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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts R g geschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg14 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 14 (2009) http://dx.doi.org/10.12946/rg14/014-039 Rg 14 2009 14 – 39 Dietmar Willoweit Entdogmatisierung der mittelalterlichen Strafrechtsgeschichte Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts Rggeschichte

Rechtsgeschichte

www.rg.mpg.de

http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg14

Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 14 (2009)

http://dx.doi.org/10.12946/rg14/014-039

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Dietmar Willoweit

Entdogmatisierung der mittelalterlichen Strafrechtsgeschichte

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Abstract

Generalising doctrines of a »criminal legal his-torical« character on act and delinquent only very inadequately capture medieval objectives and forms in the way wrongs were handled, since punishment in the legal life of society was only one of several possible reactions towards wrong-doing. Occasionally, individual acts of revenge were accepted. Threats of punishment did not necessarily lead to actual punishment in individual cases since the principle of legality, mandatory for the prosecution of offences, was unknown and punishments could be redeemed by financial set-tlement or even by labour. Moreover, in addition to punishment, restitution by the offender through an agreement to compensate, as well as public penance, especially in serious cases of homicide, played a leading role. This flexibility of legal prac-tice suggests that an examination of the history of the penitentiary and other forms of conflict reso-lution in medieval times by means of a differenti-ating consideration of sanctions would be re-warding. To this end, recent scholarship has gath-ered a rich fund of material, both by a comparative analysis of normative texts and especially by studies of legal reality in particular places. On this basis, certain developments are noticeable: Roman and Christian influence in early medieval times, a pol-icy since the 12th century to keep the public peace, Roman paradigms and the formation of dogma-tism in criminal law in the late Middle Ages. If nothing else, the diversity of sanctions – in contrast to common prejudice – shows quite clearly that elements of guilt were taken into account in the run-up to proceedings, proving not least the actual, although not dogmatic, differentiation between homicide and murder.

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Entdogmatisierung der mittel-alterlichen Strafrechtsgeschichte

I. Die Aufgabe

Man fürchte sich nicht vor dem Wort. Ebensowenig wie dieEntmythologisierung die spezifische Aussagekraft des Mythos inFrage stellen wollte, wird die Entdogmatisierung den rationalenSinn juristischer Dogmen leugnen wollen. Aber eine erkenntnis-kritische Distanz gegenüber dem Anspruch moderner juristischerBegrifflichkeit, das Rechtswesen aller Zeiten und Völker ein fürallemal gültig analysieren zu können, ist notwendig, um mit unvor-eingenommener Offenheit die ohnehin nur begrenzt wahrnehm-baren Realitäten der Vergangenheit zu verstehen. Denn das Mittel-alter kennt in seiner Strafpraxis kein System ausdifferenzierterTatbestände, an welchem sich der Unrechtsgehalt einzelner krimi-nalisierter Verhaltensweisen ablesen ließe.1 Vielmehr ist umgekehrtdas Maß des Unrechts einer Tat nur an den sich daran anschlie-ßenden Folgen zu erkennen. Dabei handelt es sich keineswegslediglich um ein unterschiedliches »Strafmaß«, sondern um Alter-nativen zur Strafe. Entdogmatisierung der Strafrechtsgeschichtewill daher besagen: Nicht verallgemeinernde Lehrsätze über dieTat und den Täter erschließen die geschichtliche Überlieferung,sondern der Blick auf die an das Unrecht geknüpften Sanktionen imweitesten Sinne des Wortes.

Wenn das Strafwesen und die Konfliktbewältigung des Mittel-alters nicht mit Hilfe einer strafrechtlichen Systematik, sondern inerster Linie nur von den Sanktionen her zu begreifen ist, dannwerden die gewohnten Abgrenzungen zur Rache und gewalttätigenRechtsdurchsetzung, zu Verhandlungslösungen und geistlichenBußübungen unscharf und noch unklarer, wenn die schwer über-schaubare Gnadenpraxis in die Betrachtung einbezogen wird.Auch der Strafrechtsbegriff erweist sich aus dieser Perspektive alsfragwürdig, wenn nicht untauglich, weil er das moderne Legalitäts-prinzip mit dem ihm eigenen Strafverfolgungszwang voraussetzt.Das einzige Apriori der voreilig so genannten »Strafrechtsgeschich-te« ist die Unterscheidung von Recht und Unrecht. Selbst diesekennt freilich fließende Übergänge, wodurch sich neben der Kate-

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1 Vgl. dazu Gerd Schwerhoff,Köln im Kreuzverhör. Kriminali-tät, Herrschaft und Gesellschaftin einer frühneuzeitlichen Stadt,Bonn 1991, 469 zur »Kategori-sierung der Delikte«: »Obwohldieser Punkt in der einschlägigenLiteratur erstaunlich selten pro-blematisiert wird, handelt es sichbei der Schaffung von Delikttypenüberwiegend um einen Akt for-scherischer (!) Willkür.«

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gorie des Verbrechens, das die Zeitgenossen eindeutig als solchesidentifizierten, das nahe liegende Phänomen des Konflikts mitunterschiedlichen Auffassungen von Recht und Unrecht als Kom-ponente der »Strafrechtsgeschichte« rechtfertigt. Umständlichermüsste der Titel des vorliegenden Beitrages also lauten: »Aufdem Wege von einer missverstandenen Strafrechtsgeschichte zurGeschichte der an Verbrechen und Konflikte geknüpften Sanktio-nen«.2 Am besten wäre es, in Zukunft von den Strategien undTechniken der Unrechtsbewältigung zu sprechen.3 »Strafrecht«existiert im Mittelalter und noch im 16. Jahrhundert nur in Bruch-stücken: teils als Praxis der – aus moderner Sicht lückenhaften –Verbrechensverfolgung, teils als ein allmählich in gelehrten Schrif-ten entstehendes theoretisches Lehrgebäude, das seine wichtigstenImpulse von den Unterscheidungen des kirchlichen Bußwesenserhalten hat. Erst im 17. Jahrhundert beginnt sich in deutschenLanden die Schere zwischen der staatlichen Strafpraxis und derdazu passenden Rechtslehre zu schließen.

Die Dogmatisierung der Strafrechtsgeschichte durch traditio-nelle strafrechtsgeschichtliche Fragestellungen ist paradigmatischan den folgenden Ausführungen Eberhard Schmidts ablesbar:

»Ein Rechtsdenken, das, wie das germanische, der Rache einen so breitenSpielraum gewährt und von dieser aus die Herrschaft des Kompositionen-systems entwickelt hat, wird geneigt sein, das Verbrechen in erster Linie vomStandpunkt des Rächers aus zu anzusehen. Rache aber sieht auf die Tat alssolche … Das germanische ›Strafrecht‹ beruht daher … auf dem Gedanken derErfolgshaftung. ›Die Tat tötet den Mann‹«.4

Dagegen erhobene Bedenken, in jüngerer Zeit schon vonEkkehard Kaufmann,5 ignorierte Eberhard Schmidt mit der Bemer-kung:

»Ein ›Schuldstrafrecht‹ beginnt erst dann zu dämmern (Hervorhebung E. S.),wenn sich juristische Begriffsarbeit um scharfe Trennung von dolus, culpa undcasus bemüht.«6

Ein solcher Text ruft die Vorstellung naturhafter Urwesenhervor, die vor der »juristischen Begriffsarbeit« nicht recht wuss-ten, was sie taten, wenn sie einen Verbrecher in den Sumpfwarfen. Es liegt in der Logik dieses Denkens, dass man schließlichsogar die Verhängung »echter« Strafen für das frühere Mittelalterleugnete. Ernst Mayer war wohl als Erster auf den Gedankengekommen, dass »die Ausbildung eines strengen Strafrechtes ge-

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2 Der Titel der Reihe »Konflikt,Verbrechen und Sanktion in derGesellschaft Alteuropas«, den derVerfasser gemeinsam mit KlausLüderssen, Klaus Schreiner undRolf Sprandel seit 1999 im BöhlauVerlag herausgibt, will alsodurchaus programmatisch ver-standen sein. Die Mehrzahl derhier zitierten Titel ist in dieserReihe erschienen.

3 Der von Schwerhoff (Fn. 1) 24vorgeschlagene Begriff »Histori-sche Kriminalitätsforschung« hatein verwandtes, aber anderes Er-kenntnisziel im Blick.

4 Eberhard Schmidt, Einführungin die Geschichte der deutschenStrafrechtspflege, 3. Aufl., Göttin-gen 1965, 31.

5 Ekkehard Kaufmann, Die Er-folgshaftung. Untersuchungenüber die strafrechtliche Zurech-

nung im Rechtsdenken des frühenMittelalters, Frankfurt a. M.1958; jetzt Jürgen Weitzel,Erfolgshaftung, in: HRG, 2. Aufl.,Bd. 1, Sp. 1395–1405; ders.,Erfolgsstrafrecht, ebda. Sp. 1405–1408, jeweils m. w. Nachw.

6 Schmidt (Fn. 4) 32.

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radezu die staatliche Arbeit des Mittelalters« gewesen sei.7 OhneStrafrecht auch keine Strafe, folgerte Viktor Achter in seiner vielzitierten Schrift über die »Geburt der Strafe«, setze diese doch eine– magischem Denken noch fremde – »sittliche Beurteilung« vo-raus.8 Doch nicht die geradezu abwegige Vorstellung interessierthier, dass die Evolution dem Rächer innerhalb etwa eines Jahr-hunderts ein moralisches Verständnis seines Handelns und damitdie Idee der Strafe beschert habe – obwohl der Mensch mitderselben kognitiven Ausstattung doch seit vielen tausend Jahrenexistiert. Es ist das großzügige Pauschalurteil über ganze Genera-tionen und Zeitalter, das diese Art von Strafrechtsgeschichte dis-kreditiert. Denn andererseits hilft es auch nicht weiter, wenn derStrafbegriff gedehnt wird und viele Autoren so unterschiedlicheSanktionen wie die Tötung des Täters und die Pflicht zu einerVermögensleistung oder öffentlichen Bußübung zusammenfassendals »Strafen« qualifizieren. Mit Recht konnte in neuester ZeitJürgen Weitzel die »unzureichende Bestimmung« des Strafbegriffsals einen »Mangel« von »fast allem, was bislang zur ›Strafrechts-geschichte‹ des Mittelalters geschrieben wurde«, bezeichnen.9 Stetsging es dieser Literatur in erster Linie um die den Quellenzeug-nissen zugrunde liegenden allgemeinsten strafrechtlichen Prinzi-pien, weniger um die Unterscheidung der Sanktionen und der ihnenzugrunde liegenden Motive.10 Strafe, so Weitzel zutreffend, »gibtes nur auf dem Boden eines rechtlichen Unterwerfungsverhältnis-ses«.11 Daneben verdienen die anderen, gleichsam innergesell-schaftlich funktionierenden Sanktionsmechanismen mehr Auf-merksamkeit, als dies im Rahmen einer allein am Strafrechtorientierten Rechtsgeschichte möglich ist, die den »bürgerlich-rechtlichen Vergleich« eliminieren muss. Dogmatische Vorurteileerschweren den Zugang zur Vergangenheit. Das gilt nicht nur fürden Begriff der Strafe und des Strafrechts sowie für den unter-stellten Antagonismus von Erfolgs- und Schuldstrafrecht, sondernauch für die modernen Juristen unentbehrliche Unterscheidung vonStrafrecht und Bürgerlichem Recht und schließlich für das einstvöllig anders geartete Verhältnis von »Staat und Kirche«.

Einsichten dieser Art standen am Anfang des von der DFG1993 bis 1999 geförderten Schwerpunktprogramms zur »Entste-hung des öffentlichen Strafrechts«, das – rückblickend – besser»Die Entstehung des öffentlichen Strafanspruchs« hätte heißensollen.12 Annähernd 15 Rechtshistoriker, Historiker und ein Straf-

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7 Ernst Mayer, Deutsche undfranzösische Verfassungsgeschich-te vom 9. bis zum 14. Jahrhun-dert, Bd. 1, Leipzig 1899, 139;Schmidt (Fn. 4) 59 f.

8 Viktor Achter, Geburt der Stra-fe, Frankfurt a. M. 1951, 18 f.; vgl.dazu Jürgen Weitzel, Strafe undStrafverfahren in der Merowin-gerzeit, in: ZRG (GA) 111 (1994)66–147, 69 und passim; fernerStephan Stübinger, Schuld,Strafrecht und Geschichte. DieEntstehung der Schuldzurechnungin der deutschen Schuldrechtshis-torie, Köln 2000, 327 ff.

9 Weitzel, Erfolgshaftung (Fn. 5)Sp. 1397.

10 Vgl. dazu auch Oliver Hein,Vom Rohen zum Hohen. Öffent-liches Strafrecht im Spiegel derStrafrechtsgeschichtsschreibungdes 19. Jahrhunderts, Köln 2001.

11 Jürgen Weitzel, Der Strafge-danke im frühen Mittelalter, in:

Der Strafgedanke in seiner histo-rischen Entwicklung, hg. von EricHilgendorf und Jürgen Weit-zel, Berlin 2007, 21–35, 25;ebenso Dietmar Willoweit,Rache und Strafe, Sühne und Kir-chenbuße. Sanktionen für Unrechtan der Schwelle zur Neuzeit, ebda.37–58, 44.

12 Dietmar Willoweit, Programmeines Forschungsprojekts, in: DieEntstehung des öffentlichen Straf-

rechts. Bestandaufnahme eineseuropäischen Forschungspro-blems, hg. von Dietmar Willo-weit, Köln 1999, 1–12; ders.,Zum Begriff des Öffentlichen imspäten Mittelalter – ein erweiterterDiskussionsbericht, in: Neue We-ge strafrechtsgeschichtlicher For-schung, hg. von Hans Schlosserund Dietmar Willoweit, Köln1999, 335–340, 337.

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rechtler mit zahlreichen Mitarbeitern und Hilfskräften nahmensich des Themas an. Nunmehr entstanden – nach einem inter-national besetzten Auftakt – in Kolloquien und Arbeitsgesprächen,Dissertationen und Habilitationen eine ganze Reihe von Einzel-studien mit einer Fülle detaillierter Informationen. Der zeitlicheRahmen erstreckte sich von der fränkischen Zeit bis in das17. Jahrhundert, räumlich deckten diese Untersuchungen für dasquellenärmere 12. und 13. Jahrhundert mit den Landfrieden undStadtrechten das ganze Reichsgebiet ab. Über das quellenreicheSpätmittelalter und das 16. Jahrhundert waren dagegen nurexemplarische Untersuchungen möglich. Kursachsen und Main-franken, Nürnberg und Augsburg galt die besondere Aufmerksam-keit mehrerer Projekte. Parallel einzubeziehen war auch stets dieEbene des gelehrten Rechts, einerseits mit Studien zum kirchlichenStrafrecht des Mittelalters, andererseits zur europäischen Jurispru-denz des 16. Jahrhunderts. Unabhängig oder in losem Kontakt zudieser Projektarbeit waren etwa gleichzeitig umfangreiche histori-sche Fallstudien zum Strafwesen in Konstanz, Köln und Bayernentstanden, die wichtige Erkenntnisse und weiteres Anschauungs-material lieferten.

Wesentliche Ergebnisse, wie sie sich aus der Sicht des Autorsdarstellen, und seitdem darauf aufbauende Forschungsergebnissesollen in den folgenden Abschnitten zusammengefasst und exemp-larisch erörtert werden. Dabei geht es zunächst darum, einenÜberblick über das Spektrum der im Laufe des Mittelalters vor-kommenden Sanktionen zu gewinnen, wobei der Schwerpunkt –den Arbeitsgebieten des Autors entsprechend – in den Jahrhunder-ten seit der Stauferzeit liegen wird, das »strafrechtsgeschichtlich«noch mittelalterliche 16. Jahrhundert eingeschlossen. Abschlie-ßend soll der Blick auf die – heute erkennbaren – allmählichenEntwicklungen des mittelalterlichen Sanktionenwesens in diesemZeitraum und einige grundsätzliche Fragen gerichtet werden. Füreinen Beitrag auf begrenztem Raum ist dies ein eigentlich schon zuweit gespanntes Programm. Außer Betracht bleiben muss daher dieProzessrechtsgeschichte, soweit sich dazu nicht beiläufig Einblickeeröffnen.

Der Quellenbefund ist zunächst höchst unübersichtlich undumso verwirrender, je mehr es gelingt, jenseits der allgemeinbekannten normativen Quellen – Landfrieden, Sachsenspiegel,Carolina – die Vielfalt lokaler, schon aus diesem Grunde wirklich-

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keitsnäherer Regelungen zu erfassen und in Protokollen, Chroni-ken und ähnlichen Texten einzelne Ereignisse und Vorgänge ken-nenzulernen, zunehmend mit Unterstützung von Detailstudien, diereichhaltige archivalische Überlieferungen nutzen konnten. Alleindie aufmerksame Lektüre solcher Quellen und Untersuchungenreicht aus, um das verbreitete Klischee von der mittelalterlichenBlutjustiz zu relativieren. Mit dieser Einsicht ist ein neues Ver-ständnis mittelalterlicher Unrechtsbewältigung aber noch nichtgewonnen. Es ist unwahrscheinlich, dass die durchaus unterschied-lichen Reaktionen auf Verbrechen und Konflikt jeder rationalenDifferenzierung entbehren. Herrschaftsübergreifende Gemeinsam-keiten und Ähnlichkeiten sind denn auch erkennbar, aber bisher ineinem »System« nicht unterzubringen. Also eröffnet den vorersteinzigen Weg durch den Dschungel der Quellenzeugnisse undForschungsergebnisse der Versuch einer Typisierung der an Un-rechtshandlungen geknüpften Konsequenzen. Ganz grob lassensich dann etwa vier Sanktionsformen unterscheiden: Rache, Strafe,Sühneleistung und geistliche Buße.13 Jede dieser Unrechtsfolgenkann allein oder in Verbindung mit einer anderen auftreten, jedewirft spezifische Abgrenzungsprobleme und Möglichkeiten weite-rer Differenzierung auf.

II. Erscheinungsformen mittelalterlicher Sanktionen

1. Rache und Selbsthilfe

Auf erlittenes Unrecht ohne Anrufung eines Gerichts oder einerObrigkeit selbst zu reagieren, um sich einen materiellen odermentalen Ausgleich für die geschehene Verletzung zu verschaffen,dürfte die ursprünglichste Form denkbarer Sanktionen gewesensein. Die verbreitete Meinung, Gewalt sei überhaupt oder dochjedenfalls aus diesem Grunde auch in der vormodernen, schonherrschaftlich organisierten Gesellschaft nicht nur weithin üblichgewesen, sondern auch toleriert worden, lässt sich vor dem Hinter-grund von Quellen und Forschungen, die es mit Reaktionen aufGewalt zu tun haben, nicht leichthin bestätigen. Aber wahrschein-lich sind gerade diese Informationen geeignet, die Grenzen unddamit auch das Maß tolerierter Gewalt kennenzulernen. Es gabSituationen, in denen die Gerichte zögerten, einen Rächer zu ver-

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13 Vgl. parallel zu der vorliegendenDarstellung, aber mit zum Teilanderen und ausführlicher disku-tierten Beispielen aus Kaiserslau-tern, Würzburg und EichstättWilloweit (Fn. 11).

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urteilen, und dies offenbar deshalb, weil sie in seinem Tun nichtwirklich ein Unrecht sahen. Der betrogene Ehemann, der seineFrau beim Ehebruch ertappte und sie tötete, durfte auf Verständnisrechnen und blieb nicht selten straflos.14 Als ein Grund, warumgerade diese brutale Reaktion als eine Art Racherecht mindestensbis zum Ende des Mittelalters bekannt war, ist zu bedenken, dass es– trotz kirchlicher Regelungen und immer wieder anzutreffenderStrafdrohungen15 – »im Mittelalter weder einheitliche Verfahrens-weisen noch allgemein verbindliche Strafmaße« für den Ehebruchgegeben hat.16 Die Obrigkeiten bemühten sich zwar darum, auchdie sexuellen Beziehungen ihren Vorstellungen einer öffentlichenOrdnung zu unterwerfen. War jedoch dieses Ziel ohne Selbstdis-ziplinierung der Betroffenen – noch – nicht erreichbar, so bliebenauch archaische Sanktionsmechanismen weiterhin aktuell. Dazugehörten weitere, im Wege der »Selbstjustiz« verhängte Körper-strafen, wie die Entscheidung des betrogenen Ehemannes, seineruntreuen Frau »nur« die Nase abzuschneiden, um sie damitöffentlich bloßzustellen, oder dies sogar der Ehefrau des Ehe-brechers anzutun oder aber das in flagranti ergriffene Mannsbildzu kastrieren.17 Es wird weitere Varianten gegeben haben.

Die Fortdauer archaischer Sanktionen im privaten Raum maghelfen, die Duldung oder Erlaubtheit anderer eigenmächtiger Ge-walttätigkeiten zu erklären. Mehrfach erfahren wir davon, dassjemand einem Dieb oder des Diebstahls Verdächtigen ein Ohrabgeschnitten hat,18 was ohne Weiterungen gewiss nur gegenübergeeigneten Tätern, »Buben« zum Beispiel, möglich war. Diese auchin der Gerichtspraxis bekannte Verstümmelung, die der Stigma-tisierung des Täters diente,19 hat ihre Wurzeln möglicherweiseebenso im vorstaatlichen Rachewesen wie die Tötung eines Men-schen. Ungestraft gewalttätig werden durften die Bürger mancher-orts auch, wenn sie einem der ihren in der Prügelei mit einemFremden beisprangen.20 Eine Sammlung solcher Nachrichten, diebisher nicht zur »Strafrechtsgeschichte« gehörten, würde einen ge-sellschaftlichen Freiraum rechtmäßiger oder doch geduldeter indi-vidueller Gewalt sichtbar machen, den die Obrigkeiten seit demEnde des Mittelalters nicht zufällig einzuschränken versuchten.Eine weitere Erscheinung, die in jüngerer Zeit die besondere Auf-merksamkeit der Wissenschaft gefunden hat, gehört wohl gleich-falls in diesen Zusammenhang. Mit Schmähbriefen und Schandbil-dern konnte ein Gläubiger, dessen Vollstreckungsversuche erfolglos

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14 Peter Schuster, Eine Stadt vorGericht. Recht und Alltag imspätmittelalterlichen Konstanz,Paderborn 2000, 116; Willoweit(Fn. 11) 42 f.; ders., Gewalt undVerbrechen, Strafe und Sühne imalten Würzburg, in: Die Entste-hung (Fn. 12) 215–233, 220.

15 Andreas Roth, Ehebruch, in:HRG, 2. Aufl., Bd. 1, Sp. 1213–1215 m. w. Nachw.

16 Klaus Schreiner, Verletzte Ehre.Ritualisierte Formen sozialer, poli-tischer und rechtlicher Entehrungim späten Mittelalter und in derfrühen Neuzeit, in: Die Entstehung(Fn. 12) 263–320, 287. Vgl. auchdie Fälle bei Schuster (Fn. 14)114 ff.; Schwerhoff (Fn. 1)384 ff.

17 Schreiner (Fn. 16) 286 f.18 Willoweit (Fn. 11) 44.

19 Vgl. ausführlicher den folgendenAbschnitt.

20 Willoweit (Fn. 11) 44.

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geblieben waren, ohne Hilfe des Gerichts eine öffentliche Sanktionin Szene setzen, die auf die Ehrminderung des Angegriffenen ziel-te.21 Dass die Obrigkeiten gegen diese Form eigenmächtiger An-prangerung seit dem ausgehenden Mittelalter Sturm liefen,22 über-rascht angesichts der gleichzeitigen politischen Bemühungen, derFehde Herr zu werden, nicht. Denn alle diese außergerichtlichen,vom Bedürfnis nach Vergeltung angetriebenen Aktionen waren mitdem Risiko organisierter Gegengewalt und auch blutiger Fehdenverbunden, wenn Angehörige des Adels involviert waren.

Damit gerät ein weites Konfliktfeld in unser Blickfeld, dasscheinbar nur am Rande etwas mit Verbrechen und Strafe zu tunhat. Der gemeinsame Nenner indessen ist mit Händen zu greifen.Wie bei der erlaubten, außergerichtlich geübten Rache, geht es inFehden um eine im Prinzip kraft Herkommen anerkannte, ebenfallsaußergerichtliche Form der Rechtsdurchsetzung. Nicht in Ehrhän-deln, sondern in Rechtshändeln sind die stärksten Antriebskräftedes Fehdewesens zu suchen.23 Im Rahmen der hier zu vermitteln-den Beobachtungen darf dieses Forschungsgebiet zwar unberück-sichtigt bleiben. Doch macht es die Dimensionen der außergericht-lichen Rechtsverfolgung im Mittelalter deutlich. InnerstädtischeGewaltakte, zum Beispiel der Bürger gegen ihren Stadtherrn undseinen privilegierten Klerus, entspringen ganz ähnlichen Rechts-überzeugungen. Sie waren nach Auffassung der handelnden Zeit-genossen vielfach nichts anderes als legitime Maßnahmen derSelbsthilfe, um Recht durchzusetzen oder Unrecht abzuwehren.24

Nochmals öffnet sich damit eine neue Perspektive: die des Voll-streckungswesens mit der Privatpfändung und dem Personalarrest,mit gewaltsamen Besitzergreifungen und »erpresserischen« Geisel-nahmen im Gefolge. Ein Blick auf die im Mittelalter zahlreichenGewalttaten gegenüber den Juden soll diese Übersicht abschließen.Was rückblickend als Pogrom oder Vertreibung erscheint, galt denAkteuren – sei es wirklich, sei es vorgeschützt – als ein Geschehen,das sich grosso modo noch auf dem Boden ihrer Rechtsordnungabspielte.25

Waren im ausgehenden Mittelalter vielfältige Möglichkeitender Selbsthilfe noch lebendig, so dürften eigenmächtige Racheakteim privaten Umkreis kaum befremdlich gewirkt haben. Gewalt-same Rechtsdurchsetzung gehörte noch zur Erfahrung des spät-mittelalterlichen Menschen. Andererseits waren die Obrigkeitennicht mehr bereit, die Tötung eines Totschlägers durch die Ange-

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21 Matthias Lentz, Schmähbriefeund Schandbilder als Medienaußergerichtlicher Konfliktbe-wältigung, in: Schlosser undWilloweit (Fn. 12) 55–79, 65;ders., Konflikt, Ehre, Ordnung.Untersuchungen zu den Schmäh-briefen und Schandbildern desspäten Mittelalters und der frü-hen Neuzeit (ca. 1350 bis 1600),Hannover 2004.

22 Lentz, Konflikt (Fn. 21) 57 ff.

23 Hillay Zmora, Adelige Ehre undritterliche Fehde: Franken imSpätmittelalter, in: Verletzte Ehre.Ehrkonflikte in Gesellschaften desMittelalters und der Frühen Neu-zeit, hg. von Klaus Schreinerund Gerd Schwerhoff, Köln1995, 92–109 m. w. Nachw.;Janine Fehn-Claus, Erste An-sätze einer Typologie der Fehde-gründe, in: Der Krieg im Mittel-alter und in der Frühen Neuzeit:

Gründe, Begründungen, Bilder,Bräuche, Recht, hg. von HorstBrunner, Wiesbaden 1999, 93–138.

24 Heike Lonsdorf, Gewaltanwen-dung und Rechtsdurchsetzung ininnerstädtischen Konflikten inWürzburg, in: Die Wahrnehmungund Darstellung von Kriegen imMittelalter und in der FrühenNeuzeit, hg. von Horst Brunner,Wiesbaden 2000, 167–197.

25 Dietmar Willoweit, Juden imRäderwerk des Rechts – Metho-dische Probleme und inhaltlicheFragen, in: Recht – Gewalt –Erinnerung, Trier 2004 (KleineSchriften des Arye Maimon-Insti-tuts). Begreiflicherweise richtetesich daher auch die Landfriedens-politik gegen gerichtlich nichtautorisierte Selbsthilfe, vgl.Wolfgang Sellert, Geiselnah-me und Pfändung als Gegenstandspätmittelalterlicher Landfrieden,in: Landfrieden. Anspruch undWirklichkeit, hg. von ArnoBuschmann und Elmar Wadle,Paderborn 2002, 231–252.

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hörigen des Opfers als Ausübung eines Racherechts zu akzeptie-ren.26 Das akephale, durch keine Herrschaft kontrollierte, alleinnach innergesellschaftlichen Regeln oder auch ohne solche prakti-zierte Rachewesen zu beenden, war im frühen Mittelalter dasrechtspolitische Motiv für die Etablierung von Gerichten gewe-sen.27 Diese Maßnahme hatte sich auch als dauerhaft erfolgreicherwiesen. Aber eine Gerichtsbarkeit, deren Ziel weder in denAnfängen noch in späteren Jahrhunderten die gleichmäßige Durch-setzung eines von jedermann zu akzeptierenden Strafanspruchssein konnte, musste Freiräume für die private Rechtsdurchsetzunglassen.

2. Strafen

Die lange Zeit »bedeutendste« der von Obrigkeiten einseitigangeordneten Sanktionen28 war nicht blutiger Art, sondern dieStadt- oder Landesverweisung, die in der bisherigen strafrechts-geschichtlichen Literatur »nur am Rande erwähnt oder gar ganzunterschlagen« worden ist.29 Der im Schrifttum gelegentlich nochgebrauchte Begriff der »Verbannung« führt insofern in die Irre, alser die dauerhafte Entfernung eines Täters aus der Rechtsgemein-schaft nahe legt. Das passte zu der Idee der angeblich aus germa-nischer Wurzel hervorgegangenen »Friedlosigkeit«,30 die neuereForschungen indessen verabschiedet haben.31 Regelungen über die»ewige« Ausstoßung eines Mitbürgers – etwa eines Totschlägers –und Fälle solcher Art hat es gegeben, aber sie sind für die großeMehrzahl der Stadt- und Landesverweisungen nicht unbedingttypisch. Die Sanktion wurde zu offenbar verschiedenartigen Zwe-cken und in unterschiedlichem Umfang eingesetzt. Wenn sich derTotschläger nur für ein Jahr aus der Stadt entfernen musste, dannwar mit dieser nur vorübergehenden Exilierung die Sache keines-wegs erledigt, sondern diente dazu, einerseits spontanen Rache-handlungen vorzubeugen, andererseits Zeit für einen Sühnevertragzu gewinnen. Die Obrigkeit knüpfte die Rückkehr in die Stadt dazuan ein ihr zu zahlendes Friedensgeld. Häufig erzwingt auch die demTäter auferlegte Pflicht, Sühnewallfahrten zu unternehmen, einelängere Abwesenheit vom Ort der Bluttat.32 Die vorübergehendeAusweisung verstanden die Zeitgenossen gewiss schon an sich alsStrafe im Sinne des Vergeltungsgedankens, zumal auch oft einerheblicher räumlicher Abstand gegenüber den Stadtmauern ein-

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26 Willoweit (Fn. 11) 53, 54.27 Karl Kroeschell, Deutsche

Rechtsgeschichte, Bd. 1, 11. Aufl.,Opladen 1999, 39 ff.; HinrichRüping und Günter Jerou-schek, Grundriß der Strafrechts-geschichte, 4. Aufl., München2002, Rn. 8 ff. ExemplarischGerhard Dilcher, Fehde, Un-rechtsausgleich und Strafe im äl-teren langobardischen Recht, in:Hoheitliches Strafen in der Spät-antike und im frühen Mittelalter,hg. von Jürgen Weitzel, Köln2002, 27–45, 32 ff.

28 Zum Begriff der Strafe vgl. obenzu Fn. 11.

29 Schwerhoff (Fn. 1) 148. In eini-gen »Katalogen« mittelalterlicherStrafen kommt die Stadt- oderLandesverweisung überhauptnicht vor: Wolfgang Schild,Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottes-urteil bis zum Beginn der moder-nen Rechtsprechung, München1980, 197 ff., der sie jedoch unterder Rubrik »Freiheitsstrafe« kurzzur Sprache bringt; Justiz in alterZeit, Rothenburg o. d. T. 1989,327 ff. Rüping, Jerouschek(Fn. 27) Rn. 67 erwähnen sie inzwei Sätzen als »extraordinäre« (?)Strafe, aber nur für den Sonderfalldes nicht nachweisbaren Ver-dachts. Nur wenig ausführlicherSchmidt (Fn. 4) 64. Zutreffenddagegen noch Rudolf His, DasStrafrechts des deutschen Mittel-alters, Teil 1, Weimar 1920,Neudr. Aalen 1964, 533: »In vie-

len Stadtrechten der späteren Zeitist sie geradezu zur Hauptstrafegeworden.« Ebenso ReinhardHeydenreuter, Kriminalge-schichte Bayerns. Von den An-fängen bis ins 20. Jahrhundert,Regensburg 2003, 235.

30 So insbesondere Schmidt (Fn. 4)63 f.

31 Hermann Nehlsen, Entstehungdes öffentlichen Strafrechts beiden germanischen Stämmen, in:

Gerichtslauben-Vorträge. Freibur-ger Festkolloquium zum 75. Geb.von Hans Thieme, hg. von KarlKroeschell, Sigmaringen 1983,3–16, 10 ff.; Weitzel (Fn. 8)69 ff.; Rüping, Jerouschek(Fn. 27), Rn. 2; Hans-GeorgHermann, Friedlosigkeit, in:HRG, 2. Aufl., Bd. 1, Sp. 1826–1827.

32 Zu den Sühnevereinbarungen undWallfahrten vgl. unten Ziffer 3.

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zuhalten und damit die Existenzsicherung während der Abwesen-heit erschwert war. Aber die angedeuteten, eigentlichen Zwecke derSanktion sind durchaus eigentümlicher Art, nur in der mittelalter-lichen Rechtsordnung denkbar. Aus anderen Orten kennen wirgestaffelte »Tarife« für Scheltworte, Faustschläge; Verletzungen,die man je nach Schwere des Delikts mit einigen Wochen oderMonaten Stadtverweisung ahndete. Auch Ehebrecher behandeltendie Magistrate nicht selten in dieser Weise. Der Täter war damitgewarnt. Wiederholungstaten zogen generell schwerwiegendereFolgen nach sich und konnten zur dauerhaften Ausweisung führen.Die Forschung hat in jüngerer Zeit ein farbiges, aussagekräftigesBild der spätmittelalterlichen Ausweisungspraxis erarbeitet. Dazugehört auch die – bei mancher Sanktion stillschweigend mitzu-denkende – Möglichkeit, die Ausweisung durch eine Geldleistungabzulösen oder notfalls sogar an der Stadtmauer abzuarbeiten.33

Strafen an Leib und Leben hat es auch im frühen Mittelaltergegeben. Vorübergehend aufgekommene Zweifel, von denen schondie Rede war, hat die moderne Forschung durch überzeugendeQuellenarbeit ausgeräumt.34 Entdogmatisierung mittelalterlicherStrafrechtsgeschichte heißt für diese frühe Zeit, eine am modernenRecht orientierte, generelle »Geltung« und »Anwendung« des inden Volksrechten überlieferten Kompositionensystems zu relativie-ren. Stets wird es jedenfalls dann, wenn Kompositionsleistungennicht erbracht werden konnten oder mit Rücksicht auf die Schwereder Tat nicht angenommen wurden, auch peinliche Strafen gegebenhaben. Für das quellenreichere Spätmittelalter ist zunächst diefortdauernde Bedeutung des Handhaftverfahrens festzustellen.Dies ist keineswegs eine rechtsgeschichtliche Konstruktion – viel-leicht aus diesem Grunde in manchen neueren Studien nicht be-achtet –, sondern eine genuin mittelalterliche, verfahrensrechtlicheVerkleidung des Rachebedürfnisses. Der auf frischer Tat ergriffeneTotschläger hatte wohl nur dann eine Chance, seiner Hinrichtungzu entgehen, wenn die Tat im Streit, aus Zorn, als Rache verübtworden war oder ein anderes, damals nachvollziehbares Motivseiner Tat vorlag. Den Quellen ist nicht immer zu entnehmen, obder dem Henker überantwortete Täter sofort verfolgt und ergriffenwerden konnte. Sicher dürfte aber sein, dass sich ein erheblicherTeil der uns bekannten Hinrichtungen so erklärt35 – nicht im Sinneeiner größeren Effizienz rasch reagierender Strafverfolgung, son-dern eben als Niederschlag des weiterhin präsenten Rachegedan-

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33 Vor allem Schuster (Fn. 14) 88,112, 114, 232 ff.; Schwerhoff(Fn. 1) 148 ff.; Carl A. Hoff-mann, Der Stadtverweis als Sank-tionsmittel in der ReichsstadtAugsburg zu Beginn der Neuzeit,in: Schlosser und Willoweit(Fn. 12) 193–237; Willoweit(Fn. 11) 45 ff.; ders., Stadtver-weisungen als Zeugnisse städti-schen Selbstverständnisses imMittelalter?, in: Was machte im

Mittelalter zur Stadt? Selbstver-ständnis, Außensicht und Erschei-nungsbilder mittelalterlicherStädte, hg. von Kurt-UlrichJäschke und ChristhardSchrenk, Heilbronn 2007, 271–283.

34 Weitzel (Fn. 8); Günther Je-rouschek, Geburt und Wieder-geburt des peinlichen Strafrechtsim Mittelalter, in: Die Durch-setzung des öffentlichen Strafan-

spruchs, hg. von Klaus Lüderssen,Köln 2002, 41–52.

35 Willoweit (Fn. 11) 46, 49, 50.

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kens.36 »Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn.«Vielleicht hat dieser legendäre Ausruf eines den Nürnbergern mitkühnem Sprung über die Burgmauer entkommenen Raubritterseinen tieferen rechtsgeschichtlichen Sinn: Haben die Nürnbergereinen (sofort ergriffen), so hängen sie ihn.37

Eine viel schwierigere Frage ist, wie die Menschen des Mittel-alters den »gewöhnlichen«, aus »gecheyt und zorn«,38 also imStreit, aus Zorn, als Rache verübten Totschlag, der nach heutigenMaßstäben oft eine Körperverletzung mit Todesfolge gewesen seindürfte, vom Mord unterschieden haben. Dessen Urheber war auchbei späterer Ergreifung auf das Rad zu flechten, zu hängen oderwenigstens mit dem Schwert hinzurichten, wenn er mit Schwur-helfern oder auch unter Anwendung der Folter überführt werdenkonnte. Alles was wir darüber wissen, deutet auf die besondereVerwerflichkeit der Tat hin, so etwa, wenn sie mit Raub odersexueller Gewalt verbunden war oder wenn das Opfer ein nächsterAngehöriger, der Ehegatte vor allem, gewesen ist. Die Unterschei-dung von Totschlag und Mord ist nicht verschiedenen Tatbestän-den zu entnehmen, sondern an den auch ohne Kenntnisse überdolus und culpa verhängten Sanktionen höchst unterschiedlicherArt abzulesen. Dabei kam es auch ganz wesentlich auf die Persondes Täters an. Jedenfalls der rückfällige Dieb entgeht dem Galgenkaum, der Fremde wird härter behandelt als der Mitbürger, der als»(land)schädlich« erkannte Mann kann Schonung nicht erwarten.Auch der völlig vermögenslose Totschläger, der keine Ausgleichs-leistung anzubieten hat, kann Gefahr laufen, einer peinlichen Strafeunterworfen zu werden. Mit regionalen Unterschieden ist zu rech-nen und auch mit ungleichmäßiger Handhabung der Strafgewalt,weil Bitten um Gnade nicht selten erfolgreich waren.39 Genauereswerden wir erst wissen, wenn einmal das in der Literatur erarbeiteteund zunehmende Fallmaterial verglichen worden ist und Gemein-samkeiten sichtbar werden. Generell wird man im Übrigen sagenkönnen, dass die Verletzung grundlegender Gemeinschaftsgüter,wie der Religion oder der politischen Loyalität, die Todesstrafe zurFolge hatte.40 Ketzer, Verräter, Empörer, auch Falschmünzer sindwährend des ganzen Mittelalters in der Regel hingerichtet worden.Die Vierteilung wegen Verrats, selbst in irgendwelchen Fehden, istnoch aus dem späten Mittelalter häufiger bezeugt.41

Erneut nachzudenken ist über das zur Charakterisierung mit-telalterlichen Strafens gern herangezogene Talionsprinzip. »Spie-

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36 Schild (Fn. 29) 154. Vgl. auchSchwerhoff (Fn. 1) 279, der

aber die Hinrichtung nach Ergrei-fung als Folge wirksamer Straf-verfolgung verstehen möchte;ferner Rolf Sprandel, Neural-gische Punkte in der Strafrechts-wirklichkeit des Spätmittelalters,in: Die Entstehung (Fn. 12) 177–208, 191.

37 Nicht bei Ruth Schmidt-Wie-gand, Deutsche Rechtsregeln undRechtssprichwörter. Ein Lexikon,München 2002, 157, 159 f.

38 Auch in der Peinlichen Gerichts-ordnung Kaiser Karls V. von 1532,hg. von Gustav Radbruch,Art. 137 erwähnt.

39 Schuster (Fn. 14) 273 ff.40 Dies war eine der Arbeitshypo-

thesen des schon erwähnten, 1993begonnenen Forschungsprojekts,vgl. Willoweit (Fn. 14) 231.

41 Willoweit (Fn. 11) 50 f. Wiediese Strafe vollzogen wurde, er-fahren wir regelmäßig nicht.

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gelnde« Strafen, wie die erwähnte Vierteilung bei Verrat, erfreu-ten sich einer gewissen Beliebtheit – soweit sich die Möglichkeiteiner solchen Sanktion überhaupt bot und für richtig gehaltenwurde. Vornehmlich besondere Fallkonstellationen kamen dafürin Frage.42 Die bekannte alttestamentliche Wurzel dieser beson-deren Form der Vergeltung hielt den Gedanken lebendig. Aber dieVorstellung etwa, grundsätzlich sei Dieben die Hand gleichsamals Tatwerkzeug abgeschlagen worden, führt völlig in die Irre.Von einem »Prinzip« kann daher nicht ernsthaft die Rede sein.Um 1500 sind Verstümmelungsstrafen selten geworden, aber noch– oder gerade jetzt – als Sanktion für die Gott lästernde Zunge inÜbung.43 Welchen Zweck die Blendung, der Verlust einer Handoder eines Fußes in Landfriedenstexten, das Brennen in die Backenoder auf die Stirn, das Abschneiden der Nase und in leichterenFällen das Scheren des Haupthaars hatte, ist am ehesten zuverstehen, wenn man mittelalterliche Strafen überhaupt als end-gültigen oder zeitlich begrenzten Ausschluss aus der Rechtsge-meinschaft begreift. Das Haupthaar wächst wieder nach. DieVerstümmelungen aber sind im Verhältnis zur Todesstrafe als eineschwächere Form der Distanzierung zu deuten, die indessennirgendwo zu verheimlichen ist und jedermann zur Vorsichtgegenüber dem so markierten Menschen mahnt.44 Über die wirk-liche Bedeutung dieser grausamen Praktiken im Verhältnis zurGesamtzahl abgeurteilter Personen wissen wir nicht allzu viel.Denn bloße Strafdrohungen in normativen Texten können nichtsdarüber aussagen, in welchem Umfang die Verstümmelungentatsächlich vorgenommen oder durch Geldleistungen abgelöstworden sind. Auch diese Frage ist nur durch das Studium einzel-ner Quellenüberlieferungen, wo es denn überhaupt möglich ist, zubeantworten.

Mit dem bisherigen strafrechtsgeschichtlichen Weltbild nichtgut vereinbar ist auch die Tatsache, dass in den Türmen spät-mittelalterlicher Städte wohl immer eine gute Hand voll Delinquen-ten Haftstrafen absaß. Die Stadttürme dienten also keineswegs nurals Aufbewahrungsort demnächst hinzurichtender Verbrecher, wiedie bisher vorherrschende Meinung lehrt.45 Aber es waren wenigerschwerwiegende Verstöße gegen die städtische Ordnung, die sogesühnt werden sollten. »Viele Unzucht, Ungehorsam, Frevel undMutwillen, auch Aufruhr und Zwietracht, die beim Wein gesche-hen« konnte nach Meinung von Ratsherren mit der Turmhaft

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42 Vgl. die von Schild (Fn. 29) 197berichteten Fälle.

43 Schwerhoff (Fn. 1) 145 f.;ders., Blasphemare, Dehonestareet Maledicere Deum. Über dieVerletzung der göttlichen Ehre imSpätmittelalter, in: Schreiner undSchwerhoff (Fn. 23) 252–278,263; Valentin Groebner, DasGesicht wahren: AbgeschnitteneNasen, abgeschnittene Ehre in derspätmittelalterlichen Stadt, ebda.

361–380, 367; Schuster (Fn. 14)76.

44 Ausführlich zu den bekanntenVerstümmelungsstrafen His(Fn. 29) 510 ff. Zur Deutung die-ser Strafen als StigmatisierungDietmar Willoweit, Die Sank-tionen für Friedensbruch im Köl-ner Gottesfrieden von 1083. EinBeitrag zum Sinn der Strafe in derFrühzeit der deutschen Friedens-bewegung, in: Recht und Krimi-

nalität. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Krause z. 70. Geb., hg.von Ellen Schlüchter undKlaus Laubenthal, Köln 1990,37–52, 45 ff.; ähnlich Rüping,Jerouschek (Fn. 27) Rn. 67.

45 Schmidt (Fn. 4) 64; ähnlich nochSchild (Fn. 29) 208 ff. Differen-zierter His (Fn. 29) 556 ff.

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passend bestraft werden.46 Denn für derlei alltägliche Konfliktewäre auch die zeitlich befristete Ausweisung aus der Stadt eine zuharte Konsequenz gewesen. Entsprechend begrenzt war die Dauerder Haft, die wohl vielfach einfach mit dem Eingreifen einesStadtknechts begonnen hatte. Sie überschritt in der Regel einigeWochen nicht. Dass es sich angesichts der Primitivität dieser Kerkerin Wahrheit um Leibesstrafen gehandelt habe, wie oft zu lesen,leuchtet dem modernen Menschen zwar sofort ein, dürfte für dieBetroffenen aber von zweitrangiger Bedeutung gewesen sein. Diemit einem Freiheitsentzug verbundenen Beschwerlichkeiten warenschon an sich von nicht geringem Gewicht. Die Unmöglichkeit desBroterwerbs im Turm lastete nicht nur auf dem Inhaftierten,sondern auch auf seiner Familie. Der Freiheitsentzug war demmittelalterlichen Menschen außerdem als gelegentlich lang an-dauernde Schuldnerhaft bekannt. Auch ihr lag ein Unrecht zu-grunde. Und ohne das Instrument der zeitweiligen Inhaftierungvon Störenfrieden dürfte die Aufrechthaltung der innerstädtischenOrdnung in jener Epoche schwierig gewesen sein.

Dasselbe gilt natürlich für die im Spätmittelalter »Bußen« oder»Brüche« genannten, aber strikt von der an das Opfer oder seineSippe zu erbringenden Leistung zu unterscheidenden47 Geldstra-fen; Leistungen an das Opfer werden für das Früh- und Hoch-mittelalter gleichfalls unter dem Namen »Buße« erörtert.48 Die inGesetzen ausgesprochene Androhung von Geldbußen, die derObrigkeit zu entrichten waren, scheint für sich zu sprechen. NähereEinblicke in die Praxis der Bußzahlungen an die Obrigkeit sindaber nur dann zu gewinnen, wenn aussagekräftige Kassen- oderStrafbücher, Protokolle oder ähnliche Unterlagen vorhanden sind.Denn auch für diese Strafen gilt, dass der Buchstabe des Gesetzesnicht mit den Augen eines modernen Juristen gelesen werden darf.Konnten Stadtverweisungen und peinliche Strafen in geeignet er-scheinenden Fällen durch Geldzahlungen abgelöst werden, so istauch mit Surrogaten bei Geldstrafen zu rechnen. Und in der Tathat das reichhaltige Konstanzer Quellenmaterial ergeben, dassdie Bußen nicht nur in Raten gezahlt, sondern notfalls auch ab-gearbeitet werden konnten. Dadurch ergab sich »insgesamt einkomplexes, jederzeit offenes System von Verhandlungen undLeistungen«, das freilich auch eine sehr aufmerksam arbeitendeVerwaltung voraussetzt.49 Leider gestattet aber eine solche Be-obachtung an einem Ort keine Rückschlüsse auf die Verhältnisse

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46 Rolf Sprandel, Das WürzburgerRatsprotokoll des 15. Jahrhun-derts, Würzburg 2003, 177;Schuster (Fn. 14) 199 f., 257;ders. (Fn. 36) 182 f.; Schwer-hoff (Fn. 1) 95 ff.

47 Zu diesen vgl. den folgenden Ab-schnitt 3.

48 His (Fn. 29) 583 ff.; Rüping,Jerouschek (Fn. 27) Rn. 63.Verwirrend aber der dort nochverteidigte, auch von Schmidt

(Fn. 4) 56 für die compositiogebrauchte Begriff der »Bußen-strafe«. Dazu mit Recht kritischWeitzel (Fn. 5) Sp. 1397.

49 Schuster (Fn. 14) 227 ff., 236.

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anderswo. Aus Köln hören wir nur von erheblichen Vollzugsdefizi-ten bei der Eintreibung der Geldstrafen.50 Unter solchen Umstän-den ist auch mit dem Erlass noch geschuldeter Beträge zu rechnen.Wie effektiv die Androhung von Geldstrafen für die städtischeOrdnung im Allgemeinen gewesen ist, lässt sich heute noch kaumverlässlich sagen.

Nicht viel anders verhält es sich mit den viel häufiger behan-delten Ehrenstrafen. Dass es sich hierbei um Vorgänge handelte, diedas mittelalterliche Sozialleben in elementarster Weise betrafen,51

ist schon dem Faktum der ständischen Gliederung des Volkes zuentnehmen. Wo der Platz eines jeden in der Gesellschaft gleichsamdefiniert ist, gefährdet eine Ehrminderung die Existenz. Nur ineiner solchen sozialen Ordnung hat auch die Ehrenstrafe einenrechtspolitischen Sinn. Was wir über diese Strafen aber wissen,ergibt sich aus einer bunten Fülle von Einzelheiten, die jederzeitgeeignet sind, unsere Neugier zu wecken, bisher jedoch in Hinblickauf betroffene Personengruppen und Folgen nur wenige Zusam-menhänge erkennen lassen.52 An den Pranger gestellt und dann mitRuten aus der Stadt geprügelt wurden Leute, die ohnehin die Stadtzu verlassen hatten.53 Dann fügte ihnen die Entehrung keinenweiteren, dauerhaften Schaden zu. Anders dürfte es jenen ergangensein, die nach der Prangerstrafe weiterhin an demselben Ort wohn-haft blieben. Quantifizierungen scheinen schwierig und für dieseSanktion vielleicht auch wenig ergiebig. Gibt es Zahlen über dieöffentliche Zurschaustellung der Schande, ist von ihrer marginalenBedeutung die Rede.54 Die negative Ausstrahlung des Geschehensauf die Familie und das soziale Umfeld ist eine andere Sache.

3. Sühneverträge

Die »außergerichtliche Sühne« führt in maßgeblichen Dar-stellungen der Strafrechtsgeschichte das Dasein eines Mauerblüm-chens, das im Rahmen des Strafrechts ja auch kaum eine Existenz-berechtigung hat und dessen Vorkommen daher an besondereSituationen geknüpft wird.55 Tatsächlich aber war »der privateAusgleich … vor allem bei Gewaltdelikten in vielen Rechtskreisenbis zum Ende des Mittelalters dominant«,56 ja weit darüber hinaus,falls damit die Epochengrenze von 1500 gemeint sein sollte. Dashören wir aus so unterschiedlichen Gegenden wie Bayern, Köln,Kursachsen oder Eichstätt.57 Diese erstaunliche Tatsache war ein

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50 Schwerhoff (Fn. 1) 132 ff., 134.51 Dazu Schreiner (Fn. 16); ders.

und Gerd Schwerhoff, Verletz-te Ehre. Überlegungen zu einemForschungskonzept, in: dies.(Fn. 23) 1–28.

52 Schreiner (Fn. 16) 294 ff.;Sprandel (Fn. 46) 103, 269;Willoweit (Fn. 11) 51 f.; Hey-denreuter (Fn. 29) 224 ff. Zu-sammenfassend His (Fn. 29)569 ff.; Schild (Fn. 29) 212 ff.

53 Heydenreuter (Fn. 29) 224;Willoweit (Fn. 11) 52.

54 Schwerhoff (Fn. 1) 139; a. M.Rüping, Jerouschek (Fn. 27)Rn. 67.

55 Schmidt (Fn. 4) 55 glaubt, derTäter habe sich »nicht selten« zurSühneleistung erboten, »währendgegen ihn ein Strafverfahrenläuft«; Rüping, Jerouschek(Fn. 27) Rn. 63 erörtern den Süh-nevertrag nur im Zusammenhangmit der Fehde. Diese Zurückhal-tung ist umso erstaunlicher, alsschon His (Fn. 29) 296 ff. diemeisten der in Frage kommendenFallgruppen ausführlich erörterthat. Grundsätzlicher Schild(Fn. 29) 153 f. und ders., Ge-schichte des Verfahrens, in: Justizin alter Zeit (Fn. 29) 129–207,143 ff., dessen Darstellungen zudieser Frage aber eine klare zeit-liche Einordnung derartiger Ver-einbarungen vermissen lassen.

56 Peter Schuster, KonkurrierendeKonfliktlösungsmöglichkeiten.

Dynamik und Grenzen des öffent-lichen Strafanspruchs im Spätmit-telalter, in: Lüderssen (Fn. 34)133–151, 135; ders. (Fn. 14)140 ff.

57 Heydenreuter (Fn. 29) 79: »DerTotschlag unter Einheimischen istbis ins 18. Jahrhundert ein Be-reich, in dem man den Zugriffder Obrigkeit nicht schätzt.«Schwerhoff (Fn. 1) 280: »Ent-gegen den rigorosen Bestimmun-

gen der Carolina über den Tot-schlag blieb der Gedanke, diesesVerbrechen durch eine Sühne mitden Hinterbliebenen aus der Weltzu schaffen, bis ins 17. Jahrhun-dert hinein lebendig …«; HeinerLück, Sühne und Strafgerichts-barkeit im Kursachsen des 15. und16. Jahrhunderts, in: Schlosserund Willoweit (Fn. 12) 83–99;Willoweit, (Fn. 11) 53 ff.

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wesentliches Motiv für die Einrichtung des DFG-Schwerpunkt-programms über die Entstehung des öffentlichen Strafrechts.58

Denn wenn dieses im 12. Jahrhundert entstanden sein soll,59 abernoch im 16. Jahrhundert massenhaft Totschlagsühnen zwischendem Täter und der Familie des Opfers vereinbart wurden, dannhatte ein solches Strafrecht nur in deutlich geringerem Umfang dieFunktion, die äußersten Grenzen noch erlaubten Verhaltens zumarkieren. Auch aus dieser Perspektive scheint sich die Annahmezu bestätigen, dass die Gesellschaft der Anwendung von Gewaltwenn nicht tolerant, so doch mit einem gewissen Verständnisbegegnet ist.

Um zunächst den Mechanismus der Sühnevereinbarungen zuverstehen, ist es hilfreich, von dem einschlägigen Katalog ver-schiedener Fallgestaltungen bei Rudolf His auszugehen.60 Dabeiist ein wenig Mut zur Hypothese erforderlich, um die zahlreichenNachrichten über Sühneverträge zu erklären. Grundlegend ist dieEinsicht, dass gewalttätige Konflikte unter Einheimischen über-wiegend entweder gar nicht oder nicht von vorneherein inquisi-torisch mit Hilfe der Offizialmaxime, sondern auf Klage des oderder Betroffenen im Parteiprozess verfolgt wurden und die Obrig-keit sich allenfalls einschaltete, wenn niemand die Klage erhob.Das galt selbstverständlich nur, wenn die Tat im Streit, aus Zorn,als Rache geschehen war, also nicht als Mord angesehen wurde.Dann sind zunächst drei Fälle zu unterscheiden: der Verletzteklagt; der Verletzte klagt nicht, weshalb sich die Obrigkeit zurKlage veranlasst sieht; der Verletzte klagt nicht und die Obrigkeitlässt es dabei bewenden. In diesem letzteren Falle bleibt die Tat inaller Regel dennoch nicht sanktionslos. Der adelige Täter mageine Fehde in Kauf nehmen oder eine Aussöhnung anstreben. Dergemeine Mann muss sich regelmäßig zu Sühneleistungen ver-pflichten. Über deren Umfang kann durchaus unter den Augender sonst unbeteiligt bleibenden Obrigkeit verhandelt wordensein. Diese bleibt aber möglicherweise ganz uninteressiert, wenndie Tat unter den Beteiligten im Dorf oder am Ort des Vorfallsverhandelt und damit – gewiss durch akzeptierte Sühneleistungen– aus der Welt geschafft worden ist. Die Tat konnte »vertragen«werden.61

Auch dann aber, wenn Klage durch den Verletzten oder dieObrigkeit erhoben worden ist, eröffnete sich häufig die Mög-lichkeit einer Sühnevereinbarung. Nach den überzeugenden, mit

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58 Willoweit, Programm (Fn. 12)6 f.

59 Vgl. oben zu Fn. 7.60 His (Fn. 29) 296 ff.61 Christiane Birr, Konflikt und

Strafgericht. Der Ausbau derZentgerichtsbarkeit der Würzbur-ger Fürstbischöfe zu Beginn derFrühen Neuzeit, Köln 2002, 76 ff.;Dietmar Willoweit, Vertragen,Klagen, Rügen. Reaktionen aufKonflikt und Verbrechen in länd-

lichen Rechtsquellen Frankens, in:Strukturen der Gesellschaft imMittelalter. Interdisziplinäre Me-diävistik in Würzburg, hg. vonDieter Rödel und JoachimSchneider, Wiesbaden 1996,196–224, 199 ff.

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modernen Studien übereinstimmenden Darlegungen von His sinddie folgenden Situationen zu unterscheiden.62 Erstens: Dem Täterdroht eine peinliche Strafe, die er aber grundsätzlich oder ausGnade durch Zahlung einer Strafe ablösen darf, oft aber nur dann,wenn er sich zur Sühneleistung an den Verletzten erbietet. Zwei-tens: Der von peinlicher Strafe bedrohte Täter ist geflohen undwurde geächtet; die Rückkehr und Lösung aus der Acht ist voneiner Geldstrafe und einer Sühneleistung an den Verletzten ab-hängig. Drittens: Der aus der Stadt gewiesene Täter darf nurzurückkehren, wenn er sich mit dem Verletzten »aussöhnt«, wasregelmäßig die Erbringung von Sühneleistungen zur Voraussetzunghat. Viertens: Der Täter ist zu einer Geldstrafe mit der Auflageverurteilt worden, sich mit dem Opfer auszusöhnen, was wiederumnur selten mit guten Worten möglich gewesen ist. Als fünften Fallerwähnt His noch die Verurteilung zu einer Sühneleistung an dasOpfer, eine eigentlich nicht mehr den Sühneverträgen, sondern denStrafen zuzurechnende Sanktion. Als weitere Fallgruppe ist aber dieFlucht des Täters in eine Asylstätte hinzuzufügen. Dort konnte ervon der Familie des Opfers jedenfalls einige Tage nicht ergriffenund nicht als Handhafttäter vor ein Gericht geschleppt, wohl aberzu Sühneverhandlungen gezwungen werden.63 Dass an diesen oftVermittler beteiligt waren, überrascht nicht.64

Die Sühnevereinbarung war kein einfaches Geschäft und dieErbringung der Sühneleistungen erst recht nicht. Mit Geldzahlun-gen an das Opfer oder die Opfersippe allein war es nicht getan.Die wissenschaftliche Literatur hat viele Nachrichten über demü-tigende Bußrituale, denen sich der Täter unterwerfen musste,zusammengetragen. Förmliche Abbitte mit Unterstützung vonStandes- oder Sippengenossen, öffentliche Auftritte im Büßerge-wande, barfuß und mit brennender Kerze in der Hand, Nieder-knien am Grabe und Bestattung einer Hand des Toten. Fernerwaren für das unvorbereitet ins Jenseits beförderte Opfer vorallem geistliche Dienstleistungen zu erbringen, wie die Stiftungeiner oder auch vieler Messen, Errichtung eines zum Gebet ein-ladenden Sühnekreuzes, Durchführung oft zweier Wallfahrtennach Aachen, Rom, Einsiedeln, Santiago, notfalls auch durcheinen Vertreter. Hinzu kam die Übernahme sämtlicher dabei ent-stehender Kosten, auch etwa vorangegangener ärztlicher Behand-lung.65 Allein diese Tatsache zeigt, dass die Sanktionierung desTotschlags oder schwerer Körperverletzungen durch Sühnever-

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62 His (Fn. 29) 298–301.63 Willoweit (Fn. 61) 201 f.64 His (Fn. 29) 306 f.65 His (Fn. 29) 322 ff.; Schild

(Fn. 29) 153; Heydenreuter(Fn. 29) 78 ff.; Willoweit(Fn. 11) 54 f.

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träge, deren Abschluss mehr oder weniger erzwungen werdenkonnte, auf adelige, auch gut bürgerliche oder bäuerliche Kreisebeschränkt gewesen ist. Der vermögenslose gemeine Mann musstein anderer Weise das Rachebedürfnis der Opferseite befriedigen –entweder durch die schon erörterte Verbannung oder doch durcheine peinliche Strafe.

Der kirchliche Einfluss auf diese Aussöhnungs- und Sühne-praktiken ist offenkundig, zumal wir nicht selten von der Beteili-gung eines Priesters an der förmlichen Wiederherstellung desFriedens zwischen den beteiligten Familien hören. Daher vermagnicht recht zu befriedigen, die Sühneverträge des späten, schon indie Neuzeit einmündenden Mittelalters in einen kontinuierlichenZusammenhang mit der frühmittelalterlichen compositio zu stel-len.66 Der Täter-Opfer-Ausgleich dürfte ein notwendiges Elementjeder nicht vollkommen in Über- und Unterordnungsverhältnissendurchorganisierten, also staatlich verfassten Gesellschaft sein. Ineiner solchen unsicheren Balance zwischen der Durchsetzung herr-schaftlicher Autorität und Gesetze einerseits, innergesellschaftli-chen Konfliktlösungsmechanismen andererseits aber lebten dieMenschen des Mittelalters jedenfalls in Deutschland viele Jahr-hunderte. In welchen Formen jeweils das dann notwendige Sühne-verfahren zwischen den Konfliktparteien durchgeführt wurde,unterlag gewiss Wandlungen und Entwicklungsprozessen. Dieganz weltliche compositio des frühen Mittelalters bot daher wohlein deutlich anderes Erscheinungsbild als das religiös geprägteSühneritual der Spätzeit dieser Epoche.

4. Kirchenbuße

»Konkurrierende Konfliktlösungsmöglichkeiten«,67 die eineunvermeidliche Folge des soeben angesprochenen Dualismus vonherrschaftlichen Geboten und innergesellschaftlichem Recht ge-wesen sind, schlossen die Bereinigung der wegen eines Unrechtsaufgetretenen Spannung durch Auferlegung geistlicher Bußübun-gen ein. Das kirchliche Strafrecht und Bußwesen diente zwar inerster Linie innerkirchlichen Ordnungsbedürfnissen, wandte seineAufmerksamkeit aber darüber hinaus jedem sündhaften Verhaltenzu, womit sich unvermeidlich Überschneidungen mit weltlichenVergeltungsbedürfnissen ergaben.68 Im Spätmittelalter existierenkirchliche Sündenkataloge, die viele strafwürdige Verbrechen mit

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66 So etwa aber noch Willoweit,Programm (Fn. 12) 7.

67 Schuster (Fn. 55).68 Lotte Kéry, Aspekte des kirch-

lichen Strafrechts im Liber Extra(1234), in: Schlosser und Wil-loweit (Fn. 12) 241–297, 259 ff.;dies., Gottesfurcht und irdischeStrafe. Der Beitrag des mittelalter-lichen Kirchenrechts zur Entste-hung des öffentlichen Strafrechts,Köln 2006.

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der Folge kirchlicher Sanktionen umfassen.69 Und in der Tatspiegelt sich der normative Anspruch der Kirche auf Korrektionder Sünden mit ihren Mitteln in vielen chronikalischen und ur-kundlichen Nachrichten wider. Die Praxis öffentlicher Kirchen-buße lässt sich in Chroniken, Urkunden und verwandten Nach-richten mehr oder weniger kontinuierlich vom frühen bis zumspäten Mittelalter belegen. Öffentliche Auftritte im Büßergewande,Geißelungen, Kerzen- und Steinetragen, harte Fastengebote, Mess-stipendien, Wachsspenden, Bußwallfahrten und die Auferlegungähnlicher Pflichten sind häufig bezeugt.70 Oft sind daneben dieschon erörterten Sühneverträge vereinbart worden. Compositiound penitentia ergänzten einander von alters her.71 Auf zufälligenUmständen mag daher gelegentlich beruhen, ob eine Sache vordem weltlichen oder vor dem kirchlichen Gericht anhängig wurde,da solche Sanktionen in Überlieferungen beider Gerichtsbarkeitenvorkommen.72 In anderen Fällen, etwa bei der Buße für eineKindstötung, kann ein Zusammenhang mit einer Sühneverein-barung auch gänzlich fehlen.73 Regelmäßig scheint die Zulassungzur geistlichen Buße eine peinliche Bestrafung ausgeschlossen zuhaben. Die Kirchenbuße bot ein alternatives Sanktionensystem an,das vielfach auch genutzt wurde und trotz aller entehrendenElemente dem Täter noch eine Zukunftsperspektive bot. Einegenerelle Aussage darüber, wann sich diese Chance eröffnete, istderzeit und vielleicht überhaupt nicht möglich. Eine gewisse Orien-tierung mag die früher angedeutete Unterscheidung von Mord undTotschlag bieten, da schwere Verbrechen jedenfalls im Spätmittel-alter kaum noch mit nur geistlichen Mitteln gesühnt worden sind.Auch von büßenden Dieben hört man nichts.

Zur Abrundung dieses recht unscharfen Bildes der Kirchen-buße in der forensischen Praxis gehört ein Hinweis auf die Bestra-fung kriminell gewordener Kleriker durch geistliche Gerichte,denen diese Aufgabe exklusiv vorbehalten war. Prominente kirch-liche Rechtsquellen des 12. und 13. Jahrhunderts sahen harteSanktionen, auch Auslieferung an weltliche Gerichte, zur Aufrecht-erhaltung der Klerikerdisziplin vor.74 Aber ihre Umsetzung in derRechtswirklichkeit bedarf noch sorgfältiger Beobachtung. Es meh-ren sich die Zeugnisse, dass diese Strafgewalt jedenfalls im Spät-mittelalter gegenüber dem eigenen kirchlichen Personal sehr groß-zügig gehandhabt worden ist. Klerikale Sexualtäter kamen mit demPranger oder vorübergehender Haft davon, Domherren, die ein-

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69 Willoweit (Fn. 11) 55 f.70 Schreiner (Fn. 16) 281 ff.;

Willoweit (Fn. 14) 216, 225;Friederike Neumann, Von Kir-chenbuße und öffentlicher Strafe.Öffentliche Sanktionsformen ausder Sendgerichtsbarkeit in städti-schem und landesherrlichemRecht, in: Herrschaftliches Strafenseit dem Hochmittelalter. Formenund Entwicklungsstufen, hg. vonHans Schlosser, Rolf Spran-

del und Dietmar Willoweit,Köln 2002, 159–187.

71 Kéry, Gottesfurcht (Fn. 68) 177 ff.72 Schreiner (Fn. 16) 285.73 Willoweit (Fn. 14) 225.74 Kéry, Gottesfurcht (Fn. 68)

421 ff., 582 ff.; vgl. auch Weitzel(Fn. 11) 31 ff.

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ander totschlugen, verloren nur ihre Pfründe.75 Da zugleich dieAblösbarkeit geistlicher Bußen durch Geldzahlungen festzustel-len ist,76 liegt es nahe, auch in der Milderung der Sanktionen iminnerkirchlichen Raum eine allgemeine, vielleicht vorübergehendeTendenz zu vermuten.

Denn schon vor der Reformation und erst recht danach warenes die weltlichen Obrigkeiten, die sich jetzt motiviert und engagiertzeigten, viele der bis dahin von den kirchlichen Gerichten undmit geistlichen Bußen geahndeten Delikte zu verfolgen.77 Ehe-bruch, Unzucht, Wucher, bald auch Hexerei und Kindstötung,bereiten den frommen Fürsten Sorge, weil Gott die Sünde mitKrieg, Hungersnot und Seuchen straft. Eine andere Epoche kün-digt sich an, die dem Strafrecht einen vormals unbekannten Rangeinräumen wird. Die Carolina von 1532 ist eher ein Symbol diesesWandels, als dass sie ihn schon bewirken konnte. Als entscheidendhat sich letztlich die Verwissenschaftlichung des Strafrechts erwie-sen, ein Prozess, der im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichtund im Reich erst im Laufe des 17. Jahrhunderts zum Abschlusskommt.78

III. Entwicklungen und allgemeine Aspekte

In den tausend Jahren zwischen der Merowingerzeit und demkonfessionellen Zeitalter können auch die an Konflikt und Ver-brechen geknüpften Sanktionen nicht immer gleich geblieben sein.Hier – wie auf anderen Forschungsfeldern der Rechtsgeschichte –erschwert das Verständnis oder stiftet sogar Verwirrung, wer unterder Überschrift »Das Mittelalter« generalisierende Aussagen wagt.Das gilt auch für den vorliegenden Beitrag. Daher ist nun der Blickauf wahrnehmbare Veränderungen zu richten, soweit sich solcheheute schon erkennen lassen. Dabei werden andererseits auchgewisse Konstanten sichtbar, die zu dem in der ganzen Epocheselbstverständlich akzeptierten religiösen Weltbild79 oder zu denStrukturen einer vor- oder protostaatlichen Gesellschaft gehören.In einer solchen kann die Bewältigung zwischenmenschlicherKonflikte ohne den Täter-Opfer-Ausgleich nicht funktionieren.80

Mechanismen dieser Art sind also stets mitzudenken, wenn wir vonStrafdrohungen hören. Dasselbe gilt für die Möglichkeit geistlicherBuße und auch für die Duldung individueller Vergeltungs- und

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75 Peter Schuster, Verbrechen undStrafe in der spätmittelalterlichenNürnberger und AugsburgerChronistik, in: Recht und Verhal-ten in vormodernen Gesellschaf-ten. Festschrift für Neithard Bulst,hg. von Andrea Bendlage,Andreas Priever und PeterSchuster, Bielefeld 2008, 51–65,55; Willoweit (Fn. 14) 218, 225.

76 Neumann (Fn. 70) 159, 163 ff.77 Neumann (Fn. 70) 172 ff., 180 ff.

78 Rüping, Jerouschek (Fn. 27)Rn. 85 ff., 113 ff.; ChristianeBirr, »Kriminalstrafe ist öffentli-che Rache«. Beobachtungen zumStrafgedanken in der juristischenLiteratur der Frühen Neuzeit, in:Hilgendorf, Weitzel (Fn. 11)59–78; Frank Grunert, Die Un-terscheidung zwischen delictumpublicum und delictum privatumin der spanischen Spätscholastik,in: Schlosser, Sprandel und

Willoweit (Fn. 70) 421–438;Harald Maihold, Strafe fürfremde Schuld? Die Systemati-sierung des Strafbegriffs in derSpanischen Spätscholastik undNaturrechtslehre, Köln 2005.

79 Schild (Fn. 29) 8 ff.80 Vgl. oben Abschnitt II, 3 a. E.

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Selbsthilfemaßnahmen, die erst die späte Landfriedenspolitik des16. Jahrhunderts beendet.

Unter diesen Rahmenbedingungen unterlag die Strafpraxis imLaufe des Mittelalters bis an die Schwelle zum 17. JahrhundertWandlungen, die teils längst bekannt, teils aber auch erst in jüngererZeit beobachtet worden sind. Das Frühmittelalter, das die ältereForschung mit germanischen Rechtsüberzeugungen zu erklärenversuchte,81 ist heute Gegenstand einer differenzierenden Betrach-tungsweise, die römische und christliche Einflüsse sorgfältig regis-triert, ohne germanische Elemente rundweg leugnen zu wollen.82

Danach kann für die germanischen Stämme, als sie erst im Begriffwaren, im Römischen Reich oder in dessen Nähe zu siedeln, voneinem bereits entwickelten Strafwesen, das von der Rache zu unter-scheiden wäre, noch kaum die Rede sein. Dagegen leuchtet ein, dasssich mit den Anfängen des Staatsbildungsprozesses auf dem Bodendes römischen Imperiums auch frühe Formen hoheitlicher Straf-gewalt entwickelten, die von den zum Teil neuartigen Ordnungs-bedürfnissen der Kirche noch verstärkt wurden.83 Ein weiterer,nun deutlich wahrnehmbarer Schub hoheitlicher Strafinteressen istbekanntlich mit der königlichen Landfriedenspolitik des 12. und13. Jahrhunderts verbunden. Sie entfaltet sich nicht zufällig in jenerZeit, in der das spätantike Reich als Vorbild mittelalterlichenKaisertums begriffen wird und das römische Recht allmählich indie fürstlichen Kanzleien einzudringen beginnt. Davon bleibt auchdas Verfassungsdenken nicht unberührt:84 Der Kaiser als Quellealler Gerichtshoheit legitimiert auch die Ausübung hoheitlicherStrafgewalt. Und diese kann dem Sünder nun auch nicht mehrschaden, da er seit der Entdeckung des Fegefeuers die Buße imJenseits ableisten kann.85 Die Strafdrohungen der Landfriedendürfen freilich nicht mit denen neuzeitlicher Strafgesetzbücher ver-glichen werden, weil das ungelehrte mittelalterliche Rechtsdenkenden Geltungsbegriff der modernen Rechtslogik nicht kannte, son-dern dem Rechtsherkommen verhaftet und an den Konsensgedan-ken gebunden war – ein weites Forschungs- und Diskussionsfeld,das hier auf sich beruhen muss. Die Strafdrohungen der Land-frieden als Ausdruck eines autoritativen, auf die Herstellung einesumfassenden Binnenfriedens zielenden Gestaltungswillens eröff-neten zwar in aller Form die Möglichkeit peinlicher Bestrafung,zwangen sie aber dem Opfer oder den Angehörigen nicht auf, dieweiterhin sühnenden Ausgleich fordern konnten.86

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81 Vgl. etwa zur »Friedlosigkeit«oben zu Fn. 30 und 31.

82 Vgl. dazu Nehlsen (Fn. 31) undinsbesondere die Arbeiten vonJürgen Weitzel (Fn. 8 undFn. 11) sowie ders., Das Majes-tätsverbrechen zwischen römi-scher Spätantike und fränkischemMittelalter, in: ders. (Fn. 27) 47–83.

83 Weitzel (Fn. 11) 25 ff., 29 ff.,31 ff.

84 Dietmar Willoweit, DeutscheVerfassungsgeschichte. Vom Fran-kenreich bis zur Wiedervereini-gung Deutschlands, 5. Aufl.,München 2005, §§ 9 und 10.

85 Jerouschek (Fn. 34) 51.86 Elmar Wadle, Landfriedensrecht

in der Praxis, in: Buschmann undWadle (Fn. 25) 73–94, 82 undpassim; ders., Zur Delegitimie-rung der Fehde durch die mittel-alterliche Friedensbewegung, in:

Schlosser, Sprandel und Wil-loweit (Fn. 70) 9–30, 18;Schuster (Fn. 56) 135. Die Städtestreben aber frühzeitig die Kon-trolle auch über die Sühneverein-barungen an, vgl. BarbaraFrenz, Frieden, Rechtsbruch undSanktion in deutschen Städten vor1300, Köln 2003, 264 ff. undpassim, mit umfassenden Quel-lenauszügen.

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Studien zum 15. und 16. Jahrhundert berichten von einer indieser Zeit festzustellenden Intensivierung der Strafpraxis in dengroßen Städten.87 Diese Beobachtungen sind offenbar nicht nurNiederschlag einer nun reicheren Quellenüberlieferung. Auf einenkontinuierlichen Bedeutungszuwachs der Blutgerichtsbarkeit alsHerrschaftsinstrument deutet eine lange Kette von Privilegierungenhin, mit denen Kaiser und Könige während des ganzen 14. und15. Jahrhunderts Fürsten, Grafen, Klöster von der Jurisdiktion dernoch bestehenden alten Landgerichte befreiten und ihnen, selbstRittern und mediaten Städten, das Blutgericht verliehen.88 DieVermutung liegt nahe, dass Verleihung und Erwerb der höchstenGerichtsbarkeit zunächst das – unter Juristen unstreitig höchste –Herrschaftssymbol im Blick hatten, zugleich aber auch die »mo-dernere« Möglichkeit eröffneten, von der peinlichen Strafe ohneVerzögerung am eigenen Gericht Gebrauch machen zu können.Der Bedarf scheint dann erst im 15. Jahrhundert dringender ge-worden zu sein, also in jener Zeit, in der Klagen über Missständeder Strafverfolgung den Reichstag zu einer Reforminitiative veran-lassten, aus der dann die Carolina hervorging.

Eine eigentümliche Entwicklung haben die Stadtverweisungengenommen. Diese im 15. und 16. Jahrhundert so außerordentlichhäufige Sanktion89 kann für die davor liegenden Jahrhundertemangels Quellen nicht mehr quantitativ erfasst, sondern nur anHand der normativen Texte untersucht werden. Dabei ist beobach-ten, dass die Exilierung zu verschiedenen Zwecken auf Dauer odervorübergehend zwar schon in der ersten Hälfte des 14. Jahrhun-derts vorkommt90 und auch – wenngleich eher als Ausnahme – fürdie zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zu belegen ist.91 In derersten Hälfte des 13. Jahrhunderts aber sucht man diese Sanktionin deutschen Stadtrechten nahezu vergeblich.92 Die sich aufdrän-gende Vermutung, die Stadtverweisung sei möglicherweise eineErfindung des 13. Jahrhunderts, hat sich jedenfalls für Nürnbergbestätigt. Nachdem 1298 der Ritter Rindfleisch mit seinem Haufendie in die Nürnberger Burg geflüchteten Juden samt ihren christ-lichen Verteidigern verbrannt hatte, wies der Rat die an demPogrom beteiligten zwanzig Bürger aus der Stadt. Seitdem gehörtenStadtverweisungen zum Instrumentarium der Strafverfolgung inNürnberg.93 Die Tatsache aber, dass sich diese Sanktion gerade seitder zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ausgebreitet hat, also ineiner Zeit mit zunehmenden Spuren juristischer Gelehrsamkeit in

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87 Schuster (Fn. 56) 142 ff. (Kon-stanz, Basel, Nürnberg);Schwerhoff (Fn. 1); AndreaBendlage, Ulrich Hensel-meyer, Zur Monopolisierung desStrafrechts. Gesellschaftliche Re-levanz und Reichweite obrigkeit-licher Normen in der ReichsstadtNürnberg im 15. und 16. Jahr-hundert, in: Schlosser, Spran-del und Willoweit (Fn. 70)311–329; Reinhold Schorer,

Die Strafherren – ein selbständigesOrgan der Rechtspflege in derReichsstadt Augsburg in derFrühen Neuzeit, in: Schlosser,Willoweit (Fn. 12) 175–191.

88 Dietmar Willoweit, Die Terri-torialisierung der Blutgerichtsbar-keit im späten Mittelalter, in:Wirtschaft – Gesellschaft – Men-talitäten im Mittelalter. Festschriftzum 75. Geb. von Rolf Sprandel,hg. von Hans-Peter Baum, Rai-

ner Leng und Joachim Schnei-der, Stuttgart 2006, 247–270.

89 Vgl. oben Abschnitt II, 2 zuFn. 33.

90 Willoweit (Fn. 11) 44 ff.91 Vgl. die Quellenauszüge bei Frenz

(Fn. 86) 338, 366; Willoweit(Fn. 33) 275 ff.

92 Willoweit (Fn. 33) 278 auf derGrundlage der Arbeit von Frenz(Fn. 86) 318 ff.

93 Frenz (Fn. 86) 96 f.

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der Rechtspraxis, deutet auf die römische proscriptio als Vorbildhin.94

Das frühneuzeitliche Strafensystem hat sich also allmählichund sehr wahrscheinlich seit dem 13. Jahrhundert unter verschie-denen Einflüssen des gelehrten Rechts entwickelt. Die Intensivie-rung der Strafverfolgung im ausgehenden Mittelalter dürfte miteiner mehr und mehr rationalen Handhabung der zur Verfügungstehenden Sanktionen verbunden gewesen sein. Ein Indiz dafür istder bekannte Wandel des dem Richter gebührenden Friedensgeldesin eine wirkliche Geldstrafe, die sich für einzelne Delikte staffelnund anpassen ließ. Es wird freilich noch erheblicher Anstrengungenbedürfen, um das sich heute abzeichnende Bild der mittelalterlichenStrafpraxis und des parallel lebendig bleibenden Sühne- und Buß-wesens auf einer möglichst breiten Quellenbasis so zu ergänzen,dass gemeinsame Tendenzen und Sonderentwicklungen unterschie-den werden können. Bisher hat niemand versucht, alle auch nur imDruck vorliegenden Nachrichten zu vergleichen und zu koordinie-ren, ganz zu schweigen von noch nicht erschlossenen archivali-schen Überlieferungen, die nicht zu überblicken sind.

Um die Handhabung der Sanktionen besser zu verstehen, mitderen Hilfe die Obrigkeiten und nicht weniger Angehörige allerStände im Mittelalter und bis zum Ende des 16. JahrhundertsKonflikte und Verbrechen zu beherrschen versuchten, ist es wich-tig, die Tatsache der konkurrierenden Konfliktlösungsmechanis-men ernst zu nehmen.95 Als Ursache dieser in einer »protostaat-lichen« Gesellschaft an sich nicht überraschenden Erscheinung istder Vorrang der Gläubigerinteressen benannt worden.96 Ein obrig-keitliches Strafinteresse ist erst in Ansätzen, vor allem bekanntlichzur Wahrung des Landfriedens, festzustellen. Ohne das zur Straf-verfolgung zwingende Legalitätsprinzip aber ergaben sich Ermes-sensspielräume auch bei der Verhängung von Strafen. Als Ergebnisist eine uns heute unbekannte Flexibilität der Straf- und Sühne-praxis festzustellen. Allein diese Beobachtung lässt den Nutzengenuin strafrechtlicher Kategorien bei der Beschreibung und Ana-lyse mittelalterlicher Strafpraxis fragwürdig erscheinen. Dennmanche Entscheidung fiel im Vorfeld eines Strafverfahrens, zumBeispiel ob ein solches in Hinblick auf die Beweggründe des Tätersüberhaupt durchgeführt werden sollte. Seine etwa gering einge-schätzte Schuld haben die Zeitgenossen mit Sicherheit registriert,aber in anderer Weise – zum Beispiel durch Ausschluss oder

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94 Willoweit (Fn. 33) 281 ff.95 Schuster (Fn. 56).96 Schuster (Fn. 56) 139.

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Zulassung einer Sühnevereinbarung – als in einem modernenStrafverfahren. Es waren wohl bestimmte Verhaltensmuster, mitdenen sich Vorstellungen erheblicher Schuld oder nur menschlichenVersagens verbanden. Hier ist noch vieles klärungsbedürftig. Aberdass subjektive Elemente eine Rolle spielten, wenn auch vielleichtin typisierter Form, ist mehr als wahrscheinlich.

Das lässt auch eine andere Problematik erkennen: die Eigenartder mittelalterlichen »Rechtsgüterordnung«. Sie gewann erst spätunter dem sich verdichtenden Einfluss des kanonischen Rechts undtheologischen Denkens das uns vertraute Profil mit dem Lebens-schutz an der Spitze und den weniger kostbaren Gütern undInteressen im Gefolge. Denn die neuere Forschung hat die schonbisher nahe liegende Annahme bestätigt, dass der Tötung einesMenschen, wenn sie nicht als Mord zu qualifizieren war,97 nichtjener unüberbietbare Unwert anhaftete, den unsere Gegenwart miteiner solchen Tat verbindet. Dies folgt aus der paradox erschei-nenden Gewichtung von Diebstahl und Totschlag.98 Während dieTötung eines Menschen unter Mitbürgern mittels materieller undgeistlicher Leistungen gesühnt werden durfte, traf den Dieb jeden-falls in schwerwiegenderen Fällen die Todesstrafe. Folgt darausaber, dass die Gesellschaft dem Eigentumsschutz einen alles über-ragenden Rang einräumte und deshalb den Diebstahl eines Ochsenhärter sanktionierte als den Totschlag des Bauern? Die zur Witwegewordene Bäuerin hätte diese Frage verneint. Es dürfte eher derUnwertgehalt des Verhaltens, also der Tat gewesen sein, welcherdie Zeitgenossen unter keinen Umständen Verständnis entgegen-brachten. Aus bürgerlicher und nachbarlicher Perspektive gesehen,musste niemand stehlen – zuschlagen dagegen schon. Die Idee einerhierarchischen Rechtsgüterordnung taugt nicht, um diese Verhält-nisse und Bewertungen zu erklären. Manches spricht also dafür,dass gerade nicht der Taterfolg, die Verletzung eines »Rechtsguts«,Art und Maß der Sanktion bestimmte, sondern in erster Linie dasVerhalten des an bekannten typischen Verhaltensweisen gemesse-nen Täters. Doch ist es zweifelhaft, ob dieses Ergebnis ausnahmsloszutrifft. Als Rechtsgut von außerordentlichem Rang in der mittel-alterlichen Gesellschaft muss man wohl die Ehre bezeichnen.99 IhreVerletzung ist Ursache vieler Konflikte und andererseits geeignet,eine Vergeltungstat in mildem Licht zu sehen. Auch Delikte wieKetzerei und Verrat dürften besser als Schutz von Gemeinschafts-gütern zu begreifen sein und nur darum als verwerfliches Ver-

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97 Vgl. oben Abschnitt II, 2.98 Schuster (Fn. 56) 135.99 Schreiner (Fn. 16) 263 ff.,

268 ff.; Schuster (Fn. 14) 99.

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halten. Doch muss an dieser Stelle genügen, Fragen solcher Artanzudeuten. Vielleicht können sie weiterhelfen, das unübersicht-liche Szenarium der mittelalterlichen Sanktionen für Unrecht einwenig aufzuhellen.

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