Meine Welt - Bekenntnisse eines INFJ-Aliens · 2014. 4. 14. · Intuition und Wissenschaft befinden...

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1 Meine Welt - Bekenntnisse eines INFJ-Aliens von einem INFJ

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    Meine Welt

    - Bekenntnisse eines INFJ-Aliens

    von einem INFJ

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    Schweiz, April 2014

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    I. Formalitäten

    Gewidmet allen anderen Anderen.

    Ihr seid meine Brüder und Schwestern.

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    “I done me best when I was let. Thinking always if I go all goes. A hundred cares, a

    tithe of troubles and is there one who understands me? One in a thousand of years

    of the nights? All me life I have been lived among them but now they are becoming

    lothed to me.”

    – Finnegans Wake, von James Joyce

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    Danksagung Ich bedanke mich herzlich bei:

    Gott: Anderer, Herr und Freund in einem

    Meinen lieben Freunden

    Meinen Freunden im Geist:

    James Joyce

    C.G. Jung

    Meiner Familie und mehreren Verwandten

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    Inhaltsverzeichnis

    I. Formalitäten............................................................................................................. 3 Danksagung............................................................................................................ 5 Inhaltsverzeichnis ................................................................................................... 6 Einleitung ................................................................................................................ 7

    II. Anders Ich .............................................................................................................. 8

    1. Anders................................................................................................................. 8 2. Identität ............................................................................................................. 10 3. Intuition ............................................................................................................. 12

    3.1 Begriff .......................................................................................................... 12 3.2. Abgrenzung zu anderen kognitiven Prozessen .......................................... 12 3.3 Verhältnis zur Wissenschaft ........................................................................ 13 3.4 Meine Erfahrung mit der Intuition................................................................. 13

    4. Denken.............................................................................................................. 17 5. Interessen ......................................................................................................... 21 6. Ziele .................................................................................................................. 22 7. Anpassung ........................................................................................................ 24 8. Therapien.......................................................................................................... 27

    III. Die Welt (und ich) ................................................................................................ 28

    1. Ausbildung ........................................................................................................ 28 2. Arbeitswelt ........................................................................................................ 29 3. Unser System ................................................................................................... 31

    IV. Die Natur einiger Dinge ....................................................................................... 33

    1. Realität.............................................................................................................. 33 2. Zeit .................................................................................................................... 35 3. Traum................................................................................................................ 36 4. Wahnsinn .......................................................................................................... 37

    V. Nicht meine Welt .................................................................................................. 38

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    Einleitung

    „swisstart“ – Finnegans Wake, von James Joyce (im Folgenden zitiert als „F.W.“)

    Ich möchte mit diesem Büchlein innerhalb meiner beschränkten Möglichkeiten für

    mehr Verständnis für das Spezielle werben und damit gleichzeitig für mehr

    Menschlichkeit; denn wir alle sind einzigartig. Kein Individuum lässt sich normieren,

    ohne dass man ihm gravierend Unrecht tut.

    Konkret hoffe ich:

    1.) einen Einblick in die Gedankenwelt einer andersartigen Person zu ermöglichen.

    Das hier BIN ich. Zumindest gegenwärtig.

    2.) hinzuweisen auf die meist subtile Ächtung aller Menschen, welche der sozialen

    Norm nicht entsprechen und welche Folgen dieser oft unbeabsichtigte Mangel an

    Wertschätzung haben kann.

    Wohl habe ich mich um Verständlichkeit bemüht, aber – entsprechend der

    Stossrichtung dieser kleinen Schrift – nicht auf Kosten der Authentizität.

    Einige persönliche Informationen: Ich bin 30, Jurist, momentan arbeitsunfähig und -

    los. Für Typologie-Interessierte: Ich bin ein INFJ nach MBTI und ein Typ 9 gemäss

    Enneagramm.

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    II. Anders Ich

    1. Anders

    „Llarge by the smal an' everynight life olso th'estrange.” – F.W.

    Was die Mehrheit als „normal“ definiert, ermangelt jeglicher objektiver Grundlage;

    vielmehr resultiert es aus der Summe und gegenseitigen Verstärkung ähnlich

    gelagerter Bewusstseinsprozesse. Die Mehrheit gäbe es offen wohl nicht zu – könnte

    es vielleicht gar nicht, weil es ihr an Bewusstheit dafür mangelt – aber ihre Worte und

    Taten sprechen eine klare Sprache: Sie verwechselt ein überindividuelles Konstrukt

    der Realität mit der eigentlichen Realität. Sie übersieht die Artifizialität und

    Beliebigkeit des Geschaffenen, nimmt es einfach als „wahr“ hin und verlangt, alle

    müssten und könnten ihm entsprechen. Dem ist jedoch nicht so.

    Für die meisten Menschen, mag das, was als „normal“ definiert wird, wirklich normal

    und auch genuin erstrebenswert sein. Für einige nicht. Ich bin einer dieser einigen -

    jemand, der nicht in der Lage ist, diesen für mich unerreichbaren Ansprüchen, die ich

    zu allem Übel noch internalisierte, je zu entsprechen. Dies ist keine Entschuldigung,

    sondern die Anerkennung der Wirklichkeit. Ich kann nicht. Ich habe es weiss Gott

    versucht, und bin gescheitert. Es konnte nicht anders kommen: Denn ich bin anders;

    ich bin nicht normal und werde es auch nie sein – noch will ich es. Nicht sein will ich,

    was bin ich nicht; was ich bin, das will ich sein.

    Die meisten Menschen bevorzugen das Eindeutige, Konkrete, Klare, Logische, Finite,

    Bestimmte, Hergebrachte, Verständliche, Wörtliche, Sinnliche. Ich gerade nicht. Ich

    liebe das Mehrdeutige, Abstrakte, Paradoxe, Symbolische, Komplexe, Neuartige,

    Geistige, Geheimnisvolle, Verwirrende, Unverständliche, Unergründliche und

    Unendliche.

    Ich weiss, dass ich anders funktioniere als die meisten. Ich denke anders, nehme

    diese Welt mit anderen Augen wahr. Sie merken es nicht, ich aber schon. Sie meinen,

    ich sei wie sie, aber das bin ich nicht. Ich bin anders und weiss es (mittlerweile). Ich

    fühle mich wie ein Alien, welches auf dem falschen Planeten gelandet ist.

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    Alle wollen etwas Besonderes sein und das Besondere schätzen; aber wenn sie

    Andersartigem in ihrem eigenen Leben wirklich begegnen, dann lehnen sie es meist

    ab oder erkennen es nicht.

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    2. Identität

    “...what would that fargazer seem to seemself to seem seeming of, dimm it all? Answer: A collideorscape!” – F.W.

    Ich weiss nicht, was ich bin, wohl aber dass ich nicht bin, was ich scheine.

    Die allermeisten Menschen wissen auch nicht, was sie wirklich sind. Sie definieren

    sich behelfsmässig und unreflektiert über Namen, Geschlecht, Aussehen, Herkunft,

    Freundeskreis, Interessen und so weiter. Diese Fehlzuschreibung ist gleichermassen

    ubiquitär wie verhängnisvoll. So weiss der Mensch nicht, was er tut, weil er nicht

    weiss, was er ist.

    Nur selten geht jemand der Identitätsfrage ernsthaft nach. Verständlich, denn die

    Antwort könnte in eine vollständige Korrektur des Selbstbildes münden. Wer will das

    schon? Selber habe ich mich auch nicht freiwillig auf diesen Pfad begeben.

    Mehrmals am Tod knapp vorbeigeschrammt sowie der beinahe kompletten Implosion

    meines Egos nur haarscharf entkommen, konnte ich einfach nicht mehr zurück.

    Ich erkenne in meiner gegenwärtigen Identität ein arbiträres Konglomerat – eines,

    das ich zum Leben in dieser Welt zwar benötige und dessen praktische Nützlichkeit

    ich folglich nicht bezweifle, wohl aber dessen Wahrheitsgehalt. Ich lebe eine Illusion

    und ich weiss es. Dieses Meta-Bewusstsein unterscheidet mich von einem

    signifikanten Bevölkerungsanteil, der die Illusion nicht nur lebt, sondern sie glaubt.

    Ich lebe sie, glaube sie aber nicht mehr. Ich bin nicht mein Name; ich bin nicht Jurist;

    ich bin nicht 30 Jahre alt; ich bin nicht Schweizer etc. etc. Bisweilen wundere ich

    mich ernsthaft, ob ich überhaupt ein Mensch bin. Ich weiche so fundamental von

    „normalen“ Menschen ab, dass mir oft scheint, unsere einzige Gemeinsamkeit

    erschöpfe sich darin, physisch im gleichen Raum und der gleichen Zeit zu leben.

    Letztlich zweifle ich nur an einem nicht: der Realität meines eigenen Bewusstseins,

    welches seine Wirklichkeit durch seine blosse Existenz beweist: Es ist. Somit folgt:

    „Ich bin, also bin ich.“ Jegliche Konklusionen darüber hinaus halte ich für spekulativ

    und Glaubenssache. Natürlich glaube ich selber viele Dinge, aber eben: Ich glaube

    sie, ich weiss sie nicht. Selbst was ich „weiss“ – dass ich existiere – weiss ich

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    eigentlich nicht wirklich. Es gibt durchaus Perioden, in denen ich mich frage, ob ich

    überhaupt bin und wenn ja, was. Somit weiss ich eigentlich nur, dass ich nichts weiss.

    Müsste ich mich festlegen, lautete folglich meine derzeitige Antwort: Ich bin mein

    Bewusstsein. Ich bin Geist der sich in meiner aktuellen Persönlichkeit und Körper

    räumlich und zeitlich manifestiert hat.

    Meine Sicht über die Identität des Menschen stösst selten auf offene Ohren. Die

    wenigsten mögen es, wenn ihnen jemand Fragen stellt, die potentiell an ihrem Ego

    kratzen. Die zahlenmässig überwiegenden Reaktionen sind Unglauben,

    Unterstellungen („Du hast ein Problem“), sowie Unvermögen oder Unlust, das

    Gesagte überhaupt in Betracht zu ziehen. Die Tatsache, dass eine Frage sich nicht

    sofort und einfach beantworten lässt, legitimiert jedoch nicht dazu, sie einfach

    beiseite zu schieben.

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    3. Intuition „Sonly all in your imagination, dim. Poor little brittle magic nation, dim of mind!” – F.W.

    3.1 Begriff

    Auf Grund der oft unscharfen Verwendung von „Intuition“ vorab einige terminologische

    Erläuterungen.

    Wikipedia versteht unter Intuition „die Fähigkeit, Einsichten in Sachverhalte, Sichtweisen,

    Gesetzmäßigkeiten oder die subjektive Stimmigkeit von Entscheidungen zu erlangen,

    ohne diskursiven Gebrauch des Verstandes, also etwa ohne bewusste

    Schlussfolgerungen. […] Der die Entwicklung begleitende Intellekt führt nur noch aus

    oder prüft bewusst die Ergebnisse, die aus dem Unbewussten kommen.“ Ferner: „Als

    grundlegende menschliche Kompetenz verstanden, ist Intuition die zentrale Fähigkeit

    zur Informationsverarbeitung und zur angemessenen Reaktion bei großer

    Komplexität der zu verarbeitenden Daten.“1

    3.2. Abgrenzung zu anderen kognitiven Prozessen Es existiert ein grosser Unterschied zwischen Gefühl, Verstand und Intuition.2 Bei der

    Intuition im eigentlichen Sinn handelt es sich um Wahrnehmung, bei Gefühl und

    Verstand im kognitiven Sinne um Urteil. Eine Person, die Gefühl, Verstand oder

    Erfahrung/Erleben über Intuition gewichtet, wird alle Dinge unbewusst zensieren, die

    ihren ethischen Normen, der Erfahrung oder dem Verstand widersprechen. Freilich

    existiert in keinem Menschen eine absolute Trennung; die Betonung der involvierten

    neurologischen Prozesse variiert individuell jedoch deutlich und äussert sich in

    markanter Differenz in der Realitätswahrnehmung und –Verarbeitung. Gerade

    gefühlsdominante Menschen tendieren übrigens dazu, ihre (Bauch-)Gefühle für

    Intuition zu halten; in Tat und Wahrheit fällen sie ethische Werturteile; intuitive

    Menschen scheinen ihnen oft auf den ersten Blick eher unintuitiv, da sie ihrer

    persönlichen Vorstellung von Intuition nicht entsprechen.

    1 http://de.wikipedia.org/wiki/Intuition, Stand 11.4.14. 2 Hier verwende ich jung’sche kognitive Kategorien, da sie meines Erachtens die Realität tauglich modellieren. Vgl. C.G. Jung, Typologie oder etwa auch den Myers-Briggs Type Indicator (MBTI).

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    3.3 Verhältnis zur Wissenschaft

    Intuition und Wissenschaft befinden sich in einem natürlichen, fruchtbaren

    Spannungsverhältnis: Die Intuition geht der wissenschaftlichen Erkenntnis oft voraus,

    bedarf ihrer aber umgekehrt für Korrektur und Implementation. Unsere Kultur

    zeichnet sich durch eine Überbetonung der objektiven wissenschaftlichen Methode

    aus. So konnte es etwas kommen, dass die Schulmedizin bei all ihren fraglos

    grossen Verdiensten den Menschen in völlig reduktionistischer Weise auseinander

    nimmt und ob der Einzelteile das Ganze nicht mehr sieht – und gewisse Krankheiten

    entsprechend ungenügend behandelt.

    Ich halte sehr viel von der Wissenschaft; ob dem technologischen Fortschritt

    verschlägt es mir immer wieder mal die Sprache. Aber wie jede andere Methode

    eignet sich die Wissenschaft sich nicht für nicht alles. Die Wissenschaft wird nie alles

    verstehen, erklären, geschweige denn lösen können. Es gibt sehr wohl reale Dinge,

    die sich objektiv weder erfassen noch beweisen lassen. Für diese Aspekte eignet

    sich die Wissenschaft per se nicht. Wer sich einzig auf die Wissenschaft verlässt,

    schliesst somit einen signifikanten Teil der Realität irrtümlich als inexistent aus.

    3.4 Meine Erfahrung mit der Intuition

    Ich gehöre zu denen, in deren Psyche die Intuition Vorrang besitzt. Meine Intuition

    nimmt auf meine eigene Meinung, Werte, Gefühle und Erfahrung keine Rücksicht,

    was unter Umständen ziemlich unangenehm sein kann. Ich sehe nicht, was ich will;

    ich sehe, was ich sehe – weil ich meine Intuition nicht filtere (und es auch nicht

    vermöchte); Analyse und ethische Einordnung geschehen bei mir in einem separaten

    zweiten Schritt.

    Bis noch vor zirka vier Jahren allerdings glaubte ich selber nicht an die Intuition, ich

    hielt sie für einen Witz. Ich unterdrückte sie vollständig für den Löwenanteil meines

    Lebens. Ich war unmusisch, unkreativ, viel zu analytisch und absolut anti-intuitiv. Ich

    fügte mir unbewusst fast 30 Jahre lang grosse psychische Schmerzen zu, weil ein

    Teil von mir genau wusste, dass ich nicht bin, was zu sein ich mir erlaubte. Das bin

    ich immer noch nicht, aber ich bin näher als auch schon. Es bedurfte jahrelanger

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    innerer Arbeit, bis meine Intuition sich mir mehr und mehr zu zeigen begann und ich

    schliesslich einen starken Durchbruch erlebte; seit diesem Zeitpunkt bin ich innerlich

    ein komplett anderer Mensch. Seither zeigt mir meine Intuition immer wieder mal

    Sachen, die mir den Atem rauben und befähigt mich, scheinbar(!) aussergewöhnliche

    Dinge zu bewirken. Aber nicht wann und wie ich will, sondern wie sie will. Der

    Nachteil besteht darin, dass ich keine bewusste Kontrolle über sie habe; der Vorteil

    darin, dass ich selber gar nichts tun muss – ausser zuhören und mich anstrengen,

    wenn es darum geht, intuitiv Erkanntes zu analysieren, umzusetzen oder

    kommunizierbar zu machen. Das bedeutet oft durchaus harte Arbeit.

    Wie entwickelte ich meine Intuition? Ganz einfach: Ich öffnete mich ihr. Ich begann,

    ihre Existenz anzuerkennen und ihre Einsichten zu schätzen. Ich fing an, ihr zu

    vertrauen. Das war zu Beginn alles andere als einfach denn ich musste alles Erlernte

    und Gewohnte loslassen und mich auf ein gewaltiges Experiment einlassen – ein

    Experiment, das einem diese Gesellschaft nach Kräften versucht, auszureden. Zum

    Glück hörte ich zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr wirklich auf die Gesellschaft

    und zog mein Projekt durch. Auf diese Weise gewann meine Intuition graduell an

    Kraft in mir. Heute ist sie mein bester Freund.

    An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich hier lediglich aus meinem

    eigenen Leben berichte und keine Ratschläge erteile. Im Besonderen weigere ich

    mich, anderen Menschen einen bestimmten Umgang mit der Intuition nahe zu legen.

    Jeder Mensch ist einzigartig. Einigen würde die Konzentration auf die Intuition wohl

    etwas bringen, anderen wenig bis nichts und wieder andere nähmen mit ziemlicher

    Sicherheit gar Schaden. Ich befand mich in einer speziellen Situation: Kognitiv war

    ich ein inaktiver dominanter Intuitiver 3 ; mein Experiment konnte eigentlich nur

    glücken – was ich natürlich damals noch nicht wusste – weil ich ja bloss begann,

    mich meiner eigentlich natürlichen Funktionsweise zu erinnern. Überdies besass ich

    einen weiteren Vorteil: Meine Ausbildung hatte mich logisches Denken gelehrt,

    welches eine wichtige ausgleichende Rolle erfüllt. Vielleicht noch eines: Zwar ist

    mein Leben reicher, spannender und wunderbarer geworden seit ich meiner Intuition

    die Tür geöffnet habe, nicht aber einfacher (das war es allerdings vorher auch nie).

    3 Vergleiche C.G. Jung, „Typologie“, Kapitel: „ Die Intuition“ und „Der introvertierte intuitive Typus“ (S. 94-99).

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    Manchmal habe ich scheinbar aus dem Nichts starke innere Gewissheiten, die mich

    leiten. In diesen Bereichen entwickle ich – für mich eigentliche eher untypisch – auch

    relativ pointierte Meinungen. Sobald ich jedoch merke – und dafür braucht es

    manchmal schon einiges – dass ich nicht richtig liege, korrigiere ich meine

    Sichtweise, genauer: sie korrigiert sich von selbst, es geschieht einfach, denn ich

    fühle mich ultimativ nicht meiner selbst verpflichtet, sondern dem, was ich als

    Wahrheit zu erkennen glaube. Die Wahrheit IST heilig und sie ist wichtiger als ich.

    Ständig arbeite ich deshalb an meiner Sicht der Welt, versuche neue Daten und

    Einsichten – durchaus auch anderer Menschen! – zu integrieren. Mein

    Realitätsverständnis ist nicht statisch, sondern dynamisch, und zielt darauf ab, der

    Wirklichkeit so nahe zu kommen, wie möglich. Eine Reise, die nie endet – wunderbar!

    Ich habe manchmal Einsichten, die ich auf Grund ihrer subjektiven, nicht greifbaren

    und oft surrealen Beschaffenheit nicht zu kommunizieren vermag, auch wenn ich

    dies gerne täte. Meine dominante Fähigkeit ist introvertiert und somit ausser mir

    selber niemandem direkt sichtbar. Viele nehmen höchstens meine Versuche wahr,

    sie zu analysieren und erläutern und halten mich dann fälschlicherweise für einen

    Intellektuellen. Jene, die genau hinschauen, bemerken manchmal, dass sich in

    meinen Äusserungen etwas manifestiert, das eine gewisse Andersartigkeit indiziert

    und impliziert. Aber ich kann sie recht gut verstecken.

    Ich habe Sachen erlebt, die viele Menschen für inexistent halten: nicht weil dies

    unbedingt der Wahrheit entspräche, sondern weil sie von ihrem eigenen Erleben

    nicht abstrahieren, nur glauben, was sie selber kennen. Einige dieser Dinge sind so

    jenseits, dass ich selber nur noch staunen konnte: ausserkörperliche Erfahrungen,

    luzide Träume, Gotteserfahrungen, beinahe Ego-Brüche, Andeutung von Ego-

    Auslöschung und -Transzendenz, Zukunfts-Visionen, etc. Diese Erfahrungen

    zeichnen sich in mir durch ihre Seltenheit sowie ihre Überlagerung aber nicht

    Ausschaltung des Normalbewusstseins aus. Ich hatte nie Schwierigkeiten, mit der

    materiellen Welt zu interagieren, noch hatte ich je das Gefühl, akuten

    Sinnestäuschungen zu erliegen. Im Gegenteil: Meine Sinne haben mir bislang stets

    gut und glaubwürdig gedient; ich halte sie einfach nicht mehr für das Alpha und

    Omega, sondern einen wesentlichen Teil meines Wesens, aber nicht mehr den

    alleinigen und schon gar nicht den allein selig machenden. Es gibt mehr.

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    Ich gestehe obigen Erfahrungen zwar subjektive Existenz zu – wie könnte ich nicht?

    – aber deshalb nicht notwendigerweise inhaltliche „Wahrheit“, schon gar nicht

    „objektive“; auch halte ich sie nicht für „wahrer“ als Alltägliches. Ich habe zu meiner

    gesamten inneren Erfahrung durchaus kritische Distanz. Umgekehrt sollte jedoch

    nicht vergessen gehen, dem Erleben des Alltäglichen mit genau derselben Vorsicht

    zu begegnen wie dem Aussergewöhnlichen. Bloss auf Grund quantitativer Prävalenz

    auf höheren Wahrheitsgehalt zu schliessen, scheint mir epistemologische Hybris

    sondergleichen – eine Hybris, der viele Menschen unbewusst erliegen, wohl auch,

    weil unsere Gesellschaft diese insistent propagiert. Unsere Gesellschaft hat nämlich

    extrem Schlagseite zu Gunsten des Rationalen und Wider die Intuition. Sie hat Angst

    vor ihr. Denn die Intuition lässt sich weder verstehen – sie bleibt ein Geheimnis – und

    noch weniger kontrollieren: Niemand führt die Intuition, sie führt dich – wohin sie will.

    Abschliessend ein konkretes und etwas ausführlicheres Beispiel meiner Intuition in

    Aktion: Manchmal sehe ich den kognitiven und psychologischen Archetypus einer

    Person: die hinter diesem Menschen und in ihm wirkende „Gestalt“ – die Art und

    Weise, in der sich sein Bewusstsein in seiner gegenwärtigen Psyche ausgeprägt hat.

    In einem Menschen manifestieren sich überdies auch multiple Sub-Archetypen:

    kognitiver Typus, Enneagramm, zu meinem Erstaunen sogar Sternzeichen etc. etc.;

    auch die kann man sehen. Hin und wieder offenbaren sich mir aus dem Nichts die

    Hierarchie der Gehirnfunktionen und damit einhergehend kognitive Stärken und

    Schwächen, sowie psychologische Selbstschutzmechanismen eines Individuums.

    Das kann ich indes nicht auf Befehl. Es passiert einfach. Nicht selten ziehe ich solche

    Informationen aus meinen Träumen oder dem Halbschlaf; manchmal erscheinen sie

    auch während des Tages. Zur Relevanz: Es spielt eine riesige Rolle, welche

    archetypischen Energien jemand in sich trägt: Erkennt man sie, eröffnet sich ein

    tieferer Zugang zu diesem Menschen, als sonst möglich wäre – und man kann auf

    ihn und mit ihm in einer Weise umgehen, die ihm am meisten entspricht.

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    4. Denken

    „Ah, he’s very thoughtful and sympatrico that way is Brother Intelligentius when he’s not

    absintheminded...” – F.W.

    Ich bin kein Intellektueller, sondern ein Träumer, der gerne analysiert. Mit meinem

    rationalen Verstand komme ich meist nicht weit. Er ist bloss ein Diener:

    Untergebener meiner Intuition. Ich erfasse intuitiv weitaus mehr, als ich kraft meiner

    Vernunft je begreifen werde. Ich verstehe mehr, als ich verstehe.

    Was mich von vielen „normalen“, „intelligenten“ Personen unterscheidet, ist denn

    auch meine Intuition. Sie lässt sich nicht quantifizieren, aber sie bewirkt eine

    signifikante qualitative Differenz. Und wenn sie kommt, dann kommt sie – wie aus

    dem nichts und hebt mich manchmal in Sphären, die ich selber nicht für möglich hielt.

    Dann verschwindet sie wieder: Was bleibt, ist eine leicht veränderte

    Realitätswahrnehmung und ein Gewinn an Erkenntnis.

    Wenn ich – selten genug – über Dinge spreche, die ich in Phasen starker intuitiver

    Aktivität entdecke und erlebe, ernte ich oft Unglauben und Ablehnung. Ich dachte

    früher immer, das liege daran, dass ich falsch liege. Ich habe mich immer dafür

    kritisiert und alles auf mich selber abgeschoben und mir Irrtum oder mangelhafte

    Ausdrucksweise unterstellt. Teilweise trifft dies sicher zu. Mittlerweile – dank der Hilfe

    einiger anderer Menschen; alleine hätte ich mir diese Einsicht vermutlich nie

    zugestanden – weiss ich aber auch: Das ist maximal die Hälfte der Wahrheit. Oft

    habe ich Recht, nur kann man mir nicht folgen. Und was der Mensch nicht versteht,

    weist er zurück. Ich werde regelmässig abgelehnt, weil ich Dinge sage, die das

    Denken anderer Menschen sprengen. Was nicht sein darf, ist nicht. Auch hierbei

    handelt es sich nicht um eine Wertung, sondern eine Beobachtung.

    Ich fokussiere automatisch auf das Ganze. Deshalb fühle ich mich auch in abstrakten

    Gebieten am Wohlsten. Besonders angetan haben es mir über die Jahre die

    Philosophie und (theoretische) Mathematik, da sie auf Grund ihrer konzeptuellen

    Reinheit eine atemberaubende intellektuelle Eleganz, ja Schönheit besitzen.

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    In meiner Präferenz des Gesamten liegt auch der Grund, weshalb ich in relativ kurzer

    Zeit scheinbar(!) viel Informationen verarbeiten kann: Ich reduziere alles auf das (mir)

    Wesentliche. Manchmal lese ich ein Buch, dessen Essenz sich in einen Satz,

    manchmal gar in ein einziges Wort fassen lässt. Ich speichere dann nur das ab; den

    Rest vergesse ich. Zugegeben handelt es sich bei solchen Werken eher um

    Extremfälle, aber sie treten häufiger auf, als man meint. Oft liessen sich (Sach-

    )Bücher inhaltlich auf maximal einen Drittel ihrer Länge reduzieren; und tatsächlich

    zeichnen sich relativ kurze Bücher überproportional oft durch inhaltliche Qualität aus.

    Im Mut zur Kürze liegt die Würze.

    Ich habe kein besonders gutes Gedächtnis. Aber durch die automatische starke

    Komprimierung einer Fülle von Informationen vermag ich relativ breite und diverse

    Gebiete zu erfassen und miteinander zu verbinden. Ich merke mir Ideen, sonst nichts.

    Und mit denen arbeite ich dann.

    Details bereiten mir enorm Mühe. Weder sehe, noch erinnere ich mich an sie.

    Jegliches Auswendig lernen, welches das für einen groben Überblick und

    konzeptuelles Verständnis Nötige überschreitet, macht mich müde, demotiviert und

    depressiv. Ich bekunde auch grösste Schwierigkeiten, mir Namen und Gesichter von

    Menschen zu merken. Manchmal legt man mir dies als Desinteresse aus, meist

    fälschlicherweise. Ich kann jemanden sehr tief kennen, ohne den Namen oder das

    Gesicht vor Augen zu haben. Ich sehe in anderen Menschen weder Namen noch

    Gesicht, sondern einzigartige Wesen.

    Sprache ist auch so ein Thema: Leute meinen manchmal, ich lerne absichtlich

    Fremdwörter. Das trifft überhaupt nicht zu. Ich hasse Memorisation. Mein Wortschatz

    vergrössert sich überwiegend organisch im Zuge der Auseinandersetzung mit

    bestimmten Themengebieten. Im Übrigen widerspiegelt sich im persönlichen Lexikon

    eines Menschen meines Erachtens nicht Sprachgewandtheit sondern lediglich

    kognitive Vorliebe: Mein praktisches Vokabular fällt zum Beispiel äusserst dürftig aus;

    ohne den Allzweck-Füller „Dings“ fehlte mir häufig die Sprache. Auf dieser Ebene bin

    ich also durchaus sprachschwach. Alle beherrschen die Art von Sprache, die ihnen

    entspricht.

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    Ich denke für mich selber. Entsprechend erschliesst sich mir nicht, wie wenig viele

    Menschen eigenständig denken, wie sehr sie unreflektiert auf andere hören. Das

    gäben sie natürlich nicht zu; aber es trifft auf die meisten Menschen zu – ob sie das

    wahrhaben wollen oder nicht. Es ist schrecklich offensichtlich. Sie folgen in ihrem

    Denken dem, was ihre Sozialisierung, ihre Bekannten, ihre Erfahrung, so genannte

    „Experten“, die Tradition, ihre Idole usw. sie „gelehrt“ haben; sie übernehmen einfach

    und halten dann ihr so kopiertes „Denken“ für eigengeneriert, originär. Sie

    verwechseln etwas Essentielles: Gedanken hat man, Denken tut man; Gedanken

    gibt’s gratis, Denken nicht. Viele Menschen lassen sich ihr Leben dergestalt von

    anderen „denken“ anstatt es sich selber zu erdenken – sie lassen sich zu

    „Gedachten“ machen, obwohl sie doch eigentlich alle Denker wären. Das finde ich

    sehr schade.

    Bei der Beurteilung des Wahrheitsgehaltes kommt es meines Erachtens

    ausschliesslich auf die Qualität, nicht jedoch auf die Quelle oder die Quantität an: Die

    Identität des Sagenden, besitzt ergo genauso keine Relevanz, wie die Anzahl

    Behauptender: Wenn 99 Personen etwas Falsches sagen, und nur eine Recht hat,

    dann hat eben nur eine Recht. Punkt.

    Wohl respektiere ich Kompetenz, aber ich anerkenne in intellektuellen und

    spirituellen Angelegenheiten keine menschlichen Autoritäten (in allen anderen

    Dingen spielt es mir keine Rolle). Wir sind alle Brüder und Schwestern; kein Mensch

    hat Recht noch Befähigung, sich über einen anderen zu stellen. Gleichwertigkeit und

    Freiheit gehören entsprechend zu meinen Schlüsselwerten. Ich akzeptiere

    Hierarchien so lange und soweit sie nicht gegen meine persönlichsten Prinzipien

    oder gegen die Wahrheit verstossen. Tun sie dies jedoch, kenne ich nichts

    Ich möchte gerne mit ein paar Worten über das Thema Intelligenz schliessen. Jeder

    Mensch ist intelligent, bloss auf seine individuelle Weise. Entsprechend halte ich

    mich nicht für besonders intelligent; ich bin einfach ich. (Tatsächlich fühle ich mich oft

    ziemlich dumm.) In einem konventionellen Sinn liegt mein IQ durchaus im Rahmen.

    Sehr Viel etwa denken schneller, reden und argumentieren zwingender als ich. Fasst

    man Intelligenz hingegen ganzheitlicher als die Fähigkeit eines Menschen zu

    Verständnis und (Auf)Lösung von Komplexität auf, schneide ich besser ab. Ich löse

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    am liebsten Probleme, die andere gar nicht sehen (und umgekehrt!). Auf jeden Fall

    schwankt mein Denkvermögen auf Grund meiner Abhängigkeit von meiner Intuition

    beträchtlich.

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    5. Interessen

    „How familiar it is to see all these interesting advenements with one snaked's eyes!” – F.W.

    Die Realität fasziniert mich total und ich möchte sie begreifen, soweit es meine

    Fähigkeiten erlauben. Entsprechend liebe ich Bücher und Filme, welche die Realität

    zum Inhalt haben. Und täglich denke ich über die Wirklichkeit nach, nicht aus Absicht,

    sondern weil es ist, was ich tue.

    Diese Vorliebe offenbart sich auch in meinen Hauptinteressensgebieten: Mystik,

    Psychologie und Kunst. Mystik und Psychologie befassen sich auf ergänzende

    Weise mit dem Bewusstsein – dem subjektiven Aspekt der Realität (der mich

    zugegebenermassen weitaus mehr anspricht, als der objektive obwohl ich beide als

    gleichwertig erachte). Kunst, weil der kreative Akt die Materialisierung der inneren

    Welt ermöglicht. Folglich vermag ich mich vermittels ihr einfacher und klarer

    ausdrücken als auf jede andere mir bekannte Weise. Kunst erfüllt mich wie sonst fast

    nichts.

    Viele halten meine Interessen für im Kern unnütz. Sie lieben Dinge, die mich kalt

    lassen und umgekehrt. Beispiel Unterhaltung: Für viele bedeutet dies passives

    Konsumieren; für mich die Möglichkeit zur Erweiterung meines Horizonts. Nebst der

    Motivation divergiert auch die inhaltliche Präferenz: Die meisten Leute lesen und

    schauen etwa bevorzugt Filme und Bücher mit klarer Struktur, eindeutigen

    Charakteren, detaillierten Beschreibungen, Action, manchmal Brutalität. Mir dagegen

    kann es eigentlich gar nicht zu abgedreht, kryptisch und allegorisch sein. Ich liebe

    Rätsel, die mich dazu einladen, sie zu entschlüsseln – wie z.B. „Finnegans

    Wake“ von James Joyce aus dem ich hier jeweils zitiere. Ich liebe dieses Buch

    gerade deshalb, weil ich es nicht verstehe; weil es mich dazu zwingt, alle meine

    bisherigen Vorstellungen über Bord zu werfen.

    Meinen Geschmack musste ich über Jahrzehnte selber entdecken, da sowohl in der

    Schule als auch im Umfeld niemand meine Präferenzen teilt. Und wenn ich für einige

    Dinge Enthusiasmus entwickelte, hiess es meist, ich solle meine Aufmerksamkeit

    auf „normale“ Dinge verlagern. Ich versuchte es – ohne Erfolg; denn

    „Normales“ interessiert mich einfach nicht.

  • 22

    6. Ziele

    “Mickil Goals to Nichil! Notpossible! Already?“ – F.W.

    Ich arbeite auf nicht sichtbare, direkt greifbare Ziele hin; denn ich agiere aus der

    festen Überzeugung, dass der Geist über der Materie steht. Dies zeigt sich

    anschaulich etwa in allen Artefakten: In ihnen manifestiert sich der menschliche Geist;

    es handelt sich mithin um vergegenständlichte Ideen. Als aufschlussreich erweist

    sich weiter etwa die Geschichte, die meines Erachtens gleichermassen nahe legt,

    dass im Ursprung nicht das Physische sondern Gedanken und Ideen diese Welt

    bestimmen und verändern – und zwar seit Anbeginn der Zeit.

    Ich bin ein Visionär: Mein Leitstern ist nicht das gegenwärtig Existente sondern das

    Potentielle; ich sehe Dinge, die noch nicht existieren und ich mache sie real.

    Entsprechend investiere ich den grössten Teil meiner Energie in noch nicht

    Manifestes, aber zu Realisierendes. Ich kann dies, weil ich nicht im Status quo oder

    gar der Vergangenheit lebe, sondern aus und für die Zukunft. Die Zukunft ist meine

    Gegenwart. So lebe ich, so denke ich, so handle ich, so wirke ich.

    Meine übergeordneten Ziele wähle ich äusserst sorgfältig. Offen gestanden verhält

    es sich subjektiv gar eher so, dass sie mich wählen. Ist dies geschehen, dann bleibe

    ich solange dran, bis sie Wirklichkeit sind. Es kann Jahre, gar Jahrzehnte dauern –

    egal! Zeit spielt keine Rolle. Ich gebe nicht auf, bis ich erreicht habe, was zu

    erreichen ich gedenke. Auf dem Weg erleide ich viele Niederlagen, immer wieder:

    Meine Ziele überschreiten regelmässig das, was als möglich gilt; häufig überfordern

    sie auch mich. Aber ich komme zurück. Und zurück. Und zurück. Und irgendwann

    klappt es meistens, denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und wenn ich wirklich will,

    finde ich ihn. Habe ich ihn gefunden, gehe ich ihn bis zum Ende. Komme, was wolle,

    egal was es kostet. Mir ist nicht der Weg das Ziel sondern das Ziel der Weg.

    Andere meinen manchmal, ich tue nichts, aber dies entspricht ganz und gar nicht der

    Wirklichkeit; man sieht einfach nicht, was ich tue – bis es greifbare Form

    angenommen hat. Manchmal erwirke ich auch Dinge, die niemand je sehen wird –

    und doch sind sie echt.

  • 23

    Im Geist bin ich Revolutionär. Ich wiederhole nicht, was andere vor mir getan haben;

    ich will Neues schaffen. Falls nötig, habe ich keine Hemmungen, Dinge auf den Kopf

    zu stellen: nicht aus Selbstzweck, sondern im ernsthaften Bestreben, meinen kleinen

    Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten. Denn eigentlich, tief verborgen, bin ich

    Idealist bis aufs Blut; und Ideale werden nur Realität, wenn man sich vorbehaltlos für

    sie einsetzt. Ich kämpfe aber nicht in der materiellen Welt, sondern in der geistigen.

  • 24

    7. Anpassung

    „how weak we are, one and all“ – F.W.

    Ich habe viele Schwächen. Die vermutlich grösste ist meine Tendenz zur Assimilation

    an andere Menschen. In meinem Fall mit absolut verheerenden Konsequenzen. Mein

    Leben lang habe ich mich angepasst, versucht den von der Gesellschaft und vielen

    Mitmenschen meist implizit und manchmal explizit kommunizierten Ansprüchen zu

    entsprechen. Dabei habe ich mich selber vollständig verloren. Es hat mich Jahre

    gekostet, das Verdrängte auszugraben. Und ich bin immer noch lange nicht fertig.

    Für viele Menschen ist es normal, sich selber sein zu dürfen, sich für ihr Wesen nicht

    rechtfertigen zu müssen. Sie bekommen nicht mal ausdrücklich mal implizit aber mit

    grosser Häufigkeit zu hören, ihre grundlegenden Interessen seien nichtig, ihre

    Meinungen irrelevant, ihre Prioritäten falsch. Ich schon. Und ich habe das einfach

    geglaubt.

    Da unser Bewusstsein aufgrund prozessualer Limitierungen nicht alles verarbeiten

    kann, muss es sich notgedrungen auf gewisse Sphären konzentrieren und andere

    ausblenden. Man kann deshalb nicht alles können und man muss auch nicht. Aber

    genau das verlangt die Gesellschaft von mir: dass ich nach ihren Vorstellungen

    funktioniere. Aber ich kann nicht, was die meisten können; dafür kann ich, was die

    meisten nicht können. Ganz alltägliche Dinge überfordern mich (Rechnungen zahlen,

    Einkaufen, Termine koordinieren, die Zeit im Auge behalten, streiten, Small talk,

    Gruppenaktivitäten usw.). Dafür kann ich mich mit relativer Leichtigkeit in alle

    möglichen Modelle und Theorien einarbeiten, Neues entwickeln, ausserhalb

    gegebener Parameter denken, dynamische Aspekte der Realität intuitiv erfassen,

    oder etwa dieses Büchlein in zwei Sprachen innerhalb von drei, vier Tagen

    schreiben usw.

    In begrenztem Rahmen vermag ich, alltägliche Dinge zu erledigen, aber es kostet

    mich enorm viel Energie. Es hat absolut nichts mit Bequemlichkeit oder Unwillen zu

    tun, sondern mit kognitiver Überforderung. Genauso, wie es viele erschöpft, sich mit

    Abstraktem, Indefinitem, Mehrdeutigen zu befassen. Es IST exakt das Gleiche.

  • 25

    Häufig werden mir meine Schwächen als Faulheit und Widerwillen ausgelegt, meine

    Stärken für irrelevant oder Einbildung gehalten. Mässe ich andere mit gleichem Mass

    wie sie mich – ich gelangte bald zum Schluss, dass die meisten Menschen

    untauglich sind: zu dumm, wirklich eigenständig zu überlegen und nicht wie

    Lemmings anderen Menschen zu folgen; und blind für alles über das unmittelbar

    Sichtbare Hinausgehende. Anstatt sich dies jedoch einzugestehen, täuschen sie sich

    selbst und anderen vor, sie seien unabhängig und das Metaphysische existiere nicht

    oder sei zumindest weniger real als das Materielle. So denke ich aber nicht über

    andere Menschen. In meinen Augen sind sie dumm noch blind; ihr Bewusstsein

    priorisiert einfach andere kognitive Inhalte. Es gibt nicht besser oder schlechter, bloss

    unterschiedlich.

    Einem Menschen auch nur durch die Blume zu sagen, dass er nicht richtig ist, stellt

    für mich eine absolute Todsünde dar, denn es bedeutet das Absprechen des allen

    eigenen Existenzrechtes. Wir alle haben Probleme, einige mehr, einige weniger; das

    darf und soll sehr wohl angesprochen werden dürfen. Was aber nicht geht, ist sich

    über andere zu erheben, zu meinen, man wisse es selber besser.

    I habe absolut kein Problem damit, dass andere nicht sind wie ich. Im Gegenteil: Ich

    mag Diversität. Ich verurteile Menschen nicht. Das Umgekehrte erlebe ich indes oft:

    Meine Schwächen werden mir als Faulheit oder Unwillen ausgelegt, meine Stärken

    als irrelevant oder gar reine Einbildung bewertet. So sieht man in mir vor allem ein

    Problem. Ich muss mich rechtfertigen dafür, wie ich bin. Dies schmerzt. Ich möchte

    nicht verurteilt werden, für das, was ich nicht bin, sondern geschätzt für das, was ich

    bin.

    Ich möchte betonen, dass ich hier keine Schuldzuweisung vornehme, sondern

    lediglich einen psychologischen Fakt festhalte. Sofern eine Verantwortung für dies

    alles besteht, liegt sie bei mir; denn ich trage die Verantwortung für mein Leben. Und

    ich werde versuchen, sie so gut wie möglich wahrzunehmen: Ich werde mich für

    meine grundlegenden Persönlichkeitsmerkmale nicht mehr entschuldigen – denn es

    gibt nichts zu entschuldigen für etwas, das man nicht gewählt hat und nicht wählen

    kann: Ich habe mir meine Welt nicht ausgesucht; ich kann nur versuchen nach

    meinem besten Vermögen in und mit ihr zu leben (und ja, es ist extrem schwierig).

  • 26

    Ich werde mich dieser Welt auch nicht mehr beugen. Ich habe es 30 Jahre zu lang

    getan. Es geht nicht. Ich kann innerhalb konventioneller Parameter nicht

    funktionieren; ich bin zu anders.

  • 27

    8. Therapien

    „Get yourself psychoanolised.“ – F.W.

    Nicht ausschliesslich aber mitunter wegen den psychischen Folgen meiner

    selbstverleugnenden Anpassung habe ich eine grosse Zahl unterschiedlichster

    Therapien hinter mir – bisher ohne wirklichen Erfolg. Dies liegt zum einen beträchtlich

    darin begründet, dass mir das Schreiben leichter fällt als das Reden, die meisten

    Therapeuten sich aber überwiegend auf Gespräche stützen. Zweitens sind mir viele

    prägende charakterliche und kognitive Eigenheiten erst im Lauf der Zeit bewusst

    geworden. Drittens habe ich wiederholt erfahren, dass einige – nicht alle! –

    Therapeuten zu sehr in ihrer Weltsicht verhaftet sind und es ihnen an Offenheit für

    alles gebricht, das nicht ins Schema passt. Und ich passe nicht ins Schema. Damit

    hängt eine weitere Komplikation zusammen: Oft gelangen psychologische Modelle

    beinahe schablonenhaft und unreflektiert zur Anwendung; die menschliche Psyche

    indes übersteigt an Komplexität jegliche Theorie: Als ungeheuer komplexes

    Amalgam unterschiedlichster Aspekte und Dimensionen entzieht sie sich in ihrer

    Gesamtheit adäquater Modellierung, so dass die tauglichste Annäherung in einer

    Kombination einer Vielzahl diverser Modelle besteht, die psychische Teilaspekte

    vereinfacht widergeben. Modelle liefern grossartige Dienste, so sie korrekt verwendet

    werden – als blosse Karten der wirklichen Welt, nicht aber als eigentliche Realität.

    Ferner nehme ich subjektiv eine gewisse Vorherrschaft der pathologisierenden

    Perspektive wahr, obgleich eine deskriptive, weniger normative Auffassung der

    menschlichen Wirklichkeit oft besser diente – insbesondere Menschen, die von der

    faktisch eben doch rein quantitativ bestimmten „Norm“ abweichen. Schliesslich

    kommt es regelmässig zu kommunikativen und interpretativen Missverständnissen,

    da ich schlicht in einer anderen Realität lebe, als die meisten Therapeuten.

    Entsprechend erschliesst sich ihnen teilweise nicht, mit was für Problemen ich mich

    tatsächlich auseinandersetzen muss.

  • 28

    III. Die Welt (und ich)

    1. Ausbildung

    “There is no school today.” – F.W.

    Motiviert mich etwas, kann ich mich, soweit meine Gesundheit es zulässt, eigentlich

    immer einarbeiten – ganz alleine und egal, worum es sich handelt. Als ausgeprägter

    Autodidakt lerne ich am besten ganz auf mich selbst gestellt: ohne äussere

    Vorgaben und Anleitung. Ein wesentlicher Aspekt des Verständnisprozesses besteht

    für mich gerade in der selbständigen Dekonstruktion, Strukturierung und Synthese

    des zu Lernenden.

    Ich lerne anders als die meisten. Und von den Meisten bekomme ich dann zu hören,

    wie ich lernen soll, weil sie von sich auf mich schliessen. Was sie nicht sehen, ist, wie

    gut meine Methode mir dient. Ich bleibe nicht stehen, ich nehme was ich lerne und

    mache es besser. Ich lerne dynamisch: Ich kombiniere vorhandene Modelle und

    Theorien zu neuen, indem ich kontinuierlich zusätzliche Informationen und

    Perspektiven integriere und sie zu einem komplexeren, ganzheitlicheren System

    entwickle, welches ich anpasse, sobald es angezeigt erscheint. Und ich tue dies

    alleine. Ich brauche dafür niemanden. Die limitierenden Faktoren sind Mangel an

    Informationen, Interesse (es gibt wenig, das mich wirklich interessiert), Gesundheit

    und Zeit.

    Konventionelle Lehrmethoden und unser gesamtes Bildungssystem entsprechen mir

    in keiner Weise. Die Schulzeit und auch das Studium erlebte ich auch vornehmlich

    als demotivierende Zwängerei – als intellektuell grösstenteils schreckliche Zeit, durch

    die ich mich kämpfen musste. Meine Motivation schwand bereits früh in der

    Primarschule. Eigentlich liebe ich zu lernen, aber ich lernte, es zu hassen.

    Rückblickend kann ich mir nur noch ungläubig die Augen reiben, wie ich dies alles

    durchgestanden habe. Ohne massive Verdrängung meiner Persönlichkeit hätte es

    gewiss nicht funktioniert.

  • 29

    2. Arbeitswelt “He is jem job joy pip poo pat (jot um for a sobrat!)“ – F.W.

    Ich störe mich extrem an der Zertifikatsgläubigkeit unserer Wirtschaft und vieler

    Menschen. Für mich zählt nur Kompetenz und die kennt kein Papier. Genauso wie

    viele Personen mit Abschluss die Befähigung abgeht, besitzen viele Menschen

    Fähigkeiten, die sie nicht papierlich belegen können. Dieses Thema hat für mich

    signifikante persönliche Relevanz: Ich habe in meinen Kompetenzgebieten – es sind

    wenige – nichts vorzuweisen, denn ich habe sie mir vollständig selber erworben. Ich

    benötige keine Menschen und schon gar nicht Prüfstellen, die mir meine Kompetenz

    bescheinigen. Ich weiss, was ich kann. In meinen Interessensgebieten kann ich es

    mit vielen „Profis“ nicht nur aufnehmen; oft erkenne ich Fehler, erkenne, was sie

    verbessern könnten und sollten; sehe, wie sie einfach Modelle anderer Menschen,

    gerne so genannter fachlicher „Autoritäten“, übernehmen und anwenden, ohne sie

    kritisch zu hinterfragen, geschweige denn gar sich getrauen, sie zu verbessern (was

    aber oft not täte).

    Umgekehrt verfüge ich über einen Abschluss in einem Gebiet, das mir nicht

    entspricht und mich nicht interessiert. Er ist eigentlich das Papier nicht wert, worauf

    er gedruckt wurde. Seinen Wert bezieht er einzig aus der Tatsache, dass Viele

    weniger auf Inhalt als auf Verpackung achten. Menschen fragen mich nach meiner

    Ansicht, wo ich nichts zu sagen habe und wo ich was zu sagen hätte, hören sie

    meist nicht hin, weil mir kein Dokument Qualifikation attestiert (oder weil das Thema

    ihrer Ansicht nach keine praktische Bedeutung hat). Auch hier wieder existiert eine

    Kluft zwischen Bekenntnis und Wahrheit: Fast alle behaupten, dass sie nicht auf

    Abschlüsse schauen, doch genau das tun sie. Genau das! Ihre tatsächliche innere

    Einstellung offenbart sich deutlich genug in ihrem Denken; meist ist es ihnen wohl

    gar nicht bewusst. Ich verstehe die Menschen einfach nicht. Sie achten das

    Irrelevante und übersehen das Relevante. Ich verstehe es einfach nicht.

    Auf die Palme bringt mich auch die so beliebte Behauptung, dass zwei Köpfe besser

    denken als einer und man alles in der Gruppe machen soll. Ich bin alleine massiv

    intelligenter als mit 2, 3, 4, 100 Leuten zusammen. Zwingt man mich, in einer Gruppe

    zu arbeiten, kastriert man mich geistig. Ich werde schlagartig dümmer, wenn ich nicht

  • 30

    alleine bin und ich verliere Energie. Ich vermag alleine Bücher zu schreiben, neue

    Modelle zu entwickeln, Probleme auf ungewohnte Art zu lösen, um einige Dinge zu

    benennen. Es geht jedoch nicht auf Knopfdruck. Weder weiss ich, wann die

    Inspiration kommt, noch wohin sie mich führt. Wenn ich etwas habe, dann teile und

    diskutiere ich gerne, aber ich brauche zuerst Zeit alleine – manchmal Jahre – Zeit

    und die Freiheit, meiner Intuition folgen zu dürfen. Die Wirtschaft gewährt mir beides

    nicht.

    Unsere Arbeitswelt schafft grossmehrheitlich Bedingungen, in denen ich in kürzester

    Zeit verkümmern würde, auch bei voller Gesundheit: zuviel Interaktion, zu viel

    Stimulation, zu viel Zeitdruck, zu viele Regeln Strukturen und Restriktionen, zu

    hierarchisch, zu viele Befehle. Man liesse mich nie so machen, wie es mir entspricht.

    Tut man dies jedoch, liefere ich dann auch etwas, das unter Umständen durchaus

    einzigartig ausfallen kann.

  • 31

    3. Unser System

    “Now a run for his money!” – F.W.

    Für Spezielles hat es wenig Platz in dieser Welt, obgleich gerade der Westen der

    Individualität vorgeblich doch so huldigt – auch dies nichts als ein leeres

    Lippenbekenntnis: In Tat und Wahrheit versteckt sich hinter den Feigenblättern

    „Individualität“ und „Freiheit“ ein sozioökonomisches Konstrukt, das sich faktisch in

    einem sehr eng abgesteckten Rahmen bewegt. Das muss so sein, denn unser

    System benötigt Arbeits- und Konsumbienen, die tun, was man ihnen sagt. Wer

    wirklich anders ist, wird faktisch sanktioniert wegen seinem inhärent system-

    destabilisierenden Potential: Er könnte sich anmassen, das System zu hinterfragen

    oder noch schlimmer, es ändern zu wollen – ein System notabene, das in einigen

    wenigen Ländern materiellen (nicht aber psychisch-seelischen!) Wohlstand schafft,

    weltweit aber gar nicht funktioniert und die Menschheit auf längere Sicht in den

    Abgrund führen wird. Dieser Abgrund wird genauso kommen wie eine autoritäre

    Weltregierung. Das hat mit Kaffeesatzlesen nichts zu tun; man braucht lediglich die

    Dynamik der vergangen Jahrzehnte und der Gegenwart zeitlich extensiv zu

    extrapolieren. Es ist alles bereits geschehen. Eine Lawine lässt sich ab einem

    gewissen Punkt nicht mehr aufhalten.

    „Freie“ westliche Staaten korsettieren ihre Bevölkerung faktisch genauso eng wie

    Diktaturen, lediglich geschieht es auf andere Weise. Unser System konformiert nicht

    explizit, sondern implizit: Es macht die Bienen glauben, sie seien frei. Es kommt den

    Idealen von Freiheit, Gleichberechtigung, Partizipation und materieller

    Grundversorgung freilich viel näher und ist insofern zu bevorzugen. Aber es ist im

    Kern genauso teuflisch: Es deformiert die Menschen, die alle dem System dienen

    sollen – und das System heisst Geld. In gewisser Weise übertrifft das hiesige Modell

    autoritäre gar an Perfidität, da es kamoufliert normiert. Und es basiert genauso auf

    der Ausbeutung anderer Menschen – nur dass wir die Ausbeutung grossmehrheitlich

    exportiert haben.

    Der Durchschnittsbürger nimmt das alles hin, geht seiner Arbeit nach und kümmert

    sich, ja worum kümmert er sich? Ums Geld! Genau wie geplant. Er sorgt sich um

    seinen Wohlstand; er will seinen Besitzstand wahren. Darum fürchtet er sich vor

  • 32

    allem möglichen – Ausländern, der EU, wirtschaftlichen Entwicklungen,

    Klimaerwärmung. Er ist darauf erpicht, mit vollen Taschen ins Grab zu wandern. Er

    lebt für die und in der Materie. Wer meint, ich generalisiere hier, dem halte ich

    entgegen: Was ich hier beschreibe, ist der kollektive, (deutsch-)schweizerische

    mentale Archetyp, der sich offenbart, wenn man nur mit etwas Distanz hinschaut. Er

    ist real. Und er ist hässlich.

  • 33

    IV. Die Natur einiger Dinge

    1. Realität

    “Thus the unfacts, did we possess them, are too imprecisely few to warrant our certitude...” –

    F.W.

    Wer sich ernsthaft mit der Realität befassen möchte, muss sein eigenes Denken an

    einem bestimmten Punkt hinter sich lassen. Die Wirklichkeit verbirgt sich oft hinter

    scheinbaren Widersprüchen, ja gar Widersinnigem, Unlogischem, Multidirektionalem

    und Unverständlichem. Das Unverständliche – dies steckt bereits im Wort - lässt sich

    nur verstehen, wenn man den Verstand loslässt: Es verlangt den Un-Verstand. Viele

    Menschen machen diesen Schritt nie und doch denken und handeln sie, als ob sie

    die Wahrheit kennten. Das mag pragmatisch und womöglich evolutionär

    programmiert sein, erkenntnistheoretisch ist es aber barer Unsinn. Dies belegt

    bereits ein Blick in die Physik: Auf Makroebene gelten die klassischen physikalischen

    Gesetze (Kausalität usw.), doch auf Quantenebene herrschen völlig andere

    Prinzipien. Nichts ist so, wie es scheint, wenn man tiefer schaut.

    Da sich Lokalisierung in Raum & Zeit und Wahrnehmung des Transzendenten

    negativ proportional zueinander verhalten, bezahlt man den Zugang zum

    Nichtgegenständlichen und Zeitlosen mit einer geringeren Verankerung in der

    herkömmlichen Realität; analog resultiert ein festes und gefestigtes Verhältnis zur

    materiellen Welt in verminderter Wahrnehmung und Akzeptanz des Metaphysischen.

    Unsere Gesellschaft hat zweifellos die Tendenz zu Letzterem und einen

    ausgeprägten Hang, Ersteres zu marginalisieren, mitunter gar zu pathologisieren.

    Darin besteht auch der Hauptgrund, weshalb ich mich in dieser Welt oft fremd fühle;

    ich setze die Prioritäten automatisch exakt umgekehrt. Fast alle Menschen verfügen

    fraglos über einen stärkeren und konkreteren Diesseitsbezug als ich. Ich habe ein

    genauso intensives Verhältnis zur Realität – bloss zu einem anderen Aspekt

    derselben.

    Für mich existiert kein Besser oder Schlechter: Jedes Individuum nimmt

    unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit wahr. Nie käme es mir deshalb in den Sinn,

  • 34

    Menschen ihre korrekte Wahrnehmung der Realität abzusprechen – Umgekehrtes

    erlebe ich indes oft. „Was du sagst, hat keinen Nutzen!“ „Das ist doch blosse

    Theorie!“ etc. So spricht der Mensch, der meint, die Realität erschöpfe sich im

    Physischen. Woher nimmt er diese Gewissheit?

    Meist teile ich meine Sicht der Welt gar nicht, weil ich weiss (und oft erfahren habe),

    dass sie gar nicht erst ernst genommen wird. Dabei liegt in meiner Wahrnehmung

    der Realität gerade eine meiner Kompetenzen. Niemals würde ich erwarten, dass mir

    jemand glaubt; ich wünschte mir nur, dass man mich mit einer gewissen

    Unvoreingenommenheit anhörte.

  • 35

    2. Zeit

    „Time: the pressant.“ – F.W.

    Die Mehrzahl glaubt nicht, dass man Sachen sehen kann, bevor sie sich ereignen.

    Aber es geht. Manchmal durch blosse Extrapolation; manchmal … durch … etwas

    anderes. Ich verstehe nicht, wieso Leute Dinge nicht antizipieren, die sich

    offensichtlich ankündigen; sie verstehen nicht, wie ich antizipiere, oft unbewusst zwei,

    drei Schritte weiter denke. Ich bin optimistisch, wo andere keine Hoffnung sehen, weil

    ich „weiss“, dass es gut kommt; manchmal dagegen habe ich Angst, weil ich schon

    lange vorher realisiere, dass etwas schlecht enden wird. Liege ich manchmal falsch?

    Natürlich! Ich irre mich wie jeder andere Mensch auch. Aber ich habe ein anderes

    Verhältnis zur Zeit: Ich verstehe und erlebe sie nicht als etwas Lineares,

    Sequentielles; Zukunft und Gegenwart sind für mich vielmehr eins. Die Zukunft hat

    sich bereits ereignet, denn Raum und Zeit sind blosse Epiphänomene einer Meta-

    Realität, die beide enthält und zugleich transzendiert.

  • 36

    3. Traum

    „Little down dream don’t I love thee!“ – F.W.

    Der heutige Zeitgeist betrachtet „Träumen“ als unproduktiv und folglich als

    Verschwendung und Faulheit. Für mich kann ich jedoch mit Überzeugung sagen:

    Selten bin ich produktiver als im (Tag-)Traum. Denn in diesem Zustand betritt mein

    Verstand betritt den Hyperraum – eine andere Dimension: Mein Denken gewinnt

    überproportional an Geschwindigkeit, Quantität und Qualität; ich gelange überdies an

    mir sonst unzugängliche Informationen. Ferner erhole ich mich auf diese Weise mit

    Abstand am besten und schnellsten, da ich mich derart von externen Stimuli

    zurückziehen und in meine innere Welt abtauchen kann. So generiere ich psychische

    Energie, die ich für das Leben benötige.

    Nichts liebe ich so wie das (Tag-)Träumen. In diesem Zustand zerfliesst die

    Trennung von Bewusstsein und Unterbewusstsein; es resultiert ein für mich absolut

    mystischer, wunderbarer Zustand. Oft verliere ich völlig die Verankerung in Raum

    und Zeit. Ich bin nur noch.

    Menschen machen sich etwas vor, wenn sie sich ausschliesslich über ihr

    Tagesbewusstsein definieren und das Un(ter)bewusstein ausser Acht lassen.

    Weshalb soll der Wachzustand realer sein als der Traumzustand? Die Wirklichkeit

    widerspricht dem: Es handelt sich bei Wachheit und Traum (und Unbewusstsein) um

    nichts als unterschiedliche Aggregatszustände des menschlichen Bewusstseins. Sie

    komplementieren sich; eine „Prärogativierung“ des einen oder anderen lässt sich

    ergo nicht begründen.

    „The Strangest Dream that was ever Halfdreamt!“ – F.W.

    Das ist das Wachbewusstsein – ein Halbtraum. Wer seine Augen davor verschliesst

    und dadurch bestenfalls die Hälfte der Wirklichkeit zulässt, schläft mit offenen Augen.

    Wer nur Wachheit sucht, erntet Schlaf den ganzen Tag. Aufwachen heisst

    Einschlafen. So kommt es, dass der Mensch erst im Tod gänzlich erwacht.

  • 37

    4. Wahnsinn

    „And what is she weird, haughty Niluna, that she will snatch from my ownest hair!” – F.W.

    Die Menschen glauben gerne, dass es Wahnsinn gibt. Nur, stimmt das? Wahnsinn

    impliziert Fehler. Jeder Mensch funktioniert aber auf gleiche Weise: Er nimmt

    Informationen wahr, verarbeitet sie auf bestimmte Weise und gelangt so zu einem

    Resultat. Viele sehen nur das Resultat, nicht aber die kognitiven

    Hintergrundprozesse. So verstehen sie sich selber nicht und noch viel weniger

    andere Menschen, besonders jene, deren „Resultate“ sprich: Gedanken, Meinungen

    und Handlungen ihnen nicht behagen. Würde man sich eingestehen, dass jeder

    Mensch gleich funktioniert, führte dies zur unbequemen Realisation, dass die

    eigenen Vorstellungen viel relativer sind als einem lieb ist und dass man vom Urteilen

    fast gänzlich absehen müsste. Man könnte sich auch nicht mehr einfach über alles

    aufregen. Man sähe, dass alles eine Ursache hat und insofern eine faktische –

    dadurch aber nicht automatisch ethische! – Rechtfertigung. Alles hat einen Grund.

  • 38

    V. Nicht meine Welt

    „heavengendered, chaosfoedted, earthborn“ – F.W.

    Ich gehöre nicht in diese Welt. Weder fühle ich mich hier zu Hause noch komme ich

    in ihr zurecht. Es sind nicht bloss meine kognitiven Eigenheiten, sondern auch mein

    Empfinden: Ich ertrage das Leid dieser Welt nicht: ganz besonders den Egoismus

    und ihm entspringend Kälte, Rücksichtslosigkeit, Ausbeutung, Krieg, Zerstörung,

    Verurteilung, Beherrschung, etc. Ich bin schon mehrmals fast daran zerbrochen. Ich

    ann es einfach nicht ertragen. Diese Welt ist in meinen Augen die Hölle. Wer diese

    Welt „normal“ nennt, ist in meinen Augen krank. Denn wer diese Welt „normal“ findet“,

    hat sich an sie assimiliert und in der Anpassung überträgt sich die Krankheit. Mit

    diesem „normal“ will ich nichts zu tun haben. Und ich bin nicht bereit zu akzeptieren,

    dass unsere Welt auch nur im Erntferntesten „normal“ ist. Sie ist todkrank.

    Ich lege an die Beurteilung meines eigenen Lebens genau einen Massstab an: Habe

    ich in meiner Lebensspanne etwas dazu beigetragen – und sei es noch so wenig –

    dass die Welt ein Stückchen besser geworden ist, habe ich mein Ziel erreicht; falls

    nicht, habe ich versagt.

    Sollte meine Existenz einen Sinn haben – was ich oft bezweifle –, dann wird er wohl

    wesentlich darin liegen, diese Welt ein wenig zu verändern. Ich bin nicht gekommen

    zu belassen, sondern zu ändern. Ich kann gar nicht anders, denn

    ich bin anders.

  • 39

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