Johann Sebastian

BACHDie Elenden sollen essen

All the starving shall be nourishedBWV 75

Kantate zum 1. Sonntag nach Trinitatisfür Soli (SATB), Chor (SATB)

2 Oboen, Oboe d’amore, Trompete2 Violinen, Viola und Basso continuoherausgegeben von Reinhold Kubik

Cantata for the first Sunday after Trinityfor soli (SATB), choir (SATB)

2 oboes, oboe d’amore, trumpet2 violins, viola and basso continuo

edited by Reinhold KubikEnglish version by Jutta and Vernon Wicker

Carus 31.075/03

Stuttgarter Bach-Ausgaben

Klavierauszug /Vocal score

C

Carus 31.075/03

Vorwort 3

Teil I

1. Coro 5Die Elenden sollen essenAll the starving shall be nourished

2. Recitativo accompagnato (Basso) 20Was hilft des Purpurs MajestätWhat help is purple majesty

3. Aria (Tenore) 21Mein Jesus soll mein Alles seinMy Jesus shall be all to me

4. Recitativo (Tenore) 29Gott stürzet und erhöhetGod casts down and he lifts up

5. Aria (Soprano) 29Ich nehme mein Leiden mit FreudenI take now upon me most gladly all grief

6. Recitativo (Soprano) 34Indes schenkt Gott ein gut GewissenMuch more, God grants a peaceful conscience

7. Choral (Coro) 35Was Gott tut, das ist wohlgetanWhatever God ordains is right

Teil II

8. Sinfonia 40

9. Recitativo (Alto) 43Nur eines kränkt ein christliches GemüteJust one thing grieves the Christian’s heart

10. Aria (Alto) 44Jesus macht mich geistlich reichJesus gives me sacred wealth

11. Recitativo (Basso) 48Wer nur in Jesu bleibtAll who in Christ abide

12. Aria (Basso) 49Mein Herze glaubtMy heart believes

13. Recitativo (Tenore) 56O Armut, der kein Reichtum gleichtSuch poorness, yet with wealth unknown

14. Choral (Coro) 57Was Gott tut, das ist wohlgetanWhatever God ordains is right

Postscript 63

2

Inhalt

Zu diesem Werk liegt folgendes Aufführungsmaterial vor:Partitur (Carus 31.075), Studienpartitur (Carus 31.075/07),Klavierauszug (Carus 31.075/03),Chorpartitur (Carus 31.075/05),komplettes Orchestermaterial (Carus 31.075/19).

The following performance material is available for this work:full score (Carus 31.075), study score (Carus 31.075/07),vocal score (Carus 31.075/03),choral score (Carus 31.075/05),complete orchestral material (Carus 31.075/19).

Carus 31.075/03

Mit der Kantate „Die Elenden sollen essen“ stellte der neu-gewählte Thomaskantor Johann Sebastian Bach sich EndeMai 1723 der Leipziger Bevölkerung vor. Acht Tage vorherwar er mit der Familie in die Messestadt umgezogen; ausunerfindlichen Gründen hat dieses Ereignis Eingang in diePresse gefunden, und zwar in Hamburg, in Form einer Kor-respondentenmeldung aus Leipzig: „Am vergangenenSonnabend zu Mittage kamen 4 Wagen mit Haus-Rath be-laden von Cöthen allhier an, so dem gewesenen dasigenFürstlichen Capell-Meister, als nach Leipzig vocirten Canto-ri Figurali, zugehöreten: Um 2 Uhr kam er selbst nebst sei-ner Familie auf 2 Kutschen an, und bezog die in der Tho-mas-Schule neu renovirte Wohnung.“ Daß am 30. Maieine Kantatenaufführung stattfand, haben gleich mehrereChronisten festgehalten. Einer von ihnen schreibt: „Den30. dito, als am 1. Sonntage nach Trinitatis, führte der neueCantor und Collegii Musici Director Herr Johann SebastianBach, so von dem Fürstlichen Hofe zu Cöthen hieher kom-men, mit guten applausu seine erste Music auf.“ Eine Pres-semeldung, wieder aus Hamburg, weiß zwar nichts vom„guten applausu“, also der wohlwollenden Zustimmungdes Auditoriums, schreibt aber, Herr Bach habe „zum Antritseine Music vor und nach der Predigt gemachet.“ Ein drit-ter Bericht schließlich weist darauf hin, daß der neue Cantor„sein Amt bey denen Stadt-Kirchen mit der ersten Music inder Kirche zu St. Nicolai“ angetreten habe.

Wie der neue Thomaskantor sich auf diesen wichtigen Tagvorbereitet hat, wird nirgends überliefert. Man könnte sichvorstellen, daß er wenigstens seine Antrittskantate nochvor der Übersiedelung nach Leipzig komponiert hätte. Dasallerdings würde voraussetzen, daß der Tag der Antrittsmu-sik sozusagen mittelfristig festgelegt war und rechtzeitig einText zur Komposition vorlag. Genaueres läßt sich hierübernicht feststellen; auch der Name des Textautors bleibt un-bekannt. Das Libretto hält sich, wenigstens in seinem erstenTeil, an das Evangelium des Sonntags, das Gleichnis vomreichen Mann und armen Lazarus, aus dem 16. Kapitel beiLukas. Hier heißt es zu Beginn: „Es war aber ein reicherMann, der kleidete sich mit Purpur und köstlicher Leinwandund lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber einArmer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür vollerSchwären und begehrte sich zu sättigen von den Brosamen,die von des Reichen Tische fielen; doch kamen die Hundeund leckten ihm seine Schwären. Es begab sich aber, daßder Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abra-hams Schoß. Der Reiche aber starb auch und ward begra-ben. Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hob er sei-ne Augen auf und sah Abraham von ferne und Lazarus inseinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, er-barme dich mein und sende Lazarus, daß er das Äußersteseines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge;denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach:Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in dei-nem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen;nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt.“

Der unbekannte Textdichter stellt an den Beginn seinesKantatenlibrettos einen zum Gleichnis des Evangeliums

passenden Vers aus dem 22. Psalm, dem LeidenspsalmChristi: „Die Elenden sollen essen, daß sie satt werden; unddie nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen; euer Herzsoll ewiglich leben.“ Mit freier Dichtung, drei Rezitativenund zwei Arien, wird anschließend das Sonntagsevangeli-um paraphrasiert. So knüpft das erste Satzpaar – Rezitativund Arie – an den Beginn der Lesung mit dem Hinweis aufdas Purpurgewand des reichen Mannes an: „Was hilft desPurpurs Majestät, / da sie vergeht? / Was hilft der größteÜberfluß, / weil alles, so wir sehen, / verschwinden muß?“Und in der Arie: „Mein Jesus soll mein Alles sein. / MeinPurpur ist sein teures Blut, / er selbst mein allerhöchstesGut, / und seines Geistes Liebesglut / mein allersüß'sterFreudenwein“. Das gegensätzliche Schicksal des Reichenund des Armen, den Weg zur Hölle oder in AbrahamsSchoß, behandelt das folgende Satzpaar: „Gott stürzetund erhöhet in Zeit und Ewigkeit“, heißt es im Rezitativ,und in der Arie: „Ich nehme mein Leiden mit Freuden aufmich. / Wer Lazarus’ Plagen / geduldig ertragen, / dennehmen die Engel zu sich.“ Ein drittes Rezitativ leitet überzum Schluß des ersten Kantatenteils vor der Predigt, der 5. Strophe aus Samuel Rodigasts Choral „Was Gott tut,das ist wohlgetan“ aus dem Jahre 1674. Die Satzfolge deszweiten Kantatenteils nach der Predigt gleicht – denPsalmvers des Eingangs ausgenommen – der des ersten:drei Rezitative, zwei Arien, eine Choralstrophe. Armut undReichtum, das Gleichnisthema des Evangeliums, werdennun auf die Glaubenswelt des Einzelnen bezogen. Beklagtdas erste Rezitativ dieses Teils „des Geistes Armut“ und diefehlende Kraft, so antwortet die folgende Arie „Jesusmacht mich geistlich reich“, wobei im Hintergrund das„Selig sind, die da geistlich arm sind“ aus der Bergpredigtstehen mag. Fordert das nächste Rezitativ Selbstverleug-nung und Verzicht auf alles Irdische, „daß er in GottesLiebe / sich gläubig übe“, so gibt auch hier die zugehörigeArie wieder die zuversichtliche Antwort mit ihrem Textbe-ginn „Mein Herze glaubt und liebt“. „O Armut, der keinReichtum gleicht!“, kann nun das letzte Rezitativ den Kerndes Gleichnisses zusammenfassen und zur abschließendenChoralstrophe hinüberleiten, die nochmals Rodigasts Lied„Was Gott tut, das ist wohlgetan“ aufnimmt.

Bachs Komposition dieses sehr umfangreichen Textesnimmt Dimensionen an, die der Situation des Neubeginnsin einer bedeutenden Bürgerstadt angemessen sind. Sosteht hinter dem ausgedehnten Eingangschor die Idee derprunkvollen, hier zweiteiligen Französischen Ouvertüre,die im vorliegenden Falle allerdings, der Aussage desPsalmwortes angemessen, in e-Moll, der Tonart von Be-trübnis und Trost, einen eher elegischen Zuschnitt erhält.Auch ist der schnellere fugierte Abschlußteil über den Text„Euer Herz soll ewiglich leben“ gegenüber dem schwer-mütigen Beginn relativ kurz ausgeführt. Dem mit Streich-instrumenten begleiteten Baß-Rezitativ folgt mit dem Te-norsolo „Mein Jesus soll mein alles sein“ ein erster tänze-risch bewegter Ariensatz. Der ruhigen Gelassenheit derTextaussage entspricht die gemessene Bewegung, ohnedaß diese sich definitiv mit einem Tanztyp der Zeit in Ver-bindung bringen ließe. Zu fragen bleibt, ob diese unge-

3

Vorwort

Carus 31.075/03

wöhnlich ausgedehnte Arie auf eine Vorlage aus BachsKöthener Zeit zurückgreift.

Der Verzicht auf die Bindung an einen speziellen Tanztypgilt auch für die zweite, auf ein kurzes Tenorrezitativ fol-gende Arie des ersten Kantatenteils. Hier ist das be-schwingte Zusammenwirken von Sopran und obligaterOboe d'amore vom Textbeginn „Ich nehme mein Leidenmit Freuden auf mich“ geprägt, wobei gegenüber demsubtil behandelten „Leiden“ die beinahe ungehemmt sichentfaltende „Freude“ zunehmend die Oberhand gewinnt.Den Ausklang des ersten Kantatenteils nach dem dritten,wieder nur kurzen Rezitativ bildet ein Choralsatz, der sichallerdings nicht auf die schlichte vierstimmige Harmonisie-rung beschränkt, sondern durch instrumentale Vor-, Zwi-schen- und Nachspiele die Dimension einer figurativenund zum Teil konzertierenden Choralbearbeitung ge-winnt.

Dieselbe Choralmelodie, „Was Gott tut, das ist wohlge-tan“ erscheint zu Beginn des zweiten Kantatenteils als Teileines Instrumentalsatzes: über dem fugierten Quartett derStreichinstrumente wird die Melodie von der Trompetezeilenweise vorgetragen. Wie im ersten Kantatenteil isthier das erste Rezitativ von Streichinstrumenten begleitet,und diese formen auch im einstimmigen Zusammenspieldie Obligatstimme der Alt-Arie „Jesus macht mich geistlichreich“. Ohne erkennbaren textlichen Anlaß ist auch dieseArie tänzerisch bewegt. Erst in der vierten und letzten Arieder Kantate verläßt Bach diese – vielleicht aus der Notgeborene und der problematischen Textvorlage geschul-dete – Verfahrensweise und vereinigt Baßsolo, obligateTrompete und Streichinstrumente zu virtuosem Konzertie-ren. Der Textbeginn „Mein Herze glaubt und liebt“ wirdso im Sinne einer Siegeszuversicht gedeutet. Den Schlußder Kantate bildet eine Wiederholung der Choralbearbei-tung vom Ende des ersten Teils; von seinem Vorgänger un-terscheidet dieser Satz sich lediglich durch den Text, nun-mehr die letzte Strophe von Samuel Rodigasts Choral„Was Gott tut, das ist wohlgetan“.

Damit klingt eine Kantate aus, deren ungewöhnlicher An-spruch der Anfangssituation nach der Neubesetzung desLeipziger Thomaskantorats zwar gerecht wurde, die aberaugenscheinlich die Möglichkeiten und Grenzen der kon-zertierenden Kirchenmusik – jedenfalls für die Sonntageder Nachtrinitatiszeit – auch überforderte. Bach gab daherdas überdimensionierte 14sätzige Modell bald auf undkehrte – zumindest von der Ausdehnung der Werke her –zum Normalmaß zurück.

Hans-Joachim Schulze

Aus: H.-J. Schulze, Die Bach-Kantaten. Einführungen zusämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs, Leipzig undStuttgart 2006 (CV 24.046).

Postscript see p. 63

4