informationen erbracht hätten. Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass diese der Öffentlichkeit detailliert mitgeteilt würden, so ist es doch bestürzend, dass auch die Informationsverpfl ichtungen gegenüber dem ameri-kanischen Kongress nur unzureichend erfüllt werden.

Der Umgang mit den Folterskandalen in Abu Ghraib und die amerikanische Praxis in Guantánamo sind ein Beleg, dass die USA unter Präsident George W. Bush ihr Verhältnis zum Humanitären Völkerrecht neu defi niert haben. In allen vo-rangegangenen bewaffneten Konfl ikten, in die die USA in-volviert waren, waren Politik und Streitkräfte stets peinlich darauf bedacht, keinerlei Verstöße gegen Humanitäres Völ-kerrecht zu begehen, so noch im Golfkrieg von 1991. Diese Handlungsmaxime ist zugunsten einer offensiven Relativie-rung der Normen im Paradigmenwechsel des War on Terror aufgegeben worden.

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Sicherheitspolitik versus Menschenrechtsschutz?Barbara Lochbihler*

Abstract: More than ever, in the aftermath of September 11th 2001, states are using the »war on terror« as a justifi cation to dilute internationally recognised human rights standards. Increasing numbers of constitutional democratic governments argue that in the face of terrorist threats, citizens must sacrifi ce their rights so that the state can guarantee their security. Such a deteriora-tion of human rights standards cannot be justifi ed under any circumstances and in fact, the security of all people can only be achieved if universal human rights are guaranteed for all. Therefore, it must be the aim of every state to extend human rights protection, rather than restricting rights in the name of security.

Keywords: Menschenrechtsschutz, Sicherheit, Terrorismus

Obwohl die Relativierung schwerer Menschenrechts-verletzungen im Namen vermeintlich notwendiger Sicherheitsinteressen nicht neu ist und seit Jahr-

zehnten weltweit Angehörige von Minderheiten und poli-tische Oppositionelle im Namen der nationalen Sicherheit bestraft, gefoltert und ihrer elementarsten Grundrechte be-raubt wurden und werden, sieht amnesty international ins-besondere seit dem 11. September 2001 die Gefahr einer Ver-schlechterung der bisher erreichten Menschenrechtsstandards auf der Basis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Offener denn je missbrauchen Staaten den »Krieg gegen den Terror« als Rechtfertigung, um Menschen »verschwinden« zu lassen, um sie ohne ordentliches Verfahren zu inhaftieren, um sie zu misshandeln und zu foltern. In einem – zum Teil be-wusst geschürten – Klima der Angst, in dem sich nicht einmal mehr die Mächtigsten unverletzlich fühlen, können die Men-schen leicht davon überzeugt werden, dass der Preis für die Sicherheit die Aufgabe von persönlichen Freiheiten ist. Aber es gibt keine schlüssigen Nachweise, dass eine derartige Poli-tik zu mehr Sicherheit führt. Im Gegenteil zeigen zahlreiche Beispiele, wie die Überbewertung von Sicherheitsinteressen die Welt nicht sicherer sondern unsicherer gemacht hat. Der Schutz der Menschenrechte darf nicht zugunsten einer trü-gerischen inneren Sicherheit relativiert werden. Wirkliche, nachhaltige Sicherheit kann nur erreicht werden durch die volle Achtung der Menschenrechte aller Menschen.

1. Menschenrechte als Grundlage menschlicher Sicherheit

Sicherheitspolitik muss, wie im UN-Konzept »menschlicher Sicherheit« vorgesehen, immer im Zusammenhang mit Men-schenrechtsschutz gesehen werden. Das ist keine Selbstver-ständlichkeit. Das Ziel von amnesty international ist eine Welt, in der allen Menschen die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und anderen internationalen Menschen-rechtsinstrumenten kodifi zierten Rechte gewährt werden. Der Grundgedanke des Konzepts menschlicher Sicherheit ist be-reits in der UN-Charta mit dem Bekenntnis zu einem »bes-seren Lebensstandard in größerer Freiheit« angelegt. Die in

* Barbara Lochbihler ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von am-nesty international. Der Beitrag ist eine aktualisierte Fassung eines Vortrags am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) am 12. Oktober 2005.

der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte weiterentwi-ckelte »Freiheit von Furcht und Not« entspricht den Kernaus-sagen der beiden grundlegenden Menschenrechtspakte von 1966. Die weltweite Geltung aller Menschenrechte ist in ver-schiedensten Konventionen und Erklärungen immer wieder bekräftigt worden. Die Abschlusserklärung der Wiener Welt-menschenrechtskonferenz von 1993 stellt den »universellen Charakter« der Menschenrechte außer Frage und akzeptiert damit keine Kulturrelativität. Die Erklärung bestätigt, »alle Menschenrechte sind allgemeingültig, unteilbar, bedingen einander und hängen miteinander zusammen«. Das heißt, politische, bürgerliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bilden eine Einheit und müssen gemeinsam imple-mentiert werden. In der Allgemeinen Erklärung der Men-schenrechte sind auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte festgeschrieben. Sie sind weniger bekannt als die politischen und bürgerlichen Rechte, aber nicht weni-ger verbindlich und nicht weniger wichtig. Dazu zählen u. a. das Recht auf Bildung, auf Gesundheit und auf einen »ange-messenen Lebensstandard«, was das Recht auf ausreichende Nahrung, Bekleidung, Wohnraum und soziale Leistungen einschließt. Es ist eine der Herausforderungen der Menschen-rechtsarbeit, die Umsetzung dieser Rechte voranzutreiben und auch dafür zu sorgen, dass sie einklagbar werden.

Die Wiener Deklaration von 1993 bekräftigt auch die Verpfl ich-tung der Staaten, den universellen Respekt für die Menschen-rechte zu fördern und die Einhaltung der Menschenrechte zu sichern und durchzusetzen. Diese Verpfl ichtung gilt für alle Mitgliedstaaten der UN, unabhängig von der kulturellen Per-spektive. Jeder Einzelne ist zum Genuss der Menschenrechte berechtigt, ohne Diskriminierung irgendeiner Art. Das Verbot der Diskriminierung ist eines der fundamentalen Prinzipien der Menschenrechte und schützt alle Menschen vor der Ver-leugnung ihrer Rechte. Universelle Menschenrechte zwingen somit keinen kulturellen Standard auf, sondern legen nur ein Mindestmaß des Schutzes der menschlichen Würde fest.

Als rechtlicher Standard, der von der UNO angenommen wurde, repräsentieren die universellen und unteilbaren Men-schenrechte einen hart erkämpften Konsens der internatio-nalen Gemeinschaft. Abgesehen von diesen minimalen Stan-dards, die in diesen Rechten gewährt wurden, haben Staaten Möglichkeiten, die Menschenrechte entsprechend ihrer Kultur auszuformen. Doch obwohl der Anspruch auf universelle Gül-tigkeit der Menschenrechte überzeugend aus dem Völkerrecht

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abgeleitet werden kann, behalten sich einige Regierungen im-mer noch vor, sie nur insoweit umzusetzen, wie sie der von ihnen interpretierten Kultur oder Religion entsprechen.

2. Menschenrechtsberichterstattung als Beitrag zur Prävention gewalttätiger Konfl ikte

Menschenrechtsarbeit und Krisen- und Konfl iktarbeit sind eng miteinander verbunden. Im Bereich der Prävention liegt der Schwerpunkt auf einer objektiven Menschenrechtsberichter-stattung zu anhaltenden Spannungen und potenziellen Kon-fl iktherden. Es mangelt selten an derartigen Berichten, doch sie müssen ernst genommen und ausgewertet werden. Es gibt zuwenig ernsthafte Versuche von Seiten der Politik, von einer »early warning« zu einer »early action« zu kommen. Dabei kann eine gute, das heißt auf gut recherchierten Fakten ba-sierende Berichterstattung zur Menschenrechtssituation sehr nützlich sein. Mit der Veröffentlichung von Fakten zu Massa-kern an Zivilisten beispielsweise wird allen beteiligten Parteien ein Signal gegeben, dass ihre Taten nicht verborgen bleiben und sie für derartige Gräuel zur Verantwortung gezogen wer-den. Weiter kann durch genaue und schnelle Menschenrechts-untersuchungen Kriegspropaganda und Gerüchten gegenge-steuert werden, die einen Konfl ikt gegebenenfalls noch mehr aufheizen können. Durch Menschenrechtsberichte können Verantwortlichkeiten und Zusammenhänge für Menschen-rechtsverletzungen aufgezeigt werden. Dies soll eine Warnung an alle Akteure sein, die Regeln einzuhalten.

Der Jahresbericht von amnesty international erscheint inzwi-schen in mehreren Sprachen rund um den Globus. Er ist ein umfassendes Nachschlagewerk zur Menschenrechtslage welt-weit. Wer ihn liest, erhält gut dokumentierte Informationen zu den wesentlichen Entwicklungen im jeweils vergangenen Jahr. Hinzu kommen zahlreiche Länderberichte, mit denen wir uns immer wieder an die Weltöffentlichkeit wenden. Wir fordern von den Regierungen ein, sich auf ihre ureigenste Auf-gabe zu besinnen: Sie haben die Menschenrechte ihrer Bür-ger und Bürgerinnen zu schützen, zu fördern und aktiv dazu beizutragen, dass Menschenrechtsverbrechen verhindert oder – wenn sie geschehen – aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

3. Menschenrechtsarbeit unter neuen »sicher-heitspolitischen Rahmenbedingungen«

Die so genannten »sicherheitspolitischen Rahmenbedin-gungen«, unter denen wir heute Menschenrechtsarbeit lei-sten, haben sich seit dem Ende des »Kalten Krieges« in vieler-lei Hinsicht geändert. Die Kriege und gewaltsamen Konfl ikte von heute bedeuten auch für die Menschenrechtsarbeit ande-re Herausforderungen. Die Konsequenzen daraus sind jedoch letztlich die gleichen wie schon bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Sicherheit für alle setzt Menschenrechte für alle voraus.

Die Konfl ikt- oder Kriegssituationen, in denen Sicherheitser-wägungen – scheinbar – dem umfassenden Menschenrechts-

schutz entgegenstehen, lassen sich grob in drei Kategorien einteilen:

• die Situation so genannter »failing states«, bei denen es in-ternen wie externen Akteuren vorrangig um die (Wieder-)Erlangung von Sicherheit im Sinne von Stabilität geht;

• innerstaatliche gewaltsame Konfl ikte zwischen staatlichen Akteuren, Rebellengruppen und zumeist auch paramilitä-rischen Akteuren, bei denen die Menschenrechte oft der Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols, gleich-gesetzt mit der Gewährleistung von Sicherheit, untergeord-net werden;

• und der weltweite so genannte »Krieg gegen den Terroris-mus«, in dem auch in Rechtsstaaten zugunsten vermeint-licher Sicherheit zunehmend Menschenrechtsstandards ausgehöhlt werden.

3.1 Einige menschenrechtspolitische Grundlagen für nachhaltige Sicherheit

Im Hinblick auf die ersten beiden Komplexe sollen zunächst drei – keineswegs neue – menschenrechtliche Aspekte her-vorgehoben werden, weil sie sowohl für die Beendigung als auch die Prävention schwerer Menschenrechtsverletzungen eine besondere Rolle spielen und deshalb auch von amnesty international immer wieder thematisiert werden: die Strafl o-sigkeit schwerer Menschenrechtsverbrechen, die Rüstungsex-porte in Krisenländer und die Rolle von Frauen in bewaffneten Konfl ikten.

Nach einem akuten Konfl ikt ebenso wie bei jahrelangen ge-waltsamen Auseinandersetzungen innerhalb eines Staates ver-fl üchtigt sich die internationale Aufmerksamkeit schnell, doch gerade dann ist weitere konsequente Menschenrechtspolitik gefordert. Etwa durch den Aufbau rechtsstaatlicher Justizsy-steme und die Einrichtung von nationalen Institutionen, die Menschenrechte fördern und schützen. Verschiedene Formen, wie mit Tätern von Menschenrechtsverletzungen im Prozess der Versöhnung umgegangen werden soll, sind denkbar. Ge-sellschaftliche Friedens- und Versöhnungsprozesse und die Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen stehen oft in einem Spannungsverhältnis zueinander. Doch wenn nachhaltiges friedliches und damit sicheres Zusammenleben wieder mög-lich sein soll, darf die Frage nach Gerechtigkeit nicht beiseite gewischt werden. Alle unsere Erfahrungen zeigen, dass die ernsthafte und sorgfältige Aufarbeitung von Menschenrechts-verletzungen – sowohl von individuellen wie systematischen Übergriffen – ein ganz zentraler Aspekt gesellschaftlicher Ver-söhnungsprozesse wie auch der Verhinderung zukünftiger Menschenrechtsverletzungen ist. Aus Sicht der Opfer steht da-bei die materielle Entschädigung oft gar nicht an erster Stelle der Wiedergutmachung, hier spielen auch die formelle Aner-kennung ihrer Leiden und eine offi zielle Entschuldigung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wir sind hier erst am Anfang und müssen intensiv Untersuchungen vorantreiben, welche Formen in den jeweiligen Gesellschaften nachhaltig gewirkt haben. An verschiedensten Beispielen wird jedoch immer wie-der deutlich, dass die Benennung der Täter und deren strafrecht-liche Verantwortung vor Gericht eine wesentliche Voraussetzung

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für die nachhaltige Gewährleistung von Menschenrechten und Sicherheit sind. In El Salvador etwa herrschen trotz of-fi ziellen Endes des zwölfjährigen Bürgerkriegs nicht Frieden und Sicherheit, sondern Gewalt und Instabilität durch anhal-tende Strafl osigkeit. Das Amnestiegesetz von 1993 verhindert bis heute eine gerichtliche Aufarbeitung der massiven Men-schenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges und die Entschädigung der Opfer. In Kolumbien ist ein Ende des schon vierzigjährigen Bürgerkrieges auch deshalb nicht in Sicht, weil die derzeitige Kampagne zur Demobilisierung der Paramilitärs einhergeht mit einer weitgehenden Straffreiheit von Verant-wortlichen für Verschwindenlassen, Folter, Vertreibungen und extralegale Hinrichtungen und das Gesetz für »Gerechtigkeit und Frieden« zudem die Rechte der Opfer auf Wahrheit, Ge-rechtigkeit und Entschädigung missachtet.

Ein großer Schritt vorwärts bei der Beendigung schwerer Men-schenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist dagegen der Internationale Strafge-richtshof. amnesty international setzt sich deshalb für die welt-weite Ratifi zierung des Römischen Statuts und die Umsetzung des Prinzips universeller Gerichtsbarkeit in den nationalen Rechtsordnungen ein. Und wir widersprechen immer wieder den Versuchen, Soldaten und Personal von UN-Friedensmis-sionen aus Nichtvertragsstaaten von der Gerichtsbarkeit des Intentionalen Strafgerichtshofes auszunehmen. Gerade Reprä-sentanten der Vereinten Nationen dürfen keine Immunität genießen, wenn sie sich schwerer oder systematischer Men-schenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben. Auch die jahrelang aussichtslos erscheinende Überstellung hoher Politi-ker und Militärs bis hin zu Staatspräsidenten an internationale oder nationale Strafgerichte, wie nach Pinochet und Milosevic zuletzt im Falle Charles Taylor, signalisiert den Tätern immer deutlicher, dass sie nicht mehr damit rechnen können, dass ihre Verbrechen ungesühnt bleiben.

Die Verhinderung des Exports von militärischen Gütern und Si-cherheitsausrüstungen sowie von Kleinwaffen und leichten Waffen, wenn davon ausgegangen werden kann, dass sie zur Konfl ik-teskalation und Menschenrechtsverletzungen beitragen, ist eine weitere menschenrechtliche Grundvoraussetzung für die Gewährleistung von individueller wie kollektiver Sicher-heit. Weltweit werden jedes Jahr eine halbe Million Menschen durch Waffengewalt getötet – ein Mensch pro Minute. Regie-rungen, die lautstark vor der Bedrohung durch Massenver-nichtungswaffen warnen, tragen gleichzeitig durch den hem-mungslosen Transfer von konventionellen Waffen, darunter Klein- und Leichtwaffen, zur Eskalation von Konfl ikten rund um den Erdball bei. amnesty international, Oxfam Internatio-nal und das »Internationale Aktionsnetzwerk zu Kleinwaffen« führen deshalb unter dem Motto »Waffen unter Kontrolle« in über 60 Ländern eine Kampagne gegen unkontrollierten Waf-fenhandel durch. Vorrangiges Ziel ist die strikte Kontrolle und Transparenz aller Rüstungstransfers durch ein rechtlich verbind-liches internationales Abkommen. Ein solches Abkommen soll einheitliche Standards für den Waffenhandel schaffen und alle Exporte verbieten, die zur Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts beitragen – eine globale Lösung für ein globales Problem.

Grundvoraussetzung für die Gewährleistung nachhaltiger Si-cherheit ist schließlich auch die Beendigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen in bewaffneten Konfl ikten gleichermaßen wie im familiären Kontext sowie die stärkere Einbindung von Frauen in Friedensverhandlungen und -prozesse. Die Empfeh-lungen der vom Sicherheitsrat schon im Jahr 2000 beschlos-senen Resolution 1325 sehen vor, dass Frauen auf allen natio-nalen, regionalen und internationalen Entscheidungsebenen der Prävention, Konfl iktbeilegung und Friedenskonsolidierung verstärkt eingebunden werden und eine Gender-Perspektive in allen Prozessen der Friedenssicherung systematisch integriert und implementiert wird.

3.2 Die Relativierung elementarer Menschen-rechtsstandards im »Kampf gegen den Terro-rismus«

Nach wie vor missbrauchen die Staaten den »Krieg gegen den Terror« als Rechtfertigung, um Menschen »verschwin-den« zu lassen, um sie ohne ordentliches Verfahren zu in-haftieren, um sie zu misshandeln und zu foltern. Vor allem nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA sowie den Anschlägen vom 11. März 2004 in Madrid und den beiden Anschlägen in London im Juli 2005 sind auf in-ternationaler, europäischer und nationaler Ebene zahlreiche Maßnahmen ergriffen worden, um den »Terrorismus« zu be-kämpfen. Viele dieser Maßnahmen greifen in grundlegende Menschenrechte ein und führen zu einer Erosion des Systems des Menschenrechtsschutzes, wie er sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelt hat. Staaten wie die USA und Großbritannien stellen das absolute Folterverbot zur Dispo-sition. Großbritannien hat »Terrorismusverdächtige« ohne Anklageerhebung unrechtmäßig in Haft gehalten und plant offen einen Verstoß gegen das absolute Folterverbot, indem es »Terrorverdächtige« auch in Länder abschieben oder auslie-fern will, in denen ihnen Folter droht. Durch Einholen diplo-matischer Zusicherungen der Zielstaaten, dass die »Terroris-musverdächtigen« nicht gefoltert würden, wollen sich immer mehr Regierungen absichern und auch in Staaten abschieben und ausliefern, in denen gefoltert wird.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sind in den USA fundamentale internationale Menschenrechtsstandards zunehmend ausgehebelt worden: Die US-Regierung begann schrittweise, das Verbot von Folter und erniedrigender Be-handlung im Namen der Sicherheit aufzuweichen. Anfang 2002 gab das Verteidigungsministerium eine Richtlinie he-raus, die »Individuen der al-Qaida und der Taliban« das Anrecht auf den Status als Kriegsgefangene aberkennt. Im Spätsommer 2002 wurde der Begriff Folter neu defi niert und Verhörmethoden erlaubt, die nach international vereinbarten Kriterien als Folter gelten. Es wurde in Abrede gestellt, dass der Schutzbereich des Folterverbots sich auch auf Fälle erstreckt, in denen eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Bestrafung erfolgt. Im Frühjahr 2003 geneh-migte Verteidigungsminister Rumsfeld die Anwendung von 24 »widerstandsbrechenden« Techniken und behielt es sich vor, gegebenenfalls »zusätzliche Verhörtechniken« im Einzelfall

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zu genehmigen. Weltweite Kritik am Lager Guantánamo ver-hallte lange ungehört. Die entsetzlichen Folterbilder aus Abu Ghraib, Irak, brachten die US-Regierung dann 2004 erstmals unter ernsthaften Druck. Berichte über »Geisterhäftlinge« und geheime Haftzentren folgten. Terrorverdächtige wurden durch die CIA verschleppt und an Staaten überstellt, die von den USA sonst wegen Folter und anderen Menschenrechts-verletzungen kritisiert werden. Schließlich verkündete die US-Außenministerin im Dezember 2005, die UN-Antifolter-konvention »gilt für US-Personal, wo immer es sich aufhält, in den USA oder im Ausland«. Und wenig später gab Präsident Bush seinen Widerstand gegen das entsprechende Gesetz auf, das Folter und Misshandlung auch im Ausland verbietet und auch den Geheimdiensten untersagt. Dabei hat er sich jedoch augenscheinlich eine juristische Hintertür offen gehalten, wie ein öffentlich gewordenes »Statement des Präsidenten« ver-deutlicht. Aus diesem wird ersichtlich, dass sich die Regierung mit Blick auf das Antifoltergesetz einen nicht überprüfbaren Interpretationsspielraum zubilligt.

amnesty international hat wiederholt öffentlich die USA für die von ihr zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen scharf kritisiert. Zwei Jahre nach den skandalösen Folterfäl-len im Abu Ghraib Gefängnis in Bagdad warten wir weiter auf eine unabhängige und umfassende Untersuchung. Bisher untersucht und richtet sich der Verdächtige selbst. Kein Wun-der, dass Verantwortliche auf höherer Ebene entweder nicht oder nur geringfügig belangt werden. Nach wie vor haben in-ternationale Experten keinen Zugang zu allen von den USA kontrollierten Haftzentren, von Baghram in Afghanistan bis Guantánamo. Wir wissen, dass dort überall gefoltert wurde und vermutlich noch wird.

Gleichzeitig müssen wir erleben, wie auch bei uns in Deutsch-land über die Zulässigkeit von Folter diskutiert wird. Ein zivi-lisatorischer Konsens, der als unumstößlich galt, wird in Frage gestellt. »Nein zur Folter. Ja zum Rechtsstaat« ist das Motto, unter dem amnesty international der Debatte zur Relativie-rung des Folterverbots begegnet. Es ist auch der Titel eines Appells, mit dem sich Persönlichkeiten aus allen Bereichen der Gesellschaft zusammen mit amnesty international im Mai 2005 gegen die Aufweichung des Folterverbots ausgesprochen haben. In diesem Aufruf heißt es: »Weite Teile der Bevölke-rung wie auch hochrangige Politiker und Juristen wollen Fol-ter in begründeten Einzelfällen zulassen. Neben Kindesent-führung gibt hier vor allem der ‚Krieg gegen den Terror’ das Stichwort. Mehrere Neukommentierungen zum Grundgesetz sowie zur Strafprozessordnung haben in jüngster Zeit der Aufweichung des Folterverbotes das Wort geredet. Die Men-schenwürde soll abwägbar, ihre Unverfügbarkeit aufgehoben werden.« Es kann jedoch für den Staat keine Rechtfertigung geben, Menschen in seinem Gewahrsam zu foltern oder zu misshandeln. Nach deutschem wie nach Völkerrecht ist Folter, auch in Zeiten von Notstand, Krieg oder besonderer Gefahr, absolut verboten. Folter ist durch keinen Zweck, keine Ab-sicht, ein anderes Rechtsgut schützen zu wollen – und sei es das Recht auf Leben – zu rechtfertigen. Folter verletzt die Men-schenwürde und diese ist unantastbar. Denn der Schutz der Menschenwürde ist die Grundlage eines Rechtsstaats. Dem-nach können die Bürgerinnen und Bürger darauf vertrauen

und im Zweifelsfall rechtlich geltend machen, dass der Staat seine Gewalt innerhalb dieser Grenzen ausübt. Dieser sicher geglaubte Konsens scheint derzeit jedoch verloren zu gehen. Viele Regierungen, auch in Europa, weichen vor allem unter dem Vorwand des »Kriegs gegen den Terror« das Prinzip des absoluten Folterverbots auf. Die bisher geltenden Defi nitionen von Foltermaßnahmen werden in Frage gestellt, an ihrer Stelle werden neue, verwischende Umschreibungen gesucht. Regie-rungen bemühen sich zudem nicht oder nur unzureichend, die für Folter Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Vielmehr scheint Folter – ohne dass sie so benannt würde – im Sicherheitskonzept des Anti-Terror-Kampfes salonfähig zu werden. Gerade in Deutschland resultiert das absolute Fol-terverbot auch aus einer historischen Erfahrung, die noch kein Menschenalter zurückliegt. Dass diese Erfahrung eine Lehre für die Gegenwart sein muss, scheint in unserer Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich zu sein. Wie bereits in unserem Antifolteraufruf festgehalten, gilt jedoch: Wer Folter – und sei es in Ausnahmefällen – zulassen will, der ruft nach einem anderen als dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.

In den vergangenen Monaten haben weitere menschen-rechtlich äußerst fragwürdige Sachverhalte die Diskussion in Deutschland bestimmt. Als im November 2005 die Ver-schleppung des Deutschen Khaled El Masri durch die CIA in den Talkshows diskutiert wurde, war die Meinung einhellig. Politiker aller Parteien verdammten die so genannten »rendi-tions«, also die Verschleppung von Terrorverdächtigen. Sol-che Entführungen seien unter allen Umständen illegal. Die geäußerte Empörung auf dem Höhepunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht allerdings in seltsamem Gegensatz zu den nur mangelhaften Anstrengungen, das illegale Vorgehen umfassend aufzuklären und womöglich zu verhindern. Ver-treter der Bundesregierung selbst betreiben zudem im Namen der Terrorismusbekämpfung eine Politik, die eine schrittwei-se Aufweichung von Menschenrechtsstandards bewirkt. So musste Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble am 14. De-zember 2005 vor dem Bundestag zugeben, dass Beamte des Bundesnachrichtendienstes einen Gefangenen in Guantána-mo und Beamte des Bundeskriminalamtes einen Gefangenen in Syrien befragt haben. Es wurde bald deutlich, dass es sich um Murat Kurnaz, einen türkischen Staatsangehörigen, der in Deutschland lebt, und den Deutsch-Syrer Mohammed Haider Zammar handelt. Bemerkenswert ist das Eingeständnis des Bundesinnenministers schon deshalb, weil die Bundesregie-rung es im Fall Kurnaz lange Zeit abgelehnt hatte, sich für die Rechte des völkerrechtswidrig Inhaftierten einzusetzen, weil er kein deutscher Staatsangehöriger sei. Im Zusammenhang mit der Inhaftierung Zammars in Syrien hatte das Auswärti-ge Amt nach Auskunft seiner Anwältin auf Nachfrage mitge-teilt, dass es keinen Kontakt zu dem Gefangenen herstellen konnte. Umso mehr befremdet es nunmehr zu erfahren, dass beide Personen offenbar zur Gewinnung von Informationen im Kampf gegen den Terrorismus von deutschen Behörden »abgeschöpft« worden sind.

Innenminister Schäuble hat auch betont, dass im Rahmen der Terrorismusbekämpfung auch Erkenntnisse genutzt werden sollten, bei denen die Gefahr besteht, dass sie unter Folter erlangt worden sind. Verwendbar sollen Informationen derart

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zweifelhaften Ursprungs zwar nicht im Strafverfahren sein, wohl aber als Grundlage weiterer Ermittlungen oder im Rah-men der Gefahrenabwehr. Im Ergebnis würden die deutschen Sicherheitsbehörden damit zu »Profi teuren der Folter«. Der Folter wird damit bewusst oder unbewusst Vorschub geleistet und das auch von der Regierung so versicherte absolute Fol-terverbot aufgeweicht.

Die Menschenrechte gelten ausnahmslos auch im Kampf ge-gen den Terror, versichert die Bundesregierung stets öffentlich. Zur Umsetzung dieser Versicherung zählt es, Menschenrechte von Partnerländern einzufordern, die offensichtlich dagegen verstoßen; dazu zählt, Menschenrechtsverletzungen vorbe-haltslos aufzuklären, insbesondere dort, wo eine deutsche Be-teiligung gegeben zu sein scheint; und dazu zählt auch, den eigenen Behörden, die wesentlich am Kampf gegen den Terror beteiligt sind, exakte Vorgaben zu machen, wo ein Verstoß gegen Menschenrechte beginnt. Bei all diesen Themen gibt es für die Bundesregierung noch viel zu tun.

Es gibt für mich keinen Zweifel: Die Urheber terroristischer Anschläge müssen gefasst und vor Gericht gestellt werden. Die entsetzlichen Gewaltakte bewaffneter politischer Grup-pen sind Ausdruck der völligen Missachtung fundamentalster Grundsätze der Menschlichkeit. Und: Die Staaten haben das Recht und die Pfl icht, ihre Bürgerinnen und Bürger – soweit möglich – vor weiteren Anschlägen zu schützen. Menschen-rechtsverletzungen sind jedoch kein Mittel der Terrorbekämp-fung.

Viele Versuche, größere Sicherheit vor nicht auszuschließenden Anschlägen zu erreichen, haben vor allem die Aushöhlung international und verbindlich geltender Menschenrechtsstan-dards zur Folge. Von der Veränderung der gesellschaftlichen Diskurse in Zeiten des Terrorismus ganz zu schweigen. Unver-kennbar ist mit dem Kampf gegen den Terrorismus die Logik des »gerechten Krieges« in das politische und rechtliche Den-

ken zurückgekehrt. Hier muss die Menschenrechtsbewegung nicht nur im Einzelfall protestieren, sondern muss verstärkt und langfristig die Diskussion zum Schutz der Menschen-rechte gegenüber staatlichen Interessen führen. Auch ein so genannter »Terrorist« verliert seine Menschenrechte nicht. Es macht moderne Rechtsstaaten aus, dass sie diesen Grundsatz respektieren, so schwer es im Einzelnen auch fallen mag.

Eine Politik, die Sicherheit auf Kosten der Menschenrechte erreichen will, erreicht ihr Ziel nicht. Damit treibt sie Men-schen in die Arme derer, die eine freie, auf Grundrechten für alle beruhende Gesellschaft ohnehin ablehnen. Gerade in »schwierigen Zeiten« ist der Einsatz für die Menschenrechte unerlässlich.

4. Schlussbemerkung

Die Grundprinzipien der Allgemeinen Erklärung der Men-schenrechte sind heute wichtiger denn je. Wirkliche individu-elle und kollektive Sicherheit entsteht erst, wenn Menschen-rechte respektiert und geachtet werden. Dieser elementare Grundsatz gilt in gleicher Weise für die nationale wie die internationale Ebene. Menschenrechtsstandards stellen das absolut notwendige Minimum dar, um die Sicherheit und In-tegrität von Individuen vor Machtmissbrauch zu schützen. Sie sind keine Gefälligkeitserklärungen der Regierungen. Ohne den Schutz des Rechtsstaates, inklusive Mechanismen zur Re-chenschaftspfl icht, können Aktionen gegen Verdächtige zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen. Die Herausfor-derung für die Staaten besteht darin, die Sicherheit der Bürger nicht auf Kosten der Menschenrechte zu verbessern, sondern vielmehr sicherzustellen, dass alle Menschen in den Genuss des gesamten Spektrums ihrer elementaren Rechte gelangen.

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Dieter Senghaas, Zum ir-dischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, Frankfurt (Suhrkamp Verlag) 2004.

Mit Zum irdischen Frieden ist Dieter Senghaas, Leiter des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien in Bremen, ein in vieler Hinsicht konkludenter Forschungsbei-trag zur friedenspolitischen Debatte gelungen.

Obwohl kein weiterer »Beitrag zur Kant-Philologie«, knüpft der »irdische Friede« an die europäische Friedenstraditi-on der Aufklärung an (S. 8). Auch Kants »Ewiger Friede« war ja nicht als ein endgül-tiger Dauerzustand gedacht, sondern irdisch: etwas durch ständiges Bemühen perpetu-ierlich Anzustrebendes, das nach Kant »selbst für ein Volk von Teufeln« erreichbar sei (»wenn sie nur Verstand haben«). Insofern bietet Zum irdischen Frieden zunächst nichts aufregend Neues. Doch Senghaas‘ Ausführungen ge-hen notwendigerweise weiter. Der Autor will »jene Erkennt-nisse, Einsichten und auch Vermutungen, insbesondere aber wißbares weltkundiges Wissen, aufbereiten, die für ein zeitgemäßes differen-ziertes Verständnis der ge-genwärtigen und absehbar zukünftigen weltweiten Frie-densproblematik von Bedeu-tung sind« (S. 11). Dabei geht der Autor von vier »Welten« aus, auf welche moderne Entwicklungen wie z.B. Glo-balisierung auf verschiedene Weise Einfl uss ausüben. Maß-stab für Senghaas‘ Analyse ist das bekannte, in früheren Schriften bereits vorgestellte »zivilisatorische Hexagon«.

Senghaas bekennt sich zu ei-ner konstruktiven Friedensur-sachenforschung. Konsequent bezieht der Autor dagegen Stellung, dass die Staaten immer noch »ein militärisch

abgesichertes Machtmanage-ment« inszenieren (»para bellum-Maxime«), das wahr-scheinlich »seinerseits die Eskalationsträchtigkeit von Gewaltlagen verschärft, an-statt potentieller Eskalation entgegenzuwirken und sie einzudämmen«. Senghaas kritisiert, dass »unter den Vorzeichen des militärischen Primats ... die Instrumentari-en der friedlichen Streitbeile-gung und selbst noch relativ militärnahe Instrumentarien wie ... kollektive Sicherheit« als sekundär eingestuft wer-den (S. 17f.).

Erforderlich sei, die para bel-lum-Maxime in die »kon-trastierende Maxime« si vis pacem, para pacem aufzulösen. Ein »zeitgemäßes Friedens-konzept« sei demnach die universale »Herrschaft des Rechts« (rule of law), die je-doch einer »innergesellschaft-lichen und internationalen Friedensstruktur« bedarf. Zwischen beiden »bestehen Rückkoppelungen mit wech-selseitigen Verstärkungseffek-ten« (S. 23).

Senghaas rekurriert auf den »ursächlichen Pazifismus« (nach dem Friedensnobel-preisträger Alfred H. Fried), der darauf aus ist, die Ursa-chen für Kriege zu beseitigen. Nach Fried: »...wer eine neue wünschbare Folge anstelle ei-ner anderen gezeitigt sehen will, muss anstelle der einen Ursache jene andere setzen, die die gewünschte Folge hervorbringen kann« (Seng-haas, S. 26). Eben dies war Gegenstand der Haager Frie-denskonferenzen 1899 und 1907, welche den Krieg ab-schaffen und an dessen Stelle den Rechtsweg verbindlich vorschreiben wollten; nur so, so meinte man, würde Ab-rüstung überhaupt möglich. Diese »klassische Lehre« des Pazifismus bezweckte eine »neue Weltordnung«, nicht

die »Beseitigung von Kon-fl ikten«. sondern die »Kon-fl ikttransformation« (S. 27), nach Fried: »Die Umwand-lung des zwischenstaatlichen Verhältnisses, ... [so] daß sie [die Konfl ikte] der Gewalt-lösung entrückt und [der] rechtlichen Behandlung« zu-geführt würden (Senghaas, S. 27). Für Senghaas steht dabei eine »soziale Ordnung« im Vordergrund, die sicherstellt, dass »Konfl ikte in aller Regel verläßlich gewaltfrei bearbei-tet werden, also im politischen Sinne des Begriffs Frieden her-gestellt ist« (S. 26).

Auf den Seiten 26 bis 80 folgt eine Aufarbeitung des Diskurses, der bereits im Zu-sammenhang mit den Haager Konferenzen stattgefunden hatte, allerdings nun unter Einbeziehung neuer aktu-eller, ganzheitlicher sozialer und politischer Sachver-halte. Obwohl damals schon ein »wissenschaftliches wie praktisches Anliegen«, wich die Vorstellung einer auf das Recht gegründeten Organi-sation des Friedens im 20. Jahrhundert (dem Jahrhun-dert »der Gewaltherrschaft, der Kriege, der Genozide, der wechselseitigen Vernich-tungsdrohung«) einem z.T. oberfl ächlichen »Antimilita-rismus«.

So konnte die »Lücke« − die (fehlende) internationale Rechtsordnung − im 20. Jahr-hundert nicht gefüllt und der »Aufbau dauerhafter friedens-fördernder Strukturen und Mentalitäten« nicht erreicht werden (S.27). Inzwischen sind, wie der heutige »Blick in die Welt zeigt, ... Staatsverfall und eine Fülle von militanten innerstaatlichen Konfl ikten … zu beobachten« (S. 28). In diesem Zusammenhang wäre ein Hinweis hilfreich gewesen, warum die dafür ursächlich verantwortlichen europäischen Mächte ihren

Anspruch, in den internati-onalen Beziehungen den Pri-mat des Rechts vor dem der Macht durchzusetzen, noch immer nicht realisiert haben. Eine genauere Analyse der bereits zitierten »Rückkoppe-lung«, die zu einer »Verschär-fung der Eskalationsträchtig-keit« führt und geführt hat, könnte aufklärend sein. Viel-leicht eignet sich Senghaas‘ Anwendung der »Grundstruk-tur des Freudschen Modells … auf die Analyse des Ver-haltens von Staaten und Na-tionen« auch als Apologie der nördlichen Industrieländer (S. 111). Ähnlich wie beim Freudschen »Ich« spielen bei modernen Verfassungsstaaten Abwehrmechanismen, Ver-drängung, Projektionen, Verneinung, Todestrieb eine Rolle − was geradezu »autis-tische Milieus« hervorbringt (S. 105). Staaten handelten generell, wie Senghaas rich-tig unterstellt, »viel weniger rational, als es die Theorie be-hauptet« (S. 82).

Gerade angesichts eines sol-chen pathologischen Be-fundes ist jedoch fraglich, ob es notwendig ist, dass »sich in einem bisher eher konfl ikt-abgeneigten Kulturbereich (wie dem konfuzianisch-bud-dhistischen) eine politische Kultur verankern kann [bzw. soll], die zu Konfl ikten und Konfl iktverarbeitung allmäh-lich ein positives Verhältnis gewinnen wird« (S. 44). Ar-gumentiert der Autor hier gegen das in diesen Kulturen zur Lösung von Konfl ikten ge-bräuchliche Konsensprinzip?

Der anarchische Zustand muss auf jeden Fall beendet werden, damit, so Senghaas, der »aus politisierter Diffe-renz resultierende ‚moderne soziale Konfl ikt‘ ... mit [sei-nen] erheblichen externen Folgen« nicht − statt zu wün-schenswerter Koexistenz − zur »Fundamentalpolitisierung«

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(S. 30) und statt zu einer »Mä-ßigung des Konfl iktverhaltens … einer Zähmung der Affekte, ... Aggressionshemmung und Gewaltverzicht, ...[und] da-rauf aufbauend Toleranz und Kompromissfähigkeit ...[so-wie] geregelter Rechtsfortbil-dung« (S. 34) zu Terrorismus, Apathie oder einer »Libanisie-rung« der Verhältnisse führt. Es muss also, da »die Funda-mentalpolitisierung der Welt voranschreitet … [z]ivilisierte Konfl iktbearbeitung … dem zu bewältigenden komplexen Problemknäuel gewachsen sein« (S. 137).

Hinsichtlich der Verteilungs-gerechtigkeit in »sich moder-nisierenden Gesellschaften« (S. 157) stellt sich die Frage, wie es innerhalb von und zwi-schen den armen Staaten der südlichen Erdhalbkugel Ge-rechtigkeit und konstruktive Konfliktbearbeitung geben kann, wenn auf internatio-naler Ebene wesentliche Vo-raussetzungen dafür fehlen. Senghaas schlägt zwar nicht vor, statt Waffen- und Ent-wicklungshilfe für schwache Staaten zu leisten, sollte man ihnen für die von ihnen ge-lieferten Rohstoffe und Bo-denschätze reelle Preise zah-len, die Entwicklungshilfe überfl üssig machen würden. Der Autor betont jedoch die Notwendigkeit konstruktiver Beiträge sowohl im Hinblick auf eine »weltweite ›Schick-salsgemeinschaft‹« und die »Gesellschaftswelt« und »Wirtschaftswelt« dieser Regi-onen, welche asymmetrische Interdependenzen abbauen helfen würden.

Dass Senghaas kein Asienwis-senschaftler ist, wird deut-lich, wenn er »im ethnopo-litisch zerklüfteten Indien« zu beobachten meint, dass »der postkolonial-säkulare Staat unter dem Beschuss fundamentalistisch(er) … Kräfte« zusammenbrechen

könnte und die Menschen »demnächst« vor der Ent-scheidung stünden, »den säkularen Staat als institutio-nelle Plattform einigermaßen zivilisierter Konfl iktbearbei-tung« abzuschaffen und, »ihn ersetzend, eine neue, die Eth-nokonfl ikte einhegende Platt-form zu (er)fi nden« (S. 46f.). Es erübrigt sich hier ins Detail zu gehen. Trotz augenfälliger Unterschiede: Immerhin hat Indien als größte Demokratie der Welt bereits erreicht, wo-nach Europa noch strebt: die politische Einheit und eine demokratische föderale Ver-fassung. Freilich: Weder in In-dien, noch in Europa waren diese Entwicklungen ohne Hilfe von außen möglich.

Auch Gandhis »traditionsbe-wußte Lebensphilosophie« war nicht nur »dörfl ich, an-tikommerziell und egalitär ausgerichtet« und sah nicht nur »kleine Einheiten ... im überschaubaren Raum« vor (S. 49). Gandhi und mit ihm die gesamte Kongresspartei befürworteten eine föderale Weltordnung (world federati-on), eine Art erweitertes Com-monwealth, in dem Indien eine ihm angemessene Rolle spielen sollte.

Was also Europa »auf Wegen, Umwegen und auch Abwegen lernen musste, … wird sich als Vorgang in anderen Teilen der Welt … wiederholen müs-sen: Die nicht aufschiebbare Bewältigung der Koexistenz-problematik angesichts um sich greifender Fundamen-talpolitisierung in der Folge des zitierten Umbaus traditi-onaler in sozial moderne Ge-sellschaften...« (S. 47f.). Nach Senghaas beinhaltet dieser Satz keine Bevormundung, da in Europa selbst diese Ent-wicklung nicht »vorgesehen« war und es anfällig bleibt für Fehl- und Rückentwick-lungen. Allerdings erfüllt Eu-ropa das zivilisatorische He-

xagon: »Toleranz, Sensibilität für Spielregeln, Mäßigung, Gewaltenteilung, Kompro-missbereitschaft, … Sinn für mehr als das eigene Interesse (Empathie)« am ehesten; die-se Eigenschaften sind »Ergeb-nisse von mühsamen kollek-tiven Lernprozessen«. Um den Vorwurf des Eurozentrismus abzuwehren, versichert der Autor, »der demokratische Verfassungsstaat [sei] nicht das Ergebnis kulturgene-tischer Vorprägung« (S. 39). Fraglich ist allerdings, ob ein Europa, das weiterhin auf militärische Friedenssiche-rung setzt und eine umfang-reiche Rüstungsexportpolitik betreibt, als eine »Zone des Friedens« gelten kann, in der »der Krieg … abgeschafft« ist (S. 163). Auch scheint in entscheidenden Fragen der kollektive Lernprozess noch nicht abgeschlossen.

Senghaas kontrastiert fer-ner die der europäischen Geschichte innewohnende Dynamik mit der Statik tra-ditioneller Gesellschaften, in denen »die Rollen und Rollenspiele der Handeln-den vorgezeichnet (waren). Zyklizität bestimmte das his-torische Selbstverständnis, das in Wirklichkeit kein im heutigen Sinne historisches war, weil der Zyklus − analog zu den Vorgängen im Jahres-rhythmus der Natur ... immer wieder zum selben Ausgangs-punkt zurückkehrte« (S. 48). Hier irrt der Autor, denn zwar ist das Geschichtsverständnis in asiatischen Ländern zy-klisch, aber ebenso wie in der Natur kann es niemals eine Rückkehr exakt zum selben Ausgangspunkt geben: Die Bewegung ähnelt eher einer Spirale − wie ja auch Modelle aus der Biologie nahelegen. Steht die Menschheit insge-samt gegenwärtig vor dem Hintergrund von Globalisie-rung und »Fundamentalpo-

litisierung« im Begriff, eine neue Evolutions- beziehungs-weise Organisationsstufe zu erklimmen? Senghaas scheint dieser Idee nicht abgeneigt.

Trotz der hier geäußerten Kritik ist das Buch von Dieter Senghaas immens lesenswert und enthält zahlreiche wohl-gemeinte, anschauliche und auch praktische Vorschläge, wie eine »politische Kultur konstruktiver Konfliktbear-beitung« (S. 157) geschaffen werden kann.

Klaus Schlichtmann

Peter Waldmann, Terroris-mus: Provokation der Macht. 2. vollst. überarbeitete Aus-gabe, Hamburg (Murmann Verlag) 2005.

Die zweite Ausgabe des Buches von Peter Waldmann erfuhr im Vergleich zur 1998 erschienenen ersten Ausgabe (rezensiert in S+F 2/2000, S. 197f.) eine deutliche Aktua-lisierung. Vormals fehlenden Bezügen zu modernen Er-scheinungsformen des Ter-rorismus in den 1990ern, insbesondere zum religiös motivierten Terrorismus, wird im vorliegenden Buch nun Rechnung getragen. Nichts-destotrotz weiß sich Wald-mann in seiner sachlichen und gut verständlichen Ana-lyse nicht ausschließlich auf die neuen terroristischen Or-ganisationen zu beschränken, sondern ein durchaus nach-vollziehbares und umfas-sendes Bild des Terrorismus zu zeichnen. Aspekte moder-nen Terrorismus werden da-bei in Verbindung mit histo-rischen Entwicklungen und sozialpsychologischen Fragen betrachtet. Der sozialwissen-schaftliche Blickwinkel rich-tet sich somit nicht nur auf

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terroristische Organisationen und ihre eher technischen Seiten, sondern auch auf menschliche und gesellschaft-liche Begebenheiten. Der Au-tor tut dabei gut daran, keine persönlichen Wertungen ein-zubringen und objektiv an seinen Untersuchungsgegen-stand heranzugehen. Es geht ihm insgesamt darum, Terro-rismus als soziales Handeln zu verstehen und in der Folge zu erklären und zu prognosti-zieren. Er verzichtet dabei auf moralische oder rechtliche Beurteilungen, wie es ande-ren Disziplinen, die sich mit Terrorismus auseinanderset-zen, oftmals anheim ist. Das ist ihm in der Tat gelungen, was dem Leser sicherlich ein im Sinne Waldmanns diffe-renziertes Bild des Terroris-mus beschert.

Waldmann stellt eingangs eine Defi nition des Terroris-mus auf, die er in den fol-genden zwei Kapiteln erläu-tert: »Unter Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, scho-ckierende Gewaltanschläge ge-gen eine politische Ordnung aus dem Untergrund zu verstehen. Sie sollen vor allem Unsicher-heit und Schrecken verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen« (S.12). Konsequent kommt Waldmann im Laufe seines Buches immer wieder auf die einzelnen Punkte sei-ner Defi nition zurück, was das Verständnis erleichtert. Wie Waldmann beklagt, scheitert ein sachlicher Um-gang mit dem Problem des Terrorismus in der politischen Wirklichkeit gerade schon an einer fehlenden einheitlichen Definition. Die genannten Merkmale Planmäßigkeit, Öffentlichkeit und politische Motivation, aus dem Un-tergrund, Schockeffekt und Sympathieerzeugung – füh-ren schließlich zum Kern der Defi nition: Terrorismus

»ist primär eine Kommuni-kationsstrategie« (S.15). Das heißt, Terrorismus habe als extreme Variante asymme-trischer Kriegsführung (denn Terroristen haben angesichts der staatlichen Übermacht, gegen die sie als kleine und schwache Gewaltverbände kämpfen, keine Möglichkeit, eine offene Konfrontation auszutragen) vor allem ei-nen symbolischen Stellen-wert. Terrorismus, sozusagen als »Verlegenheitsstrategie« (S.13), solle sowohl Aufmerk-samkeit und Sympathie (ein Punkt, den Waldmann im Vergleich zu anderen Auto-ren besonders hervorhebt) für eine Sache herstellen, als auch den Gegner zu überzo-genen Reaktionen verleiten, um ihn in letzter Konsequenz selbst als Aggressor auftreten zu lassen. Zur umfassenden Defi nition von Terrorismus gehöre auch eine Abgrenzung von den Nachbarbegriffen Terror, Guerilla und gewöhn-liche Kriminalität. So gebe es zwar Vermischung und Kom-binationen dieser öffentlich wirksamen Gewaltformen, es lägen ihnen jedoch un-terschiedliche Handlungslo-giken zugrunde.

Waldmann nimmt noch weitere Unterteilungen vor. Unter Verwendung geeig-neter Grafi ken verdeutlicht der Autor die Entwicklung des internationalen Terroris-mus sowie seine Abgrenzung zum nationalen Terrorismus. Beachtenswert sei vor allem, dass, entgegen öffentlicher Perzeption, nur etwa 15 Prozent aller terroristischen Anschläge als international klassifi ziert werden können. Ferner geht Waldmann aus aktuellem Anlass auf die Gegenüberstellung von »al-tem« und »neuem« Terroris-mus ein. Einleuchtend argu-mentiert er, dass sich in den letzten Jahren zwar einzelne

Strukturen des Terrorismus gewandelt hätten, dies jedoch keineswegs als ein »neuer« Terrorismus bezeichnet wer-den könne. Wenngleich ins-besondere die Al Quaida als erste von vornherein trans-national angelegte Terroror-ganisation einen deutlichen »Innovationsschub« darstel-le, kann Waldmann zeigen, dass als neu dargestellte Er-scheinungen wie dezentrale Organisationsstruktur oder religiöse Motivation mit Par-allelen aus der Geschichte des Terrorismus widerlegt werden können. Die Grundfragen des Terrorismus blieben beste-hen.

Das terroristische Kalkül selbst entspreche einem ra-tionalen Zweck-Mittel-Den-ken. Es sei ein kompliziertes und indirektes Kalkül, das über Zwischenstufen zum Erfolg führen solle. Die Über-legung beruhe dabei auf der Idee der Provokation: Gemäß einem »Provokations-Repres-sions-Schema« müssten die Gewaltbotschaften erstens wahrgenommen und verstan-den werden, und zweitens der Adressat der Gewalt im Sinne der Terroristen überre-agieren, um somit die Masse der Sympathisanten zur of-fenen Rebellion zu bewegen. In der angestrebten Reaktion wiederum liege aber auch die immanente Schwachstelle des terroristischen Kalküls, da Terroristen lediglich einen Anstoß geben könnten, ohne ihre Zielerreichung weiterge-hend zu beeinfl ussen. Weil die Reaktionen schlecht vor-hersehbar seien, falle die Er-folgsbilanz auf die Ziele der Terroristen bezogen nicht gut aus. Lediglich hinsichtlich des destruktiven »Störens« durch Anschläge könne man Erfolg feststellen. Dieser stelle sich jedoch nicht positiv dar, sondern nur negativ.

Im Folgenden geht Wald-mann auf die geschichtlichen Vorläufer des Terrorismus ein, denn dieser sei keine Erfi n-dung der Neuzeit. Trotz his-torischer Präzedenzfälle sei Terrorismus als Gewaltstrate-gie eigener Art aber erst mit der Schlussphase der Franzö-sischen Revolution bekannt geworden. Detaillierter wid-met er sich dem 19. und 20. Jahrhundert, indem er einige Terrorgruppen und -praktiken beschreibt. Ausgehend von diesen vorbereitenden Ent-wicklungen zieht Waldmann den Bogen zum modernen Terrorismus: »[…] vor allem ein schwacher, mit sozialen Integrationsproblemen und Legitimierungsschwierig-keiten kämpfender Staat, sich uferlos ausdehnende Megastädte und wachsende Gruppen unzufriedener Intel-lektueller, sind gegenwärtig weniger für das postmoderne Europa als vielmehr für die im Umbruch befindlichen Regionen der östlichen und südlichen Hemisphäre, bei-spielsweise den gesamten islamisch geprägten Länder-gürtel, kennzeichnend. In-sofern ist in absehbarer Zeit schwerlich mit einer Drosse-lung des Terrorismus – allein oder in Verbindung mit ande-ren Gewaltformen −, sondern eher mit seiner Fortdauer zu rechnen, selbst wenn die Mo-tive, aus denen er sich speist und die Formen, in denen er geführt wird, einem Wandel unterliegen mögen« (S. 61f.).

Ein Kapitel behandelt die Res-sourcen terroristischer Grup-pen. Waldmann erläutert hier Organisationsstrukturen, Fi-nanzierung und technische Ausstattung von Terroristen. Die »Hauptressource« der Terroristen sei »Motivation«. Diesen Faktor sowie seine jeweilige ideologische Recht-fertigung zieht Waldmann deshalb später zur Unter-

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scheidung verschiedener Ter-rorismustypen heran.

Dem technischen Faktor »Medien« ist, da er ein so wichtiger Bestandteil der Kommunikationsstrategie Terrorismus sei, ein eigenes Kapitel gewidmet. Waldmann setzt sich hier kritisch mit dem ambivalenten Verhält-nis zwischen Terrorismus und Medien auseinander. Anhand des Beispiels indirekter Me-dienkontrolle während des Nordirlandkonfliktes kann er zeigen, dass man sich vor einer »Diabolisierung« der Rolle der Medien hüten solle, wenngleich sie integraler Be-standteil des terroristischen Kalküls seien.

Eine Einteilung verschiedener terroristischer Varianten nimmt Waldmann gemäß ih-rer jeweiligen Motivation vor, selbst wenn sie sich gleich-sam in anderen Aspekten unterscheiden. Aber »… letztlich sind es vor allem be-stimmte, mit großer Inbrunst und Energie vertretene und mit anderen geteilte Über-zeugungen, welche die Ent-stehung dieser Gruppen und ihre teils äußerst zähe Über-lebenskraft erklären« (S.99). Er unterscheidet vier Kate-gorien: sozialrevolutionärer, ethnisch-nationalistischer, rechtsradikaler und religiös motivierter Terrorismus. Mit Beispielen wie der RAF und ETA zeigt Waldmann die un-terschiedlichen Ausgangsbe-dingungen, Zielprogramme, Strategien und soziale Her-kunft auf. Für Terrorismus prädestinierte Persönlich-keiten gebe es nicht. Es wird deutlich, dass Terroristen erstens keineswegs »Irre« seien, sondern durchaus rati-onal vorgingen, und zweitens nicht Armut und Einfältigkeit Menschen in die Arme des Terrorismus führten, sondern man die meisten Terroristen als Intellektuelle bezeichnen

könne. Dies kann Waldmann durch ein zusätzliches Kapi-tel unterstreichen, in dem er Lebensläufe unterschiedlich orientierter Terroristen be-schreibt.

Der religiöse Terrorismus wird in der zweiten Ausga-be des Buches ausführlicher behandelt, insbesondere der islamistische Terrorismus und die Al Quaida. Dabei be-schreibt Waldmann sowohl historische Beispiele religi-ösen Terrorismus, als auch die Renaissance des Islam im Speziellen. Er warnt dabei vor vorschnellen Einteilungen hinsichtlich der Gewaltbe-reitschaft der Religionen, denn allen sei Gewaltpoten-tial inhärent.

Waldmann wendet sich gegen Walter Laqueurs Annahme, Terrorismus sage nichts über die jeweiligen Sozialstruk-turen der Gesellschaft aus, in der er stattfi nde. Er zeigt auf, dass sehr wohl ein Zusam-menhang zwischen breiten Protestbewegungen in der Gesellschaft und Terrorismus besteht. Außerdem habe das politische System einer Ge-sellschaft Auswirkungen auf das Entstehen terroristischer Gruppen. Demokratien etwa seien viel anfälliger für terro-ristische Anschläge als Dikta-turen.

Das vorletzte Kapitel behan-delt die Eskalationsschraube von Isolierung und Radikali-sierung von Terroristen. Hier kommt abermals die sozial-wissenschaftliche Blickweise von Waldmann zum Tragen. Nachdem bisher vom ratio-nal agierenden Terroristen gesprochen wurde, setzt sich Waldmann nun mit der irrati-onalen Komponente terroris-tischer Gewalt auseinander, insbesondere mit dem Mili-tarisierungsprozess, d.h. der »Verselbständigung der Ge-walt«. Daneben geht er auf

die unterschiedlichen Mög-lichkeiten der Beendigung terroristischer »Feldzüge« ein, ebenso wie auf die Wir-kungen von Terrorismus auf die jeweils betroffenen Ge-sellschaften, deren politische Kultur und Landschaft meist negativ beeinfl usst würden.

Waldmann schließt mit einem Kapitel zu Gegenmaß-nahmen. Er möchte Mög-lichkeiten und Grenzen der Kontrolle des Terrorismus aufzeigen. Dabei geht er an-genehm nüchtern und realis-tisch vor. Er plädiert vor allem für eine differenzierte Ausein-andersetzung mit dem Pro-blem. Dies bedeute einerseits, sich ausgiebiger mit den un-terschiedlichen Strukturtypen des Terrorismus auseinander zu setzen. Andererseits müs-se man sich realistischerwei-se klar machen, dass man Terrorismus niemals gänzlich ausmerzen könne. Wichtig sei, Terrorismus nicht zu dä-monisieren, sondern ihn als pragmatisches Problem zu betrachten. Mit diesem Ein-druck hinterlässt die Lektüre dieses sehr empfehlenswerten Buches auch den Leser.

Florian Roel

Martin H. W. Möllers/Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.), Eu-ropäisierung und Interna-tionalisierung der Polizei, Frankfurt (Verlag für Polizei-wissenschaft Dr. Clemens Lo-rei) 2006.

Die immer weiter fortschrei-tende europäische Integra-tion und die zunehmende Vertiefung der Zusammen-arbeit auch in den sensiblen Bereichen der »high politics« wie der Polizeilich- justi-ziellen Zusammenarbeit in

Strafsachen haben seit den 1990er Jahren im verstärk-ten Maße zu einer Europäi-sierung der Polizei geführt. Der »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« nimmt somit zunehmend Ge-stalt an. Dass diese Entwick-lungen allerdings oft auch an ihre (nationalstaatlichen) Grenzen stoßen, hat nicht zuletzt die Zurückweisung des Europäischen Haftbefehls durch das Bundesverfassungs-gericht gezeigt. Auch auf der globalen Ebene ist es durch neue Herausforderungen wie der des transnationalen Terrorismus sowie der failed und failing states und der da-mit verbunden Ausweitung des Sicherheitsbegriffs und der Neudefi nition des Sicher-heitsdilemmas zu einer ver-stärkten Internationalisierung der Polizei gekommen.

Diesen beiden Phänomenen – sowohl der Europäisierung als auch der Internationali-sierung der Polizei – nehmen sich die Herausgeber Martin H.W. Möllers und Robert Chr. van Ooyen, beide Do-zenten für Gesellschaftswis-senschaften am Fachbereich der Bundespolizei der Fach-hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Lübeck, in ihrem 21 Aufsätze umfassenden Sammelband an. Hierfür haben sie eine Reihe von zumeist schon an anderer Stelle veröffentlich-ten Beiträgen zusammen ge-tragen. Zu loben ist an dieser Zusammenstellung vor allem die Auswahl unterschied-licher Autoren: So finden sich neben Aufsätzen von Politikwissenschaftlern (Wil-helm Knelangen, Gert-Joach-im Glaeßner, Astrid Lorenz, Thorsten Stodiek u.a.) und Juristen (Manfred Baldus, Anke Borsdorff u.a.) auch Beiträge von Autoren aus der Praxis (Manfred Eisele, Sven Jahn, Bernd Walter). Auch

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der innenpolitische Sprecher der SPD und Richter a.D. Die-ter Wiefelspütz ist mit einem Beitrag zum »Einsatz der Bun-despolizei im Ausland« in der bunten Autorenliste ver-treten. Glänzt der Band also mit seiner breiten Auswahl an Autoren, kann man dies leider nur bedingt von seiner Aktualität behaupten. Da-durch, dass die Herausgeber auf meist schon veröffentli-chte Texte zurückgegriffen haben, sind einige Beiträge eher älteren Datums. So zum Beispiel der von Möllers und van Ooyen verfasste Aufsatz über »Demokratie und Poli-zei« (S. 81-87) aus dem Jahre 2000 (!). Dies bedeutet, dass die einzelnen Aufsätze für sich genommen nicht neu sind, sondern lediglich ihre durch die Herausgeber vor-genommene Zusammenfüh-rung und Einordnung in den Kontext der Europäisierung bzw. Internationalisierung. Da aber in den meisten Fäl-len versucht wurde bei den entsprechenden Themen die aktuellen Entwicklungen (Scheitern des VVE, BVerfG-Entscheidung zum Europä-ischen Haftbefehl) zu berück-sichtigen und die Texte meist aktualisiert wurden, kann man über dieses Manko hin-wegsehen.

Inhaltlich gliedert sich das Buch – dem Titel logisch folgend – in zwei Teile: Eu-ropäisierung (180 Seiten) und Internationalisierung (137 Seiten) der Polizei. Im ersten Teil werden unter an-derem so vielfältige Themen wie die Europäische Grenz-schutzagentur (Sven Jahn), die Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts zum EU-Haftbefehl (Robert Chr. van Ooyen) und das Schengener Einreise- und Visa-System be-handelt (Tilmann Schott). Be-sonders interessant sind hier die Beiträge von Wilhelm

Knelangen, Dozent an der Universität Kiel, und Wolf-gang Wagner, wissenschaft-licher Mitarbeiter an der Hes-sischen Stiftung Friedens- und Konfl iktforschung. Knelangen untersucht in seinem Aufsatz über die »Europäische Union und die Bekämpfung des Ter-rorismus« den Einfl uss des 11. September 2001 auf die Euro-päisierung der Polizei. Dabei kommt er schon in seiner Einleitung zu dem Schluss, dass die Anschläge in New York und Washington »alles andere als eine ,Stunde Null’ für die politische Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit von Poli-zeien, Strafverfolgungsbehör-den und Geheimdiensten« (S. 70) gewesen seien. Trotzdem müsse der 11. September als »Wendepunkt« (S. 70) be-trachtet werden, da viele der schon vorher in den neun-ziger Jahren ins Auge ge-fassten Pläne nun unter der Prämisse der Bekämpfung des Terrorismus durchgesetzt wurden. Knelangen stellt dar, dass die beschlossenen Maß-nahmen oftmals gar keinen unmittelbaren Bezug zur Ter-rorismusbekämpfung aufwie-sen, sondern »ursprünglich eine andere Hauptstoßrich-tung – vor allem die Verfol-gung schwerer und organi-sierten Kriminalität – hatten, vom Europäischen Rat und vom Rat der Innen- und Ju-stizminister jedoch nunmehr als elementare Bausteine für die Bekämpfung von Terro-rismus deklariert wurden« (S. 71f.).

In seiner Bilanz kommt Kne-langen zu einem pessimi-stischen Schluss: Die Aufgabe der inneren Sicherheit liege weiterhin in den Händen der Mitgliedstaaten und bleibe durch nationale Regelungen geprägt (S. 78) – daran habe auch der 11. September nichts geändert. Für die Europäisie-

rung der Polizei bedeute dies: »Trotz der gelegentlichen Vorschläge aus dem poli-tischen Raum ist vor diesem Hintergrund die Schaffung einer zentralen europäischen Polizei, einer europäischen Staatsanwaltschaft oder eines europäischen Geheimdienstes nicht in Sicht« (S. 78).

Ein ganz anderes Feld unter-sucht der Aufsatz von Wolf-gang Wagner (»Polizei unter Kontrolle?«), der die Schwie-rigkeiten der parlamenta-rischen und gerichtlichen Kontrolle Europols darstellt. Dieses Problem ist beson-ders elementar, da bereits der Austausch von Daten – eines der Hauptarbeitsfelder Euro-pols – einen Eingriff in die Grundrechte darstellt. Wag-ner verdeutlicht das Problem an einem Beispiel: »Während … Fehler bei der Speicherung und Auswertung von Kun-dendaten durch Geschäfte schlimmstenfalls zu unwill-kommenen Werbesendungen führen, können Fehler bei der Verarbeitung personen-bezogener Daten durch Euro-pol im schlechtesten Fall zu Verhaftungen, Wohnungs-durchsuchungen u.ä. führen« (104). Allerdings erscheinen Wagner nicht die datenrecht-lichen Fragen als Hauptpro-blem, sondern vielmehr die Frage nach der »Kontrolle der Kontrolleure« (S. 100). Dem Konzept Andrew Mo-ravcsiks folgend, demzufolge Regierungen durch Koopera-tion innenpolitische Themen zu außenpolitischen machen und sich somit der Kontrol-linstanz der innerstaatlichen Akteure zu einem gewissen Grad entziehen können, stellt Wagner für die poli-zeiliche Kooperation ein be-sonderes Kontrolldefi zit fest: Die nationalen Parlamente können ihre Kompetenzen nicht mehr ausüben, und das Europäische Parlament kann

dies beim jetzigen Integrati-onsstand noch nicht (S. 101). Unter diesen Gesichtspunk-ten hält Wagner die Ableh-nung des Verfassungsvertrags in Frankreich und in den Nie-derlanden für »sehr bedauer-lich«, da er seiner Meinung nach einen deutlich besseren Grundrechtsschutz und eine verstärkte parlamentarische Kontrolle erbracht hätte (S. 110). Daher fordert Wagner in seinem Schlussplädoyer, diese Fortschritte als »kleine Vertragsänderungen« (S. 110) auch ohne Verfassungsvertrag umzusetzen.

Der zweite Teil (Internatio-nalisierung) enthält ebenfalls eine Vielzahl unterschied-lichster Titel: So werden Themen wie Policekeeping (Manfred Eisele), der Aufbau des Grenzschutzes in Bosnien und Herzegowina im Auftrag der VN (Christian Mainzin-ger) und das Luftsicherheits-gesetz (Elmar M. Giemella) behandelt.

Der Beitrag von Thorsten Stodiek über den Aufbau von multi-ethnischen demokra-tischen Polizeien auf dem Balkan beruht auf Feldfor-schungen im Rahmen eines Forschungsprojekts am Zen-trum für OSZE-Forschung (CORE) des Instituts für Frie-densforschung und Sicher-heitspolitik an der Univer-sität Hamburg (IFSH). Somit kann der Autor interessante Einblicke in die Probleme des Aufbaus, der Verwaltung und der Struktur dieser Polizei-einheiten geben. Das Unter-suchungsdesign umfasst die – vor allem durch die OSZE durchgeführten – Einsätze zum Aufbau multiethischer Polizeien im Kosovo, in Süd-serbien und in Mazedonien. Wie Stodiek darstellt, unter-scheiden sich diese Mandate betreffend des möglichen Einflusses der internatio-nalen Akteure massiv. So

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ist im Kosovo, dessen poli-tisch-administrative Leitung dem UN-Übergangsverwal-ter obliegt, der Handlungs-spielraum sehr groß: »Somit haben die UNO und die für den Aufbau mitverantwort-liche OSZE freie Hand bei der Strukturierung des Polizeiap-parats, der Entwicklung der Lehrpläne und der Sanktio-nierung der lokalen Polizei« (S. 227). In Südserbien und Mazedonien dagegen sei der Einfl uss geringer, da die Akti-onen auch von der Koopera-tionswilligkeit der einzelnen Regierungen abhängen. Der Erfolg der multi-ethnischen Einheiten war uneinheitlich. So konstatiert Stodiek, dass die gemischten Einheiten in allen Fällen bei der alba-nischen Bevölkerung einen »vertrauensbildenden Effekt« gehabt hätten (S. 227), die Serben und slawischen Maze-donier den multi-ethnischen Gruppen allerdings weiterhin skeptisch gegenüber stehen (S. 228). Auch der Ausbil-dungsstand der Polizeien sei aufgrund schlechter Schulbil-dung, zu kurzer Ausbildungs-dauer und unzureichenden Lehrstoffkenntnissen proble-matisch. Darüber hinaus wür-den viele ungeeignete Bewer-ber – unter anderem aufgrund des Drucks von Rebellengrup-pen und politischen Parteien – in den Polizeidienst mitauf-genommen. Stodiek kommt zu dem Schluss: »Sollen die bisherigen Erfolge daher nachhaltig ausgebaut wer-den, müssen die internatio-nalen Akteure weiterhin Aus-bildungsprogramme für die neuen Polizeikräfte anbieten und die Innenministerien zu einer ernsthaften und nicht nur symbolischen Integra-tion der multi-ethnischen Einheiten in die regulären Polizeistrukturen anhalten« (S. 230).

Insgesamt kann der Sammel-band aufgrund seiner thema-tischen Breite und Tiefe über-zeugen. Bedauerlich bleibt allerdings, dass – wie bereits dargelegt – wenig neues Ma-terial (auch wenn die meisten Artikel in einer modifi zierten Form vorliegen) in dem Band zu finden ist. Ihrem selbst erklärten Ziel, Beiträge zu präsentieren, »die weite Teile eines längst nicht abgeschlos-senen Prozesses in einer ›Mo-mentaufnahme‹ hinreichend konturieren und die mit ihm verbunden aktuellen Schwie-rigkeiten deutlich beschrei-ben« (S. 8), werden die He-rausgeber aber auf jeden Fall gerecht.

Jan-Hendrik Lauer

Arnold Bartetzky/Marina Dmitrieva/Stefan Troebst (Hrsg.), Neue Staaten – Neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdar-stellung in Zentral- und Ost-europa seit 1918, Köln (Böh-lau Verlag) 2005.

Dieser Sammelband ver-bindet in seinen rund 360 Seiten visuelle Kultur und Geschichtskultur zur visu-ellen Geschichtskultur. Er resultiert aus einem Projekt an der Universität Leipzig, welches darauf abzielte, staatliche Entwicklungen und deren Visualisierung in Ostmitteleuropa seit 1918 zu untersuchen. Dabei werden die Umbrüche nach 1918, in der Zeit des Dritten Rei-ches, nach 1945 sowie in der Zeit von 1989 bis 1991 als Zeiten staatlicher Neuo-rientierung und damit auch Neuinszenierung betrachtet. Die deutsch- und englisch-sprachigen Beiträge sind von vielfältiger Natur und reichen

von verschiedenen Instru-mentalisierungen von Kunst und Architektur für politische Aussagen sowie zur Legitima-tion einer neuen Staatsmacht – durch Staatsapparate oder einzelne Personen – bis hin zur Konstruktion nationaler Identitäten, Reinterpretation von geschichtlichen Motiven, der Integration traditioneller Motive und moderner Tech-nologie und schließlich struk-turellen Analogien nach staat-lichen Neuorientierungen. Hierbei wurden spezifische Bauwerke, Denkmäler und Museen wie auch Konzepte für ganze Städte, Bilder und Zeichnungen, Plakate, Geld-scheine, Choreographien von Staatsfeierlichkeiten, aber auch Internetrepräsen-tationen miteinbezogen, ver-anschaulicht durch über 100 Illustrationen. Neben den Beiträgen über Zentral- und Osteuropa wurden auch zwei Beträge zur Türkei und Israel eingebracht. Der Sammel-band assoziiert sich mit dem in den frühen 1990er Jahren entwickelten kulturwissen-schaftlichen Ansatz des visu-al turn. Untersucht wird, wie Staaten Bilder wählen, um sich von vorangegangenen Zeiten abzugrenzen oder um geschichtliche Verbindungen zu betonen oder zu konstruie-ren – mit dem übergreifenden Ziel, den eigenen Anspruch auf Herrschaft zu legitimie-ren. Thematisch sind die Beitrage in fünf Abschnitte gegliedert: Neue Staaten nach 1918, Drittes Reich, Neue Staa-ten nach 1945, Neue Staaten nach 1989 und Brüche und Kontinuitäten: 1918-2003. Die Erwähnung jedes einzelnen Beitrags würde den hier ge-gebenen Rahmen sprengen, doch stellt jeder Beitrag ein wichtiges Stück im Gesamt-werk dar.

Im ersten und umfang-reichsten Abschnitt – Neue

Staaten nach 1918 – wird zum Beispiel die Funktion der Hauptstadt in den Planungen des frühen 20. Jahrhunderts untersucht. Interessant hier-bei ist das Resultat, dass Modelle von Gesamtplänen oder spezifi schen städtebau-lichen Elementen oftmals keine eigene Bedeutung hat-ten, sondern sich auch in unterschiedliche politische Richtungen einpassen ließen. Bei der politischen Selbstdar-stellung fi nden sich ähnliche Elemente in den zentral- und osteuropäischen Staaten wie auch in anderen Ländern, neu sind diese nur mit Blick auf die jüngste Vergangenheit im jeweiligen Land. Ein ande-rer Beitrag zeigt am Beispiel der polnischen Hafenstadt Gdynia, wie Städte durch ge-schichtliche Entwicklungen und Einfl üsse externer Mäch-te an landespolitischer Bedeu-tung gewinnen und verlieren. Zwei Beiträge zu Litauen be-schreiben die Repräsentation von nationaler und kultu-reller Souveränität wie auch des Fortschritts in jungen Staaten, besonders durch ar-chitektonische Mittel. Im Bei-trag zur Türkei wird gezeigt, wie emigrierte westliche Stadtplaner und Architekten die neue politische Kultur der kemalistischen Ideologie visualisieren und integrie-ren sollten: Ankara wurde so zum Ausdruck der Moderne. Dabei wird Religion in der Darstellung ganz bewusst ausgelassen. Ein Beitrag über Malerei illustriert, wie Bilder politische und geschichtliche Ideen zum Staat visualisieren. Durch die gezeigten Motive sagen Bilder etwas aus. Doch ist auch Verstecktes aussa-gekräftig – wobei hier etwas Verstecktes als eine oft unbe-wusste Aktion des Künstlers gesehen wird, aber dennoch motiviert durch geschicht-liche Erfahrungen. Ein ande-rer Beitrag zeigt am Beispiel

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Rumäniens die historische Verankerung und Legitima-tion von Herrschaft durch zeremonielle und ikonogra-phische Aspekte. Identitäts-stiftung und -stärkung in Polen durch Medaillen und Abzeichen ist Thema eines weiteren Beitrags. Hier wur-den politische Ereignisse und Themen visuell auf Medaillen verschiedener Ausführungen ausgedrückt und erlaubten so ein gemeinsames Identi-tätsgefühl in allen polnischen Bevölkerungsschichten. Die zum Teil des kollektiven Ge-dächtnisses gewordenen na-tionalen Motive glichen die fehlende Unabhängigkeit aus und trugen während des Er-sten Weltkriegs zur Stärkung der polnischen Identität bei. Die zwei letzten Beiträge dieses Abschnitts beschäfti-gen sich mit staatlichen Ver-suchen, aus Individuen eine Gemeinschaft zu formen. Im ersten geht es um die ikono-graphische Umsetzung von Lenins Ideen für die Masse am Beispiel der Gestaltung von Stadträumen und staat-lichen Festlichkeiten. Ideo-logisch kompatible Vorbilder wurden zur Übermittlung politischer Botschaften neu in Szene gesetzt, die auch in so genannten Agitzügen und Agitdampfern als Plattformen für Agitation ihren Ausdruck fanden. Traditionelle und sow jetische Symbole wurden verbunden. Wo anfangs ein erstaunliches Maß an Kreati-vität erlaubt war, gab es später feste Strukturen für den Sozi-alistischen Realismus. Im an-deren Beitrag geht es um die pseudoreligiöse Qualität von Symbolen der Staatsmacht, die dadurch ihr Weiterleben sicherten. Um die Vergangen-heit nicht nur zu verdrängen und ein weiteres Dasein die-ser Symbole zu ermöglichen, wird vor ihrem bloßen Aus-tausch oder Überstreichen gewarnt.

Im zweiten Abschnitt – Drit-tes Reich – wird die Gestal-tung von Architektur und Raum zur Stärkung der staat-lichen Macht behandelt. Im ersten Aufsatz geht es um die Monumentalität der staatlichen Architektur und um Architektur als sugges-tivem Inszenierungsmittel, um Stimmungsarchitektur. Auch wenn architektonisch Heldentum und Opfertod be-tont wurden, so weckte man doch statt Angst die Begeiste-rung der Massen. Der nächste Beitrag bespricht die Neuge-staltung des in den Besitz der Nationalsozialisten gelangten Posen. Durch die Erfahrung der NS-Autorität mittels der Architektur sollten die Men-schen nach Wunsch der Be-satzer geformt werden. Be-bauung und Neugestaltung sollten den Raum organisie-ren, unerwünschte Menschen verdrängen und die neuen Werte ausdrücken. Durch die Gestaltung von Wohnungs-einrichtungen wurde auch das Privatleben miteinbezo-gen; somit war die Präsenz des Regimes allumfassend. Auch wenn Raumgestaltung auf das Formen mensch-lichen Verhaltens abzielte, war es schließlich doch nur ein Ausdruck der Besessenheit und Kontrolle. Der letzte Text dieses Abschnitts beschäf-tigt sich mit humoristischen Zeichnungen zu Albert Speers Neugestaltungsplänen für Berlin. Da einerseits die Überzeugtheit der Planer von ihrem Auftrag zum Ausdruck kommt, andererseits aber auch ein Bewusstsein über seine Absurditäten, geben di-ese Zeichnungen hinsichtlich der damaligen Politik Rätsel auf, die zugegebenermaßen auch für den Autor ungelöst bleiben.

Der dritte Abschnitt – Neue Staaten nach 1945 – beginnt mit einem Beitrag über den

Wiederaufbau von vier ost-europäischen Städten nach 1945 als politische und zen-tral organisierte Aufgabe. Der Grad der historischen Rekonstruktion hing auch von der politischen und ge-schichtlichen Wertung der Städte ab, wie am Kontrast zwischen Warschau und Gdansk illustriert wird. War-schau wurde als Heldenstadt gesehen und erfuhr darum eine gründlichere Rekon-struktion. Gdansk hingegen wurde auch mit der früheren deutschen und NS-Präsenz assoziiert, was zu einer ober-flächlicheren historischen Rekonstruktion führte. Im Vergleich zum Wiederaufbau von Minsk und Kaliningrad zeigen die polnischen Bei-spiele einen größeren zentra-len Willen, historische Städte zu rekonstruieren. Dies be-gründet sich auch darin, dass die neue polnische Regierung sich in stärkerem Maße legi-timieren musste als die sow-jetische, da letztere auch machtpolitisch weitaus bes-ser etabliert war. Ein anderer Beitrag behandelt die Gestal-tung des Knesset-Gebäudes in Jerusalem, des israelischen Parlaments, welches die Dau-erhaftigkeit des Staates Israel visualisieren soll. Die archi-tektonische und symbolische Verbindung des Parlaments-gebäudes mit der Gedenkstät-te für die Opfer des Holocaust zielt auf die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft. Eine steinerne Mauer und eiserne Tore umgeben das Plenum und drücken die kol-lektive Erinnerung aus. Bib-lische Zeiten und Holocaust dienen der Legitimitäts- und Identitätsstiftung. Doch gibt es auch vermehrt warnende Stimmen gegen die bewusst angewandte Identitätsstif-tung durch den Holocaust – denn so würde sich Israel immer nur als Land der Op-fer verstehen, unfähig, sich

in anderen Kontexten auch als Täter zu sehen. Im letzten Beitrag dieses Abschnitts geht es um die Gedenkstätte in Treblinka und die Angemes-senheit der Erinnerung an die Opfer des Holocaust. In De-batten über letzteres wuchs die Idee, dass der Holocaust ein Bruch der menschlichen Geschichte darstellt. Und so drückt auch die Gedenkstät-te in Treblinka Zerrissenheit und Diskontinuität aus.

Der vierte Abschnitt – Neue Staaten nach 1989 – beginnt mit einer Darstellung eines gewissen politischen und gesellschaftlichen Vakuums nach dem Ende des Sozialis-mus und des Bedarfs einer neuen Identifi zierung. Dabei spielten Denkmäler eine in-teressante, weil öffentliche Rolle. Viele wurden zerstört, andere wurden Exponate von Museen. Wiederum andere wurden in neue Zusammen-hänge integriert. Durch ihre Behandlung drücken Denk-mäler ihre unterschiedliche Bedeutung jenseits der Macht aus. Zerstörte Denkmäler re-präsentierten ein Zuviel an staatlicher Macht. Denkmäler in Museen werden als histo-risch betrachtet. Denkmäler in neuer Form verloren ihre ursprüngliche Symbolik, und Denkmäler als Kaufware verloren den Ausdruck von Allmacht. Der nächste Auf-satz beschäftigt sich mit der Darstellung von Diktatur in heutigen Museen, was nicht immer objektiv geschieht. Zum Beispiel wird in den Ausstellungen ausgelassen, dass der Sozialismus auch ein Hoffnungsträger für die Menschen war. Ein weiterer Aufsatz behandelt das Inter-net als Mittel zur Verbreitung des Selbstverständnisses und der politischen Legitimation der Dnjestr-Republik. Es wird eine Geschichtspolitik betrie-ben, deren Erfolg sich mittler-

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weile in der Entwicklung der Idee eines transnistrischen Volkes zeigt.

Im fünften Abschnitt – Brüche und Kontinuitäten: 1918-2003 – wird unter anderem die In-strumentalisierung der Antike zur Stiftung einer nationalen Identität in Rumänien unter-sucht. Dabei wurde von den unterschiedlichen politischen Regimes einmal die Verbin-dung zu den Dakern, ein an-deres mal die zu den Römern hervorgehoben. Während mit Antritt der Kommunisten jedoch die Slawen eine grö-ßere Bedeutung erfuhren, bezog sich die rumänische Regierung seit der Emanzipa-tion von 1964 wieder auf die Antike. Die dakische und rö-mische Vergangenheit wurde für die politische Sicherung des Ceaucescu-Regimes in-

szeniert. Zwei weitere Bei-träge beschäftigen sich mit Geldscheinen als Mittel zur Übertragung politischer Bot-schaften, zugunsten einer propagierten nationalen Identität, sowie zur Abgren-zung von anderen Staaten oder vergangenen Epochen. Die veränderte Staatsideologie ist besonders bildhaft am Bei-spiel Jugoslawiens dargestellt. Ein anderer Text analysiert die Bedeutung von Erde in der Erinnerungskultur. Erde wird oft mit Emotionen und politischen Ideen verbunden, wie eine Installation im nörd-lichen Lichthof des Reichs-tags in Berlin zeigt. Erde wird mythologisch als Ernährerin, anthropologisch als Heimat oder auch funktionalistisch als Mittel zur Herrschaftsle-gitimation, Identitätsstiftung

und -erhaltung wie auch zum Gedenken gesehen. Als Grundmuster wird die Be-schwörung positiver Zustän-de gesehen, auch wenn zum Verständnis der Bedeutung für den Einzelnen der Kon-text hinzugezogen werden muss. Schließlich geht es im letzten Beitrag um die Dar-stellung des Staates mittels gymnastischer Massenauf-führungen, die es dem Staat erlaubten, mehr als nur sich selbst zu zeigen. Im Vergleich zu den Aufführungen wäh-rend der NS-Zeit kam in den kommunistischen Ländern jedoch auch zum Ausdruck, wie sich ihre Gesellschaften selbst feierten.

Der Band resümiert, dass die gewählten Formen allein kei-ne ideologische Bedeutung besitzen, sondern dass diese

erst durch die Art der Verwen-

dung oder Darstellung gewollt

hinzugefügt wird. Es gelingt

ihm, einen weit gefächer-

ten wie auch faszinierenden

Überblick über die Selbst-

darstellung von Staaten in

den unterschiedlichsten Ent-

wicklungsphasen und durch

unterschiedlichste Mittel zu

geben. Auch wenn manche

Beiträge stark auf Architektur

und Kunstgeschichte ausge-

richtet sind, so kommt doch

gelungen zum Ausdruck, mit

welchen Bildern sich neue

Staaten zu repräsentieren und

legitimieren versuchen. Fazit:

Der Sammelband ist für ein

breites Publikum hoch inte-

ressant.

Sybille Reinke de Buitrago

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