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139 JAPAN:POLITISCHE ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUREN IM SPIEGEL POLITIKWISSENSCHAFTLICHER DEUTUNGEN 1 Paul Kevenhörster Abstract: Who governs? No other political system has attracted so many divergent perspectives of power analysis as the Japanese one. The answers have often proven to be too generalized and simplistic. There is no monolithic, bureaucracy-dominat- ed power structure as suggested by the elitists nor an open system of competing in- terests as stated by the pluralists. Rather we should speak of a unique bureaucratic consociational democracy. The concept “developmental state” offers an overly “linear” and therefore, misleading perception of political power in Japan. While the Japanese bureaucracy, on one side, keeps a strong position in the process of policy formation by coordinating divergent socio-economic interests and policy perspec- tives, factions, zoku and shingikai on the other side channel the interests of impor- tant economic sectors within parties, parliament and ministries. Behind the Iron Triangle of the Liberal-Democratic Party, bureaucracy and industry a Network State has emerged as the institutional framework for consultation, coordination and bargaining between politicians, experts, journalists, lobbyists and representa- tives of electoral districts. This system of inclusive informal networks offers a solid basis for interest aggregation, clientelism and a development orientation. Die Frage nach den politischen Machtstrukturen in Japan wird von japa- nischen und westlichen Politikwissenschaftlern aus unterschiedlichen Blickwinkeln beantwortet. Im folgenden Beitrag werden einige Perspekti- ven aufgezeigt, die ein eigenständiges Urteil ermöglichen sollen, das der komplexen politischen Machtstruktur gerecht wird. Zuvor gilt es Ab- schied zu nehmen von einigen stark vereinfachenden Bildern von Macht und Einfluß in der japanischen Politik. 1. ELITISTEN UND PLURALISTEN In der Diskussion um politische Entscheidungsstrukturen in Japan schla- gen sich die gleichen Deutungsmuster nieder, die von Politikwissen- schaftlern auch zur Beantwortung der Frage nach Machtstrukturen in an- 1 Der folgende Aufsatz stellt eine gekürzte und zugleich ergänzte Fassung eines Teiles meines Beitrages zum Länderbericht Grundwissen Japan – Wirtschaft – Ge- sellschaft – Politik dar, den der Verlag Leske + Budrich, Opladen, demnächst ver- öffentlichen wird (Verfasser: Paul Kevenhörster, Werner Pascha, Karen A. Shire).

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Politische Entscheidungsstrukturen im Spiegel politikwissenschaftlicher Deutungen

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JAPAN: POLITISCHE ENTSCHEIDUNGSSTRUKTUREN IMSPIEGEL POLITIKWISSENSCHAFTLICHER DEUTUNGEN1

Paul Kevenhörster

Abstract: Who governs? No other political system has attracted so many divergentperspectives of power analysis as the Japanese one. The answers have often provento be too generalized and simplistic. There is no monolithic, bureaucracy-dominat-ed power structure as suggested by the elitists nor an open system of competing in-terests as stated by the pluralists. Rather we should speak of a unique bureaucraticconsociational democracy. The concept “developmental state” offers an overly“linear” and therefore, misleading perception of political power in Japan. While theJapanese bureaucracy, on one side, keeps a strong position in the process of policyformation by coordinating divergent socio-economic interests and policy perspec-tives, factions, zoku and shingikai on the other side channel the interests of impor-tant economic sectors within parties, parliament and ministries. Behind the IronTriangle of the Liberal-Democratic Party, bureaucracy and industry a NetworkState has emerged as the institutional framework for consultation, coordinationand bargaining between politicians, experts, journalists, lobbyists and representa-tives of electoral districts. This system of inclusive informal networks offers a solidbasis for interest aggregation, clientelism and a development orientation.

Die Frage nach den politischen Machtstrukturen in Japan wird von japa-nischen und westlichen Politikwissenschaftlern aus unterschiedlichenBlickwinkeln beantwortet. Im folgenden Beitrag werden einige Perspekti-ven aufgezeigt, die ein eigenständiges Urteil ermöglichen sollen, das derkomplexen politischen Machtstruktur gerecht wird. Zuvor gilt es Ab-schied zu nehmen von einigen stark vereinfachenden Bildern von Machtund Einfluß in der japanischen Politik.

1. ELITISTEN UND PLURALISTEN

In der Diskussion um politische Entscheidungsstrukturen in Japan schla-gen sich die gleichen Deutungsmuster nieder, die von Politikwissen-schaftlern auch zur Beantwortung der Frage nach Machtstrukturen in an-

1 Der folgende Aufsatz stellt eine gekürzte und zugleich ergänzte Fassung einesTeiles meines Beitrages zum Länderbericht Grundwissen Japan – Wirtschaft – Ge-sellschaft – Politik dar, den der Verlag Leske + Budrich, Opladen, demnächst ver-öffentlichen wird (Verfasser: Paul Kevenhörster, Werner Pascha, Karen A.Shire).

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deren Industriestaaten seit langem herangezogen werden. WährendElitisten das machtvolle, engverflochtene Netzwerk von Entscheidungs-trägern in Politik, Verwaltung und Wirtschaft hervorheben, verweisenPluralisten auf eine Vielzahl von Gegenmächten in Wirtschaft, Politik, Ver-waltung und Medien, ferner auf die Fragmentierung der politischen Ent-scheidungsstrukturen, die Vielfalt der sozioökonomischen Interessen, dasGegengewicht konkurrierender Wirtschaftsinteressen und schließlich aufdie Kritik- und Kontrollfunktion der Medien. Beide Perspektiven könnenaber durchaus zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengefügt wer-den: Horizontal gliedert sich die politische Macht in rivalisierende Insti-tutionen und konkurrierende Gruppen; vertikal teilt sie sich in die Ein-flußbereiche zentralstaatlicher Befürworter der Modernisierung bzw.Internationalisierung und jener lokaler, basisorientierter Interessenbe-hauptung.

Die Entwicklung der japanischen Politikwissenschaft hat die Konkur-renz dieser Sichtweisen in den letzten beiden Jahrzehnten durch die Sicht-weise eines pluralistischen Bildes der Politik und die Perspektive staatlicherDominanz abgebildet. Stellt die erste auf Interaktionen zwischen einerVielzahl von Akteuren (Abgeordnete, Beamte, Interessenvertreter, Wäh-ler, Journalisten, Unternehmer, Vertreter von Bürgerinitiativen etc.) abund verweist dabei auf die Kapazität des politischen Systems zur Aggre-gation einer großen Bandbreite gesellschaftlicher Interessen, so stützt sichdie zweite auf das politische und wissenschaftliche Interesse an einer Er-klärung der politisch-administrativen Erfolgsbedingungen der Wirt-schaftspolitik. Beide zeigten sich aber in neuerer Zeit nicht in der Lage, ak-tuelle politische Entwicklungstendenzen einzufangen und befriedigendzu deuten.

Das „Elite-Modell“ (er�to moderu) und die „Theorie bürokratischer Do-minanz“ (kanry� y�iron) – als einflußreichste Variante dieser Perspektive –verloren spätestens an Erklärungskraft, als umwelt- und sozialpolitischeThemen in den 1970er Jahren die politische Debatte prägten und Bürger-initiativen und Gemeinden immer mehr gesellschaftspolitische Themenvon lokaler und regionaler Bedeutung auf die politische Tagesordnungsetzten. Dieser politische Wandel ging mit der Verlangsamung des Wirt-schaftswachstums, engeren Verteilungsspielräumen nach der Ölkrise undeiner Erosion der liberaldemokratischen Machtbasis einher. An die Stelledes Elite-Modells traten daher in den 1980er und 1990er Jahren zwei neueSichtweisen. Die pluralistische Perspektive betont Aktionsspielräume vonInteressengruppen und sozialen Bewegungen, neue Formen politischerBeteiligung in der Kommunalpolitik und die Stellung von Gemeindenund Präfekturen gegenüber der Zentralregierung. Demgegenüber gehteine ergänzende korporatistische Sichtweise der Beteiligung von Unterneh-

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mern und Gewerkschaften und der Rolle von Beratungsgremien im poli-tischen Entscheidungsprozeß nach. Vermittelnd ist schließlich die prä-gnante Beschreibung der japanischen Politik als umfassender Pluralismusunter Führung der Bürokratie (Inoguchi 1995).

Diese Deutungsmuster lassen sich unschwer zu den klassischen Demo-kratietheorien der Konkurrenz und Konkordanz in Beziehung setzen.Während das Konkurrenzmodell politische Konflikte unter Wettbewerbsbe-dingungen durch Mehrheitsentscheidungen regelt und das Konkordanz-modell Konflikte durch Konsens beilegt, sieht das hierarchisch-bürokratischeModell eine autoritäre Konfliktregelung vor. Die politische Kultur Japansist durch eine Mischform gekennzeichnet, bei der die zweite und dritteKomponente stärkeres Gewicht haben. Es stellt gewissermaßen eine hier-archisch-bürokratische Konkordanzdemokratie dar. Entsprechend geben dievielfach gebrauchten Begriffe „Staatskapitalismus“ und „BürokratischeVorherrschaft“ das Verhältnis von Staat und Wirtschaft nicht angemessenwieder. Diese Beziehungen beruhen vielmehr auf einem wechselseitigenKonsens. Dem entspricht, daß die politische Macht auch zu Zeiten der Al-leinregierungen der Liberaldemokraten nicht durchweg zentralisiert war.Konflikte innerhalb der zentralen Ebene waren häufig, und Lösungenwurden durch Absprachen zwischen Parteien, Ministerien und Interes-sengruppen gesucht. Die Dynamik politischer Entscheidungsprozesse istauch jetzt mehrschichtig: Zentrifugalen Tendenzen zu Konflikten, politi-schem Wettbewerb und sogar koalitionsinterner Fragmentierung stehenzentripetale Tendenzen zu Koordination und Integration gegenüber. Sowird der politische Wettbewerb immer wieder durch Konsultativ- undKonsultationsbeziehungen zwischen den beteiligten Akteuren struktu-riert. (Siehe hierzu insb. Richardson 1997.)

Die politischen Entscheidungsprozesse lassen sich schließlich ansatz-weise mit den Begriffen Neokorporatismus und Neomerkantilismus um-schreiben: Sie sind neokorporatistisch, weil größere Interessengruppeneinzelne Entscheidungsfelder beherrschen und anderen Gruppen den Zu-gang verwehren. Die politischen Entscheidungsgremien spiegeln dieseDominanz wider und beschränken sich auf die Koordination der Interes-senblöcke, da die Parteien die Interessenforderungen aufnehmen und dieerforderlichen Kompromisse ratifizieren. Die Wirtschaftspolitik ist neo-merkantilistisch, weil der Staat durch Subventionen, Exportförderung,Importbarrieren und die Förderung strategisch wichtiger Sektoren inter-veniert. Diese Politik baut auf korporatistischen Strukturen auf und setztdiese geradezu voraus. Welches sind die Merkmale dieser Strukturen iminternationalen Vergleich?

Vergleicht man das parlamentarische Regierungssystem Japans mit denpolitischen Systemen Europas, stechen einige Besonderheiten ins Auge:

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• der hohe Anteil früherer Ministerialbeamter im Parlament und in denFührungsschichten der Parteien,

• die nur kurz unterbrochene Vorherrschaft einer Partei(enkonstellation)über ein halbes Jahrhundert, verbunden mit einem entsprechend stabi-len Zweckbündnis von Regierung und Bürokratie,

• der jährliche Austausch von Ministern,• korporatistische Strukturen der Interessenvermittlung auf der Grund-

lage politischer Netzwerke aus LDP-Abgeordneten, Interessenvertre-tern und Regierungsbeamten, insbesondere in der Wirtschafts-, Sozial-und Technologiepolitik,

• Chancen politischer Einflußnahme auch für kleinere Interessengruppenin einem System des strukturierten, d.h. „geordneten“ Pluralismus,

• starke Rivalitäten zwischen Ressorts und Hierarchieebenen im Regie-rungsapparat und zwischen Faktionen in der Regierungspartei,

• schwache lokale Parteiorganisationen und starke, an einzelne Abgeord-nete gebundene Apparate der Wahlkampffinanzierung und Wahl-kampfführung,

• verfassungspolitisch starke, aber strukturell schwache, instabile Stel-lung des Premierministers,

• fragmentierte politische Opposition ohne realistischen Alternativcha-rakter und

• ein hohes Maß gesellschaftlicher Homogenität.

Den sich immer mehr in Form vielfältiger politischer Netzwerke auffä-chernden politischen Entscheidungsstrukturen entsprechend nehmen inder japanischen Politikwissenschaft die Pluralisten (tagenshugisha) einestarke Stellung ein. Sie stellen die japanische Politik wie insbesondere�ta-ke Hideo hinsichtlich der Stellung der Bürokratie und der Rolle politischerIdeologie an die Seite der politischen Systeme Frankreichs und Deutsch-lands. Die Pluralisten halten eine stärkere Verzahnung kulturwissen-schaftlicher und sozialwissenschaftlicher Perspektiven und eine stärkereBürgerbeteiligung (shimin sanka) sowie neue Wege direkter Demokratie(chokusetsu minshushugi) für erstrebenswert (Curtis 1999; Foljanty-Jost undThränhardt 1995; Johnson 1995; Kobayashi 1997; Masumi 1995; Nakano1997; �take 1996a und 1996b; Richardson 1997).

2. BÜROKRATISCHE DOMINANZ: IST JAPAN EIN „ENTWICKLUNGSSTAAT“?

Das japanische Modell der Politik stellt sich vielfach als ein System büro-kratischer Herrschaft dar, gekennzeichnet durch interne Konflikte inner-halb der Verwaltung und durch Konflikte zwischen Bürokratie und poli-

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tischer Führung, im Bereich der Wachstumsförderung insbesonderezwischen Außenhandelsministerium und der Fair Trade Commission. Diebürokratieinternen Konflikte werden durch die Verfahren der Personal-auslese in Politik und Administration, durch das konsensuale Planungs-verfahren der Ministerien, politische Seilschaften aufgrund gemeinsamerAusbildung und Interessen (old boys’ networks) und das Verfahren derHaushaltsplanung abgemildert. Auf andere Länder übertragbar erschei-nen dabei nicht so sehr die institutionellen Strukturen dieses Modells, son-dern noch am ehesten sein Anreizsystem für Sparen, Arbeiten, Investitio-nen und internationale Kooperation.

Die traditionell starke Stellung der Ministerialverwaltung beruht dar-auf, daß politische Initiativen in den Ministerien im Rahmen eines breiten,konsensualen Planungsprozesses von unten nach oben durchgesetzt wer-den (ringisei), Macht und Autorität getrennt bleiben und Erfolge wie Miß-erfolge kollektiv verantwortet werden. Bei einer im Unterschied zu denwestlichen Demokratien relativ geringen Größe ist der Verwaltungsappa-rat, wie die OECD in einer vergleichenden Analyse festgestellt hat, sehr ef-fizient. Im Rahmen weitgespannter Kooperationsnetze führen die Mini-sterien aber auch ein Eigenleben, von den Kabinettsassistenten (naikakuhosakan) und der Haushaltskonferenz der Kabinettsmitglieder (Yosan ka-kury� kaigi) nur unzulänglich koordiniert und überwacht. Ein politischesGegengewicht stellt allerdings der Political Affairs Research Council(PARC, Seimu Ch�sakai) der LDP dar, dessen Bedeutung in den letztenJahrzehnten allerdings Schwankungen unterlag. Im allgemeinen folgt dieParlamentsmehrheit den Vorgaben dieses Ausschusses und den Vorlagender Ministerien.

Der japanische Staat hat seit mehr als einem halben Jahrhundert der För-derung der wirtschaftlichen Entwicklung Vorrang vor anderen Zielen ein-geräumt. Die Verfolgung dieses Zieles ist – insbesondere auch beiRückschlägen – stets mit weitreichenden Lernprozessen der politisch-ad-ministrativen Führungsschicht verbunden gewesen. Diesen Lerneffektkönnen andere Staaten in Asien nur erzielen, wenn sie sich auch in ersterLinie als Entwicklungsstaaten und erst in zweiter Linie als Wohlfahrts-staaten verstehen. Die Entwicklungsorientierung garantiert allein zwarnoch nicht den Erfolg staatlichen Handelns, ist aber dessen notwendigeVoraussetzung. Wodurch wird dieses Orientierungsmuster geprägt?

Die politischen Prioritäten bauen auf einer rationalen Einschätzung derHandlungsbedingungen auf: der Dynamik der „Spätentwicklung“, demMangel an Rohstoffen und Energieressourcen und einer großen räumlichstark konzentrierten Bevölkerung. Die hierauf beruhende Perspektivewurde in der Außenhandels- und Industriepolitik unter der Führung desMinisteriums für Wirtschaft, Internationalen Handel und Industrie

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(Keizai Sangy�sh�, kurz Keisansh� oder Ministry of Economy, Trade andIndustry, METI) politisch in Programme umgesetzt, die auf eine neueIndustriestruktur zugunsten postindustrieller, „wissensintensiver“ Indu-striezweige abzielten. Entscheidend hierfür war ein Kooperationsnetz-werk zwischen Staat und Wirtschaft, das einen Mittelweg zwischenLaissez-faire-Kapitalismus und zentralverwaltungswirtschaftlicherSteuerung geht. Seine Elemente sind Selbstkontrolle, Staatsaufsicht und Ko-operation.

Die Selbstkontrolle schlug sich in staatlich lizenzierten Kartellen nieder,die weiten Handlungsspielraum in Anspruch nahmen, zugleich aber dieStellung der stärksten Unternehmensgruppe weiter festigten. Demgegen-über bewirkte die Staatsaufsicht eine enge Kontrolle der jeweiligen Unter-nehmensleitung und wurde in größerem Umfang nur vor dem Krieg aus-geübt. Am bedeutsamsten ist das dritte Element: die Zusammenarbeitzwischen Staat und Wirtschaft, die eine Synthese der ersten beiden Ele-mente darstellt. Die Vorzüge dieser Kooperation sind eine hohe Intensitätdes Wettbewerbs und die Umsetzung sozialer Ziele, ihr Nachteil ist diehohe Schwierigkeit der Implementierung einer solchen Kooperations-struktur. Die Industrie sucht die Unterstützung durch die Regierung,nicht aber nach deren Handlungsanweisungen. Ausschüsse und Beiräte(shingikai) sind Instrumente dieser Kooperation. Die personelle Basis desKooperationsnetzes sind gemeinsame Ausbildungswege des Manage-ments in Wirtschaft und Verwaltung, ein Personalwechsel von den Mini-sterien zur Wirtschaft (amakudari) und die old boys’ networks.

Welches sind nun die wesentlichen Bestandteile des Modells des „japani-schen Entwicklungsstaates“?

1. Hohe Kompetenz und Managementfähigkeit der staatlichen Verwaltung, ins-besondere der Ministerialbürokratie. Diese nimmt drei Aufgaben in derIndustriepolitik wahr: Sie wählt förderungswürdige Industriezweigeaus (Industriestrukturpolitik), bestimmt die Förderinstrumente (Indu-strieförderungs- und Rationalisierungspolitik) und überwacht denWettbewerb in den Förderungssektoren. Die Wahrnehmung dieser Auf-gaben stützt sich im wesentlichen auf marktkonforme Instrumente.

2. Hohe Planungskompetenz und weites Operationsvermögen der Ministerialbü-rokratie im Rahmen des politischen Systems. Aufgabe des politischen Sy-stems ist die politische Legitimationsbeschaffung, nicht aber populisti-sche Steuerung. Es legt nur die Rahmenbedingungen der politischenPlanung fest und hält die Interessengruppen auf Distanz. Soweit diesdurch symbolische Aktionen nicht möglich ist, erhält die Bürokratie denAuftrag, auf die Interessengruppen einzugehen: The politicans reign andthe bureaucrats rule.

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3. Marktkonformität der Instrumente staatlicher Intervention in der Wirtschaft.Diese indirekte Methode der Marktbeeinflussung bedient sich regie-rungseigener Finanzierungsinstitutionen, steuerlicher Anreize, indika-tiver Planung, der Beauftragung geeigneter Unternehmen mit öffentli-chen Aufgaben, staatlicher Unternehmen in Risiko-Bereichen und des„Prinzips administrativer Lenkung“ (administrative guidance, gy�seishid�).

4. Pilotfunktion des METI. Hier ist ein Mix von Instrumenten und Einrich-tungen nötig, die ein Ministerium in der Wirtschafts- und Außenhan-delspolitik, Industrie- und Technologiepolitik steuerungsfähig machen.

253 japanische Politikwissenschaftler sind im März 1997 aufgefordertworden, das relative Gewicht der Ministerien zu bestimmen. Der höchsteRangplatz auf einer Skala war dabei 5, der niedrigste 1. Diese Exper-tenumfrage erbrachte folgenden Befund:

Tab. 1: Das politsche Gewicht der Ressorts

Quelle: Kato und Laver (1998: 258)

Politisch starkes Gewicht besitzen somit drei Ressorts: das Finanz-, dasAußen- und das Wirtschaftsministerium. Diese Ministerien haben auchgegenüber der politischen Führung – Premierminister und Kabinett –stets ein großes Eigengewicht besessen. Erfahrene Politiker wie etwa derfrühere Stellvertretende Premierminister und Justizminister Got�daMasaharu (1994) bemängeln daher zu Recht das Suprematiestreben derMinisterialverwaltung, „das Überhandnehmen des Bürokratismus“, und

Das politische Gewicht der Ressorts

Ressort Rangplatz Mittelwert

FinanzenAuswärtigesAußenhandel und IndustrieArbeit und SozialesBauInneresVerkehrLandwirtschaftPost und TelekommunikationJustizBildungArbeit

123456789

101112

4,494,003,573,072,902,692,652,632,532,352,332,08

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beklagen die unerwartet geringen Kompetenzen des Kabinetts. Wegender zunehmenden Interdependenz der Arbeit der verschiedenen Ressortssei statt dessen eine Stärkung der Regierungsspitze vordringlich. Nur solasse sich das „anmaßende Bewußtsein der Beamten“ einer wirksamenpolitischen Kontrolle unterwerfen. (Zur politischen Bedeutung des Fi-nanzministeriums siehe insb. Suzuki 2000.)

Wie wirkt sich die offensichtlich starke Stellung der Ministerialbürokra-tie außenpolitisch aus? Anders als die in der Vergangenheit oftmals be-schworene Karikatur der „Japan Inc.“ stellt sich der außenpolitische Ent-scheidungsbildungsprozeß in den 1990er Jahren eher als dezentralisiert,fragmentiert und vertikal-segmentiert dar. Keine einzelne Instanz ist inder Lage, übergreifende strategische Entscheidungen zu treffen. Der In-formationsfluß gestaltet sich oft ungeordnet und konfus. Die politischeKoordination wird durch eine starke Nordamerika-Orientierung des Au-ßenministeriums eher erschwert. Das Finanzministerium (Zaimush�, zu-vor �kurash�, engl. MOF) ist durch seine Kontrolle über das Budget wohlnach wie vor der stärkste Akteur im ministeriellen Entscheidungsapparat.Dieser Befund erweist sich insbesondere unter den Bedingungen von Re-zession und Finanzkrise seit 1997 als Kontinuum.

Das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie (METI) ist diezweite, wichtige Regierungsbehörde mit außenpolitischer Bedeutung. Esist für die ökonomische Dimension der nationalen Sicherheit zuständig,d.h. für den ungehinderten Zugang Japans zu Rohstoffen und ausländi-schen Märkten. Die Stellung des Außenministeriums (Gaimush� oderMinistry of Foreign Affairs, MOFA) war in den letzten Jahrzehnten den In-teressen von METI und MOF eher nachgeordnet. Seine wichtigsteFunktion lag in der Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu den Nach-barstaaten und den USA. Japans Außenministerium besteht aus fünf re-gionalen Büros (Asien, Nordamerika, Zentral- und Südamerika, Europaund Mittlerer Osten/Afrika) sowie jeweils einem für Wirtschaft, Außen-politik, Verträge und Forschung. Die Büros für Asien und Nordamerikasind traditionell die einflußreichsten und diejenigen mit den größten Rei-bungsflächen. In internen Disputen hat sich in der Vergangenheit oft dasNordamerika-Büro durchgesetzt, da gute Beziehungen zu den USA ober-ste Priorität in der japanischen Außenpolitik besitzen.

Insbesondere sicherheitspolitische Entscheidungen beruhten in der Ver-gangenheit auf der Aufrechterhaltung einer engen und stabilen Partner-schaft mit den USA. Aber auch die wirtschaftliche Orientierung der Au-ßenpolitik stellte gute Beziehungen zu den USA auf der Basis desSicherheitsvertrags immer wieder in den Vordergrund. Im Zuge der Ein-stellung der Zusammenarbeit mit dem Irak 1990 setzten sich erstmalsauch die Interessen des Nordamerika-Büros innerhalb des Gaimush� ge-

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genüber dem METI durch. Der Loyalität gegenüber den USA wurde da-mit Vorrang vor der Wahrung der eigenen Wirtschaftsinteressen (Japanbezog 12 Prozent seines Erdöls aus dem Irak) eingeräumt.

Die politische Führungsschicht bietet daher weder das Bild einer mono-lithischen Machtelite noch dasjenige einer klassischen, korporatistischenInteressenstruktur. Statt dessen kann man von einem „neopluralistischen“Bild der Interessenvermittlung unter bürokratischer Führung sprechen(Schwartz 1998): Ministerialbeamte üben Einfluß in Zusammenarbeit mitPolitikern, Unternehmern und Verbändevertretern aus. Das System derBeiräte (shingikai), in dem diese Gruppen zusammenarbeiten, institutiona-lisiert und moderiert zugleich diesen „Neopluralismus“. Häufig wird derpolitische Handlungsspielraum der Beiräte und der Verwaltung insge-samt durch die Interessenallianzen von Wirtschaft und Abgeordneten imRahmen der zoku, von denen noch die Rede sein wird, ausbalanciert.

Das politische System Japans ist daher kein „kapitalistischer Entwick-lungsstaat“, denn der Staat herrscht keineswegs über die Wirtschaft unddie Verwaltung keineswegs über die Politik. Die staatliche Vormachtstel-lung gegenüber der Wirtschaft ist seit den 1970er Jahren weniger durch-dringend und weniger extensiv als in einigen europäischen Wohlfahrts-staaten. Ebensowenig kann man von einer Dominanz der Politiksprechen, weil zwischen Staat und Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, Po-litik und Verwaltung reziproke Beziehungen bestehen, die sich häufig zuNetzwerken verdichten. Auch von einem korporatistischen Staat kann imeigentlichen Sinne nicht die Rede sein, weil die Macht der organisiertenGruppen stärker zerklüftet ist als im klassischen Korporatismus.

3. DER NETZWERKSTAAT

Die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft in Japan lassen sich unterdiesen Bedingungen noch am treffendsten mit dem Begriff Netzwerkstaatumschreiben: Staat und Wirtschaft sind wechselseitig voneinander abhän-gig; ihre Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen sind eher part-nerschaftlich als hierarchisch. Der Netzwerkstaat ist kooperativer im Au-ßenverhalten und zugleich komplexer in seiner Binnenstruktur, als es demüberkommenen Bild des „Entwicklungsstaates“ entspricht. Zugleich trägtder Begriff in stärkerem Masse den Deutungsmustern Rechnung, die ver-schiedene Disziplinen anbieten.

Denn das „japanische Modell“ von Politik, Wirtschaft und Verwaltungwird von sozialwissenschaftlichen Denkschulen nach wie vor unter-schiedlich gedeutet: Wirtschaftswissenschaftler schätzen die Bedeutungkultureller Faktoren gering ein und betonen das Prinzip rationaler Wahl

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(rational choice) als Antriebskraft individuellen und Gruppenverhaltens.Anthropologen stellen demgegenüber den Primat der Kultur in den Vor-dergrund, Politikwissenschaftler und Soziologen wiederum die Bedeu-tung von Institutionen. Tatsächlich existieren aber alle drei Faktorengrup-pen in einem komplexen Beziehungsgeflecht nebeneinander: KulturelleGrundlagen formen die Art der rationalen Wahl und durchdringen die In-stitutionen. Diese wiederum schützen kulturelle Wertvorstellungen. So istauch der japanische Staat weder nur „Entwicklungsstaat“ noch nur plura-listischer Staat, sondern ein Netzwerkstaat, der durch leistungsfähige Ko-operationsmuster und komplexe Entscheidungsnetze gekennzeichnet ist.

Der innere Machtring wird auch als Eisernes Dreieck aus Politikern, Be-amten und Unternehmern umschrieben. Dieses Dreieck beruht letztlichauf vielfältigen Interessenverflechtungen zwischen den genannten Grup-pen: Spenden der Wirtschaft an Politiker und Parteien gewährleisten po-litischen Einfluß. Die Wahrung bestimmter Interessen sichern sich die Un-ternehmen durch das Angebot einträglicher Ruhestandsposten anMinisterialbeamte. Auf das Fachwissen der Bürokratie wiederum sind diePolitiker bei der Konzipierung und Durchsetzung ihrer Politik angewie-sen. Da sich jede Gruppe auf die jeweils andere stützt, werden Kollusionund Erpressung (takari) begünstigt.

Diese Probleme sind nicht Folgen individuellen Fehlverhaltens, son-dern in den Entscheidungsstrukturen des politischen Systems selbst ver-ankert: Die Abgeordneten verstehen sich als Vertreter lokaler und sekto-raler Partikularinteressen, die Beamten als Sachwalter ihrer Klientel, undUnternehmer wie Verbände spielen geschickt auf der Klaviatur der Inter-essenverflechtungen. Die zentralisierte Verwaltungsstruktur und dieSchwerkraft lokaler Interessennetzwerke verfestigen diese Strukturen. Esbleibt abzuwarten, ob die 1994 verabschiedeten Reformgesetze zur Ein-führung staatlicher Parteienfinanzierung, zur Reform des Wahlrechts undzur Eindämmung der Korruption den in vielen Jahrzehnten gewachsenenInteressenfilz zurückschneiden können. Die weitreichenden Bestimmun-gen zur Sanktionierung von Bestechungen und zur Begrenzung von poli-tischen Spenden an einzelne Politiker deuten zumindest auf ein Problem-bewußtsein der politischen Klasse hin, die mit diesen Reformen auflangjährige Kritik von Wählern und Medien an Kollusion und Korruptionreagiert.

Politik und Verwaltung praktizieren so seit langem eine umfassende In-teressenaggregation („politische Inklusivität“), d.h. sie absorbieren allegewichtigen Interessenforderungen in unterschiedlichen Politikfeldernund administrativen Zuständigkeitsbereichen. Beide Seiten, Politik undVerwaltung, sind daher durch stark politisierte Austauschbeziehungenmit Interessengruppen gekennzeichnet (Klientelismus, reziproke Patrona-

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ge). Sie bedienen sich informeller Netzwerke, die Kommunikation undKoordination zwischen Politik, Verwaltung und Wirtschaft fördern, diepolitischen Optionen in den Überschneidungszonen dieser drei Bereicheaber zugleich entsprechend vorformen. Daher stellt sich das politische Sy-stem im Kern als Netzwerkstaat dar. Diese Umschreibung macht es not-wendig, den Netzwerkbegriff näher zu erläutern.

Nach den Aussagen neuerer Organisationstheorien aus der Manage-mentforschung ist die Netzwerkorganisation im Vergleich zu herkömmli-chen, vertikal tief integrierten Organisationsmustern durch ein höheresMaß an strategischer Flexibilität gekennzeichnet (Sydow 1999b: 1–300).Statt auf einer vorwiegend hierarchischen Koordination beruht sie auf ei-nem komplexen Beziehungsgeflecht. Für den Handlungsbereich der Poli-tik ist dabei wesentlich, daß die zentrale Managementkompetenz vonNetzwerkorganisationen in der Ausbalancierung von Spannungsverhält-nissen liegt: Autonomie und Abhängigkeit, Vertrauen und Kontrolle, Ko-operation und Wettbewerb, Formalität und Informalität, ökonomischesHandeln und Herrschaftssicherung. Die sich des Netzwerkansatzes be-dienenden Organisationstheorien, die auf der interpretativen SoziologieGeorg Simmels, anthropologischen Studien, der Rollentheorie und der So-ziometrie aufbauen, können Innovations-, Kommunikations- und Diffusi-onsprozesse relativ gut erklären (Sydow 1999a: 121).

So ist die höhere funktionale Flexibilität strategischer Netzwerke nachdem Transaktionskostenansatz mit geringeren Transaktionskosten verbun-den und ermöglicht den Transfer von Innovationen eher als marktlicheoder hierarchische Koordination. Nach der von politökonomischen An-sätzen entwickelten Theorie der flexiblen Spezialisierung begünstigt zudemdas Umfeld des politisch-administrativen Systems, das durch die Folgender Deregulierungspolitik, eine intensive Forschungs- und Technologie-politik des Staates und die kooperative Haltung der korporatistischen Ak-teure gekennzeichnet wird, die Evolution netzwerkartiger Organisations-formen (ebd.: 225ff.). Diese Voraussetzungen treffen in vollem Umfangauf das Umfeld des politischen Systems in Japan zu, wie der anhaltendeZwang zur Haushaltskonsolidierung, Deregulierung und konjunkturel-len Wiederbelebung unterstreicht. Dadurch ergibt sich ein entsprechendangepaßtes Verhalten der politischen Klasse.

Der japanische Netzwerkstaat ist durch umfassende Interessenaggrega-tion, die Segmentierung politischer Entscheidungsfelder, die Fragmentie-rung politischer Macht und durch intensive Konflikte gekennzeichnet.Die Regelung dieser Konflikte wird durch Konsultation, Koordinationund Verhandlungen ermöglicht, d.h. durch aufwendige Verfahren, dienicht nur informell und diskret, sondern in ihren Abläufen durchaus sicht-bar angewandt werden. Stellt man den großen Umfang staatlicher Trans-

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ferleistungen in Rechnung, so läßt sich der Netzwerkstaat somit auch alsVerhandlungs- und Verteilungsdemokratie bezeichnen, deren Entscheidungs-prozesse zwei gegenläufigen Tendenzen unterworfen sind: der zentrifuga-len Tendenz intensiven Wettbewerbs, starker Verteilungskonflikte undweitgehender Fragmentierung politischer Entscheidungsfelder auch in-nerhalb von Koalitionen und einzelnen Organisationen und der zentripe-talen Tendenz zu Kooperation, Koordination und Integration. Diese kon-fligierenden Tendenzen schlagen sich auch im Aufbau und derArbeitsweise von Beratungsgremien im Regierungsapparat, im Parlamentund der führenden Regierungspartei nieder. Im Unterschied zum briti-schen Westminster-Modell alternierender Parteiregierungen legt dieFunktionsweise der pluralistischen, fragmentierten und dezentralisiertenVerhandlungs- und Verteilungsdemokratie in Japan, durch eine Vielzahlteils konkurrierender und teils verflochtener Entscheidungskanäle ge-kennzeichnet, eher einen Vergleich mit Deutschland und Italien als mitFrankreich und Großbritannien nahe.

Zwar hat Japan mit anderen Industriegesellschaften Pluralismus undWettbewerb als Ordnungsprinzipien von Politik und Gesellschaft gemein-sam. Entscheidende Strukturmerkmale aber sind inklusive, informelle Netz-werke, die einerseits Kommunikation und Koordination von Politik undWirtschaft fördern, andererseits Entscheidungsalternativen in der Über-schneidungszone beider Bereiche vorformen. Dieses Muster informellerBeziehungen beruht sowohl auf kulturellen Traditionen als auch auf wirt-schaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Nur so lassen sich imübrigen auch Interventionsbreite und Wirkungsgrad der Industriepolitikerklären, die sich weniger gesetzlicher Instrumente und formaler Regelnals vielmehr informeller Absprachen bedient. Das Netzwerk dieser Ver-handlungen und Absprachen ist langfristig angelegt, im wesentlichen in-formell, vielschichtig, beruht auf einer breiten Interessenabklärung zwi-schen prinzipiell gleichberechtigten Partnern, findet in einem auchhierarchisch klar gegliederten Rahmen statt und wahrt die Autonomie derBeteiligten.

Es kann mit der Theorie des sozialen Tausches interpretiert werden: Auf-grund kultureller Traditionen und günstiger politischer und wirtschaftli-cher Rahmenbedingungen haben sich die Grundsätze des sozialen Tau-sches in Wirtschaft und Politik fester etabliert als in anderenIndustriegesellschaften. Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbe-dingungen begünstigen die Abstimmung unter den wirtschaftlichen Ak-teuren eines Bereichs, und die kulturellen Bedingungen wirken sich gün-stig auf Durchsetzung und Dauerhaftigkeit von Absprachen aus. DieseKonsensprozesse beruhen somit auf kulturellen und wirtschaftlichen Eck-werten und werden in Frage gestellt, wenn sich diese langfristig wandeln.

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Die Netzwerke aus Politikern, Beamten und Unternehmern weisentrotz aller Unterschiede einige gemeinsame Merkmale auf: informellerMitgliedsstatus der Unternehmen unter dem Dach von Handelsgesell-schaften, klientelistischer Charakter, stabiler Konsensus, breiter, langfri-stig angelegter Beratungsrahmen, Unparteilichkeit der Bürokratie im Hin-blick auf einzelne Firmen, Zugangsbarrieren für den Eintritt in denjeweiligen Industriezweig. Hier wird sichtbar, daß der verstärkte Markt-zugang ausländischer Firmen das strukturelle Gleichgewicht dieser Netz-werke in Frage stellen würde. Je globaler somit die Wirtschaftsverflech-tungen und je offener die Industriestruktur, um so schwächer die Stellungder Bürokratie. Je mehr sich Wirtschaft und Gesellschaft Japans somit in-ternationalisieren, um so mehr schwächt sich das Gewicht der traditionel-len Entscheidungsnetzwerke ab.

Wie kommen politische Entscheidungen im einzelnen zustande? Derpolitische Entscheidungsprozeß ist durch unterschiedliche Einflußkanäleund entsprechende Netzwerke gekennzeichnet. Das veranschaulichenSchlagworte wie kantei-Politik (Politik in der Residenz des Premiermini-sters), Nagatach�-Politik (Politik im Bezirk des Parlaments und der Partei-zentrale der LDP), zoku-Politik (Politik von Abgeordnetengruppen einesInteressengebietes) und habatsu-Politik (Politik der Faktionen der Partei-en). Diese Einflußkanäle wirken keineswegs voneinander getrennt, son-dern sind vielfältig miteinander verflochten. Die folgende Übersicht gibtdie Einflußstrukturen, ihre wichtigsten Akteure und Tätigkeitsfelder wie-der. Die verschiedenen Einflußkanäle und Entscheidungszentren lassensich zu vier Strukturtypen ordnen: der Regierungspolitik, der Parlamentspo-litik, der Politik der Interessenvermittlung und der Politik der Öffentlichen Mei-nung. In einem weiteren Schritt werden die einzelnen Akteure benannt,die diese Strukturtypen prägen, und ferner die jeweils gültigen Struktur-muster, Leitlinien und Spielregeln aufgezeigt. Einzelne, ausgewählte Bei-spiele sollten verdeutlichen, für welche Politikfelder diese Muster bestim-mend sind.

Die Formel von der habatsu-Politik stellt auf das starke Gewicht der Fak-tionen in Partei und Regierung ab. Die Faktionen der LDP erfüllen vierFunktionen: 1. die Mobilisierung von Wahlkampfunterstützung für dieWahlkreiskandidaten, 2. die Beschaffung der für eine erfolgreiche Wahl-kampfführung erforderlichen Finanzen, 3. die Auswahl von Kabinettsmit-gliedern und 4. das Angebot von Dienstleistungen und Hilfen für die ei-genen Wähler. Dieses innerparteiliche, am Senioritätsprinzip orientierteRekrutierungsverfahren hat seinen Höhepunkt in der Mitte der 1980erJahre erreicht. Der Zusammenhalt der Faktionen hat sich Anfang der1990er Jahre deutlich verringert, bevor die Wahlrechtsreform die organi-satorische Grundlage dieses Systems weiter abschwächte. Das „Gesetz

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zur Kontrolle politischer Fonds“ aus dem Jahre 1994 wirkte dadurch in diegleiche Richtung, daß es Spenden an Faktionen untersagte und Grundla-gen staatlicher Parteienfinanzierung schuf.

Die Strukturtypen und Akteure des politischen Entscheidungsprozes-ses lassen sich danach ordnen, ob die Beziehungen zwischen den Akteu-ren eher kompetitiv oder eher kooperativ sind, und außerdem danach, obes sich bei dem jeweiligen Strukturtyp um ein eher geschlossenes odereher offenes System handelt. Tabelle 2 veranschaulicht die große Spann-weite dieser Strukturtypen: vom geschlossenen, kooperativen Muster ad-ministrativer Führung und politischer Lenkung durch den Premiermini-ster bis hin zur stark kompetitiven, geschlossenen Faktionenpolitik undzur gleichfalls stark kompetitiven, aber offenen Politik der pluralistisch-dezentralen Interessenvermittlung durch Klientelismus.

Diese Strukturtypen können nur idealtypisch getrennt vorgestellt wer-den, sind aber in der politischen Praxis miteinander verflochten – so etwadie kantei-Politik mit denjenigen der Faktionen und der formalen Füh-rungsgruppen. Außerdem: Je mehr die Politik des Premierministers (1)zugleich auf einer Politik der Öffentlichen Meinung (10) beruht, desto grö-ßer wird ihr Aktionsradius gegenüber innerparteilichen Führungsgrup-pen, Faktionen, zoku und Bürokratie. Auch wenn der Regierungsapparat,insbesondere das Amt des Premierministers (S�rifu, seit Januar 2001 Ka-binettsamt bzw. Naikakufu oder Cabinet Office), als ausschlaggebenderAkteur politischer Planung in Erscheinung tritt, gehen dem aufwendigeAbstimmungen innerhalb der Regierungspartei und des Kabinetts vor-aus, die sich in Begriffen wie „Prüfung der Regierungspartei“ (yot� shinsa)und „Kabinettsgesetze“ (kaku h�) niederschlagen. Der Begriff der kantei-Politik soll daher nicht den Eindruck zentraler Führung, sondern aufwen-diger Koordination komplexer Entscheidungsprozesse vermitteln. Ent-scheidend für den Erfolg politischer Planung sind letztlich Netzwerke ausBereichsexperten verschiedener Organisationen.

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Strukturtyp Zentrum

I. RegierungspolitikPremierminister (1)LDP-Finanzministerium (2)Administrative Führung (3)

II. ParlamentspolitikFaktionen (4)a

zoku-Politik (5)Formale Führungsgruppen (6)b

III.Politik der Interessen-vermittlung

Tripelallianz (7)c

Korporatismus (8)Klientelismus (9)

IV:Politik der ÖffentlichenMeinung

Massenmedien (10)

Akteure Strukturmuster Beispiele

(1) Premierminister,Minister und Berater

Führung durchPremierminister

Yoshida-Diplomatie,China-Politik Tanakas,Nakasone-Ära

(2) PARC (LDP-Planungs-ausschuß), zoku-Führer,Finanzminister-, LDP-Führung

KooperativeInterdependenz

Haushaltsaufstellung,Steuerpolitik

(3) Leitende Ministerial-beamte,PARC-Ausschüsse

Leitungsfunktion durchSachverstand

Arbeitspolitik,Sozialpolitik

(4) LDP-Vorsitzender,Faktionen, führendeLDP-Mitglieder

FaktionenwettbewerbÄmterverteilung inRegierung undParlament

(5) LDP-Exekutive,führendezoku-Mitglieder

Kooperation zwischenzoku und Mitgliedern

Gesundheitspolitik,Verteidigung, Bildung,Reispreis

(6) LDP-Vorsitzender,Faktionen, führendeLDP-Mitglieder

Vormacht der Partei-führungsgruppe

Zentrale Personal- undSachentscheidungen

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Tab. 2: Akteure und Strukturen im politischen Entscheidungsprozeß

Quelle: In Anlehnung an Nakano (1997: 65)

Diese Systematik von Strukturtypen und Entscheidungsmustern erfaßt le-diglich etablierte politische Einflußkanäle auf zentraler Entscheidungs-ebene. Obwohl die Muster ein gewisses Maß von Autonomie aufweisen,verbinden sie sich je nach Entscheidungssituation und Politikfeld zu je-weils neuen Kombinationen. Sie spiegeln jedoch nicht – allenfalls unterder Rubrik „Klientelismus“ – die zahlreichen Bürgerbewegungen wider,die globale Anliegen (Umweltschutz, Frieden, Abrüstung, Entwicklungs-zusammenarbeit) verfolgen.

Die politische Machtstellung des Premierministers unterliegt zahlrei-chen Beschränkungen, die in den Kompetenzen von Parlament und Mini-sterien, dem Durchsetzungsanspruch der eigenen Partei und den Kapazi-tätsgrenzen des Amtes des Premierministers (S�rifu) bzw. desKabinettsamtes (Naikakufu; seit Januar 2001) begründet liegen. Der Re-gierungschef bestimmt daher weder den politischen Kurs noch die politi-sche Tagesordnung, sondern vermittelt nach Art eines Maklers zwischenden Akteuren, um politisch tragfähige Lösungen durchzusetzen. Wäh-rend sich in mehreren westlichen parlamentarischen Demokratien inzwi-schen Anzeichen eines „präsidentiellen“ Regierungsstils des Premiermi-

(7) LDP-Vorstand,Unternehmer,leitende Beamte

kooperativeInterdependenz

Wachstumspolitik,Außenhandelspolitik

(8) LDP-Vorstand,Unternehmer,Gewerkschafter,Beamte

Führung durchUnternehmenschefs

Verwaltungsreform,Finanzreform

(9) LDP-Führung, zoku,kleinere Verbände

WechselseitigeKompensation,Standortvorteile

ÖffentlicheUnternehmen,Subventionen

(10) Parteien,Massenmedien,Wählerschaft

Öffentliche MeinungStrukturreformforde-rungen (Tanaka),Steuerreform

a. Habatsu seijib. Jitsuryokusha seijic. Sankaku-d�mei seiji

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nisters mehren (so in Großbritannien, Kanada und Australien), scheinendie japanischen Regierungschefs eher zu moderieren und häufig nur zureagieren. Dieser in Medien und Wissenschaft vielfach kritisierte Füh-rungsstil hat gewiß die Schwäche mangelnder Transparenz, unklarer Ver-antwortung und undeutlicher Richtungsbestimmung, bietet aber zugleichden Vorteil, daß er Gefahren zentralistischer Strukturen (Skandale, Kor-ruption) nicht so stark ausgesetzt ist und die pluralistische Vielfalt der In-teressen der Regierungspartei besser berücksichtigen kann.

Die vorrangige Aufgabe des Premierministers besteht seit langem in derKoordination der Ressortstandpunkte. Während Koordinationsmängelzur Zeit der LDP-Alleinregierungen von den Parteigremien, insbesonderevom Planungsausschuß der Partei behoben worden sind, treten sie nachdem Verlust der parlamentarischen Mehrheit in den Unterhauswahlen1993 und 1996 sowie in der Oberhauswahl 1998 offen zutage und veran-lassen die politischen Planer in den Ministerien, Netzwerke aus entschei-denden, interessierten Abgeordneten der Koalitionsparteien aufzubauen.Die letzte Entscheidung liegt damit in den Händen der parlamentarischverantwortlichen Spitzenpolitiker der Koalitionsparteien, aber das Ge-wicht der Entscheidungsvorbereitung hat sich inzwischen wieder zur Mi-nisterialbürokratie verlagert.

Die starke Stellung der Bürokratie in den unterschiedlichen Struktur-mustern des politischen Entscheidungsprozesses sollte nicht zu derSchlußfolgerung verleiten, die Minister seien politisch notorisch schwach.Zwar gibt es auch immer wieder „Minister ohne Einfluß“ (ban-shokudaijin), im allgemeinen verleihen aber politisch-administrative Erfahrung,parlamentarische Seniorität, politische Unterstützung durch Partei undKabinett sowie personalpolitische Kompetenz den Ministern erheblichepolitische Macht. Das Konzept der „Herrschaft durch kleine Beamte“ (ge-kokuj�/zokkan seiji) führt somit in die Irre, weil es den langjährigen Prozeßder Machtkonzentration in den Organisationseinheiten des Regierungs-apparats ignoriert. Gerade Minister mit breiter politischer Verankerungund administrativer Erfahrung können sich auch gegenüber dem Apparatbehaupten. Dazu hat auch die Tatsache beigetragen, daß das politische Sy-stem in einem gewissen Gegensatz zu den ersten beiden Nachkriegsjahr-zehnten inzwischen pluralistischer, konflikthafter und kompetitiver ge-worden ist. Das Vetorecht, das die Minister in personalpolitischen Fragenin Anspruch nehmen, stößt aber oft an die Grenzen des Einflußspielraumsvon Faktionen und „Stämmen“ (zoku) interessengebundener Abgeordne-ter.

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4. MIKROSTRUKTUREN POLITISCHEN EINFLUSSES

Der politische Aktionsradius eines der LDP angehörenden Ministers wirdnicht zuletzt durch den Planungsausschuß der Partei eingegrenzt, anderer-seits aber durch eine Führungsstellung in einer Faktion wiederum erheb-lich gestärkt. Gibt der Minister sein Amt auf, behält er – anders als seineamerikanischen Kollegen – seine Verbindungen zur Arbeitsebene des Mi-nisteriums bei und sichert sich hierdurch und durch die Mitarbeit in PARC-Unterausschüssen einen Teil seines bisherigen politischen Einflusses.

Keineswegs sind Minister und führende Parlamentarier von der Mini-sterialverwaltung auch in politischen Richtungsfragen vollständig abhän-gig. Ein Gegengewicht stellen die zoku dar, die sich über die Grenzen vonFaktionen und Wahlkreisen hinaus auf einzelne Politikfelder und die In-teressenvertretung dieses Bereichs und seiner Klientel spezialisieren. Die-se „Stämme“ sind inzwischen „zu den wichtigsten Akteuren der politi-schen Entscheidungsfindung avanciert“ (Kerde 1994: 541). Ein weiteresGegengewicht ist der Politische Planungsausschuß (PARC) der LDP, derzugleich ein Forum für die zoku-Abgeordneten und für die Faktionen (ha-batsu) darstellt. Er gliedert sich in 17 Abteilungen sowie in verschiedeneUnter-, Sonder- und Untersuchungsausschüsse, deren Aufgaben sich ander Kompetenzverteilung der Ministerien und der Ausschüsse des Unter-hauses orientieren.

Da an den Sitzungen der Abteilungen und Ausschüsse auch Beamteder entsprechenden Ministerien teilnehmen, ist der Planungsausschußzu einer wichtigen Klammer von Regierungspartei und Ministerien ei-nerseits und zugleich zu einem politisch-konzeptionellen Trainingszen-trum für ehrgeizige Abgeordnete andererseits geworden. PolitischeRichtungsentscheidungen sind dann immer wieder Resultate in einemKräfteparallelogramm aus der beratenden Kommission (shingikai) desPlanungsausschusses, dem Exekutivkomitee der Partei (s�mukai) undden jeweiligen Ressorts des Kabinetts und seiner Ausschüsse und Ar-beitsgruppen.

Zoku-Abgeordnete sind vor allem jene Parlamentarier, die in spezifi-schen, interessengeprägten Politikfeldern wie Landwirtschaft und Ver-kehr starken politischen Einfluß besitzen und diesen in den einschlägigenParlamentsausschüssen und Parteigremien entsprechend ausüben. Diese„Stämme“ haben sich schon zu Zeiten der Alleinregierungen der LDP we-gen des Bedarfs an politischer Expertise im parlamentarischen System als„Nebenregierung“ (kai-seifu) im Machtapparat etabliert. Ihre Stellung hatsich durch die Vertretung sektoraler Wirtschaftsinteressen im Zeitalter in-ternationaler Handelsbarrieren gefestigt und auch im Zeitalter der Koali-tionsregierungen behauptet. Der politische Einfluß der zoku dokumentiert

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so zugleich eine Pluralisierung gesellschaftlicher Interessen und stützt da-mit das Deutungsmuster der Pluralisten.

Unter den zoku, die finanzielle Vorteile und politisches Prestige vermit-teln, sind drei besonders einflußreich: für Bauwesen (kensetsu-zoku), fürLandwirtschaft und Forsten (n�rin-zoku) und für Handel und Gewerbe(sh�k�-zoku). Diese drei „Stämme“ werden im politischen Sprachgebrauchauch im historischen Bezug zu den „drei Familien“ des Tokugawa-Clansals gosanke [Ehrenwerte drei Häuser] bezeichnet. Sie sichern den interes-senspezifischen Zusammenhalt zwischen Politik, Verwaltung und Wirt-schaft im „Eisernen Machtdreieck“. Zur Festigung ihrer innerparteilichenMachtstellung sind die Faktionen darauf aus, möglichst viele einflußrei-che zoku-Abgeordnete zu ihren Mitgliedern zu zählen. Der politische Ein-fluß dieser Abgeordneten – und damit der gesamten Faktion – hängt ins-besondere ab von der Zahl und Höhe der Wahlerfolge, der Zahl und demGewicht von Ämtern im PARC, Parlamentsausschüssen und Ministerienund der politischen, öffentlichkeitswirksamen Bewertung der Amtsfüh-rung. Zoku-Mitgliedschaft und Faktionszugehörigkeit sind somit wichtigeBausteine politischer Karrieren.

Der politische Einfluß der zoku-Abgeordneten äußert sich insbesonderedarin, daß sie

• in der Haushaltsaufstellung als Anwälte „ihrer“ Politikfelder, Interes-senbereiche und Ministerien auftreten,

• die Willensbildung im Regierungsapparat durch persönliche Netzwer-ke (jinmyaku, „Menschen-Adern“) mit Ministerialbeamten beeinflussen,die ihrerseits die Gesetzesentwürfe ihres Ressorts durch informelle Vor-absprachen (nemawashi) mit führenden zoku-Abgeordneten politischdurchsetzungsfähig machen und

• zwischen Unternehmen, Interessenverbänden und Ministerien als „Ver-bindungskanäle“ (kone) vermitteln.

Ein typischer zoku-Abgeordneter beteiligt sich aktiv am Entscheidungs-prozeß und gehört nicht nur formal einer Abteilung des politischen Pla-nungsausschusses seiner Partei an.

Die interne Struktur der zoku wird entscheidend geprägt durch das In-teressenprofil seiner Abgeordneten, die Struktur des Politikfeldes und diepersonelle Zusammensetzung. Durch die Artikulation spezifischer Interes-sen (Landwirtschaft, Bauindustrie, Exportindustrie etc.) nehmen die zoku-Abgeordneten Funktionen des politischen Lobbying wahr, beteiligen sichso an der politischen Prioritätenfindung und Programmplanung undschaffen dadurch Voraussetzungen einer tragfähigen Interessenaggregati-on. Dies gilt auch für die Regelung von Interessenkonflikten zwischen ver-schiedenen Ministerien. Schließlich stellen zoku ebenso wie die Faktionen

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Kanäle der Elitenrekrutierung dar. An der Auslese des politischen Füh-rungspersonals in Partei und Regierung sind die Faktionen unmittelbarbeteiligt, weil alle Kabinette auf „Koalitionen von Faktionen“ beruhen, diezoku demgegenüber zwar nur mittelbar – über Standort, Zusammenset-zung und Interessenprofil der Faktionen –, dafür aber in den interessen-bestimmten Politikfeldern um so wirksamer.

Dies zeigt sich auch beim Widerstand der zoku-Abgeordneten gegen Re-formen „ihrer“ Ressorts. Vor allem die zoku-Mitglieder haben sich in derVergangenheit immer wieder einer Reform der Verwaltung widersetzt.Dies wird verständlich, wenn man sich die enge Verflechtung dieser Ab-geordneten mit Interessengruppen und Verwaltung vor Augen hält. Ge-rade die im Regierungs- und Parteiapparat gesammelte Erfahrung läßt siedavor zurückweichen, die so aufgebauten Netzwerke durch tiefgreifendeReformen zu gefährden. Eng verflochten mit den Faktionen, in denen sieauch aufgrund ihrer Regierungs- und Parteierfahrung häufig Führungs-stellungen innehaben, wirken sie als „Bedenkenträger“, die von Regie-rungsspitze und Parteiführung ernst zu nehmen sind.

Zwar besteht eine fachliche und interessenspezifische Spezialisierungvon Abgeordneten auch in Europa und den USA. Für Japan aber ist kenn-zeichnend, daß die Mitglieder der zoku ihre politische Erfahrung häufig inden betreffenden Ministerien selbst gesammelt haben. Ehemalige Fachbe-amte und Regierungsmitglieder üben daher in den entsprechenden Abtei-lungen des LDP-Planungsausschusses den entscheidenden Einfluß aus.Auch dadurch sind die zoku zu stabilen, kohärenten Machtfaktoren derParteien geworden. Durch die innerparteiliche Durchsetzung ihres Inter-essenprofils sind sie Instrumente einer segmentierten Netzwerkbildung,deren politische Gestaltungswirkung ein inkohärenter Interventionismus ist(Lehmbruch 1995). Das Bauministerium und das Verkehrsministeriumveranschaulichen in geradezu klassischer Weise dieses Zusammenspielvon Wirtschaftsinteressen, Ressortroutine und politischen Netzwerken.Dementsprechend verbergen sich hinter einem hohen Anteil von Investi-tionsausgaben im Staatshaushalt häufig umfangreiche Aufträge an Unter-nehmen der Bauindustrie.

In diesem inkohärenten Interventionismus kann man im übrigen aucheine wesentliche Ursache der Handelskonflikte Japans mit anderen Indu-striestaaten sehen: Einzelne Wirtschaftssektoren sollten letztlich aus wahl-strategischen Gründen vor internationalen Konkurrenten durch Instru-mente des klassischen und neuen Protektionismus abgeschirmt werden.Dies gilt für die Werftindustrie, die Bauindustrie und die Landwirtschaft,aber auch für die Technologieindustrie. Alle Versuche, diesen Interventio-nismus durch eine Stärkung der politischen und administrativen Lenkungdes Premierministers zurückzuschrauben, sind bisher erfolglos geblieben.

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Zwar beharrt die LDP – wie insbesondere die Stellung des PARCunterstreicht – durchaus erfolgreich auf ihrem politischen Durchset-zungsanspruch gegenüber dem Regierungsapparat. Aber im Dickicht ei-ner segmentierten Interessenstruktur komplexer Netzwerke verbleibt ihroft genug nur noch der Ausweg des muddling through. Folglich wird auchdie Haushaltspolitik durch Besitzstandsstrategien der Ressorts gelähmt.

Im Rahmen dieser Netzwerke ist auch die japanische Bürokratie nichtallmächtig, sondern „janusköpfig“ (Hiwatari 1994: 12): METI und Finanz-ministerium zeigen, daß das eine Gesicht die Entwicklungsorientierungstaatlichen Handelns ist, das andere dagegen die Klientenorientierung. Zuden Klienten zählen keineswegs nur Großunternehmen, sondern auch diegroße Zahl mittlerer und kleinerer Unternehmen, über die die staatlicheEntwicklungsbank Japans schützend ihre Hände hält. Zudem wird dieAllmacht der Bürokratie durch den fachlichen Sachverstand und das po-litische Durchsetzungsvermögen der zoku-Abgeordneten eingegrenzt.Dieser politische Druck zwingt die Ministerien, sich als Makler unter-schiedlicher sozioökonomischer Interessen zu verstehen und gegenüberden Verbänden gatekeeper-Funktionen wahrzunehmen. Der starke Einflußder zoku-Abgeordneten und die Dezentralisierung der Parteistrukturenunter dem Einfluß des neuen Wahlrechts stellen aber andererseits die Fä-higkeit der Parteien zur Formulierung umfassender politischer Konzep-tionen durchaus in Frage. Der Parteienwettbewerb wird daher nur umriß-haft als Konkurrenz alternativer Politikentwürfe wahrgenommen. DasEigengewicht der politischen Führung gegenüber der Ministerialbürokra-tie ist auch dadurch gestärkt worden, daß sich einzelne Premierministerwie Nakasone und Obuchi persönliche Beratungsgremien aus ehemaligenPolitikern und Fachleuten geschaffen haben. Zweck dieser Gremien miteher vagen Namen („Konferenz für wirtschaftspolitische Strategien“,„Nationale Konferenz für eine Reform des Bildungssystems“, „Planungs-ausschuß für die Rolle Japans im 21. Jahrhundert“) ist die Entwicklung po-litischer Optionen für den Regierungschef, der damit einen Nachweis sei-ner politischen Führungskompetenz erbringen und zugleich seine eigenepolitische Stellung gegenüber Partei und Regierungsapparat festigenkann.

5. AUSBLICK

Unter dem Einfluß der Überalterung der japanischen Gesellschaft einer-seits und des internationalen Wettbewerbsdrucks andererseits nimmt dieVerwaltung ihre Aufgabe des Interessenausgleichs zwischen Groß- undKleinunternehmen sowie Selbständigen ernster als früher. Zugleich

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nimmt der Druck aus den Wahlkreisen auf durch Abgeordnete initiierteöffentliche Leistungen zu. Diese Zangenbewegung von äußeren und inne-ren Einflüssen entideologisiert die Politik: Ideologische Extrempositionenwerden daher immer schwächer besetzt. Der politische Wettbewerb findetin der Mitte des politischen Spektrums statt, und hier formen Liberalde-mokraten, gemäßigte Reformer und pragmatische Sozialdemokraten einmehrheits- und regierungsfähiges Zentrum, das in sich wandelnden For-mationen das politische Heft in der Hand behält.

Die politischen Netzwerke, die über die Durchsetzbarkeit von politi-schen Initiativen in einem Politikfeld entscheiden, sind zwischen den Po-sitionen eines starken oder schwachen Staates und zwischen den Positio-nen eines geschlossenen, monistischen und eines offenen, pluralistischenEntscheidungsprozesses angesiedelt. In diesem Rahmen eines stark frag-mentierten politischen Entscheidungssystems bewegen sich die meistenFallskizzen politischer Einzelfragen japanischer Wissenschaftler in neue-rer Zeit. Zu den Trägern dieser politischen Netzwerke zählen sie insbeson-dere zoku-Abgeordnete, Fachbeamte, Interessenvertreter, Wissenschaftlerund Journalisten. In der Integration von Medienvertretern in diese aus-schlaggebenden Entscheidungszirkel unterscheidet sich im übrigen die ja-panische von westlichen Demokratien. Die Medienvertreter repräsentie-ren in diesen Netzwerken so einflußreiche Medien wie das staatlicheFernsehen NHK und die führenden Tageszeitungen Asahi, Yomiuri, Maini-chi und Nihon Keizai Shinbun.

Neben den Polen des „Eisernen Dreiecks“ aus LDP, Bürokratie undWirtschaft (sei-kan-zai) stellen die Medien in Japan eine „vierte Gewalt“(daiyon no kenryoku) dar, der manche inzwischen einen noch größeren po-litischen Einfluß zumessen als Parteien, Verwaltung und Verbänden. Ihrepolitisch-strategische Schlüsselfunktion verleiht denjenigen, die sich ihrererfolgreich bedienen, erhebliche Macht. Wer Zugang zu Medien besitzt,kann – wie in den anderen Industriestaaten auch – Themen auf die politi-sche Tagesordnung setzen und dadurch politische Stimmungen beeinflus-sen (agenda setting). So werden Verlauf und Ergebnis der politischen Mei-nungsbildung weniger vorhersehbar als bei den klassischen Verfahren po-litischer Durchsetzung wie der Mobilisierung von Interessen und derKonfliktregelung durch Verhandlungen. Zu dieser Wirkung tragen auchdie Vielfalt der Medien, ihre politische Unabhängigkeit und der zwischenihnen herrschende Wettbewerb bei.

Bei aller Fachkompetenz und politischen Erfahrung stellt die Bürokratiekeine allmächtige Technokratie dar. Statt dessen ist eher von einem „Sy-stem von Expertokratien (zu sprechen), in denen spezialisiertes Wisseneine entscheidende Rolle spielt“ (Harari 1995: 12). Dieses System wird auflange Sicht um so handlungsfähiger sein, je offener die Grenzen zwischen

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den Expertokratien verlaufen und je mehr politisch integrationsfähigeKonzeptionen politische Perspektiven jenseits herkömmlichen Fachwis-sens und geronnener Ressorterfahrung vermitteln. Dieses Erfordernis ver-weist auf eine starke Führung an der Regierungsspitze, für die entschei-dende Voraussetzungen wie ein leistungsfähiges Amt desPremierministers bzw. Kabinettsamt und eine überschaubare Zahl relativgleichgewichtiger Ressorts fehlen. Es bleibt abzuwarten, ob sich reform-freudige Premierminister mit ehrgeizigen Plänen einer Straffung des Re-gierungsapparats gegenüber dem Beharrungsvermögen der etabliertenMinisterien und der hinter ihnen stehenden Parteiführer und zoku-Abge-ordneten werden durchsetzen können.

Eine neuere Umfrage unter den Mitgliedern von Regierungsbeiräten(shingikai) vermittelt eine aufschlußreiche Binnensicht der Einflußkanälevon Interessengruppen im Regierungsapparat. Danach ist die wichtigsteMethode dieser Einflußnahme die Einwirkung auf die Öffentliche Mei-nung, die zweitwichtigste die Mitwirkung in Regierungsbeiräten, wäh-rend Parlament, Parteien und Ministerien erst die nächsten Rangplätzeeinnehmen. Die Funktion der Beiräte besteht in der Regelung von Interes-senkonflikten zwischen den beteiligten Gruppen, der Mobilisierung derUnterstützung für ein politisches Programm und dem Angebot entspre-chenden Sachverstandes. Diese wird besonders deutlich bei der Vermitt-lung von Arbeitgeberstandpunkten. Dennoch kann von einer korporati-stischen Struktur im klassischen Sinne nicht gesprochen werden, da diebeteiligten Verbände ihre Einflußbereiche nicht monopolistisch kontrollie-ren. Eher zeigt die Tätigkeit der Beiräte eine neue pluralistische Struktur un-ter bürokratischer Vermittlung.

Trotz der Öffnung des politischen Prozesses für eine Vielzahl von Inter-essengruppen bleibt der Pluralismus in Japan einseitig. Das von Mura-matsu (1993) vor dem Regierungswechsel 1993 (der eine kurzfristige Ab-lösung der LDP bewirkte) gezeichnete Bild gilt noch immer: Es gibt eineninneren Kreis von Entscheidern aus LDP, Bürokratie und Interessenverbän-den, der anderen Gruppen (wie den Sozialisten, Gewerkschaften und Op-positionsparteien) den Zugang zum Zentrum der Macht verwehrt. In derneuen Ära von Koalitionsregierungen, erneuter Herrschaftskonsolidie-rung der Liberaldemokraten und permanenter Spaltungen und Neugrün-dungen von Oppositionsparteien sowie oppositioneller Bündnisse bleibtzudem die Ministerialbürokratie der ruhende Pol in einem politischenKräfteparallelogramm, das oft nur schwer zu durchschauen und nochschwerer zu kontrollieren ist. Mangelnde Transparenz und Kontrollier-barkeit staatlichen Handelns werden auch begünstigt durch die vielfachbeklagte traditionelle Asymmetrie des Parteiensystems („Eineinhalbpar-teiensystem“), das die Liberaldemokraten und ihre Partner in Wirtschaft

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und Gesellschaft zur in-group (uchi) und Opposition und Gewerkschaftenzur out-group (soto) werden ließ.

So nachhaltig und gut begründet diese Kritik auch sein mag, sie trifftnicht allein auf das politische System Japans, sondern auch auf westlicheDemokratien zu: Auch die skandinavischen Länder und Italien wurdenüber lange Nachkriegsjahrzehnte von Dominanzparteiensystemen re-giert, ohne daß die Substanz der Demokratie jemals grundsätzlich inZweifel gezogen worden wäre. Die Kritik an der schwachen Einbindungder Gewerkschaften in die politische Planung trifft etwa auch die Demo-kratie der USA, und der Einwand mangelnder Transparenz staatlichenHandelns trifft auf viele Konkordanzdemokratien in Europa und außer-halb Europas zu, in denen politische Entscheidungen aus einem breitenpolitischen Prozeß von wechselseitigen Absprachen hervorgehen, an de-nen Behörden, Parteien, Unternehmen und Verbände eines Wirtschafts-zweiges beteiligt werden. Für diese Konkordanzdemokratien, zu denenauch die Bundesrepublik Deutschland zählt, gilt eine ebenso grundsätz-liche Kritik wie für die Wirkungsweise der japanischen Konsensdemo-kratie: Zwar ist die Legitimationsgrundlage der politischen Entscheidun-gen breit und durchaus stabil, aber das Ergebnis der politischenKompromißfindung, oft genug in der Form von „Paketen“ festverschnürtund nicht mehr aufzulösen, ist zugleich starr und unveränderbar. Die re-formorientierten Kräfte der Staatsklasse haben aber in Japan – wie auchin den westlichen Demokratien – erkannt, daß diese Strukturen im Zeit-alter der Globalisierung flexibler gestaltet werden müssen. Der Reform-bedarf wächst.

LITERATURVERZEICHNIS

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