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  • Lisa Herzog und Thomas Wischmeyer, Frankfurt a. M. / Freiburg i. Br.

    Moral Luck in Moral und Recht

    Ein induktiver Vergleich zweier normativer Ordnungen anhand des Umgangs mit dem Zufall 1

    ABSTRACT: A case of Moral Luck occurs whenever we normatively assess agents for things that depend on factors beyond their control. The paper takes a comparative approach and examines how morality and law deal with such cases. The comparative perspective allows us to explain the problem of Moral Luck as a tension inherent in normative orders: While normative orders are based on a strong connection between responsibility and voluntari-ness, this idealist assumption is at least partly at odds with their functional requirements as social orders. The paper examines how law and morality converge and differ in resolving this tension in cases of Moral Luck. Finally, the paper concludes with a brief discussion of some more general features of the normative orders of morality and the law that follow from this bottom-up analysis of Moral Luck.

    I. Einfhrung: Moral Luck als Problem normativer Ordnungen

    Unter dem Begriff Moral Luck (ML) wird seit den bahnbrechenden Aufstzen von Thomas Nagel und Bernard Williams in der praktischen Philosophie die Frage disku-tiert, ob und in welcher Form in die moralische Bewertung von Handlungen Faktoren eingehen knnen, die die Handelnden nicht beeinfl ussen knnen.2 Is t der Erfolg einer Handlung in ihre Bewertung einzubeziehen, obwohl dieser fr die Handelnden oft zu-fllig ist, oder zhlt allein der gute Wille? Wie sind Umstnde, denen sich Handelnde nicht entziehen knnen, zu bewerten, seien es konkrete Lebenssituationen oder indi-viduelle Vorgeschichten? Welcher moralisch relevante Unterschied besteht zwischen einem kurzzeitig unaufmerksamen Autofahrer, der mit einer Passantin kollidiert, und einer ebenso unaufmerksamen Fahrerin, die das Glck hat, dass in diesem Moment keine Person auf die Fahrbahn tritt? Wie ist der Fall zweier Personen zu bewerten, die hnliche charakterliche Dispositionen haben, von denen eine jedoch 1930 zufllig nach Argentinien emigriert und ein moralisch unproblematisches Leben fhrt, whrend die andere zu einem glhenden Nazi wird und hchst verurteilenswerte Taten begeht?3

    1 Wir danken den Teilnehmern des Panels Gerechtigkeit und Recht bei der 3. Nachwuchskonferenz des Exzellenzclusters Die Herausbildung normativer Ordnungen im November 2011, und insbe-sondere unserem discussant Philipp Schink, fr wertvolle Hinweise und Anregungen zu diesem Aufsatz. Weiterer Dank gilt Tim Wihl fr wichtige Anregungen.

    2 Thomas Nagel, Moral Luck, in: Mortal Questions, 1979 (Nachdruck in Moral Luck, hg. von Daniel Statman, 1993, Seitenzahlen danach) sowie Bernard Williams, Moral Luck, 1981 (Nachdruck von Kap. 2 in Statman, aaO, Seitenzahlen danach).

    3 Nagel (Fn. 2), 58 f.

    ARSPArchiv fr Rechts- und Sozialphilosophie Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy Archives de Philosophie du Droit et de Philosophie SocialeArchivo de Filosofa Jurdica y Social

    ARSP Band 99 Heft 2 2013 Franz Steiner Verlag, Stuttgart

    Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

  • Die Frage nach der Bewertung von Fllen, in denen die Absichten der Handelnden und die ueren Umstnde auf komplexe Art und Weise miteinander verwoben sind, stellt sich auch fr das Recht. Whrend es sich die Moralphilosophie jedoch erlauben kann, bei ihren oft gespaltenen Intuitionen in Bezug auf ML stehen zu bleiben, ms-sen in der rechtlichen Praxis Mglichkeiten gefunden werden, abschlieende Urteile zu fllen. In der Tat verfgt das Recht ber zahlreiche Instrumente, mit denen Flle, die Philosophen als ML bewerten wrden, in alltglicher Routine abgearbeitet werden knnen, so dass man fast von einem Paradox sprechen knnte: In der Moralphiloso-phie wird ein Problem grundlegender Natur gesehen, das oft auch als Prfstein fr das Verhltnis verschiedener ethischer Theorien insbesondere von Konsequentialismus und Deontologie gesehen wird. In der Rechtspraxis dagegen scheint dieses Problem kaum einen Stolperstein fr die Behandlung von Fllen dazustellen. Diese Tatsache macht es reizvoll, einen Vergleich der normativen Ordnungen Moral und Recht anhand dieses Phnomens anzustellen.

    Die Frage nach dem Verhltnis von Moral und Recht ist so alt wie die Praktiken des Rechts selbst. Oft wurde und wird sie auf einer sehr abstrakten, theoretischen Ebene diskutiert. Im vorliegenden Beitrag soll dagegen ein diametral entgegengesetzter Zu-gang gewhlt werden: Das Verhltnis von Moral und Recht soll anhand des Umgangs mit einem defi nierten Set spezifi scher Flle eben Fllen von ML analysiert werden. Mittels einer derartigen komparativen Perspektive lassen sich von unten Einsichten in das Verhltnis von Moral und Recht gewinnen. Dabei wird von der Annahme aus-gegangen, dass die bestehenden Praktiken in ihren Grundzgen in Ordnung sind. Es geht also nicht darum, grundlegende Revisionen vorzuschlagen, sondern es soll versucht werden, die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien, einschlielich mglicher Spannungen und Widersprchlichkeiten, zu verstehen.

    Mit Moralphilosophie ist im Folgenden die theoretische Refl exion der moralischen Praxis gemeint, die sowohl die normative Ebene als auch eine metatheoretische Ebene einschliet, auf der die Voraussetzungen fr die Mglichkeit bestimmter moralischer Urteile diskutiert werden. Dabei erfolgt keine Festlegung auf eine bestimmte Richtung wie Deontologie oder Konsequentialismus. Wie sich herausstellen wird, hat das Pro-blem von ML gerade damit zu tun, dass jede Moralphilosophie, die Moral als gelebte Praxis auffassen will, widersprchliche Tendenzen enthlt, die in Richtung Deontologie beziehungsweise Konsequentialismus gehen.

    Auch das Recht kann als eine moralische Praxis in einem ganz allgemeinen Sinn verstanden werden, insofern es eine normative Beurteilung von Handlungen vornimmt; es hat jedoch dabei seine ganz eigene Logik, die sich aus den spezifi sch rechtlichen Funktionserfordernissen ergibt. Wenn im Folgenden vom Umgang des Rechts mit Fllen von ML die Rede ist, ist mit Recht der Kernbereich des interpretativen, normativ-rekonstruierenden Diskurses gemeint, der sich blicherweise in der richterlichen und rechtswissenschaftlichen Fallbearbeitung vollzieht. Da fr den angestrebten Systemver-gleich gerade die Spezifi ka des Rechts als sozial institutionalisierter Ordnung in Rede stehen, werden rein aus rechtsexternen Gerechtigkeits- oder Rationalittskonzeptionen deduzierte Lsungsanstze zu ML im Recht im Folgenden weitgehend auer Acht gelassen.4 Die Generalisierung, die in der Formel von dem Recht liegt, ist insoweit gerechtfertigt, als die errterten Rechtsfi guren in allen westlichen Rechtssystemen verbreitet sind.

    Im nchsten Abschnitt soll aus der Perspektive der Moralphilosophie herausgearbei-tet werden, auf welche inhrente, bislang in der Diskussion um ML eher vernachlssigte

    4 Zu derartigen Anstzen s. die Nachweise unten Fn. 24

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  • Spannung das Problem von ML hinweist: den konzeptionellen Konfl ikt zwischen dem Bestreben einer vollkommen gerechten Bewertung des reinen Willens einerseits und der Rolle von Moral als gelebter zwischenmenschlicher Praxis mit spezifi schen Funkti-onsanforderungen andererseits (II). In einem zweiten Schritt zeigt sich, dass im Recht eine strukturell vergleichbare Spannung vorliegt. Im Unterschied zur Moralphilosophie muss das Recht jedoch diese Spannung im konkreten Fall stets aufl sen, ohne dass dies je verlustfrei erfolgen knnte (III). Der induktive Vergleich des Umgangs von Moral und Recht mit ML zeigt schlielich, dass sich das Verhltnis von Moral und Recht wesentlich tiefenschrfer beschreiben lsst, wenn man die strukturellen und methodischen Spe-zifi ka des jeweiligen Umgangs mit Fllen in den Mittelpunkt stellt, anstatt Unterschiede zwischen den Ordnungen anhand vermeintlich distinkter Eigenschaften, etwa einer je der Moral oder dem Recht spezifi schen Funktionalitt, zu konstruieren (IV).

    II. Erwgungen innerhalb der Moralphilosophie: Die Reinheit des guten Willens und die Funktionalitt von Moral5

    Um sich dem Phnomen von ML anzunhern, ist es hilfreich, von der Frage nach Kontrolle als Bedingung fr Verantwortung auszugehen. Daran anschlieend ist zu fragen, welche Rolle die Mglichkeit und Unmglichkeit von Wissen ber moralische Handlungen fr die Bewertung von ML spielt. Schlielich soll drittens hier vorgeschla-gen werden, dass Erwgungen ber die Funktionalitt von Moral zeigen, dass das Phnomen von ML auf eine in der Moral, verstanden als menschliche Praxis, selbst angelegte Spannung hindeutet beziehungsweise von ihr herrhrt.

    II.1. Kontrolle

    Einer tief sitzenden Intuition zufolge darf Zuflligkeit bei der Bewertung moralischer Handlungen keine Rolle spielen. Nelkin nennt dies das control principle: Nur fr das, was unter unserer Kontrolle ist, knnen wir moralisch haftbar gemacht werden.6 Rck-halt fi ndet diese Intuition, wie auch Nagel hervorhebt,7 bei Kant, der bekanntermaen daran festhielt, dass nichts in der Welt ohne Einschrnkung fr gut knnte gehalten werden, als allein ein GUTER WILLE. Auch wenn ein derartiger Wille vllig unfhig wre, das auszufhren, was er sich vorgenommen hat, bliebe er dennoch ein Juwel, das fr sich selbst glnzt als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat.8 Auch heute noch gibt es Denker, die die Mglichkeit von ML aus diesem Grund ablehnen. Michael Zimmerman z. B. geht in diese Richtung, wenn er annimmt, dass der mo-ral record von zwei Leuten auch dann gleich sein kann, wenn die Ergebnisse ihrer Handlungen ungleich sind dann nmlich, wenn sie, kontrafaktisch, gleich gehandelt htten, und nur durch externe Umstnde die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen.9 Aus diesem Ansatz folgt, dass ML unmglich ist es folgt aber auch, wie Nelkin bemerkt,

    5 Die Debatte ber ML ist so umfassend geworden, dass hier kein Anspruch erhoben wird, sie in ihrer Vollstndigkeit darzustellen (vgl. hierzu insbesondere Dana K. Nelkin, Moral Luck, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg. von Edward N. Zalta (Fall 2008 Edition), http://plato.stanford.edu/archives/fall2008/entries/moral-luck/).

    6 Nelkin (Fn. 5)7 Nagel (Fn. 2), 578 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Band IV, 1968, 3933949 Michael J. Zimmerman, Taking Luck Seriously, The Journal of Philosophy 99 (2002), 554 f.

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  • dass wir fr zahl reiche Dinge verantwortlich sind, von denen wir nichts wissen und die auf rein kontrafaktischen Annahmen beruhen.10

    Erste Zweifel, dass diese Position haltbar ist, melden sich an, sobald man bemerkt, dass sie nicht nur unserer Alltagsintuition radikal widerspricht, sondern hier auch Motive anklingen, die stark an theologisches Gedankengut erinnern: an das Modell der Seele vor dem jngsten Gericht. So argumentiert denn auch z. B. Marion Smiley, dass das moderne Verstndnis moralischer Verantwortung stark von dem Bild beeinfl usst sei, dass der Mensch sich vor einem allwissenden Gott rechtfertigen msse.11 Ein vollkom-men gerechter, allwissender Gott wrde, so die Annahme, Menschen nur nach dem bewerten, fr das sie verantwortlich sind, unter Ausschluss von ML.

    II.2. Wissen

    Menschliche Moral allerdings ist etwas anderes als eine derartige gttliche Seelen-schau. Ein erster, offensichtlicher Unterschied liegt darin, dass wir nicht allwissend sind. Ein vollkommener Zugang zu den Absichten handelnder Menschen ist nicht gegeben; wir unterliegen epistemischen Beschrnkungen gegenber anderen, und mglicherweise sogar gegenber uns selbst, was die Rolle unbewusster Faktoren, physiologische Einfl sse etc. angeht. Die Rolle derartiger Beschrnkungen was Latus das epistemic argument nennt wurde von vielen Autoren angefhrt, um ML teilweise oder vollstndig zu erklren, beziehungsweise wegzuerklren.12 Wesentlich ist hierbei insbesondere die Asymmetrie zwischen erfolgreich in die Tat umgesetzten und verhinderten Plnen: Wenn ein Plan nicht erfolgreich war, ist viel schwieriger zu wissen, ob er wirklich beabsichtigt war.13 Bei dem potentiellen Nazi, der nach Argentinien auswanderte, kann man nicht sicher sein, wie er tatschlich gehandelt htte, wenn er in Deutschland geblieben wre; bei der unaufmerksamen Autofahrerin, die keinen Unfall verursacht hat, kann man nicht wissen, ob sie nicht doch noch gebremst htte. Nach diesem Modell haben diejenigen, die fr moralisches Fehlverhalten verurteilt werden, dieses Urteil verdient, und diejenigen, denen nichts passiert, haben das Glck, dass ihr aus moralischer Sicht mangelhaftes Verhalten oder die entsprechenden Dispositionen nicht erkannt werden mglicherweise nicht einmal von ihnen selbst.

    II.3. Funktionalitt

    Epistemische Faktoren spielen sicherlich eine wichtige Rolle in den alltglichen Prakti-ken, die zu ML fhren. Fraglich ist jedoch, ob es damit vollkommen wegerklrt werden kann. Wenn Moral als zwischenmenschliche Praxis aufgefasst wird, kommt noch ein anderer Faktor ins Spiel, der oft mit epistemischen Faktoren verbunden sein kann: die Funktionalitt von Moral zur Regelung zwischenmenschlichen Verhaltens. Diese wird weder von Deontologen noch von Konsequentialisten bestritten, auch wenn sie bei letzteren strker im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen drfte.

    10 Nelkin (Fn. 5)11 Marion Smiley, Moral Responsibility and the Boundaries of Community. Power and Accountability

    from a Pragmatic Point of View, 1992, Kap. 212 Siehe Andrew Latus, Moral and Epistemic Luck, Journal of Philosophical Research, 25 (2002),

    149172, fr eine Aufl istung verschiedener Positionen hierzu.13 Vgl. auch Nelkin (Fn. 5)

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  • Diese Funktion von Moral umfasst auch die indirekte Wirkung moralischer Urteile auf Akteure, die diese antizipieren und ihr Verhalten entsprechend anpassen nicht rein in einem behavioristischen Sinne von Reiz und Reaktion, sondern auch in einem refl exiven Sinn: Wer moralisch richtig handeln will, antizipiert, wie er selbst und andere sein Handeln bewerten werden. Hierbei kommt jedoch die Unschrfe ins Spiel, die durch unkontrollierbare externe Faktoren entsteht. Eine Diskussion dieses Themas fi ndet sich z. B. bei Adam Smith, der sich unter dem Titel Of the Infl uence of Fortune upon the Sentiments of Mankind, with regard to the Merit or Demerit of Actions genau mit dem Phnomen beschftigt, das spter als ML bezeichnet wurde.14 Smith ist sich dessen bewusst, dass moralische Bewertungen, abstrakt betrachtet, nur auf den in-tentions or affections of the heart beruhen sol lten, dass wir in konkreten Fllen davon jedoch abweichen und die Handlungsfolgen, ob positiv oder negativ, in die Bewertung miteinbeziehen. Smith nennt dies eine irregularity of sentiments,15 die jedoch einen guten Zweck habe: Die Natur habe the happiness and perfection of the species im Sinn gehabt, als sie den Menschen diese Gefhle eingepfl anzt habe.16 Es sei nicht nur impraktikabel, Absichten zu bewerten, da dies stndige Verdchtigungen unter den Menschen bewirken und Gerichtshfe in Inquisitionsanstalten verwandeln wrde dies ist das oben diskutierte Wissensproblem ; noch wichtiger sei, dass dadurch Menschen angehalten wrden, [to] call forth the whole vigour of [their] soul, and strain every nerve, um ihre (guten) Absichten zu verwirklichen, da sie wissen, dass ansonsten weder sie selbst noch andere die gleiche Genugtuung empfi nden wie bei der bloen Absichtserklrung.17

    Was Smith als weise Vorsehung der Natur beschreibt, mag heute vielleicht mit so-zialdarwinistischen oder sozialpsychologischen Argumenten erklrt werden. Moral als zwischenmenschliches Funktionssystem dient (auch!) der Regulierung von Verhalten; Lob und Tadel haben eine Wirkung nicht nur bei denen, die ihnen direkt unterliegen, sondern auch bei denen, die entsprechende Urteile antizipieren und ihr Verhalten anpassen. Problematisch daran erscheint, dass eine kollektive Rechtfertigung das Wohl der Gemeinschaft fr den Umgang mit Einzelnen herhalten muss. Diejenigen, die moralisches Pech haben und dafr getadelt und eventuell auch bestraft werden, scheinen zum Bauernopfer zu werden dafr, dass andere die entsprechenden Anreize spren. Inwieweit dies noch als gerecht bezeichnet werden kann, ist hchst proble-matisch; in jedem Fall ist klar, dass die Art von Begrndung, die hier vorgebracht wird, eine ganz anderes ist als die Figur der einzelnen Seele vor dem gttlichen Richterstuhl18 whrend letztere Figur eine klare Familienhnlichkeit mit deontologischen Moral-vorstellungen hat, ist das hier vorgetragene Argument konsequentialistischer Natur.

    Das Phnomen von ML scheint somit Ausdruck einer tiefen Spannung bezglich dessen, was wir unter Moral verstehen, zu sein: Einerseits geht es ihr im deontolo-gischen Sinne um die przise Bewertung dessen, was der Einzelne gewollt und be-absichtigt hat; andererseits hat sie eine konsequentialistische Normierungsfunktion, bei der Fakten d. h. Handlungen und die sie beeinfl ussenden Zuflle und externen Faktoren die zentrale Rolle spielen. Um diese soziale Kontrollfunktion zu erfllen, muss sich Moral an die epistemischen Bedingungen, unter den wir leben, anpassen;

    14 Adam Smith, A Theory of Moral Sentiments, 1976 [1791], Buch II Abschnitt III15 Smith (Fn. 14), II.III.intr.616 Smith (Fn. 14), II.III.3.117 Smith (Fn. 14), II.III.3.318 Bei Smith ist es in der Tat die Hoffnung auf letzteres Urteil, das innerweltliches ML ausgleichen kann;

    Smith bietet das als letzte Hoffnung fr jemanden an, der in dieser Welt flschlicherweise verurteilt wird (vgl. z. B. Smith (Fn. 14), III.2.12).

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  • auerdem muss sie die Anreizwirkung ihrer eigenen Regeln und Prinzipien mitberck-sichtigen, was bedeutet, dass es sinnvoll ist, erfolgreiche und erfolglose Handlungen unterschiedlich zu bewerten. Wie bereits angemerkt wurde, stellt sich die Frage nach einer sinnvollen Regelung des Zusammenlebens nicht nur fr eine konsequentialisti-sche, sondern auch fr eine deontologische Ethik auch hier ist die Wirkung eigenen Handelns auf andere und auf die Gemeinschaft eine wichtige Erwgung, auch wenn in konkreten Fllen anders zwischen unmittelbaren Folgen und der Einhaltung allge-meiner Prinzipien abgewogen werden mag.

    Zugleich aber und diese Tendenz steht quer zu den vorherigen und fhrt zurck zum Begriff der Kontrolle muss die Moral die Perspektive des Einzelnen als ver-antwortungsvolles, handelndes Subjekt aufrechterhalten. Tte sie dies nicht, wrde sie sich sozusagen ihrer eigenen Adressanten berauben es gbe die moralischen Subjekte, an deren Willen appelliert und deren Verhalten beeinfl usst werden soll, gar nicht mehr. Dies bedeutet, dass versucht werden muss, dem Einzelnen eben doch nur das zuzuschreiben, was er intendiert hat, und zumindest dem Ideal nach einen kantischen guten Willen aus dem Fluss kausaler Ketten herauszuschlen, dessen moralischer Wert zur Debatte steht. Auch eine konsequentialistische Ethik braucht ein verantwortlich handelndes Subjekt in einem minimalen Sinne, andernfalls knnte sie nicht als normative Ethik fungieren. Es muss daher eine Balance gefunden werden zwischen den Funktionserfordernissen, die von Seiten der gelebten sozialen Praxis an die Moral herangetragen werden, und der Notwendigkeit, berhaupt ein Subjekt der Moral zu konstituieren, das als verantwortlich handelnd verstanden wird. Auch wenn die alte Debatte zwischen Konsequentialismus und Deontologie sicherlich noch weitere Dimensionen umfasst, zeigt sich, dass die Richtungen, in die diese Theoriestrnge drngen, auch hier deutlich werden aber auch, dass eine vollkommene Fixierung auf die eine oder andere Seite nur um den Preis erreicht werden knnte, dass entweder der Charakter als Moral als gelebter Praxis oder aber ihre normative Funktion, die sich an ein verantwortliches Individuum richtet, aufgegeben werden msste.

    In der Debatte ber ML haben sich im Anschluss an Nagel einige Differenzierungen herausgebildet, die an dieser Stelle hilfreich sind, um die analysierte Spannung weiter zu verdeutlichen.19 Resultant luck meint Glck in Bezug auf die Folgen von Handlungen, die nicht vollstndig der eigenen Kontrolle unterliegen; circumstantial luck beschreibt die Umstnde, in denen man sich befi ndet; und constitutive luck bezieht sich darauf, wer jemand ist, welchen Charakter und welche Anlagen er oder sie hat, und welche zuflligen Umstnde in der Vergangenheit der Person diese entwickelt haben.20 Re-sultant luck ist zukunftsorientiert in dem Sinne, dass es nach der Entscheidung des Einzelnen, eine bestimmte Handlung auszufhren, einsetzt. Da sich die Anreizwirkung moralischer Urteile natrlich auf zuknftige Handlungen bezieht, ist es hierbei sinn-voll, eine mglichst genaue Differenzierung anzustreben, und sich so gut wie mglich in die Situation des Handelnden zu versetzen, um zwischen Kontrolle und Zufall zu unterscheiden. Constitutive und circumstantial luck dagegen beziehen sich auf die Vergangenheit der Akteure. Werden hierbei zu viele Faktoren abdiskontiert, besteht

    19 Nagel (Fn. 2), 60 ff., vgl. Latus (Fn. 12) zur Herkunft der Begriffl ichkeiten20 Eine vierte Kategorie, die manchmal angefhrt wird, ist causal luck: Diese bezieht sich darauf,

    wie etwas von vorherigen Umstnden durch Kausalzusammenhnge beeinfl usst wird. Unter dieser Kategorie wurde oft das Problem des freien Willens generell diskutiert. Da dies Problem auf einer an-deren metaphysischen Ebene liegt, soll causal luck hier ausgeklammert werden (vgl. hierzu auch Smiley (Fn. 11), 7 ff.). Latus ist zuzustimmen, dass diese Kategorie redundant gegenber den drei anderen ist (Andrew Latus, Moral Luck, The Internet Encyclopedia of Philosophy, hg. von J. Feiser, 2001, URL = http://www.iep.utm.edu/moralluc).

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  • die Gefahr, dass das Subjekt des Handelns vllig verschwindet. Hier droht in beson-derem Mae, dass, wie Nagel schreibt, [t]he area of genuine agency, and therefore of legitimate moral judgment, seems to shrink under this scrutiny to an extensionless point.21 Auer in pathologischen Fllen, so scheint es, muss die Vergangenheit der Person so konzeptualisiert werden, dass sie deren Fhigkeit, in der Gegenwart als verantwortliches Subjekt angesprochen zu werden, nicht verunmglicht. Wie Nagel formuliert: We are judging him, rather than his existence or characteristics.22

    Bei aller Rede von der sozialen Funktion von Moral soll hier jedoch ein wesentlicher Unterschied zum Recht schon antizipiert werden. Implizit im Gedanken von Moral als der Orientierung an objektiven, allgemeingltigen Grnden ist ein Ideal des offenen, nicht-strategischen Diskurses nicht erst, seit Habermas dies explizit gemacht hat. Moralische Bewertungen laufen im Idealfall so ab, dass die Handelnden ihre Bin-nenperspektive vollkommen offenlegen. Dies erlaubt dann eine Bewertung, die sehr genau differenzieren kann zwischen Faktoren, die ein Individuum vorhergesehen hat, und anderen, die nicht Teil seiner Planung waren. Diese Hypothese einer vollkommen ehrlichen Innenperspektive erlaubt in vielen Fllen, Faktoren abzudiskontieren, und einer Akteurin z. B. zu glauben, dass sie einen mglichen Ausgang nicht beabsichtigt hatte, auch wenn sie ihn vielleicht htte bercksichtigen knnen und sollen.

    Die Komplexitt, dass die Moral gleichzeitig als soziales System funktionieren und ihre Akteure als moralisch verantwortliche Subjekte, die idealiter vllig offen ber sich Auskunft geben, ansprechen muss, macht klar, wieso es zum Phnomen von ML kommt. Einerseits spielen epistemische und anreiztechnische Faktoren immer eine Rolle, und beeinfl ussen vermutlich auch unbewusst, auf einer sehr tiefl iegenden Ebene, unsere Urteile. Andererseits kann die Moral, wenn sie sich normativ an individuelle Adressaten wenden will, nicht anders, als diese als moralische Subjekte sozusagen aus den kau-salen Zusammenhngen der Welt herauszuschlen, und ihnen sowohl die Brde als auch die Wrde moralischer Verantwortung zuzusprechen was bedeutet, dass ML in der Vergangenheit nur bedingt bercksichtigt werden kann, whrend ML, das sich auf Gegenwart und Zukunft bezieht, von einem genauen moralischen Beobachter mglichst abdiskontiert werden sollte. In Ermangelung der idealen Erkenntnissituation, die in der Moral angelegt ist, werden wir dabei allerdings oft das Urteil suspendieren mssen.

    III. Die Perspektive des Rechts: Zwischen Rechtsperson und Funktionspluralismus

    Flle, die in der Moralphilosophie unter dem Begriff ML diskutiert werden, sind auch aus rechtlicher Sicht hufi g hard cases. Die eingangs genannten Beispiele lassen sich zwar einigermaen verlsslich etablierten juristischen Kategorien wie Fahrlssigkeit, Versuch oder Schuld zuordnen. Dies aktiviert institutionalisierte Lsungsroutinen, macht die Subsumtion, die den Rechtsanwendern im Einzelfall aufgegeben ist, aber keineswegs trivial.23

    21 Nagel (Fn. 2), 6622 Nagel (Fn. 2), 6723 S. dafr das Beispiel unter III. 3. Insofern ist der Bemerkung Gardners, ML wre fr (Kants) Rechts-

    lehre weniger problematisch als fr die Moralphilosophie, mit Vorsicht zu begegnen: John Gardner, On the General Part of the Criminal Law, in: Philosophy and the Criminal Law, hg. von Antony Duff Cambridge 1998, 205 ff. (218 f.).

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  • Das Gegenteil ist der Fall. Dennoch hat sich bisher keine intensive Diskussion dazu entwickelt, was ML fr das Recht bedeutet.24 Dabei ist wie insbeson dere Ho-nor erkannt hat25 das Problem auch fr da s Recht zentral, wenn man es wie hier als Hinweis auf die jeder normativen Ordnung inhrente Spannung versteht, ihren Funktionserfordernissen als soziale Praxis gerecht zu werden, ohne dabei den nicht vollstndig funktional defi nierbaren Status des von der Ordnung angesprochenen Subjekts aufzugeben.26

    Wie eine Analyse des rechtl ichen Umgangs mit Fllen von ML anhand der drei oben eingefhrten Leitbegriffe Kontrolle, Wissen und Funktionalitt zeigen kann, versucht das Recht als umfnglich sozial institutionalisierte, in die Lebenswelt einge-bettete Ordnung die gerade angesprochene Spannung durch die Integration in ein Anwendungs- und Arbeitsprogramm zu bewltigen ohne sie dadurch aber vollends zum Verschwinden bringen zu knnen.

    III.1. Kontrolle

    In der moralphilosophischen Diskussion hat der Konfl ikt zwischen einem engen, wil-lensorientierten Verstndnis von Kontrolle und einem weit verstandenen Begriff von Folgenverantwortung den Boden fr die Annherung an ML bereitet.27 Diesen Zugang bietet der interpretative Rechtsdiskurs jedenfalls auf semantischer Ebene nicht.28 Soweit dort berhaupt von einem Kontrollprinzip die Rede sein kann, knpft dieses allein an die kausale Handlung an.29 Verantwortliche Agentin im Rechtssinne zu sein, setzt also

    24 Vgl. aber neben den im Folgenden zitierten Beitrgen: John C.P. Goldberg/Benjamin C. Zipursky, Tort Law and Moral Luck, Cornell Law Review 92 (2007), 1123 ff.; Gregory C. Keating, Strict Liability and the Mitigation of Moral Luck, Journal of Ethics and Social Philosophy 2 (2006), 1 ff.

    Daneben existiert eine Vielzahl rechtsphilosophischer Beitrge zu ML. Diese widmen jedoch fast durchweg den Spezifi ka des Rechts keinerlei Aufmerksamkeit, sondern rufen vielmehr zu rechts-externen Korrekturen des Rechtssystems auf. Vgl. etwa die Darstellung von David Enoch, Luck between Morality, Law, and Justice, Theoretical Inq. L. 9 (2008), 23 ff., die sich ganz an Zimmerman (Fn. 9) anlehnt. hnlich auch Antony Duff, Whose Luck Is It Anyway, in: Criminal Liability for Non-Aggressive Death, hrsg. von C.M.V. Clarkson/Sally Cunningham, 2008, 6178 (65).

    25 Tony Honor, Responsibility and Fault, 1999, 144026 Diese Frage wird in anderen Diskursarenen nur in Ausschnitten abgebildet. Insbesondere Moore

    kritisiert, dass die rechtsphilosophische Debatte um ML fr die rechtswissenschaftliche Forschung keinen Erkenntniswert habe, der ber die Debatte um die Existenz eines freien Willens hinausgehe: There ist nothing new going on in the badly labeled moral luck debate not already going on (for centuries) in the free-will debate. (Michael S. Moore, Causation and Responsibility, 2009, 25). Diese Kritik trifft zwar die meisten der oben (Fn. 24) zitierten rechtsphilosophischen Beitrge. Das hier in den Vordergrund gestellt Grundproblem von ML wird in der Debatte um den freien Willen aber nicht adressiert, da dort nur ein Element dieses Problemkomplexes die Frage nach dem Subjekts dis-kutiert wird.

    27 Moore (Fn. 26), 24, fhrt das berzeugend auf den Konfl ikt einer kompatibilistischen mit einer in-kompatibilistischen Auffassung von normativ relevanten Handlungen zurck.

    28 Dem induktiven Ansatz entsprechend bleiben hier Beitrge ausgeklammert, die Fahrlssigkeit als Schuldform ablehnen.

    29 Whrend Kontrolle in der deutschsprachigen Rechtsdogmatik selten als Rechtsbegriff auftaucht, ist das Konzept im angloamerikanischen Rechtsdenken sehr prsent, vgl. die Hinweise zum Begriff bei Moore (Fn. 26), 24 f., insbes. Fn. 17.

    Der oben getroffene Befund, dass das Kontrollprinzip im Kausalittskriterium aufgeht, trifft nicht nur fr konstruktivistisch-positivistische Anstze zu, die ohnehin nicht zwischen rechtlicher Verantwor-tung und Kontrolle unterscheiden, sondern auch fr naturalistische Konzepte, prominent etwa bei Michael S. Moore. Nach Moore geht ein elementarer Begriff von Kontrolle dem Recht voraus; recht-

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  • auf einer allgemeinen Ebene regelmig nur kausales Handeln, nicht notwendigerweise auch eine subjektive Einstellung, insbesondere Wollen voraus.30

    Diese Reduktion des Kontrollbegriffs beruht auf zwei Faktoren: Einerseits verzichtet kein irgendwie relevanter Satz des positiven Rechts auf das Erfordernis eines Kausal-zusammenhangs, um einer Handlung ein Ereignis zuzurechnen.31 Andererseits wird das Rechtssystem nicht schon dadurch irritiert, dass Rechtsfolgen an kausale Hand-lungen anknpfen, auch wenn die Handlungen nicht von entsprechenden subjektiven Einstellungen begleitet werden. Neben der erwhnten Kategorie der Fahrlssigkeit mit ihren sehr reduzierten Anforderungen an die subjektive Tatseite kennt das Recht eben auch die Haftung fr blo kausales Handeln, etwa wenn das zugrundeliegende Verhalten als besonders riskant gilt.32 Realisiert sich in diesen Fllen die der Handlung innewohnende Gefahr, verzichtet das Recht auf jede Prfung der subjektiven Einstel-lung des Handelnden zu seiner Handlung.33 Das Recht kann selbstverstndlich fordern, dass einer Akteurin auch ein der Handlung korrespondierender Willen nachweisbar sein muss, um Rechtsfolgen an sein Verhalten zu knpfen.34 Im Kernstrafrecht wird dies sogar regelmig der Fall sein.35 Doch wird es eben weitgehend positivrechtlicher Regelung berantwortet, ob und wann willensgetragenes Handeln fr die Zuschreibung von Verantwortung verlangt wird.

    In diesem Kontrollkonzept ist die Rechtsperson, d. h. der vom Recht als Handlungs-ordnung vorausgesetzte Adressat rechtlicher Regelungen, zwar nicht ausgeschaltet, aber minimalistisch konzipiert. Die Fhigkeit, zu handeln und wenigstens die unmit-telbare Relevanz dieser Handlungen abzuschtzen, reicht fr die Annahme eines Akteurs im Rechtssinne aus, ist aber eben auch erforderlich.36 Das Recht versagt diesem Akteur nun nicht nur die gttliche Seelenschau Oliver Wendell Holmes hat dies unbertroffen lakonisch ausgefhrt37 , auch sein guter Wille interessiert nicht.

    liche Kontrolle steht in einer Supervenienzbeziehung zu Realphnomenen. Kontrolle ist aber auch bei Moore im Wesentlichen Kausalitt.

    30 Dies ist im Wesentlichen auch das Ergebnis der ausufernden deutschsprachigen Debatte um einen dem Strafrecht vorgngigen Handlungsbegriff, dazu nher: Lenckner/Eisele, Vorbemerkungen zu den 13 ff., in: Strafgesetzbuch, hg. von Schnke/Schrder, 28. Aufl age 2010, Rn. 3742.

    31 Zu den Problemen, die aus rechtspraktischer und aus rechtstheoretischer Sicht mit dem Konzept von Kausalitt verbunden sind grundlegend: H. L. A. Hart/Tony Honor, Causation in the law, 2. Aufl . 1985; fr einen kurzen berblick ber die dort vertretenen Ideen s. Honor (Fn. 25), 1 ff.

    32 Honor (Fn. 25), 2333 In Deutschland beschrnkt sich eine derartige Gefhrdungshaftung gegenwrtig aus verfassungsre-

    chtlichen Grnden auf das Deliktsrecht, erfasst dabei aber weite Bereiche des tglichen Lebens. Im angloamerikanischen Rechtssystem ist die Haftungsmodalitt als strict liability bekannt und begrn-det dort teils auch strafrechtliche Verantwortung.

    34 Gefragt werden soll hier nicht danach, ob die Willensorientierung zahlreicher rechtlicher Regelungen auf einer Verbindung zum ethischen Diskurs beruht und damit aus legitimatorischen Grnden erfolgt. Derartige Fragen setzen eine hier gerade ausgeklammerte Makrotheorie zum Verhltnis von Moral und Recht voraus. Ebenso bleibt ausgeklammert, welche politischen Konzepte mit subjektivittsori-entierten Rechtskonzepten verbunden sind (vgl. hierzu Duff (Fn. 24)).

    35 Ein entsprechender Wille kann aus rechtlicher Sicht sogar den Nichteintritt der Folgen eines zurech-enbar in Gang gesetzten Handelns kompensieren. Dies ist etwa beim strafrechtlichen Versuch der Fall.

    36 Hierzu mageblich Honor (Fn. 25), S. 29 f., der auf dieser Grundlage eine Rechtfertigung von strict liabilty ber das Konzept der outcome responsibility entwirft.

    37 Oliver Wendell Holmes, The Common Law, Boston 1881, S. 108: If, for instance, a man is born hasty and awkward, is always having accidents and hurting himself or his neighbours, no doubt his congenital defects will be allowed for in the courts of Heaven, but his slips are no less troublesome to his neighbours than if they sprang from guilty neglect. [] [T]he courts [] decline to take his personal equation into account.

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  • Das Recht setzt also mit Honor eine Balance zwischen Identitt und Verantwortung voraus, die jedoch gewissermaen diesseits rein deontologischer und konsequen-tialistischer Positionen steht.

    III.2. Wissen

    Der technische Charakter, den das juristische Personalittsmodell auszeichnet, zeigt sich noch klarer, wenn man es in Analogie zur Diskussion um ML aus der Wissens-perspektive analysiert.

    Allgemein gilt, dass die Herstellung rechtlichen Wissens Aufgabe und Gegenstand des Rechts ist. In Form eines umfangreichen Prozess- und Beweisrechts integriert das Recht das Wissensproblem umfassend in sein eigenes Ordnungssystem und regelt damit seine eigene Episteme. Fr den vorliegenden Kontext am deutlichsten wird dies im Kontrast von Gerichtsverhandlung und offenem moralischem Diskurs. Das gericht-liche Verfahren ist nicht nur durch die stets prekren tatschlichen Erkenntnismglich-keiten beschrnkt und durch die spezifi sche, strategische Kommunikationssituation berformt. Vielmehr garantieren sogar rechtliche Regeln wie das Recht auf Schweigen und eingeschrnkt auf Lge der Angeklagten eine einzigartige Position. Das der Angeklagten allein zugngliche Wissen um ihren intentionalen Zustand zum Zeitpunkt der Tat, ihren Willen, erweist sich oft als das entscheidende Pfand im Prozess der Wahrheits-, besser wohl der Urteilsfi ndung.

    Diese Parameter prgen das Konzept der Rechtsperson auch dort, wo positive Regelungen ber das Minimalerfordernis der kausalen Handlung hinaus einen ent-sprechenden Willen verlangen, um Verantwortung zuzuschreiben. Das Recht hegt von vornherein keine ambitionierten und idealistischen Vorstellungen davon, was die Richterin ber das Innenleben der zu Beurteilenden wissen kann. Vielmehr lenkt es mittels des Beweis- und Prozessrechts den Fokus auf die Frage, was sich trotz aller Schwierigkeiten berhaupt ber Intentionalitt wissen lsst, wie Intentionalitt gemessen werden kann. Der Wille, den das Recht im Handelnden sucht, ist damit immer nur der, der in der lebensweltlichen Praxis auch gefunden werden kann. Das Recht entfaltet also ein Ensemble von Praktiken, die einen Willen im Sinne der Rechtsnormen konstruieren. Willen im Rechtssinne wird damit im sehr wrtlichen und konkreten Sinne prozeduralisiert und in der Formel vom Willen als Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung auf einen sehr reduzierten Begriff gebracht.38 Wenn die Rechtspraxis das Vorliegen intentionaler, innerer Tatbestnde aus den ueren Umstnden erschliet, unterluft sie dadurch nicht die Willensorientierung des Rechts ihr bleibt epistemisch gar nichts anderes brig.39 Ein reiner Begriff des Willens entfaltet demgegenber im Recht keine eigenstndige Bedeutung.

    All dies macht aber die Rechtsperson und ihren Willen nicht zur Fiktion, sondern defi niert eben einen Begriff von Willen, der sich an den Praktiken seiner Rekonstruktion und an der Verwendung im juristischen Diskurs orientiert. Trotz all dieser Schwierig-keiten und der Illusionslosigkeit, mit der das Recht dem Willensbegriff gegenbersteht,

    38 So die Standardformulierung in BGH, NJW 1989, 781 (784). Nher dazu: Hans Kudlich, 15 StGB, in: Beckscher Online-Kommentar StGB, hg. von Heintschel-Heinegg, Stand: 01.12.2011 (17. Edi-tion), Rn. 2 ff.

    39 Vgl. zu diesem in der Rechtspraxis diffi zilen Problem: BGH NStZ 1991, 400; BGH NJW 2003, 907; BGH NJW 2003, 1821; BGH NStZ-RR 2005, 264, 265; Thomas Fischer, 244 StPO, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl age 2008, Rn. 3.

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  • verzichtet das Recht in vielen Fllen eben nicht auf den im Rahmen des Rechts zu erbringenden Nachweis eines entsprechenden Tterwillens.

    III.3. Funktionalitt

    Wo sich das Recht in die mit dieser Form veruerlichter Subjektivierung verbundenen Schwierigkeiten begibt, hat dies Konsequenzen fr die Analyse der Funktionalitt des Rechts als Regelung zwischenmenschlichen Verhaltens.

    Verbreitet wird das Recht als generalprventive Ordnung defi niert, das sehr kon-krete Anreize setzen kann. Recht kann anders als Moral echte Strafen verhngen und auch konomisch wirken. Anreizregulierung ist nicht nur Kern des modernen Regulierungsrechts, sondern kann auch als Formel zur Beschreibung weitgehender Bereiche des Rechtssystems dienen.40 Unbestreitbar bezieht das Recht seine Attrakti-vitt als gesellschaftliches Ordnungsmodell gerade daraus, dass es im weiten Umfang verhaltenslenkend wirkt.

    Rechtliche Normsysteme sind aber deutlich komplexer als dieser erste Eindruck suggeriert. Denn das Recht regelt grundstzlich selbst, ob und welche Entscheidungs-folgen durch die Rechtsanwender zu bercksichtigen sind. Es konditioniert damit seine Verwirklichungsdimension und dadurch auch seine eigene Funktionalitt. Dass das Recht einerseits diese besondere Fhigkeit hat, dies aber gerade in Fllen von ML zu prekren Situationen fhren kann, zeigt sich besonders deutlich im Fall der strafrecht-lichen Beurteilung derartiger Flle.

    Im Strafrecht wird nmlich auf der Ebene des Gesetzes gerade keine abstrakte Entscheidung fr eine bestimmte funktionale Dimension des Rechts getroffen. Vielmehr erffnet das Gesetz den Rechtsanwendern ein Spektrum an mglichen Funktionsbe-griffen und berantwortet ihnen deren Konkretisierung im Einzelfall. Paradigmatisch drcken dies die in 46 Abs. 2 StGB formulierten Grundstze der Strafzumessung aus: Danach sind neben weiteren Gesichtspunkten sowohl die Beweggrnde und die Ziele der Tter im Sinne des Schuldprinzips als auch die tatschlichen Auswirkungen der Tat in der Lebenswelt in die richterliche Strafzumessung einzubeziehen.41

    Das Recht trifft also keine abstrakte Systementscheidung fr oder gegen Gesin-nungsprfung oder Prventionsgedanken, sondern versucht beide Logiken auf die Gefahr des inneren Widerspruchs hin in sein System zu integrieren. Es erzeugt hier genau die Spannung, die in der Moralphilosophie in den Fllen von ML begegnet ist. Umgekehrt kann das Recht aber auch, etwa in Fllen zivilrechtlicher strict liability, durch den Verzicht auf jedes subjektive Element ausschlielich generalprventiv ttig werden, also ganz die Anreizfunktion in den Vordergrund stellten.

    Fr das Recht stellt sich daher nie die abstrakte Frage, ob Anreizorientierung als Dimension der eigenen Funktionalitt legitim ist, sondern wie diese Dimension mit dem bereichsweise parallel aufrecht erhaltenen Anspruch auf Schuldangemessenheit der Strafe verstanden als Bercksichtigung des nicht-funktional defi nierbaren Kerns persnlicher Integritt des Rechtsadressaten vereinbart und im konkreten Fall trotz weitgehender Inkommensurabilitt der Konzepte in Ausgleich gebracht werden kann.42

    40 Vgl. nur Ute Sacksofsky, Anreize, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, hg. von Wolfgang Hoff-mann-Riem/Eberhard Schmidt-Amann/Andreas Vokuhle, Bd. 2, 2008, 40

    41 Eine vergleichbare Regelung trifft etwa Titel 18, United States Code 3553(a).42 In gewissem Umfang wird dabei mit Vorrangregeln gearbeitet: So kann gesellschaftliche Ntzlichkeit

    den Ausfall des individuellen Schuldvorwurfes nicht voll kompensieren. Auch im Rahmen der Straf-

    222 Lisa Herzog und Thomas Wischmeyer

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  • Insbesondere angesichts der beschrnkten Erkenntnismglichkeiten des Rechts und des bestehenden Entscheidungszwangs fhrt dies zu Schwierigkeiten und In-konsistenzen bei der Implementation. Dies lsst sich anhand des Umgangs mit dem eingangs genannten Beispiel der fahrlssigen Ttung im Straenverkehr zeigen. Der gesetzliche Rahmen ist zunchst karg: Nach 222 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu fnf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer durch Fahrlssigkeit den Tod eines Menschen verursacht. 46 Abs. 2 StGB liefert die Grundstze der Strafzumessung. Wie extrem breit das Spektrum ist, innerhalb dessen die Gerichte diesen Spielraum in der Rechtstatschlichkeit fllen, zeigt die Statistik besonders deutlich am Unterfall der tdlichen Trunkenheitsfahrt.43 So wurden im Jahre 2009 bei insgesamt 92 erfassten Delikten zwar in 88 Fllen eine Freiheitsstrafen ausgesprochen. Diese wurde allerdings in zwei Dritteln der Flle zur Bewhrung ausgesetzt; in dem knappen Drittel der Ver-urteilungen, in denen auf eine unbedingte Freiheitsstrafe erkannt wurde, reichte das Spektrum der verhngten Freiheitsstrafen zudem von unter neun Monaten (ein Fall) bis zu zwei bis fnf Jahren (elf Flle). Von einer vorhersehbaren Sanktionserwartung kann also kaum die Rede sein. Vielmehr kommt den Gerichten ein Gestaltungsauftrag zu. Jede Richterin und jeder Richter muss sich um den Ausgleich der im konkreten Fall widerstreitenden Rationalitten bemhen. Die Unvorhersehbarkeit der Entschei-dung fr die Rechtsadressaten ist Konsequenz der fundamentalen Spannung, die das Rechtssystem durchzieht.44

    zumessung mssen daher die Minimalanforderungen, die das Recht qua seines Akteurskonzepts an die Steuerungsfhigkeit des Individuums stellt, bercksichtigt werden.

    Zu der nie endenden Diskussion um diese Problematik, insbesondere zur Rolle der Generalprven-tion, siehe jngst einerseits: Klaus Ferdinand Grditz, Strafbegrndung und Demokratieprinzip, Der Staat 49 (2010), 331367; andererseits: Rainer Zaczyk, Demokratieprinzip und Strafbegrndung. Eine Erwiderung auf Klaus Ferdinand Grditz, Der Staat 50 (2011), 295301. Siehe hierzu auch die Auswertung von Erkenntnissen der empirischen Kriminalwissenschaft bei Tonio Walter, Vergeltung als Strafzweck, ZIS 6 (2011), 636647.

    43 Vollstndigen Zahlen bei: Statistisches Bundesamt Deutschland, Strafverfolgung, Fachserie 10 Reihe 3 2009, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Fachveroeffentlichungen/Rechtspfl ege/StrafverfolgungVollzug/Strafverfolgung2100300097004,property=fi le.pdf. Danach kam es 2009 zu 817 vor Gericht verhandelten Fllen von fahrlssiger Ttung im Straenverkehr, dabei war in 111 Fllen Alkohol im Spiel. Gegen Erwach-sene (die folgenden Zahlen wie auch die oben angefhrten klammern nichterwachsene Tter aus) verhngten die Gerichte insgesamt 243 Freiheitsstrafen und 447 Geldstrafen. Von den insgesamt 243 Freiheitsstrafen wegen fahrlssiger Ttung wurden 207 zur Bewhrung ausgesetzt, von den 88 Freiheitsstrafen bei Trunkenheit wurden 55 zur Bewhrung ausgesetzt. Es kam also in 36 Fllen von fahrlssiger Ttung im Straenverkehr durch Erwachsene zu einer Verurteilung zu einer unbeding-ten Freiheitsstrafe, davon in 33 Fllen wegen Trunkenheitsfahrten.

    44 Ein aktuelles Beispiel stellt die nderung der Rechtsprechung im Landgerichtsbezirk Freiburg durch den Wechsel des Vorsitzes einer Berufungskammer dar. Seit 2011 ziehen im Landgerichtsbezirk alle Flle einer fahrlssigen Ttung infolge einer Trunkenheitsfahrt aus generalprventiven Erwgungen zwingend eine unbedingte Freiheitsstrafe nach sich. In einer mndlichen Urteilsbegrndung fhrte die Vorsitzende Richterin aus: Ist die Tat [in diesem Fall die Trunkenheitsfahrt] Ausdruck einer ver-breiteten Einstellung in der Bevlkerung, eine Norm nicht ernst zu nehmen, dann kann zur Verteidi-gung der Rechtsordnung keine Bewhrung mehr gegeben werden. (Quelle: Badischer Zeitung vom 06. Juli 2011, http://www.badische-zeitung.de/kreis-emmendingen/betrunkener-todesfahrer-muss-fuer-18-monate-ins-gefaengnis--47148056.html).

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  • IV. Fazit

    Bevor abschlieend einige Schlussfolgerungen ber die normativen Ordnungen Moral und Recht gezogen werden, soll hier auf eine bisher nicht explizit gemachte Eigentm-lichkeit hingewiesen werden, die Fragestellung und Methoden der jeweiligen Disziplin betrifft.

    Die theoretische Diskussion um ML fragt nach einer eindeutigen, sozusagen di-gitalen, Antwort auf die Frage nach der Schuld eines Individuums. In der konkreten moralphilosophischen Praxis, dem Diskurs oder Selbstgesprch, wird dagegen ein solches Urteil oft nicht erreicht, vielleicht nicht einmal angestrebt. Nehmen wir den Fall der betrunkenen Autofahrerin, die glcklicherweise einen Unfall knapp vermeiden konnte. Der Bewertung aus moralischer Sicht muss eine mglichst genaue Beschrei-bung einschlielich der Binnenperspektive der Betroffenen vorausgehen. Nach Ab-wgung aller Faktoren wird man oftmals zu einem Urteil gelangen, das etwa die Form annimmt: Es ist nichts passiert, aber eigentlich war diese Handlungsweise trotzdem moralisch nicht in Ordnung. Das betrunkene Autofahren wird verurteilt, wenn auch die Tatsache, dass nichts passiert ist, das Urteil abmildert. Klar ist jedenfalls die intendierte Wirkung: Es soll einem selbst oder einem anderen klarmachen, dass das Verhalten des Individuums, soweit es der willentlichen Kontrolle unterlag, verurteilenswert ist und auf keinen Fall wiederholt werden darf. Die Spannung zwischen der Herausschlung des verantwortlichen Willens aus dem Fluss der kausalen Ereignisse und der sozialen Bewertung der Folgen wird dabei differenziert bewertet, und dabei wird in der Regel auch nicht als Ausrede gelten gelassen, dass die Person zum Beispiel von anderen dazu animiert wurde, zu trinken, obwohl noch eine Autofahrt bevorstand.

    Auf Seiten des Rechts gengt eine derartige Ja aber-Bewertung nicht, sondern es wird ein eindeutiges Urteil erwartet. Das Recht hat nun durchaus seine eigene, stark formalisierte Methode, mittels derer es diese Entscheidung herbeifhren kann. Unter anderem bewltigt es komplexe Flle durch Abschichtung von Prfungsebenen in einem gestuften Entscheidungsprogramm bzw. Schema. Bereits erwhnt wurde die Differenzierung zwischen objektiver Tatbestandsmigkeit, subjektiver Tatbestandsm-igkeit, Schuld und Strafzumessung. Weitere lieen sich ergnzen. Diese Schemata drfen zwar nicht als kanonische Lsung oder eines bergreifenden Konsenses miss-verstanden werden. Doch sie setzen sich in der rechtswissenschaftlichen Diskussion wenigstens als temporr herrschende berzeugungen durch.45

    Diese Ebenendifferenzierung ermglicht dem Recht eine punktuell przise Argu-mentation. So werden die verschiedenen Varianten von ML in der rechtlichen Prfung je eigenstndig verortet, whrend sie in der Moralphilosophie trotz einzelner Un-terscheidungen im Alltagsdiskurs der Moral erst einmal als gemeinsames Problem diskutiert werden. So diskutiert das Recht Flle von resultant luck auf der Ebene der Tatbestandsmigkeit. Dagegen ordnet es Flle von constitutive luck oder circums-tantial luck der Ebene der Schuld oder Strafzumessung zu; dort knnen Eigenschaf-ten und Umstnde des Handelnden Bercksichtigung fi nden, die dieser nicht steuern konnte. Die zeitliche Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Varianten von ML trifft man damit hier im Recht wieder an.

    Vor allem aber ermglicht die Ebenendifferenzierung den Rechtsanwendern die Bewltigung offener und in Grenzen auch inkonsistenter Richtungsentschei-

    45 Die Diskussionen um die allgemeine Handlungs- und Verbrechenslehre fasst in jngerer Zeit zusam-men: Tonio Walter, Der Kern des Strafrechts. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen und die Lehre vom Irrtum, 2006.

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  • dungen des Gesetzgebers, indem sie die konkrete Entscheidung in eine mglichst perspektivenreiche Schau auf das zu bewertende Verhalten einbettet.46 So knnen Rechtsanwender die Prfung der Tatbestandsmigkeit am Leitbild des autonomen Individuums orientierten und dies auf der Strafzumessungsebene mit sozialutilitaris-tischen Erwgungen einerseits und normativen Hypothesen ber die Schuldfhigkeit andererseits kombinieren und so ganz verschiedene Konzepte in einer gestuften Prfung zur Anwendung bringen.

    Dieser Gewinn an Przision und Perspektiven fhrt nun aber keineswegs notwendig zu einem Rationalittsgewinn. Dies hat das Beispiel der Divergenzen in der Beurteilung der Strafbarkeit fahrlssiger Ttungen gezeigt. Deutlich wird an der Ebenendifferen-zierung nmlich vor allem, dass das Recht seine Konsistenz weniger aus den eigenen Grundbegriffe und -theorien, sondern aus dem institutionalisierten Verfahren und der Methode zieht. Dieser Prozess ist dann durch den Zwang zur Entscheidung und zahlrei-che innersystemische Regeln wie die Prjudizienbindung konditioniert und abgesichert. All dies wiederum zeigt die Grenzen der bertragbarkeit der rechtswissenschaftlichen Methode der Ebenendifferenzierung auf die moralphilosophische Urteilsfi ndung.

    Denn fr die Moralphilosophie ist eine derartig weitgehende Prozeduralisierung, die die Beurteilung von Fllen auch stark von den jeweils zustndigen Personen und vorherrschenden Meinungen abhngig macht, nicht denkbar. Ihr Ziel ist, um es zuge-spitzt zu formulieren, einen Lsungsmechanismus zu fi nden, der fr jeden einzelnen Fall all die relevanten Faktoren in ein angemessenes Verhltnis bringt. Die Tatsache, dass das Recht dies bewusst nicht tut, zeigt die Differenz dieser Ordnungssysteme, sollte aber mglicherweise auch fr Moraltheoretiker ein Hinweis darauf sein, dass sie sich mit diesem Zuschnitt der Fragestellung zu viel vorgenommen haben knnten.

    An dieser Stelle bietet es sich an, aus dem Fokus auf das Problem von ML he-rauszuzoomen und die beiden normativen Ordnungen Moral und Recht aus einer allgemeineren Perspektive in den Blick zu nehmen. Welche Rckschlsse auf deren Verhltnis lassen sich aus den Reaktionen ziehen, die beide Ordnungen auf Flle von ML gezeigt haben?

    Gezeigt hat sich erstens, dass rechtliche Normen und Entscheidungsprogramme mglichst tragfhige und stabile Konstruktionen darstellen mssen, um die Flle der Lebenswirklichkeit adquat bewltigen zu knnen. Aus diesem Grund begegnet uns im Recht ein Ordnungsmodell, das die Begriffe und Methoden, mittels derer es Hand-lungen normativ evaluiert, weitgehend zum Gegenstand seines eigenen Normsystems macht. Es konstruiert sie in Verfahren, die selbst erst durch das Recht initialisiert und gestaltet werden. Mit dieser Sensibilitt fr die Operationalisierbarkeit seiner Grund-begriffe verhlt sich das Recht damit im hier verwendeten Sinne des Wortes verfah-rensrational.

    Anders gesagt: Whrend Moralphilosophie idealtypisch versucht, eine unabhngig von ihr bestehende Wirklichkeit zu beschreiben und zu bewerten, schafft sich das Recht diese Wirklichkeit selbst im Prozess des Bewertens. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Recht sich von der Moral vollkommen lsen sollte oder knnte. Aber die Di-stanz zur gelebten Praxis ist insofern eine andere, als es nicht um deren unmittelbare Erfassung geht, sondern schon in der Annherung an sie eine Rekonstruktion erfolgt, die weitreichenden Pfadabhngigkeiten fr die dann erfolgende Bewertung mit sich bringt. Aus diesen Grnden reagiert das Recht so anders als die Moralphilosophie auf

    46 hnlich wie hier Nir Eisikovits, Moral Luck and the Criminal Law, in: Law and Social Justice, hg. von J. Campbell, M. ORourke, D. Shier, 2005, 105 ff., der jedoch dabei stehenbleibt, ein Paradox zu konstatieren.

    225Moral Luck in Moral und Recht

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  • die Erschtterungen, die durch die Problemflle von ML ausgelst werden: im Recht sind im Prozess der Rekonstruktion der Wirklichkeit eine Vielzahl von Absorptionsme-chanismen eingebaut, die die von ML ausgehenden Schockwellen auffangen knnen.

    Dies hat zweitens Rckwirkungen auf das Verstndnis des Personenbegriffs in beiden Ordnungen. Zunchst lassen beide Ordnungen ihre Ansprechpartner in ei-nem bestimmten Sinne intakt, da es sonst keinen Adressaten gbe, an den sie sich normativ wenden knnten. Bestimmte Formen von ML werden daher ausgeschlossen, insbesondere solche, die in der Vergangenheit der Akteure liegen. Im Einzelnen setzten Moral und Recht jedoch unterschiedliche Schwerpunkte: Der relativ pragmatische Umgang des Rechts mit ML wird auch deshalb mglich, weil das Recht typischer-weise nur punktuell in den Lebenszusammenhang eines Individuums eingreift. Die Moral dagegen ist sozusagen stndiger Begleiter, weil sie im Idealfall den Individuen stets vor Augen steht und ihr Handeln lenkt. Die Rechtsperson wird in konkreten Fllen konstruiert, um ber Zurechnung zu entscheiden. Sie ist nur ein punktuelles Normsubjekt, das durch ein sehr reduziertes Merkmal, die normative Mglichkeit des Andershandelnknnens, gekennzeichnet ist.47

    Die Person der Moral zwar in einem gewissen Sinne genauso eine konstruierte Entitt wie die Rechtsperson beschreibt dagegen im Idealfall deren ganzes Leben und baut einen lngerfristigen Zusammenhang auf. Dieser kann dann z. B. auch um-fassen, wie eine Person mit Fllen von ML, in denen sie eine negative Rolle gespielt hat, umgeht, ob sie z. B. Bestrzung zeigt und versucht, Schden auszugleichen, auch wenn ihre eigene Rolle bei deren Verursachung stark von Zuflligkeit geprgt war. Denn ein derartiges Verhalten bezieht sich in der moralischen Perspektive nicht nur auf den konkret zu bewertenden Fall, sondern gliedert sich ein in die lngerfristige Entwicklung des Charakters dieser Person. Bei der Bewertung des Charakters hin-gegen muss das Recht, das sich auf Introspektion nicht verlassen kann, naturgem Zurckhaltung ben.

    Drittens lenkt ML den Blick auf die Funktionen, die normativen Ordnungssystemen in der Gesellschaft zukommen. Die Komplexitt des Phnomens zwingt dabei zu dif-ferenzierten Aussagen. Wie gezeigt wurde, resultiert das Problem von ML innerhalb der Moral aus einer Spannung, die in der Moral selbst angelegt ist, sobald diese als menschliche Praxis verstanden wird, die auch die Funktion hat, menschliches Zusam-menleben zu regeln: Einerseits soll das Subjekt der Moral mglichst przise aus den in der Zeit verlaufenden Kausalketten herausprpariert werden; dies bleibt notwendig, um berhaupt einen Ansprechpartner fr Moral zu haben, auch wenn der Gedanke eines Gods eye point of view in einer skularen Moral entfllt. Andererseits sollen die Anreizwirkungen moralischer Urteile und ihr Einfl uss auf zuknftiges Verhalten nicht verlorengehen, so dass eine weitergehende Zurechnung, insbesondere in epis-temologisch problematischen Situationen, ntig wird.

    Vielleicht steckt hinter der Frage nach ML der Wunsch, in diesem Spannungsfeld ein fr allemal den richtigen Punkt festlegen zu knnen, um zu moralisch richtigen Urteilen kommen zu knnen. Aber die Frage, ob dies mglich ist, bleibt offen und zeigt nicht gerade die Heftigkeit der Debatte um ML, dass eine one size fi ts all-Lsung hier nicht mglich ist? Kann die Moralphilosophie an diesem Punkt von dem pragmatischen, damit aber auch fl exibleren Ansatz des Rechts lernen? Es stellt sich die Frage, ob in der Debatte um ML nicht einem Phantom der Eindeutigkeit hinterher gejagt wurde, das sich bei einem nherem Blick darauf, was Moral als gelebte Praxis ist, als Chimre

    47 Dies gilt wenigstens im Grundsatz. Vereinzelt wirft auch das Recht auch einen ganzheitlichen Blick auf die Person etwa im weiten Bereich der Schuld , der dem Blick der Moral nahe kommt.

    226 Lisa Herzog und Thomas Wischmeyer

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  • erweist. Wie oben ausgefhrt wurde, sind moralische Alltagsbewertungen fremder oder eigener Handlungen hnlich vielschichtig, wenn auch aufgrund der Unterschiede zwischen Recht und Moral anhand anderer Blickachsen, wie rechtliche Bewertungen.

    Denn die generalprventive Funktion scheint zwar im Recht zunchst ganz in den Vordergrund zu rcken, doch es lsst sich nicht auf diese Dimension reduzieren. Viel-fach sucht es moralischen Intuitionen wahlverwandt Bezugspunkte, die jenseits gesellschaftlicher Gestaltung liegen. Dann kommt der Richterin oder dem Richter eine Abwgungsaufgabe zu, die durch die Einordnung in das Mehr-Ebenen-Schema zwar eine gewisse Systematisierung, aber keine fi nale Lsung erfahren hat.

    Interessanter, als den verschiedenen normativen Ordnungen bestimmte allgemeine Funktionen zuzuschreiben, ist an dieser Stelle also, den Umgang der Ordnungen mit divergierenden Funktionen zu beobachten die (vielleicht vergebliche) Suche nach einer optimalen Balance in der Moralphilosophie, und ein pragmatischer, vielleicht manchmal geradezu hemdsrmeliger Umgang mit der Pluralitt von Funktionen im Recht. Damit wird die Refl exion innerhalb der Ordnungen ber ihre Funktionalitt und die Mechanismen, mit denen dies umgesetzt wird, zum Untersuchungsgegenstand. Im Ergebnis erweisen sich die harten Flle von ML als ideale Prfsteine fr den induktiven Zugang zu Moral und Recht. Sie ntigen dazu, einen Blick in den Maschinenraum der beiden Ordnungsmodelle zu werfen, der durch grere Komplexitt, damit aber auch durch grere Faszination, gekennzeichnet ist als die Fassade.

    Anschrift der Autoren: Dr. Lisa Herzog, Universitt Frankfurt/Main, Institut fr Sozialforschung, Sencken-berganlage 26, D-60325 Frankfurt am Main; Thomas Wischmeyer, Albert-Ludwigs-Universitt Freiburg, Institut fr Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie Abteilung 1 (Staatswissenschaft), Platz der Alten Synagoge 1, D 79098 Freiburg im Breisgau

    227Moral Luck in Moral und Recht

    Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013