Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes...

26
Theoria und stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae disputationes V Author(s): Maximilian Forschner Source: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 53, H. 2 (Apr. - Jun., 1999), pp. 163-187 Published by: Vittorio Klostermann GmbH Stable URL: http://www.jstor.org/stable/20484886 Accessed: 17/08/2010 12:28 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of JSTOR's Terms and Conditions of Use, available at http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp. JSTOR's Terms and Conditions of Use provides, in part, that unless you have obtained prior permission, you may not download an entire issue of a journal or multiple copies of articles, and you may use content in the JSTOR archive only for your personal, non-commercial use. Please contact the publisher regarding any further use of this work. Publisher contact information may be obtained at http://www.jstor.org/action/showPublisher?publisherCode=vittklos. Each copy of any part of a JSTOR transmission must contain the same copyright notice that appears on the screen or printed page of such transmission. JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. Vittorio Klostermann GmbH is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Zeitschrift für philosophische Forschung. http://www.jstor.org

Transcript of Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes...

Page 1: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria und stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae disputationes VAuthor(s): Maximilian ForschnerSource: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 53, H. 2 (Apr. - Jun., 1999), pp. 163-187Published by: Vittorio Klostermann GmbHStable URL: http://www.jstor.org/stable/20484886Accessed: 17/08/2010 12:28

Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of JSTOR's Terms and Conditions of Use, available athttp://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp. JSTOR's Terms and Conditions of Use provides, in part, that unlessyou have obtained prior permission, you may not download an entire issue of a journal or multiple copies of articles, and youmay use content in the JSTOR archive only for your personal, non-commercial use.

Please contact the publisher regarding any further use of this work. Publisher contact information may be obtained athttp://www.jstor.org/action/showPublisher?publisherCode=vittklos.

Each copy of any part of a JSTOR transmission must contain the same copyright notice that appears on the screen or printedpage of such transmission.

JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range ofcontent in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new formsof scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected].

Vittorio Klostermann GmbH is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Zeitschriftfür philosophische Forschung.

http://www.jstor.org

Page 2: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Maximilian Forschner, Erlangen-Niirnberg

Theoria und stoische Tugend

Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae disputationes V

Nec tamen istas quaestionesphysicorum exterminandasputo. est enim ani morum ingeniorumque naturale quoddam quasi pabulum consideratio con templatioque naturae: erigimus, altioresfieri videmur, humana despicimus cogitantesque supera atque caelestia haec nostra ut exigua et minima contem nimus. indagatio ipsa rerum cum maximarum tum etiam occultissimarum habet oblectationem; si vero aliquid occurrit, quod verisimile videatur, hu manissima completur animus voluptate, quaeret igitur haec et vester sapiens et hic noster, sed vester, ut adsentiatur credat adfirmet, noster, ut vereatur te mere opinari praeclareque agi secum putet, si in eius modi rebus, veri simile quod sit invenerit. Cicero, Acad. libr. Lucullus I27/8.

Ciceros philosophischer Besitz verdankt sich zum Teil dem Erbe Zenons. Er hat, wie er selbst recht deutlich zu verstehen gibt, mit dem Erbe der griechischen Philosophie ,,nach eigenem Urteil und Gutdiinken" gear beitetl und es in erheblich veranderter Form weitergereicht. Zu diesem von ihm umgepragten Traditionsbestand gehort ein dominant morali sches Verstandnis des stoischen Begriffs von Tugend, wie es beispielhaft in De officiis entwickelt und gerade iuber diese Schrift bis heute nachhal tig wirksam ist.

Mein Beitrag2 verfolgt ein zweifaches Ziel: Er soil primar die These stiitzen, dag der stoische Tugendbegriff von seinem Ursprung her nicht dominant moralisch bestimmt ist; und er mochte dabei auch ansatzweise zeigen, warum und wie Cicero seine Moralisierung ins Werk gesetzt hat3.

1 Vgl. De off. I, 6: Sequimur igitur hoc quidem tempore et hac in quaestione potissi mum Stoicos, non ut

interpretes, sed, utsolemus, efontibus eorum iudicio arbitrioque

nostro, quantum quoque modo videbitur, hauriemus (kursiv M. F.). Vgl. De fin. I, 6.

2 F?r Anregungen, Hinweise und Kritik danke ich F. Buddensiek, Th. Ebert, M. Erler,

W. Ertl, W. G?rler, J. Kulenkampff. 3 Eine eigenwillige, unorthodoxe Moralisierung des stoischen Tugendbegriffs betrieb

bereits Arist?n von Chios als unmittelbarer Sch?ler Zenons. M?glicherweise macht es

einen guten Sinn, wenn Cicero im doxographischen Kontext von Tuse. V als Vertreter

Zeitschrift fir philosophische Forschung, Band 53 (1999), 2

Page 3: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

164 Maximilian Forschner

Was das eine Ziel betrifft, so leitet mich die Annahme, dal das Kern dogma der stoischen Philosophie, das Ineinsfallen von Tugen(i und Gliick, ebenso wie die Eigenart ihrer Affektenlehre nur verstandlich sind vor dem Hintergrund einer zentralen Rolle, die die Theoria in ihrer Vor stellung eines vollkommenen Menschenlebens gespielt haben mug.

Was das andere Ziel betrifft, so leitet mich der Gesichtspunkt, daf3 die se - notwendigerweise eine ,,dogmatische" - Rolle der Theoria Ciceros Form akademischer Skepsis nicht entsprach; dag er sie deshalb zu .modi fizieren und herabzustufen geneigt bzw. gezwungen war.

Die urspriinglich tragende Rolle der Theoria im stoischen Tugendkon zept scheint mir bei Cicero noch greifbar zu sein, wo er stoische Lellre re feriert oder auf seine skeptische Art von Rede und Gegenrede fiir eine stoische Position pladiert. Dies ist, wie ich zeigen m6chte, beispielfhaft in den Tusculanen der Fall. Aber sie wird auch dort iiberschattet von seiner eigenen Auffassung von Tugend, die sich, bei aller Anerkennung des her ausragenden Rangs theoretischer Weisheit4, in der wir den G6ttern glei chen, zu allererst dem praktischen Einsatz fur die societas vitae verpflich tet weig5.

Der Mensch strebt von Natur nach Erkenntnis. Die Erkundung, Er forschung und Erwagung grundlegender, verborgener, schwieriger und

wunderbarer Dinge steht unserer Natur am nichsten6, ist demlzufolge auch ,,eine der angenehmsten Speisen der Seele"7; aber das Streben, das die agitatio mentis tragt und in Gang halt, kommt (aufgrund des irdi schen Status der menschlichen Seele) in diesem Leben nicht zur R,uhe8;

der stoischen Philosophie neben dem Schulgr?nder Zenon nur noch den (kynisieren den) ?H?retiker" Arist?n von Chios (V, 21; V, 33) erw?hnt. Nach allem, was wir von

diesem wissen, wollte er die Philosophie auf die Ethik beschr?nkt sehen; Logik und

Physik schienen ihm f?r die Ethik und die praktische Lebensf?hrung unbrauchbar, da wir von den Gegenst?nden der Naturphilosophie keine gesicherte Erkenntnis erlan

gen k?nnen (vgl. SVF 1, 351-355; 378; P. Steinmetz, Grundriss der Geschichte der Phi

losophie der Antike 4/2 Die hellenistische Philosophie, Basel 1994, 560). Die ?H?re sie" Aristons d?rfte demnach genau die Rolle der Theoria im Rahmen des stoischen

Tugendkonzepts betroffen haben. Und dies k?nnte Arist?n als Leitfigur einer skep

tisch-kynischen Variante der stoischen Philosophie f?r Cicero bleibend interessant ge macht haben. Dem entspricht das Gewicht, das Arist?n von Cicero in Deftnibus (III.

3.11; 4.12; 15. 50) einger?umt wird. 4

Vgl. De off. 1,13; I,i8. 5

Vgl. De off. 1,19; I, 22.

6 De off. 1,18: maxime naturam attingit humanam.

7 Tuse. V, 66: unus suavissimus pastus animorum; vgl. De off. 1,13. 8 De off. 1,19:... agitado mentis, quae numquam adquiescit...

Page 4: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend i65

unser Erkennen (der Natur und ihrer hintergriindigen Ordnung) bleibt allemal mangelhaft und zweifelhaft9. Erst wenn die menschliche Seele (solite es denn dereinst der Fall sein) nach dem Tod ihre Erdenschwere, den Druck der Begierden, ihre Bediirftigkeit und Verletzbarkeit hinter sich gelassen und ihren himmlischen Wohnsitz erreicht hat, wird ihr das

Vorziiglichste, die erkennende Betrachtung der himmlischen und irdi schen Dinge, in unbehinderter, gottgleicher Weise moglich sein10.

Cicero scheint aus dieser anthropologisch fundierten grundsatzlichen Position der Skepsis heraus der Ansicht zu sein, dag die politisch-morali sche Sorge um die Gemeinschaft und die mit ihr verbundene actio vitae die vordringliche Aufgabe des Menschen istl 1. Deshalb teilt er (ganz un stoisch) das Leben in die Bereiche des otium und negotium und ordnet die Theoria dem otium zu. Deshalb tadelt er jene, die aufgrund ihres iuber ragenden Interesses am Forschen und Lernen die im Stich lassen, die man schutzen mufl2, hglt es fir ein vitium, dafg ,,manche Menschen alizuviel Eifer auf dunkle, schwierige und dabei nicht notwendige Dinge verwen den"13, und charakterisiert ein allein der kontemplativen Ruhe gewidme tes Leben selbst grogartiger Philosophen als ,,Flucht in die Mufe"'14. Und deshalb gleitet er schlieglich auch uiber die systematisch wichtige Frage hinweg, wie im stoischen Konzept die kardinalen Tugenden sich zur Ein heit der Tugend verbinden'5 und wie sich aus stoischer Weisheit das klu ge und gerechte Verhalten im praktischen Alitag ergeben soll.16

1

Das S. und abschliegende Gesprach der Tusculanae disputationes beschaf tigt sich mit dem zentralen und umstrittensten Dogma der stoischen

9 Vgl. dazu W Burkert, Cicero als Platoniker und Skeptiker, in: Gymnasium 72 (1965),

175-200. Dieser Artikel exponiert h?chst eindrucksvoll Ciceros Art der Skepsis bez?g lich der Gegenst?nde der Physik.

10 Vgl. dazu v. a. Tuse. I, 42-47.

11 Von der Verpflichtung zum praktischen Engagement f?r die ?ffentlichen Angelegen heiten ist nur befreit, wer aufgrund pers?nlicher Umst?nde dazu nicht geeignet oder

in der Lage ist; vgl. De off. I, 71 f. 12

Vgl. De off. I, 29: discendi enim studio impedid, quos tueri debent, deserunt.

13 De off. L19. 14 De off. L69. 15

Vgl. De off. 1,15. 16

Vgl. Tuse. V, 72.

Page 5: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

i66 Maximilian Forschner

Ethik, das da besagt, die Tugend sei zum gliickseligen Leben sich selbst genug17. Es handelt sich um ein Dogma, dessen Anerkennung iiber die Zugeh6rigkeit zur Schule entschied und das von Anfang an eine einiger magRen markante Grenze'8 zu den konkurrierenden philosophischen Richtungen zog.

Diese Lehre von der Autarkie der Tugend mug; unter Pramissen eines modernen Ethikverstandnisses (kantianischer oder utilitaristischer Pro venienz) paradox, um nicht zu sagen absurd erscheinen. Den Eindruck des Paradoxen erweckte sie indessen auch in der Antike. Man wu1te ja auch damals um die Launen des Schicksals, um die Gefaihrdung von In stitutionen, um die Gebrechlichkeit und Leidensanfalligkeit des mensch lichen Lebens.

Ciceros Skepsis leiht denn auch der voxpopuli gleich eingangs bereit willig ihre Stimme: ,,Es steht zu fuirchten, daf3 wir uns in der Hoffnung auf ein gliickliches Leben nicht so sehr auf die Zuversicht der Tugend stiitzen diirfen, als vielmehr, wie es scheint, Gebete verrichten mUssen" 19.

Und er formuliert noch im Prooimion ein feierliches Gebet. Dochi des sen Adressat ist nicht eine der grogen und als hilfreich geschatzten Got tergestalten des Volksglaubens, sondern eine elitare, ganz und gar ratio nale menschliche Institution, die Philosophie. Zudem driickt das Gebet keine Bitten aus, sondern dankbar-hymnische Verehrung gegeniiber ei ner Instanz, der die Fuhrung des Lebens, die Auffindung der Tugencl und die Vertreibung der Fehler iiberantwortet ist20.

Cicero hatte in De finibus seinen entscheidenden philosophischen Einwand gegen die stoische Ineinssetzung von Tugend und Gliick geltend gemacht: Der Mensch ist kein freischwebender reiner Geist; das h6chste Gut, worin menschliches Streben seine Vollendung und Erfiullung fin det, liege sich nur dann ausschlieglich aufTugend griinden, wenn er ein

Wesen ware, das ganz aus (seiner selbst machtigem) Geist bestiinde2l. Doch selbst dort, wo seine skeptische Kritik der stoischen Lehre am ein dringlichsten ist und seine eigene Einstellung einer akademisch-peripate

17 Tuse. V, i: virtutem ad beate vivendum se ipsa esse contentam.

18 Vgl. Tuse. V, 32-33.

19 V, 2: vereor ne non tam virtutis fiducia nitendum nobis ad spem beate vivendi quam vota facienda videantur.

20 V, 5: O vitae philosophia dux, o virtutis indagatrix expultrixque vitiorum. 21 De fin. IV, 28: uno autem modo in virtute sola summum bonum recte poneretur, si

quod esset animal, quod totum ex mente constaret, id ipsum tarnen sic, ut ea mens ni

hil haberet in se, quod esset secundum naturam, ut valetudo est. Vgl. De fin. IV, 41.

Page 6: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend I67

tischen Position am nachsten zu stehen scheint, einer Position, die der Weisheit die Betreuung des ganzen Menschen anvertraut22, setzt er rick haltlos auf die Entwicklung der Tugenden und beschwort eine durch sie vermittelte Seelengr6ge, ,,mit der man sich dem Schicksal leicht wider setzen ... k6nnte, weil die wichtigsten Dinge in der Macht des Weisen la gen"23.

Die Tusculanen, nach Definibus geschrieben, enthalten dagegen das entschiedenste Plidoyerfiir die stoische Lehre.

Der Gebetshymnus im Prooimion von Buch 5 bekundet ein augeror dentlich breites Verstandnis von Philosophie. Er spricht ihr die Grin dung von politischer Ordnung ebenso wie die Lehr- und Weisungsfunk tion in den Sitten und Wissenschaften zu. Der alte Titel der Weisheit bezog sich auf ,,die Kenntnis der g6ttlichen und menschlichen Dinge und die Einsicht in die Urspriinge und Ursachen aller Erscheinungen"24. Cicero zitiert diese Formel an dieser Stelle vermutlich, weil die Stoa sie in ihre gelaufige Bestimmung von Philosophie eingefuigt hatte25.

Sein generelles Verstandnis von Philosophie in seinem Spatwerk weif sich der Tradition der Sokratik und der skeptischen Akademie verpflich tet und will die Diskussionen im Stil des Karneades gefiihrt wissen26. Sein eigenes theoretisches Interesse konzentriert sich (in auflddirender Ab sicht) auf Fragestellungen, die direkt die menschliche Praxis betreffen. In diesem Sinn ist ihm Sokrates, sofern er sich von der Betrachtung der Na tur weg- und zur Priifung der menschlichen Angelegenheiten hinwandte, auch in den Tusculanen das grogRe philosophische Vorbild27.

Der Primat der praktischen Philosophie, am eindeutigsten in De offi ciis vertreten, scheint sich fur Cicero aus der Selbstverstandlichkeit des Primats gemeinschaftsbezogener sittlicher Praxis zu ergeben. Ihr sind wir allem voran verpflichtet28. Der Mensch ist kein Einzelganger, sondern im

22 Vgl. De fin. IV, 17.

23 De fin. IV, 17: Atque ab his initiis profecti omnium virtutum et originem et progres sionem persecuti sunt. ex quo magnitudo quoque animi existebat, qua facile posset re

pugnari obsistique fortunae, quod maximae res essent in potestate sapientis. 24 Tuse. V, 7: quae divinarum humanarumque rerum, turn initiorum causarumque cui

usque rei cognitione hoc pulcherrimum nomen

apud antiquos adsequebatur. 25

Vgl. Aetii Placita I. Prooem.2 = SVF II, 35: Ol fx?v ovv 2to)?xoi tt)v u?v ao(p?av eivai 8el?)v ie xai ?v0Qam?vcov em?tfiurrv, tt]v ?? qpilooocp?av aaxri?iv ?jtiiTi ?eioi) T?xvn?. Vgl. Sextus adv. math. IX, 13

= SVF II, 36; Seneca, Ep.VIII, 6. 26

Vgl.Tusc.V,nu.83ff. 27 Tuse. V,io; vgl. Acad. 1,15. 28 De off. 1,153: Placet igitur aptiora

esse naturae ea officia, quae ex communitate, quam

ea, quae ex cognitione ducantur.

Page 7: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

i68 Maximilian Forschner

Kern ein soziales Wesen, in seinem Uberleben ebenso wie in seinem Wohlleben auf den Respekt, die Hilfe, die Anerkennung und Zuneigung der Anderen verwiesen. Deshalb scheint fur ihn der von Aristoteles fur wenige Ausgezeichnete gepriesene Lebensweg philosophischer Theoria keinerlei Plausibilitat zu besitzen29: ,,Wenn einem Weisen ein solches Le ben zuteil wiirde, dag er im Oberflug an allen Dingen alles, was der Er kenntnis wiirdig ist, in ungestorter Ruhe selbst bei sich bedenken und be trachten k6nnte, so wiirde er doch, wenn er so einsam ware, dag er keinen Menschen sehen konnte, aus dem Leben scheiden"30. Die conso ciatio hominum atque communitas31 zu leben, aufrecht zu erhalten uind zu f6rdern ist ihm prima facie oberstes Lebensziel. Fur das Zukommnende und Treffliche im Gemeinschaftsleben halt nach seiner Uberzeugung die menschliche Natur in einer unpervertierten Gesellschaft denn auch In tuitionen bereit, die dem Tiichtigen (vir bonus) auch ohne philosophi sche Unterweisung und Reflexion (sine ulla doctrina) einigerma$en siche re Orientierung geben k6nnen32. Und eine Philosophie, diie das praktische Tugendpotential fur die menschliche Gemeinschaft nicht stiitzt, enthielte nur beziehungslose und unfruchtbare Erkenntnis33. Das

Urteil und Verhalten gerade der Besten macht schlieglich deutlich, dafg im Konfliktfall das Interesse theoretischer Erkenntnis dem Anspruch praktischer Hilfe nachzuordnen ist: ,,Wer ware denn so begierig nach dem vollstandigen Verstandnis der Natur der Dinge, da8 er, wenn ihm bei der Behandlung und Betrachtung der erforschenswertesten Erschei nungen plotzlich eine gefahrliche Bedrohung des Vaterlandes gerneldet wurde, bei der er helfend eingreifen kdnnte, nicht alles das im Stichi lieg3e und aufgibe, auch wenn er glaubte, er konne die Sterne zihlen ocder die Grof6e der Welt vermessen? Dasselbe wiirde er auch bei einer Gefahrdung seines Vaters oder Freundes tun"34.

Fur solche Konfliktlagen gilt zweifelsfrei, dag; die Verpflichtungen der

29 Es sei denn, man ist aufgrund seiner besonderen Natur fur das Leben politischer Pra

xis ungeeignet und fur die agitatio mentis besonders geeignet. Vgl. De off. 1,107 f. 30 De off. 1,153. 3i De off. 1,157. 32 De fin. Ill, 11: quos bonos viros, fortes, iustos, moderatos aut audivimus in re

publica fuisse aut ipsi vidimus, qui sine ulla doctrina naturam ipsam secuti multa laudabilia

fecerunt... 33 De off. 1,157: Itaque, nisi ea virtus, quae constat ex hominibus tuendis, id est ex so

cietate generis humani, attingat cognitionem rerum, solivaga cognitio et ieuna videa

tur.

34 De off. 1,154.

Page 8: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend I69

Solidaritat und Gerechtigkeit die Interessen und Aufgaben spekulativer Wissenschaft uiberwiegen35.

Doch trotz dieses scheinbar eindeutigen Pladoyers fur den Primat der politischen und sozialen Praxis bleibt fur Cicero (selbst in De officiis) un bestritten36, dag3 zwischen Weisheit und Klugheit zu unterscheiden ist und dal3 die Weisheit (sapientia, ooa) unter allen Tugenden den ober sten Rang und die Fiihrungsrolle (princeps) bekleidet. Und in der Begrun dung warum dies so ist, scheint er bis in die Formulierung hinein stoischem Verstdndnis von Tugend zu folgen: Als Wissen um die g6ttlichen und menschlichen Dinge enthalt Weisheit das Wissen um die Gemeinschaft von Gottern und Menschen und der Menschen untereinander in sich und gibt erst der Klugheit (prudentia, pQOv'loL;) als dem Wissen dar um, was es in der Welt der Dinge und Ereignisse praktisch zu erstreben und zu fliehen gilt, ihren letzten Halt und ihr orientierendes Maf937. Dag

Weisheit im Sinne blofger Erkenntnis und Betrachtung der g6ttlichen und menschlichen Dinge ohne (praktisch werdende) Klugheit, die sich tatig um das Wohl (die utilitas, die commoda) der Gemeinschaft sorgt, noch einen Mangel aufweist bzw. anfangerhaft und unentfaltet ist38, bleibt davon unberuihrt.

Gravierende Interpretationsprobleme39 ergeben sich bei Cicero vor al lem aus dem Umstand, dag er teils von sapientia im umfassenden Sinn der einen (sokratisch-platonisch-stoischen) Tugend, teils von sapientia als (fundierender bzw. ftihrender) ,,Teiltugend" neben prudentia und ande ren Tugenden zu sprechen scheint, teils scientia (im Sinne theoretischer comprehensio rerum) von sapientia (im Sinne der ars vivendi) zu unter scheiden geneigt ist40, ohne die Gesamtstruktur der Tugend prazise zu

35 Vgl. De off. 1,155.

36 Vgl. De off. 1,153.

37 De off. 1,153: princepsque omnium virtutum ilia sapientia, quam OOCplOtv Graeci vo

cant, prudentiam enim, quam Graeci (pQOVTj?lV dicunt, aliam quandam inteiligimus,

quae est rerum expetendarum fugiendarumque scientia; ilia autem sapientia, quam

principem dixi, rerum est divinarum et humanarum scientia, in qua continetur

deorum et hominum communitas et societas inter ipsos. Zur Argumentation des Pas

sus im einzelnen vgl. A. R. Dyck, A Commentary on Cicero, De Officiis, Ann Arbor

(Michigan) 1996, 340 ff. 38 De off. 1,153: Etenim cognitio contemplatioque

naturae manca quodam modo atque

inchoata sit, si nulla actio rerum consequatur. 39 Wie sie etwa bei Dyck zur Stelle namhaft gemacht werden und auch, aufgrund seiner

Orientierung am Aristoteles der NE, keine L?sung finden k?nnen.

40 Vgl. Academici libri. Lucullus 23.

Page 9: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

170 Maximilian Forschner

bestimmen und ohne zu klaren, wie die ganz in Begriffen des Wissens ge faften Tugenden der sapientia und prudentia praktisch werden, und wie in der prudentia ,,der Nutzen der Burger enthalten ist"41. Dabei scheint es mir (im Blick auf die Intelligenz Ciceros) zweifelhaft, ob ihm der Man gel an terminologischer Prazision und Konstanz in seinen Texten schlicht unterlaufen ist oder ob er nicht vielmehr seiner Absicht entspricht.

2

Die Radikalitat und Tragweite der Frage nach der Autarkie der Tugend Muf3t es Cicero in den Tusculanen geboten erscheinen, an ein Philosophie verstandnis und an einen Begriff der Weisheit zu erinnern, die ,,eines Py thagoras, Sokrates und Platon wiirdig" sind42. Mag der Schulgrunder Ze non, so Cicero, auch ein Zugereister und ein einfacher Worthandwerker (advena quidam et ignobilis verborum opifex) gewesen sein, der sich al lem Anschein nach in die alte Philosophie eingeschlichen hat (insinuasse se in antiquam philosophiam videtur), das Gewicht und die Wurde sei ner These, dal der Weise immer gliicklich sei, ist von der Autoritat Pla tons gedeckt43. Cicero will offensichtlich die Eigenart der stoischen Phi losophie der Herkunft und dem Inhalt nach an eine Tradition und an

Namen gekniipft wissen, mit denen er die Vorstellung heroischer, jedem kleinlichen Zweifel und jeder despektierlichen Kritik enthobener philo sophischer GroBe verbindet. Ob er mit seiner Genealogie der Sache nach richtig liegt, lal3t sich definitiv kaum noch entscheiden. Doch Gesichts punkte bieten sich an, die dafuir sprechen, daB3 sein Bild nicht vollig will kiirlich und falsch sein mu&.

Unverkennbar ist die Sympathie, mit der er die Botschaft eines Gleichnisses begleitet, das Pythagoras gepragt und gebraucht haben soll. Dieser verglich das Leben der Menschen mit dem Geschehen bei den

41 Tuse. V, 72. 42 Tuse. V, 30. Cicero steht hier wohl unter dem Einflu? des Antiochos von Askalon; vgl.

dazu W. G?rler, Antiochos von Askalon ?ber die ?Alten" und ?ber die Stoa. Beobach

tungen zu Cicero, Academici posteriores I, 24-43, in: P- Steinmetz (Hg.), Beitr?ge zur

hellenistischen Literatur und ihrer Rezeption in Rom, Stuttgart 1990,123-139. 43 Tuse. V, 34. In der Antike waren zahlreiche meist anekdotische Berichte ?ber die intel

lektuellen Urspr?nge der Stoa im Verkehr. Es deutet alles daraufhin, da? Zenon aus

serordentlich lernbegierig war und den Kontakt zu den gro?en philosophischen Figu

ren Athens gesucht hat. Vgl. D. E. Hahm, The Origins of Stoic Cosmology, Columbus (Ohio) 1977, Appendix I, 219 ff.

Page 10: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria und stoische Tugend I71

Spielen in Olympia. Die einen kampfen da mit trainierten Korpern um Ruhm und Ehre; die anderen bemiihen sich um Gewinn und Profit; eine ganz kleine Gruppe schliegilich, die vornehmste, komme nur um des Schauens willen. Genau dies gilt auch im Leben: ,,Es gebe einige seltene, die alles andere fur nichts erachteten und nur die Natur der Dinge auf merksam betrachteten. Diese nennten sich Liebhaber der Weisheit, eben Philosophen. Und wie jenes das vornehmste sei, zu schauen ohne fur sich etwas zu erstreben, so rage auch im Leben die Betrachtung und Erkennt nis der Dinge weit uiber alle anderen Beschaftigungen hinaus"44.

Wohl um von vornherein dem Einwand zu begegnen, eine politische Gemeinschaft k6nne vom blogRen Schauen der Besten nicht leben, folgt ein Nachsatz, der gerade fur das r6mische Publikum iiberzeugend wirken soll: Pythagoras, als er nach Italien gekommen war, ,,hat jenes Griechen land, das das Grogle heigAt, privat und 6ffentlich mit den vortrefflichsten

Einrichtungen und Fachkunden ausgeschmuickt"45. Pythagoras bzw. die Pythagoreer lebten nicht nur der Theorie, sie waren auch politisch aktiv. Der Weise entfaltet auch Klugheit, leistet fur den Bestand und das Wohl der politischen Gemeinschaft wesentliche Dienste; seine Theoria ist fur sie jedenfalls nicht folgenlos.

Die unmittelbar praktischen Folgen der Theoria scheinen im stoischen Konzept allerdings nicht (mehr) direkt den politischen, sondern den per s6nlichen Bereich zu betreffen. Die Tugend, so der bekannte Anspruch der stoischen Lehre, schenkt in pers6nlicher Hinsicht Ruhe des Lebens und befreit vom Schrecken des Todes46. Sie disponiert ihren Besitzer dazu, das, was die gemeine Menge zu den Gutern und Ubeln rechnet, fur nichts anzusehen: Kraft, Gesundheit, Sch6nheit, Reichtum, Ehre, Macht auf der einen, Armut, Niedrigkeit, Demiitigung, Einsamkeit, Verlust der Seinigen, schwere k6rperliche Schmerzen, verlorene Gesundheit, Invali ditat, Blindheit, Untergang des Vaterlandes, Verbannung, Knechtschaft auf der anderen Seite47. In der (emotiven, nicht praktischen) Gering schatzung dieser Dinge l6st sich der Mensch von den verwirrten Bewe gungen und aufgehetzten Sprungen der Seele, von den Affekten, deren Unseligkeit gerade darauf beruht, im Urteilen und Verlangen etwas fur uneingeschrankt gut oder schlecht zu halten, was es nicht ist48. Undzu dieser Distanz und Geringschdtzung - dies ist das entscheidende Argument

44 Tuse. V, 9 45 Tuse. V, IO.

46 Tuse. V, 6.

47 Tuse. V, 29 u. 30.

Page 11: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

I72 Maximilian Forschner

(,das sowohlitr den Stoiker als als auch/lr den Akademike'r trdgt) - verhi/fi einzig und allein die den menschlichen Geist erhebende Betrachtung des Gottlichen (in der Natur): erigimus, altioresfieri videmus, humana despici mus, cogitantesque supera atque caelestia haec nostra ut exigua et minima contemnimus49.

Die stoische Lehre vom Wesen (und der Uberwindung) des Schmer zes und der Affekte in den Buchern 2 bis 4 der Tusculanen hat den sie tra genden Rahmen in den Biichern i und 5, in denen der Gedanke des Eins seins mit dem Gottlichen in der Theoria eine zentrale Rolle spielt.

3

Moderne Interpretationen des stoischen Tugendverstandnisses, insbeson dere, wenn sie den Zugang iiber die Oikeiosislehre suchen, neigen dazu, den Theoria-Aspekt und die theologische Dimension der stoischen &acT-nT herabzustufen bzw. auszuklammern50; wohl einfach deshall), weil man im Rahmen des Versuchs einer Reaktualisierung antiker Ethiken mit dieser Dimension nichts rechtes mehr anzufangen weil. Sie be2iehen ihre Rechtfertigung aus einem seit der Europaischen Aufldlrung tief ver

wurzelten Dogma, das da besagt, bereits der Hellenismus habe den (fur die Neuzeit so selbstverstandlich und lieb gewordenen) Primat des prak tischen Lebens und der praktischen Philosophie vertreten. In die Rolle des entscheidenden Gewafhrsmanns fir diese Uberzeugung sieht sich Ci cero gedrangt. Denn, so der leitende, wenn auch meist unausgesproche ne Gedanke: er biete in De finibus III eine Darstellung der stoischen Ethik, die ganz ohne Bezug zur Physik und Theologie auskomme5l und

4s Vgl. Tuse. V, 15 f., 43.

49 Acad. libr. Lucullus 127; vgl. Seneca, De brevitate vitae XIX; Ep. moral. 41,1; 65.16. 50

Vgl. etwa B. Inwood, Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985. In

wood konzentriert sich in seinem Buch ganz auf die Analyse der praktischen Seite des

stoischen Konzepts von Vernunft und vern?nftigem Streben, nachdem er einleitend

und ohne weitere Diskussion wichtige Belegstellen f?r die stoische Verh?ltnisbestim

mung von Theorie und Praxis (DL VII, 130; Cicero Nat. deor. II, 37; De fin. Ill, 73; II,

34; Plutarch, Stoic, rep. 1033 C-D; Epiktet, Diatr. III. 3. 2-4) so gedeutet hat, da? sie*fur

ein funktionales Verst?ndnis von Theoria sprechen: ?the most important reason for

contemplating the world was to facilitate the living of life according to nature", 3. 51 Ein Beispiel: ?The Stoics did indeed regard theology

as the foundation of ethics, since

the end for man could be defined as living virtuously and as

living in conformity with

nature, in which the divine reason was everywhere immanent. However, Cicero could

Page 12: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend I73

den Weg zur Bestimmung des h6chsten Gutes ausschlieglich iiber die psychologisch-anthropologische Klirung und verniinftige Interpretation der Ziele und Ordnung der Ziele der natuirlichen, unpervertierten menschlichen Neigungen beschreite.

Angesichts des Umstands, dag aus kontingenten Uberlieferungsgriin den dieses Buch fur uns Heutige die wohl authentischste Darstellung der stoischen Ethik enthalt, hat dieser Gedanke, wenn er denn wahr ware, besonderes Gewicht. Er ist gleichwohl falsch. Cicero macht am Ende von Definibus III52 mit aller nur wiinschenswerten Deutlichkeit klar, welch fundamentale Rolle die Physik bzw. Theologie fur das stoische Verstand nis von Tugend spielt, fur ein Verstandnis von Tugend, das uns in wesent lichen Teilen einigermagen fremd erscheinen mag (und kaum mehr reak tualisierbar sein diirfte). Verdankt sich doch das Gutsein des Weisen und die Gestalt und Kraft seiner virtus entscheidend seinem (theoretischen) Bezug und seiner (theoretischen) Nahe zum G6ttlichen. Sein Tun, dem das Pradikat des honestum zukommt, entspringt einer Disposition und hat Aktivitaten zum zentralen Bestand, die wir nicht oder jedenfalls nicht essentiell mit unserem heute gangigen (moralischen) Verstandnis von Tu gend und tugendhaftem Handeln verbinden wiirden. Die Stoiker, so

Marcus Cato bzw. Cicero, bezeichnen Dialektik und Physik als Tugen den, und zwar ,,die eine deshalb, weil sie daftir sorge, dafB wir niemals et was Falschem zustimmen, und uns niemals von einer verfanglichen Plau sibilitat tauschen lassen und das dauerhaft festhalten k6nnen, was wir iiber Gutes und Ubles gelernt haben ... Doch auch der Physik ist mit gut em Grund diese Ehre zuteil geworden, deshalb, weil, wer im Einklang

mit der Natur leben will, seinen Ausgang von der ganzen Welt und von ihrer Verwaltung nehmen muB. Niemand kann in der Tat iiber Gutes

expound Stoic ethics in De Finibus HI without the least allusion to the Stoic doctrines on

physics of which theology was apart (Hervorhebung M. F.), though in his Stoicising

ac

count of the divine natural law in De Legibus he too had asserted that nature was the

basis of justice and all the social virtues, as well as of the pious worship of the gods, which he calls pure religion (I. 43. 60)." P. A. Brunt, Philosophy and Religion in the

Late Republic, in: PhilosophiaTogata I. Essays on Philosophy and Roman Society. Ed.

by M. Griffin and J. Barnes, Oxford 1989,174 -198,182. 52 Die Frage ist nat?rlich, ob neben dem explizit gegen Brunts Bemerkung sprechenden

Schlu?passus De fin III, 72 f. nicht auch der zentrale Abschnitt De fin. Ill, 21 implizit

gegen sie spricht oder ob die hier thematisierte ?^xoXoYia prim?r praktisch zu verste

hen ist. Vermutlich impliziert bereits der Schl?sselbegriff der O^oXoyta von III, 21

auch und gerade den ?ber Theoria realisierten ?Gleichklang" mit der g?ttlichen Welt

ordnung.

Page 13: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

I74 Maximilian Forschner

und Schlechtes richtig urteilen, ohne die gesamte gesetzmai3ige Ordnung der Natur und des Lebens auch der G6tter erkannt zu haben, und so zu wissen, ob die Natur des Menschen mit der Allnatur zusammenstimmt oder nicht. Und was es alles an alten Direktiven der Weisen gibt, die da gebieten: derZeitgehorchen und dem Gottfolgen und sich selbst erkennen und nichts im UbermaJs', - so kann niemand ohne Physik verstehen, wel che Bedeutung sie haben - und sie haben die allergr6ote."53.

Nun mag dieser Passus ein eher funktionales Verstandnis von Physik bzw. Theologie im Dienst der Ethik nahelegen54; und es besteht ja kein Zweifel, daf3 die Hellenistischen Schulen in ihrer Anordnung der Diszi plinen gelegentlich die Ethik zum Ziel ihres Curriculums erhoben haben, auf das der gesamte Rest der philosophischen Unterweisung verwies55. Dag3 freilich auch in stoischer Sicht Theoria eine selbstwerthafte Tatig keit ist, ja im Zentrum dessen steht, wozu Tugend befahigt und geneigt macht, ein Tun, das seinerseits (im Sinne eines sebstverstandlichen Be gleitphanomens) das moralisch-praktische Gutsein des Weisen in den Umstanden des Lebens zur Folge hat, konnte ein genauerer Blick; in das V. Buch der Tusculanen belegen, von dem Cicero im Katalog seiner Schriften De divinatione II,1 sagt, es beleuchte die ganze Philosophie am meisten56.

53 De fin. Ill, 72 f.; vgl. Plutarch, Stoic, rep. 1035.B-D: Nach Plutarchs Zeugnis hat

Chrysipp jeden Traktat ?ber Ethik mit einem Vorwort ?ber Zeus, ?ber Schicksal und Providenz begonnen. Er pflegte

zu sagen, da? es keinen anderen oder geeigneteren

Weg zur Theorie des Guten und Schlechten oder der Tugend oder des Gl?cks gebe als

im Ausgang von der Universalnatur und der g?ttlichen Weltverwaltung.

54 Dies ist etwa B. Inwoods Verst?ndnis der Rolle von Physik und Dialektik im Rahmen

der stoischen Philosophie, a. a. O. 3.

55 Vgl. M. Schofield, Cicero for and against divination, in: The Journal of Roman Stu

dies, vol. LXXVI (1986), 47-65, 48. Da? eine derart funktionale Bestimmung der Rol

le der Physik zugunsten der Ethik f?r die Stoa, ja selbst f?r die sp?te Stoa der r?mi schen Kaiserzeit nicht zutreffen kann, mag bereits ein kurzer Blick in S?necas

Naturales Quaestiones vermuten lassen. Denn hier wird gelegentlich recht eindeutig virtus ihrerseits funktional auf die Theoria bezogen: virtus enim ... animum laxat et

praeparat ad cognitionem caelestium, Lib. I pr. 6. Die Naturales Quaestiones befassen

sich exklusiv mit der (kosmologischen) Erkenntnis der Gottheit, deren Wesen sich als

vollendetes Vernunft-Sein erweist und somit als Paradigma f?r die Heranbildung ei

ner ebenso perfekten Seele des Menschen fungiert; vgl. G. Stahl, Die Naturales Quae stiones S?necas. Ein Beitrag

zum Spiritualisierungsproze? der r?mischen Stoa, in: G.

Maurach (Hrsg.), Seneca als Philosoph, Darmstadt 1975, 264-304, 274. 56 totam

philosophiam maxime illustr?t; vgl. Schofield, ebd. 47.

Page 14: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend I75

4

Der Griinder Zenon steht im Buch V der Tusculanen (neben seinem un orthodoxen Schiiler Ariston von Chios) fur die stoische Schule. Er habe sich, so die wenig schmeichelhafte Charakterisierung der Genesis seiner Lehre, in die alte Philosophie eingeschlichen57. Tatsachlich erhob er selbst wohl nie den Anspruch auf besondere Originalitit58; die weitge hend anekdotischen Nachrichten uiber seine geistige Herkunft weisen in die Richtung immenser Lernbegierde und des Bemuihens, die Alten zu befragen und Gedanken aus verschiedenen philosophischen Str6mungen zu einer neuen Synthese zu bringen59. Als gesichert kbnnen die Einfliisse der Sokratik, der Kyniker, Megariker und Akademiker gelten; nicht un wahrscheinlich sind Anleihen bei Heraklit. Antiochos von Askalon hat spater ein starkes Interesse daran, eine enge Beziehung zwischen Zenon und Polemon zu behaupten, um in der Stoa (bis hin zu ihm selbst) die genuine Erbin Platonischer Lehren zu sehen6O. Dies wirkt zweifellos im Zenon-Bild Ciceros nach. Pythagoreische Einfluisse sind unverkennbar6l. M6glicherweise hat Zenon auch bei einem Pythagoreer (Xenophilos von Chalkidike) gehort; ein Buch Zenons iiber den Pythagoreismus ist jeden falls bezeugt62. Ein Hinweis bei Stobaios belegt ferner, dag er uber Krates den Protreptikos des Aristoteles gekannt haben diirfte63.

Ober Zenons Verstandnis von Theoria konnte am besten seine ausge arbeitete Naturphilosophie Auskunft geben. Seine Schrift H4et ro'L 6kov64 enthielt eine Darstellung der Entstehung und des Vergehens des Kosmos65, die Erklarung besonderer Naturphinomene66 und vielleicht

57 Tuse V, 34; vgl. dazu auch De fin. 3, 5: Zenon nicht so sehr ein Erfinder neuer Gedan

ken als vielmehr neuer W?rter; vgl. Acad. 2,14; De fin. IV, 56; DL VII, 25. 5S

Vgl. DL VII, 2; VII, 25; SVF 1, 235. 59

Vgl. dazu v. a. D. E. Hahm, The Origins of Stoic Cosmology, Ohio 1977, Appendix I:

Influences on Stoicism According to the Biographical Tradition.

60 Vgl. Hahm, a. a. O. 221; Cicero, Acad. I, 35; vgl. W. G?rler, Antiochos aus Askalon

und seine Schule, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. v. E Ueberweg,

v?llig neubearbeitete Auflage, Die Philosophie der Antike Bd. 4 Die Hellenistische

Philosophie, hg. v. H. Flashar, 5. Kap. ? 52, 938

- 967, v. a. 949, 955.

61 Vgl.

zum Einflu? zeitgen?ssicher Musiktheorie auf die stoische Philosophie A. A.

Long, The harmonics of Stoic virtue, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy, Sup

pi. vol. (1991), 97-116. 62 SVF 1,41

= DL VII, 4; vgl. Hahm 225 f.

63 SVF 1, 273; vgl. Hahm 226.

64 SVF 1, 41. 65 SVF 1,102. 66 SVF 1,117 u. 119.

Page 15: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

I76 Maximilian Forschner

auch die Prinzipienlehre, fur die nach unsicherer Uberlieferung noch zwei separate Schriften HI4Lt ovlJ567 und H Q4 cp15yow68 namhaft gemacht werden. Ob Zenon nur die Grundlagen des kosmologischen Sy stems der Stoa skizzierte und die Nachfolger die Ausfiihrung geliefert ha ben, lalft sich nicht mehr mit Bestimmtheit entscheiden. Kleanthes je denfalls hat ein kommentierendes oder explizierendes Werk Ober die Naturphilosophie Zenons69 verfagAt. In den Titeln von Chrysipps zahlrei chen Schriften zur Naturphilosophie taucht Zenons Name nicht mehr auf.

Von Zenon sind uns zwei Telos-Formeln uiberliefert. Die urspriingli che soll, so eine in der Forschung dominante These, das o6Vokoyougv

W5 t;V70 gewesen sein, weil sie in ihrer (ausschlieglichen) Betonung see lischer Konsistenz und Harmonie7l ,,dem Ursprung der stoischen Philosophie aus der sokratischen entspricht"72. Nun kam in Zenons Schrift ll' &vOQW wtou qx'kEnw; offensichtlich auch die zweite Telosfor mel oF.toXoyoievcvw; Tn1 (W~u L 4V73 vor. Und wenn man in RechLnung stellt, dag3 Zenon Xenophons Memorabilien gekannt hat74, dort (inm Un terschied zum Friihwerk Platons) auch dem Naturphilosophen und -te leologen Sokrates begegnete und von seinem grogRen Vorbild den Gedan ken iibernehmen konnte, daf unser Leib aus den kosmischen Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer gebildet und aihnlich unser Geist (Oofi9) von der kosmischen Vernunft hergekommen sei75, wenn man ferner in

67 SVF i, 85. 6s SVF i, 176. 69 SVF 1,481 = DL VII, 174: ?8Q? xfj? [xov] Ztivcdvo? yvoio'koy?ac; ?vo. 70 SVF 1,179; Stob. Eel. II, 75,11 Wa. 71 Stob. a. a. O.: Torno ?' eon xa6' eva Xoyov xai ovuxparvov ?rjv, cb? x v uxx

XOfx?vco? ?covrcov xaxo?ai|jiovoi)VTa)v. 72 K. v. Fritz, Zenon von Kition, RE (Pauly), 2. R. 10 A, M?nchen 1972, 83-121,113. 73 SVF 1,179; DL VII, 1.87. 74

Vgl. DL VII, 2-3; 31-32. 75

Xenophon, Mem. I, 4. 8-9: Sokrates gegen?ber Aristodemos: ?Anderswo aber, glaubst

du, gibt es nichts Vernunftf?higes (oii??v (pQ?Vluov), obgleich dir doch bekannt ist, da? du in deinem K?rper

von dem Erdigen, das in gro?er Menge vorhanden ist, nur

einen geringen Teil besitzst, und ebenso von dem Feuchten, das man vielfach antrifft,

wie ja ?berhaupt dein K?rper aus kleinen Anteilen auch der ?brigen in gro?er Menge vorhandenen Substanzen aufgebaut ist? Einzig des Verstandes (vot3v) hingegen,

meinst du, da es ihn sonst nicht gibt, durch einen g?nstigen Zufall habhaft geworden zu sein; und dieses ?bergro?e und der Menge nach Unbegrenzte da verh?lt sich dei

ner Auffassung nach durch irgendwelche Unvernunft wohlgeordnet (?l' ?(pQOO*lJVT|V

Tiv? ...e?laxTCO? exeiv)?". Der Passus spielte f?r die Naturphilosophie bzw. Theolo

Page 16: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend I77

Rechnung stellt, dag3 Zenon mit fast allen spateren Stoikern den Ather fur g6ttlich, geistbegabt und alles lenkend halt76, dann ist nicht mehr so recht einzusehen, warum die eine Telosformel mehr Urspriingliches an sich haben bzw. sokratischer sein soll als die andere. Der Zusammenhang von Naturphilosophie und Ethik im Sinne der Weisung, die Vollendung des Lebens im Einklang der menschlichen mit der kosmischen Vernunft zu suchen, steht mit einiger Sicherheit am Anfang der stoischen Philoso phie.

Zenons These, nur das sittlich Gute sei gut77, wird nach Cicero von der Autoritat Platons gestiitzt78. Er beruft sich zum Beleg auf die Dialoge Gorgias 470 d - 47i a und Menexenos 247 e - 248 a 79. Beide Textstellen gelten im Hellenismus als loci classici platonischer Ethik8O. Sie diirften wohl bereits Zenon bekannt gewesen sein, der sich wie kaum ein anderer Philosoph seiner Zeit auf die Vorganger und Alten zuriickbezieht8l. Nun kommen beide Dialoge in der Tat gedanklich der stoischen Telos-Lehre ausserordentlich nahe und fiigen sich zudem in die Terminologie des eben angesprochenen Xenophon-Passus. Gewig, wir finden in den Pla ton-Texten noch nicht die explizite These von der vollkommenen Gleich giiltigkeit der Natur- und Schicksalsgiiter fur das Gliick des Menschen; und der AbschlugRmythos des Gorgias deutet eher darauf hin, da3 Platon bzw. Sokrates noch dem Gedanken eines gewissen Abstands von Tugend und Gliick bzw. Untugend und Ungliick in diesem Leben nachhingen. Gleichwohl ist gerade in der Archelaos-Szene des Gorgias der entschei dende Gedanke formuliert, dal3 in der Bildung (Mtuat&ic) und Gerech tigkeit (6LxaLooGvq) das ganze Gliick des Menschen liege (ev TOY(lT I'

gie der Stoa eine wichtige Rolle, vgl. Cicero, De nat. deor. II. 15-19, Sextus Emp. Adv.

Math. IX, 92-101; M. Dragona-Monachou, The Stoic arguments for the existence and

providence of the gods, Athens 1976, 50; P. Boyanc?, Hermes. Zeitschrift f?r klassi

sche Philologie 90 (1962), 46-71. 76

Vgl. Cicero, Akad. libr. Lucullus 126: Zenoni et reliquis fere Stoicis aether videtur

summus deus, mente praeditus qua omnia regantur, Cleanthes ... solem dominari et

rerum potiri putat. 77 Tuse. V, 33:... quod Zenoni placuerit quodque eius auditori Aristoni, bonum esse so

lum quod honestum esset...

78 Ebd. V, 34. 79 Ebd. V, 34-36. 80 Sie sind auch bei Stob. Ecl. 4. 40, 25 bzw. 4, 39, 24 exzerpiert; vgl. M. T. Cicero, Ge

spr?che in Tusculum, lat.-deutsch., Anm. O. Gigon, Artemis u. Winkler, M?nchen u.

Z?rich 6i992, 562 f..

si SVF 1,1 = DL VII, 2; vgl VII, 25 f.

Page 17: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

I78 Maximilian Forschner

itcia cc aLROVELovicL otiTLv)82; Cicero spricht in seiner Ubersetzung vom doctus und vir bonus83.

Die alles entscheidende Frage ist natiirlich, was hier unter rnaELa zu verstehen und wie ihr Zusammenhang mit &XaLO6'Jqv zu denken ist. Platon ging ihr bekanntlich in der Politeia nach. Von Zenons Politeia wissen wir, dag sie die uibliche Bildung (EYXiVXXlO; 3QEL&a) fur un brauchbar erklirte84 und ganz auf die philosophische Weisheit und Tugend setzte85. Nichts deutet indessen darauf hin, dag3 Zenon I'latons Bildungsprogramm der Politeia (und sein Konzept der Philosophenherr schaft) einfach ubernommen hat; die Uberlieferung schreibt Zenons Po liteia vielmehr Korrekturen des Platonischen Werkes zU86. Doch ]latons

Gorgias enthalt am Ende der Kallikles-Runde Hinweise, die fur Zenon und die friihe Stoa ein Programm enhalten haben diirften. Dort findet sich der Gedanke, daf die Exzellenz und das Gutsein jedes Seienden sich einer ihm immanenten und eigenen Ordnung (Tr,t;) bzw. Schonheit (x6cGto5) verdanke, dag3 dies auch fur die Seele gelte, deren Ordnung und Schonheit in der Besonnenheit (o(op9oanvv) bestehe, die sich praktisch darin bekunde, gegeniiber Gottern und Menschen das ihnen Zukommende zu tun. .w(QoaoivTj stiftet Gemeinschaft (xoLVWVLta) und Freundschaft (pLXLt), die ihrerseits, wie Sokrates unter Berufung auf die Ansicht ,,der Weisen" (mbglicherweise Pythagoreer) betont, das Prinzip darstellen, das Himmel und Erde und G6tter und Mensclhen zu sammenhalt und in einer harmonischen Ordnung verbindet87.

Zwar enthalt diese Stelle keinen Hinweis aufTheoria, aber sie stellt das Gutsein der Seele des Menschen in eine kosmische Dimension88. In Verbin

82 Gorgias 470 e.

83 V, 35. 84 SVF i, 259

= DL VII, 32. 85

Vgl. SVF 1, 263; 266. 86

Vgl. SVF 1, 260.

87 Gorgias 507e

- 508 a.

88 Der ?ber Theoria vermittelte Bildungsgehalt der Lehre vom Sein wird dann in der

dem Gorgias wohl sehr nahestehenden Politeia herausgearbeitet. Wenn wir unterstel

len k?nnen, da? Zenon auch Platons Timaios gekannt (und verarbeitet) hat, eine Hy

pothese, deren Plausibilit?t durch eine (demn?chst erscheinende) Arbeit von David

Sedley zu den Urspr?ngen der stoischen Prinzipienlehre und Theologie gest?rkt wird,

dann l??t sich die Genesis der Rolle der Astronomie im Rahmen des altstoischen Tu

gendkonzepts wohl mit gr??erer Bestimmtheit nachzeichnen, weil das Bild, das An

tiochos von Askalon ?ber die N?he Zenons zu Polemon und zur Alteren Akademie

vermittelt, historisch glaubw?rdiger wird.

Page 18: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend I79

dung mit der oben herangezogenen Stelle aus Definibus (III, 72 f.) uber die Rolle der Tugend der Physik, die zur Erkenntnis dergesetzmdafigen und harmonischen Ordnung der Natur und des Lebens auch der Gotter befdhigl, bietet sie einen Anhaltspunkt fur plausible Vermutungen, wie die friihe Stoa an Platon angeknupft hat. Der Passus aus Xenophons Memorabilien, der fur Zenons philosophische Biographie von Bedeutung gewesen sein diirfte, fuigt sich auch terminologisch in diesen Zusammenhang: Der ge samte Kosmos verhalt sich doch wohl nicht ,,aufgrund irgendwelcher

Unvernunft wohlgeordnet" ([ov] bL' a'QoOUVVV TLVa ... FA1TaXTWg EXELV).

5

Cicero entwickelt Tusc. V, I2 bis V, 82, was er fir die starkste und mutig ste Lehre vom glucklichen Leben hilt89, die Lehre der Stoiker. Den Kern der Doktrin entfalten die Abschnitte V, 66 bis 72. Er lai3t sich in die For mel fassen, dag sie, was gut zu nennen ist, ganz in den Geist verlegen9O. Die als sokratisch ausgegebene Botschaft klingt einfach: Der Mensch ist so beschaffen wie sein Geist9l; der menschliche Geist ist ontologisch ge sehen Abkommling bzw. Frucht des g6ttlichen Geistes und kann mit nichts anderem als ihm verglichen werden92. ,,Tugend" meint Geist in Perfektion, vollkommene Vernunft93, verkorpert vom Weisen, der in er habener Freiheit und v6lliger Selbstgewigheit seiner Autarkie alles, was ihm zustogen oder verlorengehen kann, fur gering erachtet94 und in af fektloser Ruhe und Gelassenheit sein Leben lebt.

Die Frage ist, was die stoische mensperfecta bzw. ratio absoluta zum In halt hat und welche Struktur ihr eignet. Cicero beantwortet sie zuniichst, indem er den (stoischen) Tugendbegriff anhand von Beispielen einfiihrt. Platon und Archytas von Tarent gelten, ihm als homines docti etplane sapi entes (V, 64)95. Dem breit ausgemalten Gegenbild des unseligen Tyran

89 V, 82: Habes quae fortissime de beata vita dici putem. 90 V, 119: in animo reponunt omnia

91 V, 47: qualis cuiusque animi adfectus esset, talem esse hominem.

92 V, 38: humanus autem animus decerptus ex mente divina cum alio nullo nisi cum ipso

deo, si hoc fas est dictu, comparari potest. 93 V, 39:... perfecta mens, id est absoluta ratio, quod

est idem virtus.

94 Vgl. V, 41,42.

95 Das ??k?nnte hier als et epexegeticum zu lesen sein und auf eine Abh?ngigkeit der sapi

entia von der doctrina verweisen (Hinweis von W. G?rler).

Page 19: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

i8o Maximilian Forschner

nen Dionysios von Syrakus (V, 57-63) wird als positives Paradigma der Mathematiker Archimedes kontrastiert. Zur Archimedes-Geschichte fuigt Cicero noch kommentarlos die Namen Demokrit, Pythagoras und

Anaxagoras hinzu. Nun ist all diesen positiven Beispielen gemeinsam, daf es sich um Heroen des Geistes auch undgerade in theoretischer Hinsicht handelt, und dai sie in ihrem Lebenswerk eine gelungene Verbindung von philosophisch-wissenschaftlicher Gelehrtheit (doctrina) und mensch licher Gr6f3e (humanitas) aufweisen (V, 66).

Nach diesem Praludium mit Beispielen, das die propadeutisch passen den Assoziationen wecken soll, kommt Cicero direkt und in generalisie render Rede auf die wesentlichen Voraussetzungen, Motive und Faktoren (die moventia V, 68) zu sprechen, die zum Leben des Geistes bewegen und dieses im Zustand der Vollkommenheit ausmachen.

Notwendige Voraussetzungen, so Ciceros Auskunft, sind auferordent liche Begabung (ingenium eximium) und ein erregtes Verlangen zur Er forschung der Wahrheit (ad investigandam veritatem studium incitatum).

Die Friichte, die eine auf dieser Basis erfolgende Hinwendung des Lebens zu Erkenntnis und Einsicht (ad cognitionem intelligentiamque [conversic]) tragt, sind dreifacher Art, den drei Disziplinen Physik, Ethik und Logik entsprechend, in die die Stoa ihre Lehre gliedert: ,,Die eine besteht in der Erkenntnis der Dinge und in der Erklarung der Natur, die andere in der Gliederung der Dinge, die es (unbedingt) zu erstreben und zu fliehen gilt und im Begriff, wie zu leben sei, die dritte im Urteilen, was auf jede Sa che folgt, was ihr widerstreitet, worin alle Genauigkeit des Er6rterns und

Wahrheit des Urteilens beschlossen ist"96. Die folgenden hochkonzentrierten Abschnitte 69 bis 72 erlautern In

halt und epistemisch-genetische Ordnung, in dem bzw. der sich die stoi sche Weisheit aufbaut und betatigt97.

96 V, 68: ex quo triplex ille animi fetus existit, unus in cognitione rerum positus et in ex

plicatione naturae, alter in discriptione expetendarum fugiendarumque rerum <et in

ratio ne vivendi, tertius in iudicando quid cuique rei sit consequens, quid repugnans, in quo inest omnis cum subtilitas disserendi, turn veritas iudicandi.

97 Als weniger ausf?hrliche Parallele zu diesen Abschnitten w?re De natura deorum II,

153 anzusehen: ?Wir Menschen allein unter den Lebewesen erkennen Aufgang, Unter

gang und die Bahnen der Gestirne; vom Menschen sind die Tage, Monate und Jahre

bestimmt, die Sonnen- und Mondfinsternisse begriffen und fur alle kommenden Zei

ten vorausgesagt worden. All dies betrachtend, schreitet der Geist zur Erkenntnis der

G?tter; aus dieser entsteht die Fr?mmigkeit, mit der die Gerechtigkeit und die ?bri

gen Tugenden verkn?pft sind; aus diesen endlich entsteht das gl?ckselige Leben, das

demjenigen der G?tter ebenb?rtig und ?hnlich ist. Nur in der Unsterblichkeit, die das

Page 20: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend i8i

An die erste Stelle setzt der Text die Erforschung und Betrachtung der Spharenbewegung, des Fixsternhimmels und der Planetenbewegung, al so im wesentlichen Astronomie. An ihr entziindet sich zweitens die Prin zipienforschung98, die sich auf die Ausgangspunkte und ,,Samen" (initia et tamquam semina) von allem, was entstanden ist, bezieht, den Ur sprung und die kosmische Stellung der Erde erfafgt und die generisch ver schiedenen Formen des Entstehens, Seins und Vergehens der Dinge auf ihr nachzeichnet. Der intensiven Meditation (haec tractanti animo et no ctes et dies cogitanti, V, 70) uiber die Einheit und Vielfalt des Seins und seine sch6ne, gesetzliche Ordnung (die auch die kosmologische Stellung des Menschen betrifft) entspringt drittens die Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes, der sich nach Ursprung und Natur dem gottlichen Geist als wesensgleich erfag3t, sich mit ihm verbunden weig und aus die sem Bewugtsein der Einheit ein Geftihl unersch6pflicher Freude be zieht99. Dem BewuBtsein, Geist vom gottlichen Geist zu sein, verdankt sich im Menschen als einem endlichen Vernunftwesen viertens das Be streben zur imitatio dei.

Die Verwirklichung dieses Wunsches hat verschiedene AspektelOO. Zunaichst (und, wie ich meine, vor allem) einen theoretischen (sc. die Frucht der sapientia im engeren Sinn): DerMensch stellt in seinem Geist in sprachlich-gedanklicher Form die kausale Kraft und strukturelle Ordnung dergottlichen Weltverwaltung dar und hebt sich selbst durch die meditative Verinnerlichung dieser erkennenden Darstellung iiber die Begrenztheit seines Lebens in die Dimension gottlicher Ewigkeit101 . Dann einen emotiven (sc.

vollkommene Leben nicht betrifft, bleibt es hinter den himmlischen Wesen zur?ck."

Vgl. Nat. deor. II, 140. 98 V, 69: horum nimirum aspectus impulit illos veteres et admonuit ut plura quaererent. 99 V, 70: Haec tractanti animo et noctes et dies cogitanti existit illa a deo Delphis prae

cepta cognitio, ut ipsa se mens agnoscat coniunctamque cum divina mente se sentiat,

ex quo insatiabili gaudio compleatur. 100 In Acad. libri. Lucullus 23 ist von 2

Aspekten die Rede, n?mlich davon, da? in den

(stoisch verstandenen) Tugenden und in ihnen allein einmal scientia (im Sinne einer

stabilis et immutabilis comprehensio rerum) und zum anderen sapientia (im Sinne ei

ner constans ars vivendi) enthalten sei. Da es hier um ein erkenntnistheoretisches Ar

gument geht, bleibt der emotionale Aspekt ausgespart. 101

V, 70: ipsa enim cogitatio de vi et natura deorum Studium incendit illius aeternitatem

imitandi neque se in brevitate vitae conlocatam putat, cum rerum causas alias ex aliis

aptas et necessitate nexas videt, quibus ab aeterno tempore fluentibus in aeternum ra

tio tarnen mensque moderatur. N. White, The Role of Physics in Stoic Ethics, The

Southern Journal of Philosophy (1985) Vol. XXIII, 57-74, obgleich selbst der (interpre tationsbed?rftigen) Meinung, das prim?re Ziel der meisten Stoiker sei die Formulie

Page 21: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

i82 Maximilian Forschner

die Frucht der stoischen Affektfreiheit): Mit dem Eintritt in diese Di mension gewinnt der Mensch die Heiterkeit gottlicher Ruhe, Distanz und Gelassenheit gegenuber den menschlichen Angelegenheitenl02; er blickt auf sie herab (despicere). Und schlieglich den ethischen (sc. die Frucht der prudentia): Er erkennt, was (im Kosmos und) fur seine Natur das h6chste Gut und das ausserste Ubel ist, worin Tugend, die Vollen dung seiner Disposition zur Aktualisierung dieses Gutes besteht und worauf letztlich alle officia des taglichen Lebens zu beziehen sindl03. Ent scheidend fur das stoische Konzept ist: Aus der (schrittweisen) meditati ven Erkenntnis der Gesamttugend erwachsen und erbliihen auch realiter dieArten und Teile der Tugenden'04.

Bisher war von Physik und Ethik im Rahmen der philosophischen Er kenntnis der g6ttlichen und menschlichen Dinge die Rede. Der Ab schnitt 72 handelt nun offensichtlich auch davon, was sich daraus.prak tischfir die Lebensfithrung des Weisen ergibtl05, damit jedenfalls auch von den praktischen Klugheitsaspekten des stoischen Tugendbegriffs. Er spricht ausdriicklich davon, dag3 es fur den Weisen die Vollendung seines Selbstverstandnisses darstellt, zu sehen, daf3 der Nutzen der Burger in sei ner prudentia eingeschlossen ist106 . Der Abschnitt ist deutlich zweige teilt und spricht offensichtlich (noch im Rahmen der stoischen Diszipli nengliederung) das Thema des Verhaltnisses von theoretischer und praktischer Aktivitat an. In der ersten Halfte ist die Rede von der dritten Frucht der stoischen Weisheit, der Logik bzw. Dialektik, der disserendi ratio et scientia, die sich, wie es metaphorisch heigt, iiber alle Teile der

Weisheit ergiegt, indem sie die (jeweilige) Sache definiert, die Gliede rung des Seienden in Arten vornimmt und die Dinge nach ihrer kausalen und logischen Verbindung sichtet. Dieses wissenschaftliche Wissen und

rung einer Ethik gewesen (57), betont v?llig zurecht, da? die Tugend des Weisen, de

ren Aktualit?t mit der Formel OfXoXOYOD|Ji?va)? ?fjv beschrieben wird, zun?chst

meint, ?that one's soul actually reflects the pattern of nature, in the sense of compre

hending it" und dann, da? ?one's activities are ordered by that condition of sou? (67). 102

V, 71: Haec ille intuens atque suspiciens vel potius omnis partis orasque circumspici ens quanta rursus animi tranquillitate humana et citeriora consid?r?t!

i?3 V, 71: quo referenda sint officia. 104 V, 71: hinc illa cognitio virtutis existit, efflorescuntgenera partesque virtutum (Hervorh.

M. E); invenitur, quid sit quod natura spectet extremum in bonis, quid in malis ulti

mum, quo referenda sint officia, quae degendae aetatis ratio deligenda. 105

Vgl. V, 71: quae degendae aetatis ratio deligenda 106 V, 72: quid

eo possit

esse praestantius, cum contineri prudentia utilitatem civium cer

n?t.

Page 22: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend I83

K6nnen der Logik, so Cicero, ist einerseits von h6chstem praktischem Nutzen fur die (sc. praxisbezogene) Abwagung der Dinge (ad res ponder andas; zu denken ist hier wohl in erster Linie an die Anwalts- und Ge richtspraxis); sein Volizug bietet zum anderen das edelste Vergniigen und ist die der Weisheit wiirdigste BeschiftigungIO7. Aber diese maxume inge nua delectatio gehort in den Bereich der Muge (sed haec otii); der Weise kummert sich auch um den Bestand und das Wohl der respublica, achtet darauf, dag die politische Gemeinschaft das Ihre erhalt und pflegt (und geniegt) die Freundschaften.

Dieser Abschnitt 72 bietet mehrere Verstandnisprobleme, die sich, wie ich annehme und eingangs betonte, nur im Blick auf Ciceros grundsatz liche Position der Skepsis kIsen lassen. Er legt zum einen nahe, dal wis senschaftliche Logik bzw. Dialektik (disserendi ratio et scientia) im Auf bau der Weisheit auf die Stufen der Physik und Ethik folgt (sequitur tertia); und er legt (durch das unmittelbar zuvor in Abschnitt 7I Gesagte) nahe, dag sich aus der (in Stufe i und 2 vermittelten) generellen Erkennt nis des zuh6chst Wertvollen in der Welt und aus situationsbedingter

Mal3gabe von verfiigbarem otium und gebotenem negotium ein Magstab ergibt fur die verniinftige Wahl unserer Art der Lebensfuihrung (quae de gendae aetatis ratio deligendae), d.h. fur die allgemeineVerhaltnisbestim mung und die jeweilige Entscheidung zwischen dem Vergniigen theore tischer Beschaftigung mit Logik ( Physik und Ethik) einerseits und dem praktischen Engagement fur das Wohl der res publica andererseits 108. Zum anderen wird bereits bei der Einfuihrung der ,,drei Fruchte des Gei stes" betont, dag an der Logik nicht nur alle Genauigkeit der Erorterung, sondern auch alle Wahrheit des Urteilens hingtlO9. Und dies besagt doch

wohl auch, daf3 Physik und Ethik und damit die Erkenntnis des zuh6chst Wertvollen nicht ohne Logik moglich sind; sie ergiegt sich ja uber alle Gebiete der Weisheit, gehort essentiell zu ihr. Um ein stoischer Weiser zu werden, bedarf es demnach auf jeden Fall eines ausreichenden Mafes an Freiheit vom Druck der negotia. Dies ftihrt (jedenfalls fur jemanden, der wie Cicero in der politischen Praxis steht und stehen will) zur Frage, wie viel logische, ja wieviel theoretische Bildung (doctrina) man nach stoi scher Sicht unverzichtbar braucht, um als im Prinzipiellen weise Gewor

107 ex qua cum summa utilitas existit ad res ponderandas, turn maxume ingenua delecta

do et digna sapientia.

ios w/je s[cn ??g jn ?GI von Cicero genannten Form ergeben soll, wird gerade nicht klar.

109 V, 68: in quo inest omnis cum subtilitas disserendi turn veritas iudicandi.

Page 23: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

i84 Maximilian Forschner

dener beziiglich der Lebensfiihrung und der alltiiglichen negotia auf klu ge Weise das Rechte zu treffen.

Der Text der Tusculanen gibt keine Antwort auf die Frage, wie nach stoischem Verstandnis diese Art praktischer Klugheit entsteht und mit der Weisheit zusammenhangtl 10. Er halt ferner in der Schwebe, ob das praktisch-politische Engagement selbstverstandliche Folge der (vollende ten) Weisheit ist oder der Weise sich den negotia (mitunter jedenfid1s) ge zwungenermaBen widmet.

Der stoische Weise, so der doxographische Befundl 1 1, tut selbstver standlich, gerne und treffsicher, was zu tun in jeder Situation das r ichtige ist. Cicero verwendet an der entscheidenden Stelle den Konjunktiv (tran seat idem iste sapiens ad rem publicam tuendam), der wohl dazu dienen soll, auch fur den Weisen noch einen gewissen Grad der Priiskriptivitat zum Ausdruck zu bringen. Dies ware mehr im Sinne eines in Dualismen denkenden Platon gedacht, der den Philosophen von der Schau der Ideen zur Riickkehr in die H6hle drangt. Und dies wiirde im iibrigen mit eindeutig platonisch gefarbten Abschnitten aus dem Buch I der Truscula nen und aus Cato maior de senectute zusammenstimmen, in denen in na turphilosophischer Begrifflichkeit vom (irgendwie stofflich gedachten)

Wesen der menschlichen Geistseele, von ihrer Heimat in der Astralspha re, von ihrer naturgemigen Beschiftigung und von ihrer (harten) Aufga be im Erdenleben die Rede ist. Danach ist der menschliche Geist himm lischer Art und Herkunft112, von G6ttern in menschliche K6rper gestreut, ,,damit Wesen da sind, die die Erde in Obhut nehmen und die, die Ordnung der himmlischen Dinge betrachtend, diese in der Art und Konstanz ihres Lebens nachbilden"1 13. Die Seele, die dies leistet:, kehrt nach dem Tod an ihren natiirlichen Ort zuruick und kann sich, nunmehr in optimaler Verfassung und Lage, ganz dem widmen, was sie schlon im irdischen Dasein, wenn sie von den Sorgen der Lebensbewaltigung und dem Druck der Alltagsgeschafte sich losen kann, am liebsten zu tun ver langt: der Untersuchung und Betrachtung der himmlischen Dinge, ihres

110 Ob sie De of?ciis in befriedigender Weise bietet, mu? hier dahingestellt bleiben; es scheint mir nicht der Fall zu sein.

111 Vgl. M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Bd. I G?ttingen

71992,153 ff., Bd. II G?ttingen 6i990, 83 f. 112

Vgl. dazu auch De rep. 6,15 (Somnium Scipionis). 113 Cato maior XXI, jj: sed credo d?os immortales sparsisse ?nimos in corpora humana,

ut essent qui terras tuerentur, quique caelestium ordinem contemplantes imi tarentur

eum vitae modo atque constantia.

Page 24: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoria undstoische Tugend i85

Wesens, ihrer Gesetzlichkeit und Harmonie und der Betrachtung des Schauspiels, das (aus himmlischer Perspektive) die Erde und das Gesche hen auf ihr und in ihrem Umkreis bietenl 14. Und all dieses bei Cicero in skeptisch-ironischer Brechung. (In den Tusculanen beschwort Cicero iibrigens primar die himmlische Seligkeit des Naturforschers und Astro nomen, wahrend im Cato maior die Vorfreude auf die kommende Ge meinschaft der Tugendhaften im Vordergrund stehtl 15).

Die Frage ist, ob und inwieweit wir es in den besprochenen Abschnit ten der Tusculanen mit authentischer altstoischer Lehre zu tun haben. Ci cero tragt sie typisierend als Position Zenons vor, die durch die Autoritat Platons geadelt ist. DafS Theoria eine zentrale und dominantel 16 Rolle im stoischen Tugendkonzept und in der Zielbestimmung des Menschen ge spielt hat, lalt sich freilich auch anderwarts belegen. Der menschliche Geist, so die durchgangige doxographisch fagbare stoische Botschaft, ist Fragment und Abkommling des g6ttlichen Geistes, der den Kosmos durchdringt und gestaltet. Er kommt zur Vollendung, indem er die gott liche Struktur der Welt erkennend betrachtet, sich mit ihr im Einklang

weig und fuihlt und diese Harmonie in seinem Verhalten zum Ausdruck bringt bzw. nachbildetl 17. Die alte Stoa hat wohl eine Teilung der zielhaf ten Lebensformen in theoretische und praktische, wie sie Aristoteles in der NE vorschwebte, abgelehnt und einer einheitlichen ars vivendi, die als koyix6; bezeichnet wurdel 18, das Wort geredet. Doch damit ist uiber die Stellung der Theoria im Rahmen der einen Gesamttugend nichts ge sagt. In wichtigen doxographischen Formeln der Zielbestimmung des

Menschen steht sie an erster Stelle. Der stoische Weise stellt danach zu allererst in seiner Theoria die g6ttliche Weltordnung darl 19. Gegen deren

ii4Vgl.Tusc.I,47 115

Vgl. Cato maior XXIII, 83. n6

Vgl. Plutarch, Stoic, rep. 1035 B-D; Cicero, De fin. Ill, 73. 117

Vgl Cicero, De nat. deor. II, 37: ipse autem homo ortus est ad mundum contemplan dum et imitandum, nullo modo perfectus, sed est

quaedam particula perfecti. Posei

donius' Telosbestimmung nach Klemens v. Alex. frgm. 186 Edelst.-Kidd: TO ?fjv 8e

o)QOt)VTa xf)v tow ?Xarv aXf|0eiav xai x?^iv xal ovynaxaoyitv?^ovxa avxr\\ xara to ouvat?v. Vgl. Epiktet, Diss 1,6.19-20: t?v ?' ?v?Quwtov 6eaTT)v elafiva yev amov te xai tcov eqycdv avToi), xal ox> [x?vov 6eaTT|v, akX? xal ?^tiytittiv avx(bv.

n8Vgl.DLVII,i3o. 119

Vgl. G. B. Kerferd, What Does the Wise Man Know?, in: J. M. Rist (ed.), The Stoics,

Berkeley and Los Angeles 1978,125-136: ?The truth that is in all things is the Taxis or

principle of order, and what the wise man, who alone achieves the goal, is doing is

Page 25: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

i86 Maximilian Forschner

Fiihrungsrolle spricht auch nicht, wenn Chrysipp sich gegen den Hedonis mus eines eskapistischen Gelehrtendaseins gewandt haben soull20 (und woraus ihm dann Plutarch einen Widerspruch zwischen seinen Worten und seinem Leben zu konstruieren sich beeilte): Der stoische Weise tLt, sei es forschend bzw. betrachtend, sei es handelnd, was der Situation angemes sen ist; er entflieht nicht der Praxis, wo diese gefordert ist; aber sie ist fur ei nen stoischen Weisen wohl weit weniger haufig gefordert als man (heute) gemeinhin annimmt. Senecas Quaestiones naturales schlieg3lich machen deutlich, dag nach stoischer Auffassung Naturphilosophie (und Theologie) nicht nur unerlagliche Voraussetzung einer sittlich volikommenen Lebens fiihrung ist, sondern recht eigentlich das ausmacht, worauf das g6ttliche Potential des menschlichen Lebens zielt und wofiir sich zu leben lohnt'21. Das mag (bei Cicero in den Tusculanen und im Cato maior und in Se:necas Naturales Quaestiones) alles eine Platonische Farbung habenl22; aber es deu tet doch vieles, wenn nicht alles darauf hin, dag3 die stoische Philosophie nicht erst in ihrer Spatphase, sondern schon an ihrem Anfang stark an ei nem Sokratesbild und einem Platon sich orientierte, bei dem die Naturphi losophie in ihrem Konzept von Tugend und fur die Begriindung der lThese von der Einheit von Tugend und Glick eine tragende Rolle spielte.

6

In diese Richtung weisen schlieglich auch die (sparlichen) Nachrichten iiber Zenons Leben. Was das Verhaltnis von Theorie und politischer Pra xis in seiner Biographie betrifft, so attestiert ihm die neueste althistori sche Forschung ein maf3volles theoretisches Interesse in Verbindung mit einer praktischen Gleichgiiltigkeit gegeniuber dem politischen Leben123.

contemplating ... its structure. In so

doing he joins in bringing this structure into

being (in himself)"? 132. 120

Vgl. Plutarch, Stoic, rep. 1033 C-D. 121 Haec inspicere, haec discere, his incubare, nonne transilire est mortalitatem suam et

in meliorem transcribi sortem? - Quid tibi, inquis, ista proderunt?

- Si nil aliud, hoc

certe: sciam omnia angusta esse mensus deum. Lib. I, Pr.17. Nisi ad haec admitterer,

non <tanti> fuerat nasci. Quid enim erat cur in numero viventium me positum esse

gauderem? Ebd. Pr. 4. 122 So auf S?necas Quaestiones naturales bezogen die These von Frau Stahl, a. a. O. 123

Vgl. dazu und zum Folgenden: P. Scholz, Der Philosoph und die Politik. Die Ausbil

dung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verh?ltnisses von

Philosophie und Politik im 4. und 3. Jh. v. Chr., Stuttgart 1998, 317 ff.

Page 26: Maximiilam Forschner - Theoria Und Stoische Tugend. Zenons Erbe in Cicero, Tusculanae Disputationes V

Theoia und stoische Tugend I87

Unter 25 zumindest vom Titel her bekannten Schriften finden sich (nur) 2, die (direkt) auf Politik bezogen sind (loXLmtia, 11lgi v6loi)124. Die

Werbung des Makedonenk6nigs Antigonos Gonatas um seine Freund schaft scheint nicht sehr erfolgreich gewesen bzw. recht einseitig geblie ben zu sein125; alle Versuche, den Philosophen zu einem Aufenthalt am K6nigshof in Demetrias zu bewegen, wies dieser zurUck126. Die einzige von ihm bekannte Leistung fur seine Wahlheimat Athen bestand in einer kleinen Geldstiftung fuir die Ausbesserung eines offentlichen Badesl27. Seine posthume Ehrung durch die Stadt diirfte allein auf die Initiative seines Bewunderers Antigonos Gonatas zuriickgehenl28, allerdings wohl nicht ohne Anerkennung seiner personlichen Integritat durch die Athenische Biirgerschaft m6glich gewesen sein.

Zenon lebte ebenso wie seine beiden grogen Nachfolger Kleanthes und Chrysipp ein philosophisches Leben, ja ein Leben der Schule, das sich aufTheoria konzentrierte. Die Zeitgenossen sahen darin in keiner

Weise einen Widerspruch zum Tugendideal, das sic vertraten. Dies tat (neben Dion Chrysostomos129) erst Plutarch, der den Philosophen stets auch auf politische Praxis verpflichtet glaubt: ,,Ober Verfassung, Herr schen und Beherrschtwerden, Richten und Reden wurde von Zenon selbst viel (im Verhaltnis zum geringen Umfang seines Werkes), von Kle anthes viel, von Chrysipp aber sicherlich am meisten geschrieben. Doch lagt sich in keinem Lebenslauf ein Feldherrnamt, eine Gesetzgebung, ei ne Ratszugehorigkeit, eine Verte'idigung vor den Richtern, ein Feldzug fur das Vaterland, eine Gesandtschft oder eine Beteiligung an einer augerordentlichen Spende finden. Vielmehr verbrachten sie nicht nur fur eine kurze Zeit, sondern unbegrenzt lange, namlich ihr ganzes Leben in der Fremde iuber Er6rterungen, Biichern und in Wandelhallen und ge nossen den Unterricht wie Lotos. So liegt es auf der Hand, dag sie eher in Obereinstimmung mit Schriften und Worten anderer als ihrer eigenen lebten"130.

i** DL VII, 4.

i25Vgi.DLVII,i5. i*

Vgl. DL VII, 3 = SVF 1,3.

i27Vgl.DLVH,i2 =

SVFi.3. im

Vgl. DL VII, 15 = SVF 1,4. 129

Vgl. Dio Chrysostomos or. 47, 2 = SVF 1, 28.

130 Stoic, repugn. 2,1033 B. E. = SVF 1, 27, ?bers. Scholz, 317.