Hyperschallstromungen¨ - aer.mw.tum.de...... Rarefied gas dynamics. Plenum, New York 1969. C ......

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Hyperschallstr¨ omungen Dr.-ing. Christian Stemmer Lehrstuhl f¨ ur Aerodynamik TU M¨ unchen Prof. Dr.-ing. habil. Rainer Friedrich Fachgebiet Str¨ omungsmechanik TU M¨ unchen

Transcript of Hyperschallstromungen¨ - aer.mw.tum.de...... Rarefied gas dynamics. Plenum, New York 1969. C ......

Hyperschallstromungen

Dr.-ing. Christian Stemmer

Lehrstuhl fur Aerodynamik

TU Munchen

Prof. Dr.-ing. habil. Rainer Friedrich

Fachgebiet Stromungsmechanik

TU Munchen

Danksagung

Das vorliegende Vorlesungsmanuskript basiert auf den Vorle-sungen “Stromungen verdunnter Gase” und “Aerodynamik derRaumfahrzeuge”, die von Prof. Dr. R. Friedrich zusammenge-

stellt wurden.

Mein Dank gebuhrt Prof. Dr. R. Friedrich vom Fachbereich

Stromungsmechanik am Lehrstuhl fur Aerodynamik fur das Zur-verfugungstellen der Unterlagen und der Unterstutzung bei der

Vorbereitung auf diese Vorlesung.

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Inhaltsverzeichnis

Nomenklatur v

1 Einleitung 1

1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.2 Zusammenhang zwischen Kn, Ma und Re . . . . . . . . . . . 2

1.3 Knudsenzahl bei instationaren Stromungen (Anlaufstromungen) 6

1.4 Beispiele fur Stromungen mit Verdunnungseffekten . . . . . . 8

1.4.1 Das Rayleighproblem (1. Stokessches Problem) . . . . . 8

1.4.2 Stationare hypersonische Plattenumstromung . . . . . 11

1.4.3 Stromung durch eine Lavalduse . . . . . . . . . . . . . 12

1.4.4 Trocknung und Destillation von Stoffen . . . . . . . . . 13

1.4.5 MEMS- und Nano-Technologie . . . . . . . . . . . . . . 13

2 Begriffe, Großenordnungen, elementare Gaskinetik 14

2.1 Molekulmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.2 Mittlere freie Weglange und Stoßfrequenz . . . . . . . . . . . . 17

2.3 Druck, Temperatur und innere Energie . . . . . . . . . . . . . 20

2.4 Transportgroßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2.5 Gleitgeschwindigkeit und Temperatursprung . . . . . . . . . . 31

2.5.1 Gleitgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

2.5.2 Temperatursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

2.5.3 Spezialfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

2.6 Molekulare Großenordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

ii

3 Grundlagen verdunnter und hocherhitzter Gase 40

3.1 Einfuhrende Bemerkungen zur kinetischen Theorie einatomi-ger Gase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

3.1.1 Einteilung der Erscheinungen in Gasen . . . . . . . . . 42

3.2 Chemisch reagierende Gemische idealer Gase . . . . . . . . . . 45

3.2.1 Transportgleichungen fur Spezieskonzentrationen . . . 49

3.2.2 Chemische Reaktionsgleichungen . . . . . . . . . . . . 50

3.3 Ideale Gase im Zustand angeregter innerer Freiheitsgrade . . . 56

3.3.1 Mikroskopische Beschreibung des Gaszustands . . . . . 56

3.3.2 Makroskopische Beschreibung des Gaszustands imthermodynamischen Gleichgewicht. . . . . . . . . . . . 66

3.4 Gleichgewichtsstromung und gefrorene Stromung . . . . . . . . 68

3.4.1 Zusammenfassende Beschreibung der Gleichgewichts-stromung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

3.4.2 Gegenuberstellung von Gleichgewichtsstromung undgefrorener Stromung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

3.5 Nichtgleichgewichtsstromungen – Ergebnisse numerischer Si-mulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

4 Kinetische Gastheorie 94

4.1 Geschwindigkeitsverteilung der Molekule und Momente derVerteilungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

4.2 Bestimmungsgleichung fur die Geschwindigkeitsverteilungs-funktion einatomiger Gase – Die Boltzmann-Gleichung . . . . 100

4.3 Boltzmannsches Stoßintegral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

4.4 Eigenschaften des Stoßintegrals . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

4.5 Boltzmannsche H-Funktion und Gleichgewichtsverteilung(Maxwellverteilung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

4.6 H-Theorem und Entropie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

4.7 Maxwellsche Transportgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

4.8 Linearisierte Boltzmann-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . 123

4.9 BGK-Gleichung (Krook-Gleichung) . . . . . . . . . . . . . . . 127

4.10 Anfangs- und Randbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

iii

4.10.1 Anfangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

4.10.2 Randbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

5 Allgemeine Losungsmethoden der Boltzmann-Gleichung 136

5.1 Momenten-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

5.1.1 Gradsche Momentenmethode . . . . . . . . . . . . . . 138

5.1.2 Diskontinuierliche Verteilungsfunktionen . . . . . . . . 143

5.2 Chapman-Enskog-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

6 Spezielle Losungen der Boltzmann-Gleichung 155

6.1 Exakte Losungen der Boltzmann-Gleichung . . . . . . . . . . . 155

6.2 Couette-Stromung (stationar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

6.3 Struktur eines Verdichtungsstoßes . . . . . . . . . . . . . . . . 168

iv

Nomenklatur

Lateinische Buchstaben:A Stoffsymbola Schallgeschwindigkeita mittlerer Molekulabstanda Molekuleigenschaftc mittlere Geschwindigkeit der einzelnen Teilchencp spezifische Warmekapazitat bei konstantem Druckcv spezifische Warmekapazitat bei konstantem VolumentD Diffusionskoeffizientd MolekulabstandE totale EnergieEa Aktivierungsenergiee spezifische innere Energieetr spezifische translatorische Energieerot spezifische Rotationsenergieevib spezifische Schwingungsenergieeel spezifische elektrische EnergieF Kraftg Erdbeschleunigunggi EntartungsfaktorG Gewichtskrafth spezifische EnthalpieH totale EnthalpieH(n) Hermite-PolynomeI Impulsvektor eines FluidvolumensJ Jacobi-Determinantek Boltzmann-Konstantek Warmeubergangsskoeffizientkf , kb Reaktionsraten fur die Hin- und RuckreaktionenkC Gleichgewichtskonstante

v

L LangeM Molekulmassem Massen Teilchenanzahlp DruckQ Zustandssummeq Warmestromdichteq Staudruckr EntfernungR RadiusR GaskonstanteT Temperaturt Zeitu Geschwindigkeitsvektorui Geschwindigkeitskomponente in xi RichtungU GeschwindigkeitsbetragV VolumenW thermodynamische Wahrscheinlichkeit

Griechische Buchstaben:α Energieakkommodationskoeffizientβ Proportionalitatsfaktorδ GrenzschichtdickeΓ Diffusionsstromdichteγ Adiabatenexponent (Verhaltnis der spez. Warmen)ǫ Langenmaßκ Parameter im Potenzgesetz (2.2)ζ Ortskoordinate~ Planksches Wirkungsquantumϕ Winkelϕ Storfunktionλ Warmeleitfahigkeitλ mittlere freie WeglangeΛ Flußµ dynamische Zahigkeitν kinematische Zahigkeitρ Dichteσ Flacheσ Anteil (0 ≤ σ ≤ 1 )σn Normalimpulsakkommodationskoeffizientτ Schubspannung

vi

τ Zeitskala (Dauer zwischen zwei Stoßen)τvib SchwingungsrelaxationszeitΦ FeldgroßeΦ Potentielle EnergieΦ MolekuleigenschaftΨ Stoßinvarianteχ Konstanteξ Orts-Kooordinateωβ ProduktionsrateΘ Stoßfrequenz

Koordinaten:x, x1 Koordinate eines kartesischen Koordinatensystems

oder Axialkoordinate eines Zylinderkoordinatensystemsy, x2 Koordinate eines kartesischen Koordinatensystemsz, x3 Koordinate eines kartesischen Koordinatensystemsr Radialkoordinate eines Kugel- oder Zylinderkoordinatensystemsφ Langenkoordinate eines Kugel-

oder Tangentialkoordinate eines Zylinderkoordinatensystemsψ Breitenkoordinate eines Kugelkoordinatensystems

u, u1 Geschwindigkeitskomponente in x-Richtung (kartesische oderZylinderkoordinaten), in r-Richtung (Kugelkoordinaten)

v, u2 Geschwindigkeitskomponente in y-Richtung oder φ-Richtungw, u3 Geschwindigkeitskomponente in z-Richtung (kartesische Koordinaten),

in r-Richtung (Zylinderkoordinaten), in ψ-Richtung (Kugelkoordinaten)

Indizes:tr translatorischrot rotatorischvib schwingendel elektrischβ Speziesi SpeziesW Wand∞ unendlich

vii

Kapitel 1

Einleitung

1.1 Definition

Man spricht von Stromungen verdunnter Gase, wenn die mittlere freieWeglange λ des Gases vergleichbar wird mit einer charakteristischen LangeL des Stromungsfeldes. Das Gas verhalt sich dann nicht wie ein Kontinuum,sondern weist Eigenschaften seiner molekularen Struktur auf. Das dimensi-onslose Verhaltnis λ/L nennt man Knudsenzahl Kn

Kn =λ

L. (1.1)

Bei Stromungen verdunnter Gase ist also Kn nicht verschwindend klein. Fureinige Betrachtungen mag L als Korperabmessung angesehen werden (Rohr-durchmesser, Profillange) oder als Grenzschichtdicke bzw. als Dicke einerStoßfront. Insbesondere hat man dort mit Erscheinungen verdunnter Gase zurechnen,wo sehr große Gradienten der Stromungsgroßen auftreten; d.h. also inGebieten, in denen sich Geschwindigkeit, Druck oder Temperatur uber Ent-fernungen von der Großenordnung einiger freier Weglangen erheblich andern,ganz unabhangig davon, welchen Wert die absolute Gasdichte besitzt (z.B.in sehr starken Verdichtungsstoßen oder Hyperschallgrenzschichten). Anwen-dung findet die Theorie der Stromungen verdunnter Gase hauptsachlich inder Luft- und Raumfahrttechnik, aber auch in der Verfahrenstechnik und derVakuumtechnik.

1

1.2 Zusammenhang zwischen Kn, Ma und Re

Wenn große Gradienten von Stromungsgroßen Verdunnungseffekte hervor-rufen konnen, ist zu erwarten, daß zwischen der Knudsenzahl Kn (die dieVerdunnung des Gases angibt) und den klassischen Kennzahlen Re und Mader Stromungsmechanik ein Zusammenhang besteht. Auf diesen Zusammen-hang hat zuerst Theodore von Karman (1923) hingewiesen. Die Knudsenzahllaßt sich aus Re und Ma herleiten

Re =ρUL

µ, (1.2)

Ma =U√γRT

. (1.3)

Deutet man die innere Reibung eines Gases als molekularen Impulstransportquer zur Stromungsrichtung, so wie es die kinetische Gastheorie tut, dannergibt sich der gesuchte Zusammenhang. Zu diesem Zweck betrachten wireine einfache Scherstromung u(y), bei der die Geschwindigkeit u(y) von dery-Koordinate abhangt (die beiden anderen Komponenten sind null), wahrendDichte , Temperatur und Druck des Gases konstant sind. Als Folge der ther-mischen Bewegung innerhalb des Gases, treten Molekule durch die FlacheA-A in beiden Richtungen hindurch.

Abbildung 1.1: Einfache Scherstromung zur Illustration des molekularen Im-pulsaustausches quer zur Stromungsrichtung

2

Die Zahl der Teilchen, die pro Sekunde durch die Einheitsflache senkrechtzur y-Achse hindurchtritt, ist proportional zu

n · c · 1 =ρ

mc ,

mit c = mittlere thermische Geschwindigkeit der Teilchen ∼√RT ∼ a. In

einer Entfernung λ2

von der Ebene A − A haben die Molekule ihren letztenStoß erlitten. Molekule, die von unten nach oben durch A−A hindurchtreten,tragen daher im Mittel den Impuls I+ in x-Richtung (Tangentialimpuls desEinzelmolekuls).

I+ = m

(

uA −(∂u

∂y

)

A

λ

2+ . . .

)

︸ ︷︷ ︸

Taylor-Reihe, Impuls pro Masse

wahrend die von oben nach unten durchtretenden Molekule den Impuls

I− = m

(

uA +

(∂u

∂y

)

A

λ2 + . . .

)

transportieren.

Der Uberschuß an x-Impuls, der sekundlich durch die Flacheneinheit hin-durchtritt, ist daher fur alle nc Teilchen zusammengenommen

τ = nc(I− − I+) ∝ ρcλ

(∂u

∂y

)

A

+ . . . (1.4)

Vom makroskopischen Standpunkt aus ist der Transport von tangentialemImpuls in y-Richtung der Große nach der Schubspannung τ gleich

τ = µ∂u

∂y(1.5)

(Impulsanderung pro Zeit und Flache ist gleichbedeutend mit einer Kraft proFlache). Der Vergleich zwischen dem phanomenologischen Ansatz µ∂u

∂yund

dem obigen Impulsuberschuß liefert

µ ∝ ρcλ (1.6)

Mit dieser Beziehung fur die dynamische Viskositat kann die Re-Zahl alsProdukt zweier Verhaltniszahlen dargestellt werden

Re ∝ U

c

L

λ∝ Ma

Kn

3

oder

Kn =Ma

Re∗(1.7)

mit Re∗ = αRe, α = O(1). Der Proportionalitatsfaktor α ist von der Großen-ordnung 1. Wahlt man ein kartesisches Koordinatensystem mit der AbszisseMa und der Ordinate 1/Re∗, dann beschreibt Gleichung (1.7) Hyperbeln mitdem Kurvenparameter Kn = const.

Abbildung 1.2: Stromungsbereiche im Mach-Reynoldszahl-Diagramm.

Die Abbildung (1.2) zeigt, daß die klassische Stromungsmechanik ein quasi-eindimensionales Gebiet uberdeckt, in dem es entweder Kompressibilitat oderZahigkeit, aber nicht beides zugleich in jedem beliebigen Ausmaß gibt. Furgegebene Machzahl Ma und 1/Re∗ → 0 (d.h.Re∗ → ∞) existiert eineGrenzschicht der Dicke ε1/2 (ε = Kn) und eine kinetische Schicht (Knud-senschicht) der Dicke ε. Fur Re∗ = O(1) und Ma → 0 gibt es keine Grenz-schicht mehr; Zahigkeitseffekte erstrecken sich uber das gesamte Stromungs-feld (Oseen- oder Stokes-Stromung). Gasstromungen lassen sich anhand derKnudsenzahl Kn = Ma/Re∗ in die folgenden vier Bereiche einteilen:

4

Kontinuumsstromung

(Continuum flow)Ma

Re< 0,01

Gleitstromung

(Slip flow)0,01 <

Ma

Re< 0,1

Ubergangsstromung

(nearly free molecular flow)0,1 <

Ma

Re< 3

Freie Molekulstromung

(Free molecular flow)Ma

Re> 3

Bei Grenzschichtstromungen im Kontinuums- und Gleitstromungsbereichtritt an die Stelle von Kn = Ma/Re die mit δ gebildete Knudsenzahl

Knδ =λ

δ. (1.8)

Fur laminare Grenzschichten besteht zwischen δ und L der Zusammenhang

δ

L∼ 1

ReL

, ReL =ρUL

µ,

so daß

Knδ ∼Ma√

ReL

. (1.9)

In der obigen Tabelle ist bei Kontinuums- und Gleitstromungen lediglichMa/ReL durch Ma/

√ReL zu ersetzen. In den beiden ubrigen Stromungsbe-

reichen treten keine Grenzschichten mehr auf. Im Gebiet der Gleitstromung(λ ≈ (1/100 ÷ 1/10)δ) betragt die mittlere freie Weglange 1 oder 10 Pro-zent der Grenzschichtdicke oder anderer charakteristischer Dimensionen desStromungsfeldes. Aus dem obigen Bild folgt weiter, daß im Bereich der Gleit-stromung entweder die Machzahl sehr groß oder die Re-Zahl sehr klein seinmuß. Verdunnungseffekte wie Gleiten und Temperatursprung treten somitnur in Verbindung mit starken Zahigkeits- oder Kompressibilitatseffekten inGasen auf. Die Abweichungen vom Kontinuumsverhalten des Gases sind re-lativ gering und beschranken sich auf die Gebiete, in denen große Gradientenauftreten, also auf die Randbedingungen (weshalb zur Behandlung solcherProbleme haufig Kontinuumsmethoden verwendet werden. Siehe spater.) Bei

5

Stromungen mit starken Verdunnungseffekten (freie Molekulstromung) istdie mittlere freie Weglange λ wesentlich großer als die KorperabmessungL. Unter diesen Bedingungen kann sich keine Grenzschicht ausbilden. Mo-lekule, die vom Korper reflektiert werden, stoßen mit Molekulen aus der freienStromung nur in sehr großer Entfernung vom Korper zusammen, so daß derankommende Teilchenstrom praktisch ungestort bleibt. Großten Einfluß aufdie Stromung hat hier die Wechselwirkung des Gases mit der Korperober-flache.

Im Ubergangsgebiet zwischen Gleitstromung und freier Molekulstromung istdie freie Weglange von derselben Großenordnung wie die Korperabmessung.Die Wechselwirkung der Molekule mit der Wand ist ebenso wichtig wie dieWechselwirkung der Molekule untereinander. Die mathematische Behand-lung solcher Stromungsprobleme ist extrem schwierig, schwieriger als im Be-reich der Gleitstromung oder der freien Molekulstromung.

1.3 Knudsenzahl bei instationaren Stromun-

gen (Anlaufstromungen)

Die oben durchgefuhrten Betrachtungen uber den Zusammenhang zwi-schen Mach- und Reynoldszahl gelten fur stationare (d.h. zeitunabhangige)Stromungen. Bei instationaren Stromungen, beispielsweise Anlaufstromun-gen, konnen Verdunnungserscheinungen innerhalb des stromenden Gases un-ter anderen Bedingungen auftreten. Wir stellen uns hierzu das RayleighscheProblem der plotzlich in Gang gesetzten Platte vor. Zu allen Zeiten t < 0befinde sich die unendlich ausgedehnte Platte am Ort y = 0 sowie das Gasim oberen Halbraum (y > 0) in Ruhe. Zum Zeitpunkt t = 0 wird die Platteplotzlich auf konstante Geschwindigkeit U gebracht. Sie bewegt sich hinfortmit dieser Geschwindigkeit in ihrer eigenen Ebene. Molekule treffen auf diePlatte auf und tragen die Information ’die Platte bewegt sich’ durch Mo-lekulstoße ins Feld. Dabei entsteht eine Stromungsbewegung mit Geschwin-digkeitsprofilen, die von y und t abhangen und fur t→∞ einem stationarenZustand zustreben. Vom Beginn der Plattenbewegung (t = 0) bis zum stati-onaren Stromungszustand durchlauft die Stromung alle moglichen Zustandevon der freien Molekulstromung bis zur Kontinuumsstromung.Verdunnungseffekte werden jetzt durch die Verhaltniszahl zweier Zeitma-ße gemessen, namlich der Zeitdauer τ zwischen zwei aufeinander folgendenStoßen und der Zeit t seit Bewegungsbeginn der Platte. Die Knudsenzahl Kn

6

Abbildung 1.3: Plotzlich bewegte, unendlich ausgedehnte Platte (Rayleigh-Problem)

ist bei Anlaufstromungen definiert durch

Kn =τ

t=

τc

tc︸︷︷︸

L

L(1.10)

Freie Molekulstr. Kn≫ 1 τ ≫ tτ

t≫ 1

Ubergangsgebiet Kn = 0(1) τ = 0(t)τ

t= 0(1)

Kontinuumsstr. Kn≪ 1 τ ≪ tτ

t≪ 1

1/t kann auch als Frequenz gedeutet werden; d.h. Verdunnungeffekte konnenauch bei sehr hochfrequenten Vorgangen auftreten.Jede Anlaufstromung durchlauft also samtliche Stromungsbereiche von derfreien Molekulstromung bis hin zur Kontinuumsstromung. Jedoch ist bei Ga-sen, die sich fur t < 0 im Normalzustand (1 bar, 273 K) befinden, die Zeit-spanne, in der Verdunnungseffekte auftreten, so kurz (O(10−10s)), daß dieEffekte im allgemeinen keine praktische Bedeutung haben. Die Zeitspannenvergroßern sich in dem Masse, in dem die anfangliche Gasdichte reduziertwird.Auch bei instationaren Problemen laßt sich die Knudsenzahl durch die

7

Reynolds- und Machzahl ausdrucken.Bei der Definition derRe−Zahl muß jetzt nur als Lange L die Plattenverschie-bung Ut gewahlt werden. Damit ergibt sich eine zeitabhangige Reynoldszahl

Re =ρU(Ut)

µ=ρU2t

µ(1.11)

Re beginnt also mit verschwindend kleinen Werten und wachst dann an.Die Machzahl lautet

Ma =U√γRT

d.h. der Verdunnungseffekt wird stets durch die momentane Re-Zahl be-stimmt. Ist λ die mittlere freie Weglange und τ die mittlere Zeitdauer zwi-schen zwei Stoßen, dann gilt offenbar:

λ = c τ

c = mittlere thermische Geschwindigkeit der Molekule ∼√RT

Die dynamische Viskositat µ kann geschrieben werden als

µ ∼ ρc2τ ∼ ρτRT.

Die Knudsenzahl fur instationare Stromungen ist dann nichts anderes als

Kn =τ

t∼ µ

ρRT

1

t

u2

u2∼ Ma2

Re. (1.12)

1.4 Beispiele fur Stromungen mit Verdun-

nungseffekten

1.4.1 Das Rayleighproblem (1. Stokessches Problem)

In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, daß das oben bereits skizzierteRayleigh-Problem fur kleine Zeiten t = O(τ) nicht mehr durch Kontinuums-gleichungen beschrieben werden kann, weil Verdunnungseffekte eine Rollespielen. Wir werden dies auf indirekte Weise zeigen, indem wir, ausgehendvon einer Kontinuumslosung, nachweisen, daß sie fur t → 0 eine unphysika-lische Aussage liefert.

8

Fur kleine Machzahlen (Ma → 0) lauten die Navier-Stokes-Gleichungen furdie ebene instationare Stromung

∂u

∂x+∂v

∂y= 0, (1.13)

∂u

∂t+ u

∂u

∂x+ v

∂u

∂y= −1

ρ

∂p

∂x+ ν

(∂2u

∂x2+∂2u

∂y2

)

, (1.14)

∂v

∂t+ u

∂v

∂x+ v

∂v

∂y= −1

ρ

∂p

∂y+ ν

(∂2v

∂x2+∂2v

∂y2

)

. (1.15)

Diese Gleichungen lassen sich fur das Rayleigh-Problem erheblich vereinfa-chen. Da die Platte unendlich ausgedehnt ist und keinen Druckgradienten inx-Richtung besitzt, verschwinden alle Ableitungen von Stromungsgroßen inx-Richtung. Aus der Massenbilanz (1.13) folgt dann fur die undurchlassigePlatte, daß v im ganzen Feld verschwindet. Die Impulsbilanz (1.15) redu-ziert sich zu der Aussage ∂p/∂y = 0. Schließlich folgt aus (1.14) die lineareImpulsbilanz

∂u

∂t= ν

∂2u

∂y2. (1.16)

Sie laßt sich durch Einfuhren der Transformationsvariablen

s =y√νt

(1.17)

analytisch losen. Fur die zeitlichen und raumlichen Ableitungen erhalt man

∂t= −2t

s

d

ds,

∂2

∂y2=

1

νt

d2

ds2. (1.18)

Mit den Randbedingungen

s =y√νt→ ∞ u = 0

s = 0 u = U

ergibt sich die Losung in der Form der Fehlerfunktion erf(. . . ) zu

u

U= 1− erf

(y

2√νt

)

, erf χ =2√π

χ∫

0

e−t2dt (1.19)

9

Abbildung 1.4: Geschwindigkeitsverteilung uber einer plotzlich bewegtenPlatte (Kontinuumsstromung)

Wir definieren als Rand der Grenzschicht diejenige Stelle y = δ, bei deru/U = 0,01 ist. Aus

erf

(δ√2νt

)

= 0,99

folgtδ ≈ 4

√νt. (1.20)

Die Grenzschichtdicke δ wachst also mit der Zeit t. Je großer ν = µ/ρ, d.h.je hoher die Temperatur des Gases, umso dicker ist die Grenzschicht.Uns interessiert die Geschwindigkeit, mit der δ wachst. Sie ist

dt= 2

√ν

t. (1.21)

Fur t → 0 d.h. zu Beginn der Bewegung wachst die Grenzschicht also un-endlich schnell. Diese Aussage ist physikalisch unsinnig, denn die Molekulebewegen sich im Mittel hochstens mit Schallgeschwindigkeit in y-Richtung.Betrachtet man dasselbe Problem vom gaskinetischen Standpunkt aus, alsodurch Losen der Boltzmann-Gleichung unter Vernachlaßigung intermoleku-larer Stoße (freie Molekulstromung, t < τ), dann findet man

dt∼√

2RT (1.22)

10

Diese Geschwindigkeit entspricht der wahrscheinlichsten Molekulgeschwin-digkeit (nahezu Schallgeschwindigkeit). Das Ergebnis besagt, daß die Grenz-schicht unmittelbar nach dem Einsetzen der Plattenbewegung endlich schnellwachst und zwar wie

√T .

1.4.2 Stationare hypersonische Plattenumstromung

Bei Raumflugmissionen zu Planeten (z.B. Mars) sind schlanke Korperfor-men von Vorteil, da die Fluggeschwindigkeiten beim Eintritt so hoch sind,daß Warmeubergang durch Strahlung bedeutsamer ist als Warmeubergangdurch Konvektion. Schlanke Korper fuhren zu Stoßen mit kleinem Stoßwinkelund daher zu niedrigeren Temperaturen hinter dem Stoß. Strahlungseffekteskalieren bekanntlich mit der vierten Potenz der Temperatur.Eine ebene Platte mit spitzer Vorderkante ist ein schlanker Korper, an demsich bei Hyperschallanstromung die gesamte Skala der Stromungsformen vonder freien Molekulstromung bis zur Kontinuumsstromung studieren laßt.Wenn man die mittlere freie Weglange λ als Maßstabsfaktor einfuhrt, stelltman fest, daß der schrage Stoß sich in einer Entfernung 10λ stromab derVorderkante zu formieren beginnt und nach ca. 100λ einen Zustand erreichthat, der durch die Hugoniot-Relationen beschrieben wird. Diese Aussage giltunabhangig vom Zustand der Anstromung. Tatsachlich treten Verdunnungs-effekte in Stromungen mit beliebigen Mach- und Reynoldszahlen, also auchin typischen Kontinuumsstromungen auf. Nur sind sie dort im allgemeinenauf ein geometrisch so kleines Gebiet in der Nahe der Plattenvorderkantebeschrankt, daß sie praktisch zu vernachlaßigen sind.Abbildung (1.5) zeigt eine schematische Ubersicht der Stromungsverhaltnis-se an einer ebenen Platte, wie sie fur alle schlanken Korper charakteristischist. Die Allgemeingultigkeit der Darstellung wird durch Normierung der Ko-ordinaten mit λ erreicht. Direkt an der Vorderkante (x/λ < 1) liegt freieMolekulstromung vor. An sie schließt sich das Ubergangsgebiet an, in demintermolekulare Stoße allmahlich an Bedeutung gewinnen. Weiter stromabfolgt eine Zone, in der sich der schrage Stoß formiert (10 ≤ x/λ ≤ 1000), auseiner zunachst schwachen und breiten Verdichtungszone. Fur x/λ > 103 istder Stoß im Vergleich zu seinem Wandabstand sehr dunn.Effekte des Gleitens und Temperatursprungs an der Wand treten selbst-verstandlich auch auf, werden jedoch an anderer Stelle diskutiert.

11

Abbildung 1.5: Stromungsbereiche an der ebenen Platte bei Hyperschallan-stromung (Aus: M.Becker: Hyperschallstromung geringer Dichte an schlankenKorpern. Lehrgang fur Raumfahrttechnik, Gottingen, 1977)

1.4.3 Stromung durch eine Lavalduse

Bei der Expansion feuchter Luft in Lavaldusen konnen durch KondensationTropfen auftreten, deren Durchmesser vergleichbar sind mit der mittlerenfreien Weglange des Tragergases. Diese Wassertropfen besitzen einen gewis-sen Schlupf gegenuber der Grundstromung, d.h. ihre lokale Geschwindigkeitunterscheidet sich von der des Tragergases. Fur den Widerstand dieser Trop-fen im Tragergas muß eine Formel aus dem Bereich verdunnter Gasstromun-gen verwendet werden, da die Formel fur die Stokessche Kugelumstromungbei sehr geringem Schlupf keine Gultigkeit hat.

12

1.4.4 Trocknung und Destillation von Stoffen

Bei der Gefriertrocknung von Lebensmitteln und Pharmazeutika sowie beider Molekulardestillation temperaturempfindlicher Guter treten vielfachDrucke in der Großenordnung von 10−6 bar auf. Bei solchen Drucken ha-ben die Luftmolekule bereits eine freie Weglange von 7,11 cm. Dies bedeutetdurchaus nicht, daß pro Volumeneinheit nur noch sehr wenige Molekule vor-handen sind. Tatsachlich enthalt 1m3 Luft bei 300 K und einem Druck von10−6 bar noch 2,4 · 1019 Molekule, d.h. 2,4 · 1013 Molkule pro m3.Die mittlere freie Weglange von 7,11 cm liegt damit bereits in der Großenord-nung des Rohrdurchmessers technischer Apparaturen der Gefriertrocknungoder Molekulardestillation, d.h. die auftretenden Knudsenzahlen sind von derGroßenordnung 1.

1.4.5 MEMS- und Nano-Technologie

Neuerdings werden z.B. zur Stromungskontrolle extrem kleine Apparaturenverwendet, sogenannte Mikro-Elektro-Mechanische Systeme (MEMS). Ihrecharakteristischen Abmessungen sind kleiner als 1mm, aber großer als 1µm.In ihnen werden mit speziellen Techniken elektrische und mechanische Kom-ponenten kombiniert. Es kann sich um Aktuatoren, Motoren, Ventile, Dia-phragmen etc. handeln, bei denen Stromungsvorgange eine Rolle spielen.Haufig verhalt sich das Fluid dabei nicht mehr wie ein Kontinuum, so daß sichdie Vorgange z.B. nicht mehr mit den Navier-Stokes-Gleichungen beschrei-ben lassen. Bei Gasstromungen entscheidet der Wert der lokalen Knudsenzahluber die Anwendbarkeit der Kontinuumsgleichungen oder die Notwendigkeitgaskinetische Gleichungen heranzuziehen.Die Nano-Technologie ist ein junges innovatives Forschungsgebiet, das sichaus einer Vielzahl spezialisierter Fachdisziplinen zusammensetzt. Grundla-genforschung wird unter anderem im Bereich extrem dunner Oberflachenbe-schichtungen betrieben. Charakteristische Schichtdicken variieren zwischen10−9 und 10−7m. Vergleicht man das mit der freien Weglange von Luft un-ter Normalbedingungen (6 · 10−8m), so wird klar, daß bei Beschichtungen diemolekulare Struktur der Materialien eine Rolle spielt.

13

Kapitel 2

Begriffe, Großenordnungen,elementare Gaskinetik

2.1 Molekulmodelle

Ein Molekul besitzt bekanntlich Masse, daruber hinaus ein außeres Kraftfeldsowie eine innere Struktur. Das außere Kraftfeld ist eine Folge der innerenStruktur, denn das Molekul besteht aus einem oder mehreren Atomkernen,um die Elektronen kreisen.Das außere Kraftfeld wird im allgemeinen als kugelsymmetrisch angenom-men. Das ist in vielen Fallen auch tatsachlich der Fall. Das Kraftfeld oderdie potentielle Energie Φ zwischen zwei Molekulen kann folgendermaßen dar-gestellt werden. Die beiden Kurven 1 und 3 stellen zum einen die starksteIdealisierung (Kurve 1) und zum anderen die beste Annaherung an die Wirk-lichkeit (Kurve 3) dar. Dazwischen liegen noch zwei mehr oder minder guteNaherungen, die gleich noch detaillierter behandelt werden.

1. Starre Kugeln:Ansatz fur die potentielle Energie Φ:

Φ =

{∞ fur r ≤ d0 fur r > d

(2.1)

Dieses Modell gibt nur die Valenzabstossung bei kleinem Abstand wie-der. Da hiernach die Molekule einen genau definierten Durchmesserhaben, kann fur ein solches Gas eine freie Weglange eindeutig definiert

14

Abbildung 2.1: Potentielle Energie Φ in Abhangigkeit des Abstandes r zweierMolekulekulzentren

werden. Bei allen ubrigen Modellen entfallt diese Moglichkeit. Die Ku-geln sind ohne Tragheitsmoment zu denken. Dieses Modell ist das alte-ste, welches in der Gastheorie Verwendung fand (Clausius 1858).

2. Potenzgesetz:Ansatz fur die Abstossungskraft K:

K = −∂Φ∂r

rνbzw. Φ =

κ

ν − 1

1

rν−1(2.2)

Dieses Modell gibt ebenfalls nur die Abstossung wieder, enthalt aberbereits zwei Parameter und erlaubt zwischen harten (ν ≈ 14 aus derZahigkeit von Helium bei 20 Grad Celsius) und weichen Molekulen(z.B. ν ≈ 5 aus der Zahigkeit von Chlorgas bei 20 Grad Celsius) zuunterscheiden.Der spezielle Fall ν = 5 ist fur die Gastheorie aus rechnerischenGrunden von besonderer Bedeutung (Maxwellsches Gas). Das Modell

15

der Potenzkraftzentren wurde von Enskog und Chapman bei der An-wendung ihrer grundlegenden Methoden benutzt.

3. Abstossungs- und Anziehungspotential:Atome und Molekule im Grundzustand ziehen sich immer an. DieseMolekularkrafte bewirken als van der Waalssche Krafte die Zusam-menballung der Molekule zur kompakten Flussigkeit, wenn die Dichtegenugend groß ist. Die Kombination aus Abstossungs- und Anziehungs-kraften fuhrt zu dem allgemeinen Ansatz:

K =κ

rν− κ′

rν′ (2.3)

Spezialfall: (6;12)-Potential von Lenard-Jones

Φ = 4ǫ

(d0

r)12

︸ ︷︷ ︸

Abstossung

− (d0

r)6

︸ ︷︷ ︸

Anziehung

(2.4)

Die Bedeutung der Parameter ǫ und d0 geht aus der Abbildung her-vor. Das Minimum des Potentials liegt bei rm = 6

√2d0. Mit diesem

Potential sind in neuerer Zeit besonders viele numerische Berechnun-gen durchgefuhrt worden, die auf den quantitativen Vergleich mit demExperiment abzielen (fur η, λT , etc.).

4. Sutherland-Modell:Dieses Modell stellt einen weiteren Spezialfall des allgemeinen Ansatzesfur das Abstossungs- und Anziehungspotential dar. Mit ν = ∞ erhaltman :

Φ =

∞ fur r ≤ d

− κ′

ν ′ − 1r−ν′+1 fur r > d

(2.5)

Die Abstoßung ist durch starre Kugeln idealisiert. Bei großerem Ab-stand kommt eine Anziehung hinzu. Das Modell enthalt also bereits diebeiden charakteristischen Anteile der Molekularkrafte und war dement-sprechend erfolgreich in der kinetischen Theorie.

Auf der Basis des Starre-Kugel-Modells konnen bereits erstaunlich genaueAussagen gemacht werden, wenn nur der Kugeldurchmesser d so gewahltwird, daß beispielsweise der theoretische Wert fur die Zahigkeit mit dem ex-perimentellen Wert gut ubereinstimmt.

16

Die innere Struktur der Molekule wird dann bedeutsam, wenn Aussagen uberden Energieinhalt eines Gases gemacht werden mussen. Nachdem die Mo-lekule aus Atomkernen und Elektronen bestehen, die sich relativ zum Mas-senzentrum des Molekuls bewegen konnen, sind außer der Translationsener-gie noch die Energieformen der Rotation und Vibration moglich. Die innereStruktur der Molekule kann naturlich auf die Wechselwirkung der Molekulebeim Stoß Einfluß nehmen. Die Hinzunahme innerer Freiheitsgrade erschwertdie kinetische Theorie außerordentlich und soll daher hier unterbleiben.Im Rahmen dieser Vorlesung wird vorwiegend das Modell der strukturlosen,vollkommen elastischen Kugel verwendet. Dieses Billiardkugel-Modell wirddurch folgende Großen vollstandig beschrieben :

- Molekulmasse, m

- Molekuldurchmesser, d

- Zahl der Teilchen pro Volumen fur jede Molkulsorte, n

- Betrag der mittleren thermischen Molekulgeschwindigkeit, c

2.2 Mittlere freie Weglange und Stoßfre-

quenz

Die mittlere freie Weglange λ kann nur dann eindeutig definiert werden, wenndas Gas aus lauter starren Kugeln besteht. λ ist bekanntlich diejenige Ent-fernung, die ein Teilchen im Mittel geradlinig zurucklegt, bevor es mit einemanderen zusammenstoßt. λ laßt sich aus einer einfachen Betrachtung herlei-ten. Wir stellen uns um eines der Molekule eine Kugel vom Durchmesser dvor. Diese Kugel definiert den Einflußbereich (die Einflußsphare) des stoßen-den Molekuls, das sich bewegt.

Abbildung 2.2: Definition des Einflußbereichs eines stoßenden Molekuls

17

Ein Stoß mit einem anderen Molekul tritt immer dann ein, wenn das Zentrumdes anderen Molekuls auf der Oberflache des kugelformigen Einflussbereichsliegt. Der Einfachheit halber stellen wir uns vor, daß nur das stoßende Mo-lekul (1) sich mit der mittleren Geschwindigkeit c bewegt, wahrend die ande-ren (gestoßenen) Teilchen ruhen. Das Molekul (1) sowie sein Einflußbereichfuhren dann eine Zickzackbewegung durch.

Abbildung 2.3: Zickzackbewegung der Einflußsphare infolge von Stoßen

Eine weitere Vereinfachung besteht darin, daß die Bahn des Teilchens (1) alsgradlinig gedacht wird (was unter Gleichgewichtsbedingungen moglich ist,denn dann gibt es in jedem Raumpunkt zu jeder Zeit gerade ein Teilchen,das die Bahn des urspunglichen Teilchens fortfuhrt). Die fiktive Teilchenbahnsieht dann so aus:

Abbildung 2.4: Fiktive Bahn der Einflußsphare im Zustand thermodynami-schen Gleichgewichts

Der Einflußbereich uberstreicht pro Zeit einen Zylinder mit dem Volumen

πd2c

Die Zahl der in diesem Volumen befindlichen Molekulzentren und damit dieZahl der Stoße pro Zeit, Θ (Stoßfrequenz), lautet jetzt

Θ = πd2cn ,

wobei n die Anzahl der Teilchen pro Volumen bezeichnet.Es sei schon an dieser Stelle vermerkt, daß in dieser Formel fur Θ eine gra-vierende Vereinfachung steckt, namlich die Vernachlassigung der Molekulge-schwindigkeiten der gestoßenen Molekule. Um dies zu korrigieren setzen wirspater fur c die mittlere Relativgeschwindigkeit crel.

18

Das stoßende Teilchen legt in der Zeiteinheit die Entfernung c zuruck underleidet dabei Θ Stoße. Daraus folgt, daß die mittlere Entfernung zwischenzwei Stoßen, also die mittlere freie Weglange gegeben ist durch

λ =c

Θ=

1

πd2n. (2.6)

(Entfernung/Zeit durch Zahl der Stoße pro Zeit = Entfernung zwischen zweiStoßen).

Dieser Wert fur λ stimmt exakt mit der mittleren freien Weglange einesTeilchens uberein, das unendlich mal schneller ist, als die ubrigen Teilchen.Dies ist naherungsweise der Fall bei einem freien Elektron, das sich durch einGas bestehend aus normalen Molekulen bewegt. (Der Molekuldurchmesserist dann das arithmetrische Mittel aus Elektronen- und Molekuldurchmesser,was dem Molekuldurchmesser sehr nahe kommt.)

Fur genauere Rechnungen darf die Bewegung der gestoßenen Molekule nichtmehr vernachlaßigt werden. Es ergibt sich dann :

λ =1√

2πd2n(2.7)

Der Faktor√

2 kommt daher, daß die eigentliche Gasgeschwindigkeit zurBerechnung der Stoßfrequenz nicht c, sondern die mittlere Relativgeschwin-digkeit der Molekule crel ist und diese kann gerade zu

√2 · c ermittelt werden.

Die mittlere Zeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Stoßen ist

τ =1

Θ=

1√2πd2nc

c. (2.8)

τ muß sehr wohl von der Stoßdauer τc unterschieden werden, welche diejenigeZeit darstellt, wahrend der die Molekule miteinander in Wechselwirkungsind. (τc ist fur Luft unter Normalbedingungen um einen Faktor 10−4 kleinerals τ d.h. τc = 10−13s)

19

2.3 Druck, Temperatur und innere Energie

Um die Großen Druck, Temperatur und innere Energie aus gaskinetischerSicht zu verstehen, betrachten wir jetzt ein Gas im Zustand des absolutenGleichgewichts innerhalb eines abgeschlossenen Volumens V . Das Gas ist inRuhe, die Molekule besitzen also nur Eigenbewegung. Druck, Dichte undTemperatur sind raumlich und zeitlich konstant.

Abbildung 2.5: Molekulbewegung in einem wurfelformigen Behalter der Kan-tenlange l unter Gleichgewichtsbedingungen.

Im Gleichgewichtszustand sind zwar alle Molekule in Wechselwirkung, jedochgibt es zu jedem Teilchen x, das durch einen Stoß mit einem anderen Teilchenseine ursprungliche Geschwindigkeit verliert, gerade ein Teilchen, das durcheinen Stoß die Geschwindigkeit des Teilchens x erhalt und somit dessen ur-sprungliche Bewegung mit unveranderter Geschwindigkeit fortfuhrt. Nimmtman noch spiegelnde Reflexion an der Wand an, d.h. die Tangentialkompo-nente der Geschwindigkeit bleibt erhalten und die Normalkomponente andertihr Vorzeichen, dann ergibt sich das obige Bild. Diesen Uberlegungen liegtdie Tatsache zugrunde, daß es in einem Gas im Zustand des Gleichgewichtskeine Vorzugsrichtung gibt, in der sich die Teilchen bewegen.

Wir fragen jetzt nach der Impulsanderung eines Teilchens beim Stoß mit derWand und betrachten die zu x1 senkrechte Wand. Die Impulsanderung eines

20

Teilchens an dieser Wand ist

mc1 − (−mc1) = 2mc1.

Die Zeit, die ein Molekul benotigt, um von der rechten (zu x1 senkrechten)Wand zur linken und wieder zuruck zu gelangen (Zeit, die zwischen zweiStoßen des Teilchens mit der rechten Wand liegt) ist

2l

c1,

wenn die Kantenlange des Wurfels l betragt.Die Zahl der sekundlichen Stoße mit der Wand fur Molekule, die gerade dieGeschwindigkeit c1 besitzen, ist dann

Θ =c12l.

Die Impulsanderung pro Zeit, sprich: die auf die rechte Wand der Flache l2

wirkende Kraft ergibt sich somit zu

Impulsanderung

Stoß· Stoße

Zeit︸ ︷︷ ︸

Θ

=2mc1

2lc1 =

mc21l.

Der Beitrag zum Druck auf die Wand resultierend aus c1 ist

mc21l· 1l2

=mc21l3

=mc21V

.

Nun besitzen die Teilchen aber nicht nur einen speziellen Wert der Geschwin-digkeit c1, sondern alle moglichen Werte dieser Geschwindigkeitskomponente,uber die noch summiert werden muß. Der Gesamtdruck ist somit

p =1

V

N∑

α=1

mc2α1 α zahlt die Teilchen in V .

Ein entsprechender Ausdruck ergibt sich fur die beiden anderen Wande senk-recht zur x2- und x3 -Richtung. Der Mittelwert daraus lautet

p =1

3V

N∑

α=1

m(c2α1 + c2α2 + c2α3︸ ︷︷ ︸

c2α

) =1

3V

N∑

α=1

mc2α =ρ

3c2 (2.9)

(Dieser Mittelwert ware im Gleichgewichtszustand eigentlich gar nicht not-wendig.)cα ist der Betrag der Teilchengeschwindigkeit des α-ten Teilchens.

21

Die totale Translationsenergie der Molekule innerhalb des Volumens V ist

Etr =1

2

N∑

α=1

mc2α =1

2mN c2. (2.10)

Setzt man Etr in die Beziehung fur p ein, so folgt

pV =2

3Etr =

1

3

N∑

α=1

mc2α =mN c2

3. (2.11)

Das ist eine Zustandsgleichung des Gases, wie sie die kinetische Gastheorieliefert. Sie soll jetzt mit der empirisch gewonnenen Zustandsgleichung fur einthermisch ideales Gas, das im thermischen Gleichgewicht mit seiner Umge-bung ist, verglichen werden. Sie lautet

pV = mN︸︷︷︸

M=ρV

RT (empirische Zustandsgleichung). (2.12)

wobei: N = Gesamtzahl der Teilchen in Vm = TeilchenmasseR = auf die Masseneinheit bezogene Gaskonstante

Der Vergleich beider Gleichungen liefert die gaskinetische Definition der Tem-peratur

Etr =1

2

N∑

α=1

mc2α =3

2mNRT . (2.13)

Aus Etr folgt sofort die auf die Masse bezogene kinetische Energie des Sy-stems

etr =Etr

mN=

3

2RT =

1

2c2. (2.14)

Die Temperatur ist ein Maß fur die thermische Bewegung der Molekule. (Jeschneller sich die Molekule bewegen, umso hoher ist die Temperatur).

Noch eindrucksvoller ist folgende Definition (kinetische Energie pro Molekul)

etr = etrm =3

2mRT =

3

2kT =

m

2c2. (2.15)

mit

22

k = Boltzmann-Konstanteallgemeine Gaskonstante je Molekul = 1,38 · 10−26 kJ/K

R =k

m

etr ist gleich der spezifischen inneren Energie des Systems, wenn die Molekulenur translatorische Freiheitsgrade besitzen (einatomige Gase)

etr = e.

Die spezifische Warme bei konstantem Volumen erhalt man dann zu

cv =

(∂e

∂T

)

v

=3

2R, (2.16)

und mit der thermodynamischen Beziehung cp − cV = R folgt

cp =5

2R. (2.17)

Das Verhaltnis der spezifischen Warmen, γ, lautet in diesem Fall

γ =cpcv

=5

3. (2.18)

2.4 Transportgroßen

Die folgenden Betrachtungen gelten nur fur schwach gestortes Gleichgewicht.

Die im vorherigen Kapitel behandelten Erscheinungen beschrankten sich aufruhende Gase im thermodynamischen Gleichgewicht, d.h. alle makroskopi-schen Großen waren raumlich und zeitlich konstant. Wenn sich das Gasnicht mehr im Gleichgewicht befindet (auch nicht im ortlichen Maxwell-schen Gleichgewicht), wenn also makroskopische Großen (u,T,nA) eine nicht-gleichformige (inhomogene) raumliche Verteilung besitzen, treten infolge dermikroskopischen Teilchenbewegung zusatzliche Erscheinungen auf. Kurz ge-sagt: die Molekule transportieren aufgrund ihrer thermischen Bewegung imMittel makroskopische Eigenschaft vom Gebiet, aus dem sie kommen, in dasandere. Auf diese Weise erfolgt ein Transport von Impuls, Energie und Masse.Den Transport von Impuls, aus dem sich die molekulare Zahigkeit erklarenlaßt, hatten wir bereits in der Einleitung kennengelernt. Die drei Erscheinun-gen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

23

Makroskopische Ursache Mol. Transport Makroskopisches Ergebnis

Inhom. Geschwindigkeit Impuls Zahigkeit (Spannung)

Inhom. Temperatur Energie Warmeleitung (Warmestr.)

Inhom. Konzentration Masse Diffusion (Teilchenstr.)

Im einfachsten Fall nimmt man Nichtgleichformigkeit (Inhomogenitat) dermakroskopischen Variablen nur in einer Richtung an und erhalt dann ausder Kontinuumstheorie (bzw. aus phanomenologischen Betrachtungen) diefolgenden Beziehungen:

τ12 = µdu1

dx2Impulsstromdichte; Schubspannung

q2 = −λTdT

dx2Warmestromdichte

ΓA = −DABdnA

dx2Diffusionsstromdichte

Die Diffusionsstromdichte enspricht dem Nettotransport von Molekulen proFlache und Zeit der Sorte A (eines Gemisches A,B) bei homogener Tempe-ratur.

τ12 = Schubspannung [kg/(s2m) = N/m2 = Pa]

q2 = Warmestromdichte = Energiestrom pro Volumen [kg/s3]

ΓA = Teilchendiffusionsstromdichte [1/(m2s)]

µ = molekulare Zahigkeit [kg/(ms) = Pa s]

λT = Warmeleitkoeffizient [kg m/(s3 K)]

DAB = Diffusionskoeffizient [m2/s]

u1 = Stromungsgeschwindigkeit in x1-Richtung [m/s]

T = Temperatur [K]

nA = Zahl der Teilchen pro Volumen der Sorte A [1/m3]

24

a(x2) ist eine makroskopische Große oder mittlere Molekuleigenschaft, diesich nur in x2-Richtung andert. Wenn ein Molekul die Ebene x2 durchfliegt,dann transportiert es eine Molekuleigenschaft a, die fur den Ort, an dem dasMolekul seinen letzten Stoß erlitten hat, charakteristisch ist.

Abbildung 2.6: Transport von Molekuleigenschaften ruft makroskopische Ef-fekte (Reibungsspannung, Warmestrom,. . . ) hervor.

a(x2,0 − δx2) stellt den Wert der in positiver x2-Richtung transportiertenMolekuleigenschaft dar, die ein Molekul aus einer Ebene unterhalb von x2 inpositiver x2-Richtung transportiert und entsprechend ist a(x2,0 + δx2) die innegativer x2-Richtung durch die Ebene x2 transportierte Eigenschaft.

Die Zahl der Teilchen, die von oben bzw. unten die Ebene x2 =const. durch-fliegen, ist proportional zu nc. Der Uberschuß an Molekuleigenschaft, der inpositiver x2-Richtung pro Flache und Zeit transportiert wird, ist daher

Λa ∼ nc (a(x2,0 − δx2)− a(x2,0 + δx2)) . (2.19)

Wir definieren den Fluß Λa als positiv in positiver x2-Richtung. Wenn wirbeide Ausdrucke fur a in Taylor-Reihen um x2 entwickeln, folgt

a(x2,0 + δx2) = a(x2,0) +da

dx2δx2 +

d2a

dx22

(δx2)2

2+ . . . (2.20)

a(x2,0 − δx2) = a(x2,0)−da

dx2δx2 +

d2a

dx22

(δx2)2

2− . . . (2.21)

25

Ein sinnvolles Maß fur δx2 ist naturlich λ. Nach Einsetzen der Reihenent-wicklungen ergibt sich der Fluß an Molekuleigenschaft a zu

Λa = −βancλda

dx2. (2.22)

Dies ist eine allgemeine Gleichung fur den Gradiententransport von mittle-ren Molekuleigenschaften. Der Ansatz ist von zweiter Ordnung genau in λ(der zweite Term der Reihenentwickung verschwindet identisch), βa ist einProportionalitatsfaktor der Großenordnung 1. Sein genauer Wert hangt vomMolekulmodell und der transportierten Eigenschaft ab.Im folgenden betrachten wir spezielle Molekuleigenschaften, namlich Impuls,kinetische Energie und Konzentration.

1. ImpulsDie transportierte Eigenschaft ist der mittlere Impuls der Molekule inx1-Richtung:

a = mu1(x2),

mit m der Molekulmasse und u1 der mittleren Molekulgeschwindigkeit(Stromungsgeschwindigkeit).

Der resultierende Strom von x1-Impuls in x2-Richtung ist nach Newtoneiner Kraft pro Flache, also einer Schubspannung gleich. Es gilt folgendeVorzeichenregel (Vereinbarung)

τ12 = −Λa

Abbildung 2.7: Vorzeichenvereinbarung fur den Impulstransport

26

Ein positiver Gradient du1/dx2 fuhrt zu einem negativen Impulsstrom,der die Fluidschicht x2−δx2 zu beschleunigen sucht (positives τ12). Furτ12 folgt also

τ12 = −Λa = βµnmcdu1

dx2λ.

Aus dem Vergleich mit der phanomenologischen Beziehung τ12 =µdu1/dx2 ergibt sich

µ = βµρcλ ∼ βµc.

Nachdem λ ∼ 1/ρ, ist µ von der Dichte unabhangig. Dieses Ergebnishat selbst Maxwell uberrascht, als er es 1860 fand, und er ruhte nicht,bis er es experimentell bestatigt sah. Zur Temperaturabhangigkeit istnoch folgendes zu sagen:

Fur harte (starre) Kugeln gilt

λ =m√

2πd2ρ,

und somit

µ = ρν ∼ ρcλ ∼ c

d2.

Andererseits ist c ∼√T , so daß fur das Billiardkugelmodell folgt

µ ∼√T .

In Wirklichkeit steigt µ schneller als√T , was damit zusammenhangt,

daß die Molekularkrafte vom gegenseitigen Molekulabstand abhangen.Betrachten wir das Sutherland-Modell (Anziehungskraft vorhanden, so-lange die Kugeln sich nicht beruhren).

Man erkennt, daß das Verhalten zweier sich schwach anziehender Ku-geln im großen und ganzen dem Verhalten zweier Kugeln von etwasgroßerem Durchmesser (deff) entspricht, die sich wie harte Kugeln ver-halten.

Je großer die Relativgeschwindigkeit der Molekule ist, umso wenigerZeit bleibt den Anziehungskraften, die Molekule abzulenken, umso klei-ner ist also deff in bezug auf d. Aus der Dynamik des Stoßes ergibt sich

d2eff = d2

(

1 +χ

T

)

.

χ ist eine Konstante, die empirisch bestimmt werden muß.

27

Abbildung 2.8: Stoß zweier Sutherland-Molekule

Das Quadrat der Relativgeschwindigkeit g der Molekule ist ja ein Maßfur die Gastemperatur

g2 ∼ T ,

wodurch sich erklart, daß in der Beziehung fur deff die Temperaturauftaucht. Verwendet man in der Beziehung µ ∼ c/d2 anstelle von djetzt deff , so ergibt sich Sutherlands Formel

µ

µref=

(T

Tref

)1/21 + χ/Tref

1 + χ/T=

(T

Tref

)3/2Tref + χ

T + χ. (2.23)

µref ist die Viskositat bei der Temperatur Tref . χ ist eine experimentellermittelte Konstante. Man erkennt, daß µ schneller wachst als T 1/2,aber langsamer als T 3/2. Die obige Formel hat große praktische Bedeu-tung. Sie liefert fur O2 und N2 genaue Werte.Die folgende Tabelle (Tab. 2.1) der Viskositaten verschiedener Gasebei 0◦C(273 K) bestatigt Maxwells Ergebnis, daß die Viskositat vonder Dichte unabhangig ist, mit recht guter Genauigkeit.

2. Energie

Die transportierte Eigenschaft ist die mittlere kinetische Energie derthermischen Bewegung (die mittlere Energie resultierend aus innerenFreiheitsgraden kann im Prinzip hinzugenommen werden)

a =m

2c2 =

m

23p

ρ=

3

2mR︸︷︷︸

k

T = mcvT.

28

Luft O2 N2 H2 He CO2

ρ [kg/m3] 1,275 1,41 1,234 0,088 0,176 1,951

χ [K] 122 125 117 -10 86 242

µ · 105 [Pa s] 1,71 1,924 1,672 0,782 1,871 1,367

Tabelle 2.1: Viskositaten verschiedener Gase bei 0◦C, berechnet nachdem Sutherland-Modell. (Aus: E. Truckenbrodt: Fluidmechanik, Band 1,Springer-Verlag 1980)

Der resultierende Energiefluß ist der Warmestrom durch Warmeleitung

q2 = −βTρcλcvdT

dx2

.

Der Vergleich mit der phanomologischen Beziehung q2 = −λTdT/dx2

liefertλT = βTρcλcv (Warmeleitfahigkeit),

mit βT als neuem Proportionalitatsfaktor. Die Bestimmung der Pro-portionalitatsfaktoren βµ und βT geschieht unter Berucksichtigung derGeschwindigkeitsverteilung der Molekule und eines speziellen Wechsel-wirkungsgesetzes. Fur das Maxwellsche Gas ergibt sich (K ∼ 1/r5)

βµ = 0,499 ≈ 1

2βT ≈

5

4.

Zwischen µ und λT besteht eine Beziehung, die durch die Prandtl-Zahlwiedergegeben wird

λT =βT

βµµcv =

5

2µcv,

P r ≡ cpµ

λT=cpcv

cvµ

λT=

2

5γ.

Die Prandtlzahl tritt dann auf, wenn in einer Stromung sowohlZahigkeits- als auch Warmeleiteffekte eine Rolle spielen.

3. Masse

Die transportierte Eigenschaft ist die Masse des Molekuls oder die Iden-titat des Molekuls selbst. Es genugt dabei, Teilchen derselben Sorte zubetrachten, nur muß ein gewisser Prozentsatz dieser Teilchen gekenn-zeichnet sein (z.B. radioaktiv).Andert sich die Konzentration der radio-

29

aktiven Teilchen in x2-Richtung (Konzentrationsgradient), dann setztein Transport dieser Teilchen in dieser Richtung ein, den wir Selbstdif-fusion nennen.

Die transportierte Molekuleigenschaft ist hier das Verhaltnis von radio-aktiven Teilchen zur Gesamtzahl der Teilchen pro Volumen, also

a =nA

n.

Das Ergebnis dieses Teilchentransportes infolge eines Konzentrations-gradienten (und nicht eines Temperaturgradienten⇒ Thermodiffusion)ist ein Teilchenstrom in x2-Richtung (d.h. Zahl der Teilchen, die proFlache und Zeit durch ein Flachenelement senkrecht zu x2 hindurch-treten)

Λa = ΓA = −βDncλd(nA/n)

dx2

= −βDcλ︸ ︷︷ ︸

DAA

dnA

dx2

.

Der Koeffizient fur Selbstdiffusion ist demnach

DAA = βDcλ [m2/s]

Die Beziehung fur DAA ist auch dann noch eine sinnvolle Naherung,wenn es sich um die Diffusion eines Gases durch ein anderes handelt, dasnahezu identisch ist, also z.B. Stickstoff und Kohlenmonoxid, die ahn-liche Molekule mit nahezu gleichem Molekulargewicht haben. Bei un-gleichen Molekulen, sind die hier durchgefuhrten einfachen Transport-vorgange nicht mehr zulassig, da sich die freien Weglangen und mittle-ren thermischen Geschwindigkeiten der Molekule bei gleicher Tempe-ratur zu sehr unterscheiden.

Die obigen Ergebnisse fur die Transportkoeffizienten µ,λT ,DAA zei-gen, daß diese Koeffizienten alle von der thermischen Molekulgeschwin-digkeit c, also der Gastemperatur und der mittleren freien Weglangeabhangen. Verwendet man die folgenden Formeln fur λ und c

λ =1√

2πd2n=

1√2σn

c =

8RT

πoder

√2RT,

30

dann ergibt sich

µ, λT ∼√T

σ, (2.24)

DAA ∼√T

σn. (2.25)

Wahrend µ und λT nur mit T variieren, hangt DAA sowohl von T alsauch n ab.

2.5 Gleitgeschwindigkeit und Temperatur-

sprung

In diesem Kapitel werden wir mit ahnlichen Methoden wie im vorherigen Ka-pitel, namlich mit elementaren gaskinetischen Methoden, die Gleitgeschwin-digkeit und den Temperatursprung fur die Stromung eines verdunnten Gasesherleiten.

2.5.1 Gleitgeschwindigkeit

Dazu stellen wir uns eine einfache Couette-Stromung vor, bei der die un-tere Platte ruht und die obere sich mit der konstanten Geschwindigkeit Ubewegt. Die Temperaturen beider Platten sind gleich, es treten also keineWarmeleiterscheinungen auf.

Abbildung 2.9: Geschwindigkeitsprofile der Couette-Stromung fur verschie-dene Knudsen-Zahlen.

Die Stromung des Gases zwischen den Wanden kommt aufgrund der Bewe-gung der oberen Platte zustande und nicht durch Druckgradienten in x1-

31

Richtung. Die Plattenbewegung wird dem Gas aufgrund der Zahigkeit (alsoder Molekulstoße) mitgeteilt. Wir betrachten jetzt die mittlere Stromungs-geschwindigkeit u in unmittelbarer Nahe der oberen Wand:

Abbildung 2.10: Zur Erlauterung des Impulstransports in unmittelbarerWandnahe.

An der Wand findet eine Reflexion der Gasteilchen statt. Wir stellen unsvor, der auf die Wand auftreffende Teilchenstrom hatte kurz vor dem Auf-treffen die mittlere Geschwindigkeit u+ in x1-Richtung und der reflektierteTeilchenstrom u− kurz nach der Reflexion.

Dann ist die mittlere Geschwindigkeit in unmittelbarer Wandnahe

u(x2=d/2) =1

2(u+ + u−). (2.26)

Diese Geschwindigkeit unterscheidet sich von der Plattengeschwindigkeit U .Um wieviel sie sich unterscheidet, wollen wir herausfinden. Experimentelllaßt sich nachweisen, daß Teilchen bei der Reflexion zum Teil in das Mate-rial eindringen und es nach einer gewissen Verweilzeit wieder verlassen undzwar mit einer mittleren Geschwindigkeit in x1-Richtung, die gleich U ist(diffuse Reflexion). Der ubrige Teil wird spiegelnd reflektiert. Jener Bruchteilσ, der diffus reflektiert wird, hangt von der Gasart, dem Wandmaterial undder Oberflachenbeschaffenheit ab. Nach diesem sogenannten MaxwellschenReflexionsgesetz ergibt sich fur den reflektierten Teilchenstrom

u− = (1− σ)u+ + σU. (2.27)

32

Andererseits ist u+ gleich der mittleren Gasgeschwindigkeit in x1-Richtunggemessen an einem Ort im Abstand λ von der Wand, an dem der letzte Stoßstattfand

u+ = u(x2=d/2) − λ( du

dx2

)

(x2=d/2),

oder

u+ =1

2(u+ + u−)− λ

( du

dx2

)

(x2=d/2). (2.28)

Wenn wir u− aus (2.27) in (2.28) einsetzen, ergibt sich

u+ =1

2(u+ + (1− σ)u+ + σU)− λ

( du

dx2

)

(x2=d/2),

oder

u+ = U − 2

σλ( du

dx2

)

(x2=d/2)(2.29)

Aus Gleichung (2.28) und (2.29) folgt

1

2(u+ +u−) = u+ +λ

( du

dx2

)

= U −( 2

σ−1)

λ( du

dx2

)

= U −(2− σ

σ

)

λ( du

dx2

)

.

Die Stromungsgeschwindigkeit in unmittelbarer Wandnahe ist daher

1

2(u+ + u−) = u(x2=d/2) = U −

(2− σσ

)

λ( du

dx2

)

︸ ︷︷ ︸

us

. (2.30)

Das Gas gleitet also mit der Gleitgeschwindigkeit

us =(2− σ

σ

)

λ( du

dx2

)

(x2=d/2)

an der Wand entlang. σ ist dabei der Akkommodationskoeffizient fur denTangentialimpuls.

2.5.2 Temperatursprung

Ebenso wie die makroskopische Gasgeschwindigkeit an der Wand von derGeschwindigkeit der Wand selbst abweicht, gibt es bei verdunnten Gasenauch einen Unterschied zwischen der Wandtemperatur und der Temperaturdes Gases in unmittelbarer Wandnahe. Die Wand moge ruhen. Innerhalbdes Gases existiert ein Temperaturgradient, der einen Warmestrom von derWand weg in das Gas hinein bewirkt.

33

Abbildung 2.11: Zur Erlauterung des Temperatursprungs

Analog zu den vorherigen Betrachtungen ergibt sich jetzt fur den Tempera-tursprung der Ausdruck:

|TW − T (0)| = 2− αα

λ( dT

dx2

)

x2=0

Unter (dT/dx2)x2=0 hat man den Temperaturgradienten in unmittelbarerWandnahe zu verstehen. α ist der thermische Akkommodationskoeffizient.

2.5.3 Spezialfalle

Die obigen Betrachtungen gelten nicht mehr, wenn freie Molekulstromungvorliegt. Dann existiert zwar immer noch eine Gleitgeschwindigkeit und einTemperatursprung, jedoch mussen diese durch andere Uberlegungen hergelei-tet werden. Die vorliegenden Betrachtungen gelten nur fur schwach gestortesGleichgewicht.

1. Kein Austausch von Energie und Tangentialimpuls (α = 0 , σ = 0).Der Fall α = 0 besagt, daß zwischen Oberflache und Gas keine Energieausgetauscht wird, d.h. daß sich innerhalb des Gases gar kein Tempe-raturgradient (dT/dx2) aufbauen kann.

34

Entsprechendes gilt fur den Austausch von Tangentialimpuls. Bei spie-gelnder Reflexion entsteht kein Geschwindigkeitsprofil.

α = 0 →( dT

dx2

)

= 0

σ = 0 →( du

dx2

)

= 0

2. Vollstandige Akkommodation (α = 1 , σ = 1).

us = λ( du

dx2

)

x2=d/2und |TW − T (0)| = λ

( dT

dx2

)

x2=0

3. Kontinuum (λ→ 0).Im Grenzfall verschwindend kleiner freier Weglange, was fur die Kon-tinuumsstromung zutrifft, verschwinden die Gleitgeschwindigkeit undder Temperatursprung. Es ergeben sich die bekannte Haftbedingungund die Bedingung, daß die Temperatur der Wand und die des Gasesin unmittelbarer Wandnahe gleich sind.

u(x2=d/2) = U (Haftbedingung)

T (0) = TW

Es ist nun leicht vorstellbar, daß bei hypersonischen Stromungen, beidenen sehr große Gradienten (z.B. (du/dx2)) auftreten, die Randbe-dingungen der Kontinuumsstromung verletzt werden, denn selbst beikleinem λ kann das Produkt λ · du/dx2 merkliche Werte annehmen.

35

2.6 Molekulare Großenordnungen

Nach diesen Vorbetrachtungen sind wir jetzt in der Lage, makroskopischeMessungen zu verwenden, um Großenordnungen zu ermitteln, die bei mikro-skopischen Vorgangen eine Rolle spielen. Messbare Großen sind:

p, ρ, µ,M .

Uns interessieren folgende vier Großen:

m, d, n,√

c2

Wir betrachten Luft unter Normalbedingungen (1,013bar, 273K):

p = 1,01325bar = 1,0 · 105 N/m2

ρ = 1,251 kg/m3

µ = 1,71 · 10−5 Pa s (ν = 1,373 · 10−5 m2/s)

M = 28,9 g/mol .

Es wird davon abgesehen, daß Luft ein Gasgemisch ist, bestehend aus N2-und O2-Molekulen. Die Molekule seien identisch und das MolekulargewichtM gelte fur die Mischung.Die Wurzel aus der mittleren quadratischen Teilchengeschwindigkeit der ther-mischen Bewegung ist (vgl. fruher):

c2 =

3p

ρ≈ 4,84 · 102 m/s (2.31)

Mit der Loschmidt-Konstanten N (Zahl der Teilchen pro Mol) und dem Mo-lekulargewicht M hat man:

m =M

N(Teilchenmasse in g) (2.32)

—————————————Anmerkung:1 mol ist eine weitere Grundgroßenart. In 32g Sauerstoffgas (O2) befin-det sich eine bestimmte Zahl von Molekulen, namlich N . 32g Sauerstoffdefinieren also die Stoffmengeneinheit 1mol. Danach ist die Zahl der Mo-lekule je Mol eine von der Stoffart unabhangige Große, die Loschmidt-Zahl,N = 6,024 · 1023 1/mol.

36

Die Avogadrokonstante ist die Molekulzahl pro Volumen fur ideale Gase bei0◦C und 1,013bar, namlich

n = 2,687 · 1019 cm−3

—————————————

Aus der dynamischen Viskositat (fur starre Kugeln) folgt

µ =1

2ρcλ ≈ 1

2ρ√

c2m√

2πd2ρ=

1

2√

2π︸ ︷︷ ︸

≈9

c2M

N

1

d2,

oder

Nd2 ≈ 1

9

M√

c2

µ. (2.33)

Eine zweite Beziehung ergibt sich durch die Betrachtung von flussiger Luft.In diesem Fall liegen die Molekule dicht beieinander und beanspruchen inetwa ein Volumen der Große d3. Die Dichte der flussigen Luft ist

ρflussig = 860 kg/m3.

Die Masse eines Luftmolekuls ist dann

m = ρflussigd3 ⇒ M

N= ρflussigd

3 .

Daraus folgt

Nd3 =M

ρflussig

. (2.34)

Dies ist eine zweite Beziehung fur N und d. Division von (2.34) und(2.33)ergibt

d = 9M

ρflussig

µ

M√

c2=

ρflussig

c2≈ 3,8 · 10−10 [m] . (2.35)

Jetzt kann auch die Loschmidt-Konstante berechnet werden

N =M

ρflussig

1

d3=

28,9 · 10−3

860 · 3,83· 1030 ≈ 6,4 · 1023

[Molek.

mol

]

. (2.36)

37

Die Masse eines Molekuls ist damit

m =M

N= 4,5 · 10−26 [kg]. (2.37)

und die Anzahldichte bezogen auf den Kubikzentimeter:

n =ρ

m≈ 2,69 · 1025

[Molek.

m3

]

(2.38)

n ist wegen der Standardbedingungen die Avogadrosche Konstante.

Mittlere freie Weglange λ:

λ =1√

2πnd2≈ 6 · 10−8 [m] (2.39)

Stoßfrequenz:

Θ =c

λ≈√

c2

λ≈ 1010

[Stoße

s

]

(2.40)

daraus folgt:λ

d≈ 160 (2.41)

Als Abschluß dieses Kapitels ist es interessant, den Hohenverlauf von freierWeglange und Stoßfrequenz in der Atmosphare zu berechnen. Dazu legen wireine isotherme Atmosphare von 273 K und 1013 mbar (1 at oder 735 Torr)am Boden zugrunde.

Die barometrische Hohenformel fur isotherme Atmosphare lautetp

p0=

ρ

ρ0= e(−

HH∗ ), (2.42)

mit H∗ = RT0/g ≈ 8000m. Das ist diejenige Hohe, in der die Dichte auf das1/e-fache ihres Wertes am Boden (ρ0 = 1,251 kg/m3) abgesunken ist.

H [km] p [Pa] ρ [kg/m3] λ [m] τ =1

Θ[s]

0 101325 1,2 6,3 · 10−8 1,4 · 10−10

40 675,5 8,4 · 10−3 9,4 · 10−6 2,1 · 10−8

80 4,55 5,6 · 10−5 1,3 · 10−3 3,1 · 10−6

120 0,03 3,8 · 10−7 2,0 · 10−1 4,6 · 10−4

160 7,17 · 10−4 8,9 · 10−9 8,7 1,9 · 10−2

200 1,37 · 10−6 1,7 · 10−11 4,5 · 103 1,0 · 101

38

Die Zeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Stoßen τ ist naturlich sehr vielgroßer als die mittlere Stoßdauer τc, d.h. diejenige Zeit, wahrend der zweiMolekule sich in Wechselwirkung befinden

τc ≈ 10−13 (Luft unter Normalbed.).

39

Kapitel 3

Grundlagen verdunnter undhocherhitzter Gase

Ein Raumflugkorper, der zur Erde zuruckkehrt, durchfliegt bekanntlich At-mospharenschichten aller moglicher Dichtegrade, angefangen bei sehr gerin-gen Dichten oberhalb 120km Hohe bis zu normalen Dichten auf der Erdober-flache. Die dabei auftretenden Stromungsarten reichen vom Kontinuum, ein-schließlich verschiedener Realgaseffekte (Rotation, Vibration, Dissoziation,Ionisation) bis hin zur freien Molekulstromung. (Abb. 3.1) Die Anwendungder statistischen Methoden der Gaskinetik ist daher in vielen Fallen not-wendig. Wir wollen im folgenden die wichtigsten Grundlagen kennenlernen.

3.1 Einfuhrende Bemerkungen zur kineti-

schen Theorie einatomiger Gase

Die kinetische Theorie betrachtet ein Gas als eine Ansammlung von Teilchen(Molekulen), die sich in standiger Bewegung befinden. Diese Bewegung isteine Folge der zwischen den Teilchen oder auch zwischen Gefaßbegrenzun-gen und Teilchen auftretenden Stoße, wobei die Teilchen mehr oder mindersprunghaft ihre Geschwindigkeit sowohl der Richtung als auch dem Betragenach andern. Durch diese Bewegungsfreiheit der Teilchen unterscheidet sichein Gas von einer Flussigkeit, bei der die Teilchen zwar gegeneinander ver-schieblich sind, die freie Weglange jedoch verschwindend klein ist. Bei einemfesten Korper gar sind die Molekule untereinander gebunden.

40

6

-0

40

80

120

160

2 4 6 8 10

H [km]

U [km/s]

s

s

s

Kontinuum

Slip Flow

Ubergangsgebiet

freie Molekulstromung

(1)

(3)

Rex

= 106

105

104

103

UK

Abbildung 3.1: Stromungsbereiche beim auftriebsgestutzten Wiedereintrittin die Erdatmosphare ((1): G/F = 104[N/m2], (3): G/F =3 · 104[N/m2]).

Nehmen wir an, das Gas fuhre makroskopische Bewegungen durch, d.h., wirkonnen im Sinne der Kontinuumsmechanik ortliche Geschwindigkeiten fest-stellen. Dann stellen diese Geschwindigkeiten vom mikroskopischen Stand-punkt aus (also gaskinetisch gesehen) nichts anderes dar, als die Mittelwertealler absoluten Teilchengeschwindigkeiten und zwar gemittelt uber ein Volu-menelement, das groß genug ist, um sehr viele Teilchen zu enthalten, jedochklein, verglichen mit makroskopischen Dimensionen des Stromungsfeldes.

Damit ist gesagt, worum es in der kinetischen Gastheorie geht: Aus denmikroskopischen Vorgangen innerhalb eines Gases (hier unter Berucksichti-gung der rein translatorischen Bewegung der Teilchen), also den Stoßen zwi-schen den Teilchen (elastische Stoße), den Reflexionsvorgangen der Teilchenan festen Begrenzungen (teils diffus, teils spiegelnd), sollen makroskopischeErscheinungen hergeleitet und erklart werden. Schwierigkeiten ergeben sichdabei aus der Tatsache, dass auch uber diese mikroskopischen Vorgange beivielen Stromungsproblemen weitgehende Unklarheit herrscht.

41

Man muss also nach gewissen statistischen Modellen suchen, die eine theoreti-sche Beschreibung der makroskopisch beobachtbaren Erscheinungen ermogli-chen.

3.1.1 Einteilung der Erscheinungen in Gasen

Das Gas befinde sich in einem Gefaß mit der linearen Abmessung L. Die An-zahl der Molekule pro Volumeneinheit (Konzentration, Anzahldichte) werdemit n bezeichnet. Wir idealisieren die Molekule als starre Kugeln mit demDurchmesser d.1 Die Erscheinungen in dem Gas sind also durch die dreiLangen gekennzeichnet

Gefaßabmessung Lmittlerer Molekulabstand a = 1/n1/3

Molekuldurchmesser d

Anstelle des mittleren Molekulabstandes a kann man auch die freie Weglange

λ =1√

2nπd2

benutzen (siehe Kapitel 2.3).

Je nach dem Verhaltnis dieser Langen zueinander hat man verschiedenesVerhalten des Gases zu erwarten; die Betrachtung der moglichen Grenzfalleergibt die Einteilung der Erscheinungen. Selbstverstandlich ist dabei stetsL≫ d anzunehmen und wegen der Undurchdringlichkeit der Molekule mussa ' d, d.h. auch λ ' d, sein. Gemeinsam gilt in allen im Folgenden genann-ten Fallen bei thermischem Gleichgewicht fur die Translationsgeschwindig-keit der Molekule das universelle Verteilungsgesetz von Maxwell, welches erstdann außer Kraft tritt, wenn die Translationsbewegung quantenmechanischbeschrieben werden muss. (Je leichter das Gas und je tiefer die Temperaturist, umso deutlicher zeigen sich Quanteneffekte beim molekularen Stoß2).

1Bei allgemeiner Wechselwirkung versteht man unter d die großtmogliche Annaherung,die zwei Molekule bei der betreffenden Temperatur im Mittel erreichen konnen.

2Die Quanteneffekte machen bei He fur T > 200K und bei H2 fur T > 250K an derViskositat, der Warmeleitung und der Diffusion weniger als 0,6 % aus.

42

Wir betrachten zunachst

Fall I: λ≫ d

Dies bedeutet, dass die Molekule sich meistens geradlinig bewegen und, wenndie Wechselwirkung der Molekule untereinander uberhaupt eine Rolle spielt,hochstens Zweierstoße in Betracht kommen. Es handelt sich um den eigent-lichen Gaszustand und um Stromungsvorgange, welche durch die Transport-gleichung von Maxwell und die Fundamentalgleichung von Boltzmann be-schrieben werden.

Je nach der Gefaßabmessung sind weiter die Unterfalle zu unterscheiden

A) λ≪ L

B) λ≫ L

Die Bedingung A besagt, dass ein Molekul beim Durchqueren des Gefaßes vie-le andere Molekule trifft. Es handelt sich um ein Gas von mittlerem Druck,oder, wie man auch sagt, um den Gultigkeitsbereich der hydrodynamischenNaherung. Die molekularen Zweierstoße sind wesentlich. Es konnen generellelineare phanomenologische Gesetze fur Reibung τxy = µdu

dy, Warmeleitung

qy = λTdTdy

und Diffusion aufgestellt werden. Es ist, zumindest fur einatomi-ge Gase, gelungen, durch Auswertung der Boltzmann-Gleichung den Zusam-menhang zwischen der molekularen Wechselwirkung und den phanomenolo-gischen Konstanten (µ, λT ) luckenlos herzustellen.

Bedingung B bedeutet, dass fast nur Stoße der Molekule gegen die Gefaßwandvorkommen und den Zustand des Gases bestimmen; auf die molekularenZweierstoße kommt es nicht an. Es handelt sich um ein hochverdunntes Gas,welches die Erscheinungen der Freien Molekulstromung zeigt (Knudsen 1909).Hierfur konnen keine generellen phanomenologischen Gesetze aufgestellt wer-den; man hat jede experimentelle Anordnung fur sich nach gaskinetischenMethoden zu behandeln. Die Wechselwirkung mit der Wand ist dabei ent-scheidend.

Zu bemerken ist, dass die Falle A und B nicht vollstandig getrennt sind.Im Fall A sind zwar im Innern des Gases die molekularen Zweierstoße prak-tisch allein maßgebend, aber in der Randzone von der Dicke λ bestimmendie Wandstoße den lokalen Zustand wesentlich mit. Dies fuhrt zu den Ober-flachenerscheinungen der maßig verdunnten Gase: Gleiten an der Wand undTemperatursprung (siehe Abb. 3.2)

43

Abbildung 3.2: Gleitgeschwindigkeit und Temperatursprung

Bei gleich bleibender Gefaßabmessung und abnehmender Konzentration nbreitet sich die Randzone immer mehr aus. So geht Fall A kontinuierlich inFall B uber. Fur die Theorie besonders schwierig ist das Ubergangsgebietλ ≈ L. In dieses Gebiet gehoren auch die bei Uberschallstromungen auftre-tenden Stoßwellen. Als ’Gefaßabmessung’ ist in diesem Fall die Dicke derStoßwelle zu denken, welche bei starken Stoßen nicht viel großer als λ ist.

44

Fall II: λ ≈ d

Dies bedeutet, dass ein Molekul fast standig mit anderen in Wechselwirkungsteht. Es handelt sich um ein stark komprimiertes Gas oder im Grenzfallum kondensierte Materie. Die Boltzmann-Gleichung fur einatomige Gase istnicht mehr ausreichend. An ihre Stelle treten Erweiterungen, die von Ens-kog (1922) und spater von Born und Green (1947) sowie Kirkwood (1946)und Irving (1950) aufgestellt wurden. Die Unterscheidung der obigen FalleA und B gibt es hier nicht mehr. Fur komprimierte Gase und Flussigkeitengelten die Gesetze der Kontinuumsstromung. Die theoretische Aufgabe, denZusammenhang zwischen der molekularen Wechselwirkung und den phano-menologischen Konstanten herzustellen, wird jedoch sehr schwierig und istnicht so vollstandig losbar wie fur die verdunnten Gase.

Wir beschranken uns in Abschnitt 3.1 auf Vorgange in Gasen von mittlerenDrucken.

3.2 Chemisch reagierende Gemische idealer

Gase

Mit den in Abschnitt 3.1 diskutierten Transportgleichungen sind wir in derLage, Stromungs- und Warmetransportvorgange in nichtreagierenden einato-migen Gasen, insbesondere Verdunnungseffekte zu beschreiben. Die kineti-sche Theorie dieser Gase erlaubt es auch, die Erhaltungssatze fur Kontinu-umsstromungen, d.h. die Euler- und Navier-Stokes-Gleichungen herzuleiten.Wenn wir fur die Transportkoeffizienten und Stoffgroßen die Werte fur mehr-atomige Gase einsetzen, konnen diese Kontinuumsgleichungen auch dannverwendet werden, wenn rotatorische Freiheitsgrade der Molekule angeregtsind. Hohere Freiheitsgrade eines Molekuls (Vibration, Elektronenanregung)und chemische Reaktionen bringen neue Effekte ins Spiel. Wir wollen hierzunachst zeigen, mit welchen mathematischen Modellen chemisch reagieren-de Gemische idealer Gase beschrieben werden konnen. Abb. 3.3 verdeutlicht,welche chemischen Reaktionen beim Wiedereintritt aus einer Kreisbahnmis-sion zu erwarten sind.

45

Abbildung 3.3: Zonen der Schwingungsanregung, Dissoziation und Ionisati-on beim Wiedereintritt aus einer Kreisbahnmission (Aus G. Koppenwallner(1984)).

In thermisch idealen Gasen 3 gilt die Zustandsgleichung

p = ρRT (3.1)

3Vom thermisch idealen Gas unterscheidet sich das reale Gas dadurch, dass h, e, cp, cv

nicht allein von T , sondern auch von p (oder v = 1/ρ) abhangen:

h = h(T, p), e = e(T, v), cp = cp(T, p), cv = cv(T, v).

Bei niedrigen Temperaturen und hohen Drucken verhalten sich Gase in der Praxis haufigwie reale Gase, die nicht mehr der Zustandsgleichung (3.1), sondern einer Gleichung vomTyp der Van der Waals-Gleichung

(p +a

v2)(v − b) = RT

folgen. Die Konstanten a, b hangen vom Gas ab. Der Term a/v2 in dieser Relation beruck-sichtigt den Einfluss der intermolekularen Krafte und der Term b das von den Molekulentatsachlich beanspruchte Volumen.

Luft unter Normalbedingungen verhalt sich wie ein thermisch ideales Gas. Dies gilt auchnoch bis zu Temperaturen von 800 K. Uber 2500 K treten chemische Reaktionen auf, aberdie entstehenden Komponenten (O2, O, NO, N, N2) verhalten sich wie ein Gemisch idealerGase. Erst bei hohen Drucken von etwa 1000 barwird Luft zu einem realen Gas.

46

und die Stoffgroßen cp, cv hangen nur von der Temperatur T ab

cp = cp(T ), cv = cv(T ). (3.2)

Nachdem fur infinitesimal kleine Anderungen der inneren Energie und Ent-halpie

dh = cp dT, de = cv dT (3.3)

gilt, sind h und e reine Funktionen der Temperatur

h = h(T ), e = e(T ). (3.4)

Generell reichen zwei Zustandsvariablen aus, um den thermodynamischenZustand eines einkomponentigen Gases vollstandig zu beschreiben, z.B.p = p(ρ, T ) oder p = p(ρ, s). Bei Gemischen idealer Gase wird zunachst jedeGaskomponente β charakterisiert durch folgende Großen:

pβ Partialdruckρβ Partialdichtecβ = ρβ/ρ Massenbruch

χβ ≡ Nβ

N=

p= cβ

M

MβMolenbruch

Mβ Molekulargewicht = Masse pro Molmβ Masse des Molekulsnβ Teilchendichte pro VolumenNβ Molzahl pro VolumenRβ Gaskonstante pro MasseR,k Gaskonstante pro Mol,Boltzmann−KonstanteN,M Molzahl pro Volumen und Molekulargewicht der Mischung

Fur das Gemisch idealer Gase gelten dann die Relationen

p =∑

β

pβ = ρR

MT (Dalton) (3.5)

ρ =∑

β

ρβ (3.6)

β

cβ = 1,∑

β

χβ = 1 (3.7)

R =∑

β

cβRβ (3.8)

M =1

β cβ/Mβ

=∑

β

χβMβ . (3.9)

47

Wenn in einem solchen Gasgemisch chemische Reaktionen ablaufen, was beihohen Temperaturen wahrend des Wiedereintritts eines Raumfahrzeugs zwi-schen Stoß und Korper der Fall ist, dann hangen innere Energie, Enthalpieund Stoffgroßen des Gemisches nicht nur von der Temperatur, sondern auchvon den Konzentrationen der einzelnen Gaskomponenten (Spezies) ab

h = h(T,c1,c2,...,cn) (3.10)

e = e(T,c1,c2,...,cn) (3.11)

cp = cp(T,c1,c2,...,cn) (3.12)

cv = cv(T,c1,c2,...,cn). (3.13)

Wir nennen h und e die Mischungsenthalpie und Mischungsenergie. Sie set-zen sich in folgender Weise aus den Enthalpien und inneren Energien dereinzelnen Spezies zusammen

h =∑

β

cβhβ (3.14)

e =∑

β

cβeβ. (3.15)

Die spezifischen Warmekapazitaten des chemisch reagierenden Gemisches(Gl. (3.12, 3.13)) sind mit dessen Enthalpie und innerer Energie genausoverknupft wie beim einkomponentigen, idealen Gas

cp =( ∂h

∂T

)

p=( ∂

∂T(∑

β

cβhβ))

p=∑

β

(∂hβ

∂T

)

p+∑

β

(∂cβ∂T

)

p,

cp =∑

β

cβcpβ +∑

β

(∂cβ∂T

)

p. (3.16)

cv =( ∂e

∂T

)

v=∑

β

(∂eβ

∂T

)

v+∑

β

(∂cβ∂T

)

v

cv =∑

β

cβcvβ +∑

β

(∂cβ∂T

)

v. (3.17)

48

3.2.1 Transportgleichungen fur Spezieskonzentratio-nen

Die durch chemische Reaktion wahrend des Wiedereintritts erzeugten Gas-komponenten (Spezies), werden im Stromungsfeld durch Konvektion und Dif-fusion transportiert. Sie erfullen also Transportgleichungen der Form

∂ρβ

∂t+∇ · (ρβ(~u+ ~vβ)) = ωβ, (3.18)

die fur die Massenbruche cβ = ρβ/ρ unter Verwendung der globalen Massen-bilanz

∂ρ

∂t+∇ · (ρ~u) = 0 (3.19)

auch folgendermaßen geschrieben werden konnen

ρ(∂cβ∂t

+ ~u · ∇cβ)

+∇ · (ρβ~vβ) = ωβ. (3.20)

In dieser Bilanz bedeuten ~u die Stromungsgeschwindigkeit des Gemisches, ~vβ

die Diffusionsgeschwindigkeit der Komponente β relativ zu ~u und ωβ die Re-aktionsrate (Produktionsrate) pro Volumeneinheit. Der Massenstrom durchDiffusion kann naherungsweise durch das Ficksche Gesetz

~jβ ≡ ρβ~vβ = −ρDβm∇cβ (3.21)

ausgedruckt werden. Dβm ist der Transportkoeffizient fur die Diffusion derKomponente β im Gemisch, ’m’. Dβm ist mit dem binaren Diffusionskoeffi-zienten Dβα durch die Beziehung

Dβm =1− χβ∑

αχα

Dβα

(3.22)

verknupft. Mit (3.21) nimmt die Transportgleichung fur cβ eine ganz ahnlicheForm an wie eine Warmetransportgleichung

ρ(∂cβ∂t

+ ~u ·∇cβ)

= ∇ · (ρDβm∇cβ) + ωβ. (3.23)

Liegen im Gas n Spezies vor, genugt es, neben der globalen Massenbi-lanz (3.19) nur (n − 1) Speziestransportgleichungen (3.23) zu losen, denn∑

β cβ = 1.

49

3.2.2 Chemische Reaktionsgleichungen

Um die sekundliche Produktionsrate der Gaskomponente β durch chemischeReaktion, ωβ, bestimmen zu konnen, mussen wir die beim Wiedereintrittablaufenden chemischen Reaktionen ermitteln. Mit steigender Temperaturandert sich bekanntlich die chemische Zusammensetzung von Luft. Abb. 3.4beschreibt den Zustand chemischen Gleichgewichts4 fur Luft in Abhangigkeitder Temperatur. Bis etwa 2000 K liegt die uns bekannte Zusammensetzung(78% N2, 21% O2) vor.

Abbildung 3.4: Zusammensetzung von Luft im chemischen Gleichgewicht bei1 bar Druck (aus Anderson (1989)).

Bei 3000 K existiert molekularer als auch atomarer Sauerstoff (O2, O). Wennwir jetzt annehmen, dass die Temperatur rasch auf 4000 K erhoht wird,

4Chemisches Gleichgewicht stellt sich in einem ruhenden System nach einer gewissen,von der Temperatur und dem Druck abhangigen Relaxationszeit τ ein.

50

dann fordern die Gleichgewichtsbedingungen, dass die O2-Konzentration ab-und die O-Konzentration zunimmt. Diese Anderung in der chemischen Zu-sammensetzung (chemisches Nichtgleichgewicht) wird durch Molekulstoße er-reicht. Sie benotigt Zeit, bis ein neuer Gleichgewichtszustand erreicht ist.Wenn wir uns beispielhaft nur auf den Sauerstoff konzentrieren, dann laufenfolgende Hin- und Ruck-Reaktionen ab

kf

O2 + M ⇋ 2O + M.kb

(3.24)

Der Stoßpartner M kann in diesem speziellen Fall O2 oder O sein. kf , kb

bezeichnen die Geschwindigkeitskoeffizienten der Hin- und Ruckreaktionen(f=forward, b=backward). Ganz allgemein werden Reaktionsgleichungen die-ser Art, an denen n Spezies in r Elementarreaktionen beteiligt sind, folgen-dermaßen geschrieben

kfn∑

β=1

ν ′βjAβ ⇋n∑

β=1

ν ′′βjAβ, j = 1, . . . ,r

kb

(3.25)

odern∑

β=1

νβjAβ = 0, j = 1, . . . ,r. (3.26)

Die Aβ bezeichnen die Stoffsymbole und die ν ′βj, ν′′βj die stochiometrischen

Koeffizienten (stochiometrischen Molzahlen). In der Formel (3.26) sind diestochiometrischen Koeffizienten der Reaktanden negativ (νβj < 0) und dieder Produkte positiv (νβj > 0). Fur die obige Sauerstoffreaktion haben wiralso

A1 = O2 ν11 = −1A2 = M ν21 = −1A3 = O ν31 = 2A4 = M ν41 = 1

(3.27)

Wir interessieren uns nun fur die Produktionsrate von atomarem Sauerstoff,O, bei chemischem Nichtgleichgewicht, und bezeichnen molare Konzentra-tionen mit eckigen Klammern. [O] ist also die Molzahl pro Volumeneinheitdes Gemisches aus O2 und O. Die Reaktionsgeschwindigkeit (oder Produkti-onsrate von O) fur die Vorwartsreaktion ist nach einem empirischen Ansatzgegeben durch

d[O]

dt= kf [O2][M]. (3.28)

51

Fur die Ruckreaktion gilt

d[O]

dt= −kb[O]2[M]. (3.29)

Die rechten Seiten beider Gleichungen stellen das Produkt der Konzentratio-nen jener Stoßpartner dar, die die chemische Veranderung bewirken. Der Ex-ponent bei [O] in (3.29) wird als Reaktionsordnung bezeichnet. Er entsprichtder stochiometrischen Molzahl in Gl. (3.24). kf und kb werden Geschwin-digkeitskoeffizienten oder Ratenkonstanten genannt. Die Reaktion (3.29) isteine Reaktion 2. Ordnung, die dem Zeitgesetz

1

[O]t− 1

[O]t0= k(t− t0) (3.30)

folgt, mit k = kb[M ]. Die Gleichungen (3.28, 3.29) beschreiben also die Zu-bzw. Abnahme an O-Atomen bei der Vorwarts- bzw. Ruckwartsreaktion.Durch Kombination beider Gleichungen ergibt sich die Netto-Produktion anatomarem Sauerstoff

d[O]

dt= kf [O2][M]− kb[O]2[M]. (3.31)

Im chemischen Gleichgewicht (d[O]/dt = 0) verschwindet die zeitliche Ande-rung von [O]. Wir kennzeichnen die Gleichgewichtskonzentrationen mit einemStern und erhalten aus (3.31)

O = kf [O2]∗[M]∗ − kb[O]2∗[M]∗. (3.32)

Daraus folgt

kf = kb[O]2∗[O2]∗

= kbKc (3.33)

Der Quotient [O]2∗/[O2]∗ kann als Gleichgewichtskonstante, Kc, basierendauf den Konzentrationen aufgefasst werden. Fur eine vorgegebene Reakti-on hangen kf , kb und Kc nur von der Temperatur ab. Allerdings ist dieseAbhangigkeit stark nicht-linear. Nach Arrhenius (1889) gilt

kf = A exp(

− Ea

RT)

. (3.34)

Die Aktivierungsenergie Ea entspricht einer Energieschwelle, die beim Ablaufder Reaktion uberwunden werden muss. Genaue Messungen haben gezeigt,dass der praexponentielle Faktor A selbst von der Temperatur abhangt

kf = CfTηf exp

(

− Kf

RT)

. (3.35)

Wie stark kf von T abhangt zeigt Abb. 3.5.

52

Abbildung 3.5: Temperaturabhangigkeit der Ratenkonstante fur die Dissozia-tion von Sauerstoff, gemaß der Reaktion O2 +O2 ⇋ 2O+O2. (Aus Anderson(1989)).

53

Die Parameter Cf , ηf , Kf mussen fur jede Reaktion experimentell bestimmtwerden. Im Gegensatz zur Dissoziation von O2 wird zur Rekombinationvon zwei Sauerstoffatomen keine Aktivierungsenergie benotigt. Im Gegen-teil, der Stoßpartner M muss Energie aufnehmen bevor eine Rekombination

O2 + Mkb← 2O + M moglich ist. Daher gilt fur die Ratenkonstante

kb = CbTηb . (3.36)

Anmerkung: An einer Rekombination sind grundsatzlich 3 Stoßpartner beteiligt. Wir spre-chen von einer trimolekularen Reaktion. Solche Reaktionen konnen nur bei hohen Gas-drucken und -dichten ablaufen, also nicht in großen Hohen. Bimolekulare Reaktionen wiez.B. die Dissoziation kommen haufiger vor als trimolekulare Reaktionen.

Das bisher Gesagte betraf lediglich die Dissoziation und Rekombination vonSauerstoff. Beim Wiedereintritt in die Erdatmosphare konnen jedoch je nachEintrittsgeschwindigkeit in der Zone zwischen Stoß und Flugkorper bis zu 34Elementarreaktionen ablaufen, an denen bis zu neun verschiedene Teilchenbeteiligt sind. Das Modell von Dunn & Kang (1973), das in einem Tempera-turbereich oberhalb 9000 K anzuwenden ist, beschreibt sogar die Ionisationvon Atomen.

9-Komponenten Luft-Modell:

β 1 2 3 4 5 6 7 8 9Aβ N2 O2 NO N O N+ O+ NO+ e−

1 - 9 O2 + M ↔ O + O + M10 - 18 N2 + M ↔ N + N + M19 - 27 NO + M ↔ N + O + M

28 O + N2 ↔ N + NO29 NO + O ↔ N + O2

30 O + NO+ ↔ NO + O+

31 N + NO+ ↔ NO + N+

32 O + N ↔ NO+ + e−

33 O ↔ O+ + e−

34 N ↔ N+ + e−

Tabelle 3.1: Elementarreaktionen fur Luft oberhalb 9000 K (Dissoziation,NO-Mechanismus, Ionisation).

54

Fur jede der neun Komponenten (siehe Tabelle 3.1) lautet die Produktions-rate

d[Aβ]

dt=

r∑

j=1

(ν ′′βj − ν ′βj){kf

n∏

β=1

[Aβ ]ν′βj − 1

Kc

n∏

β=1

[Aβ]ν′′βj} (3.37)

Um hieraus die in der Transportgleichung (3.23) fur die Massenbruche cβauftretende Produktionsrate ωβ zu erhalten, muss der Ausdruck (3.37) nochmit den Molekulargewichten multipliziert werden:

ωβ = Mβd[Aβ ]

dt. (3.38)

55

3.3 Ideale Gase im Zustand angeregter inne-

rer Freiheitsgrade

3.3.1 Mikroskopische Beschreibung des Gaszustands

Das Luftmodell von Dunn und Kang (1973), das im vorigen Abschnitt bei-spielhaft erwahnt wurde, umfasst neben chemischen Reaktionen (Dissoziationund Rekombination) der Teilchen auch Ionisationsvorgange. Was wir bislangnoch nicht diskutiert haben, sind Rotations- und Schwingungsfreiheitsgradeder Molekule. Ein zweiatomiges Molekul (O2, N2) wird i.a. als ’Hantel’ auf-gefasst, d.h. die zwei Atome sind durch eine ’Achse’ oder ’Feder’ miteinanderverbunden:

} }

Die ’Hantel’ besitzt translatorische thermische Energie etr, d.h. ihr Schwer-punkt bewegt sich im Raum mit der thermischen Geschwindigkeit ~c. EinMolekul besitzt 3 translatorische Freiheitsgrade:

}

}

-

6

�������

c1

c2

c3

Bei 0◦C sind bereits rotatorische Freiheitsgrade angeregt. Es lassen sich3 aufeinander senkrecht stehende Tragheitsachsen definieren. Die rotatori-sche Energie, erot um die Achse zwischen den beiden Atomen ist dabei ver-nachlassigbar klein. Ein zweiatomiges Molekul hat also zwei rotatorische ther-mische Freiheitsgrade:

56

}

}

������������

���

-

6

����������

x1

x2

x3

��

���

��6

Bei einem mehratomigen Molekul sind die Atome entweder auf einer Achseangeordnet (lineares mehratomiges Molekul)

} }}

O C O

oder nichtlinear angeordnet.

} }

}

@@@@@

H O

H

Die Atome fuhren bei hohen Temperaturen Schwingungen in Richtung der je-weiligen Achse aus. Die Schwingungsenergie, evib, setzt sich aus zwei Anteilenzusammen, namlich kinetischer und potentieller Energie der Schwingung.

} }DDD

DDD

DDD

DDD

DDD

DDD

DDD�

��

���

���

���

���

���

����� DD

-

-

Kinetische Energie

Potentielle Energie

Pro Schwingungsform liegen also zwei Freiheitsgrade vor. Das lineare Molekulhat daruber hinaus zwei rotatorische, das nichtlineare Molekul sogar dreirotatorische Freiheitsgrade.

����

&%'$x rr

rrr ��

Elektronen

Elektronen, die um einen Atomkern kreisen, besitzen Elektronenenergie, eel,die ihrerseits aus kinetischer und potentieller Energie in der jeweiligen Bahnbesteht.

57

Die gesamte innere Energie eines Molekuls, e, setzt sich also ausTranslations-, Rotations-, Schwingungs- und Elektronen-Energie zusammen

e = etr + erot + evib + eel. (3.39)

Die innere Energie eines Atoms lautet

e = etr + eel. (3.40)

Die Quantenmechanik lehrt uns, dass jede dieser Energien nur in diskreterForm auftritt. Lediglich die translatorische Energie lasst in guter Naherungeine kontinuierliche Beschreibung zu5

etr =1

2mc2. (3.41)

Energieformen�����XXXXXTranslation

rrr6

e0,tr

ej,tr

Rotation

e0,rot

e2,rot

e3,rot

ek,rot rrr6

Vibration

e0,vib

e1,vib

e2,vib

el,vib rrr6

Elektronenanregung

e0,el

e1,el

e2,el

em,el

rrr6

Abbildung 3.6: Schematische Darstellung der Energieniveaus der einzelnenMolekulfreiheitsgrade

Abbildung 3.6 zeigt schematisch, dass jede der genannten Energien nur indiskreten Energieniveaus vorkommen kann. Die Energiebetrage nehmen inPfeilrichtung zu. Der Index ’0’ bezeichnet den Grundzustand (bei T = 0K)der jeweiligen thermischen Energie. Die Abstande zwischen den translatori-schen Energieniveaus sind sehr klein. Die zwischen den rotatorischen Ener-gieniveaus sind wesentlich großer und die zwischen den diskreten Schwin-gungsenergien sind noch großer.

5Die in Gleichung (2.15) verwendete mittlere kinetische Energie eines Teilchens, etr, istder statistische Mittelwert von etr uber alle Teilchen an einem Ort: etr = etr = 1

2mc2.

58

Wahrend die Abstande zwischen zwei benachbarten rotatorischen Energie-niveaus mit ek,rot zunehmen, nehmen die zwischen zwei Schwingungsniveausmit steigendem el,vib ab. Die Energieniveaus der Elektronenanregung verhal-ten sich ganz ahnlich wie die der Vibration, mit dem Unterschied, dass dieAbstande noch großer sind als bei den Schwingungsniveaus.

Die thermische Energie eines einzelnen Molekuls, das sich in einem bestimm-ten Anregungszustand befindet, lautet demnach

ei = ej,tr + ek,rot + el,vib + em,el + e0. (3.42)

Dabei haben wir die Summe aller Grundzustande zu e0 zusammengefasst.Die Indizes j, k, l,m beschreiben das jeweilige Energieniveau der Transla-tion, Rotation, Vibration und Elektronenanregung. Nachdem die einzelnenEnergieniveaus diskret sind, ist auch ei diskret und kann in einem einzigenDiagramm diskreter Niveaus der Gesamtenergie eines Molekuls dargestelltwerden.Dem Quantenmechaniker reichen diese Angaben aber noch nicht aus. Eridentifiziert ein Molekul nicht allein durch die Angabe seines Energiebetragsoder Energieniveaus, sondern fragt auch nach seinem Drehimpuls. Er beruck-sichtigt ferner den Bahndrehimpuls der Elektronen und den Eigendrehim-puls (spin) von Elementarteilchen. Die oben betrachtete Rotation eines 2-atomigen Molekuls hat z.B. um beide Drehachsen dieselbe Energie, aber un-terschiedlichen Drehimpuls, weil dieser einen Vektor darstellt. Die Richtungendieses Drehimpulsvektors sind gequantelt, wie in Abb. 3.7 illustriert.

u

u

������

u

u

������

u

u

������

6ω��6������ω

��6-ω

��-

Abbildung 3.7: Illustration verschiedener Energiezustande bei gleichem Ener-gieniveau.

59

Dies bedeutet, dass einem gegebenen Energieniveau ei unterschiedliche mi-kroskopische Molekulzustande zugeordnet sind. Die Zahl (Vielfachheit) dieserZustande wird Entartung des Energieniveaus genannt (siehe Abb. 3.8) undmit dem Entartungsfaktor gi bezeichnet. Die Werte von gi erhalt man ent-weder aus der Quantentheorie oder aus spektroskopischen Messungen.

e0

e1

e2

ei

rrrrr

g0 = 0

g1 = 2g2 = 5

gi = 3

rrrrr

Abbildung 3.8: Illustration der Entartung von Energieniveaus

Wenn sich an einem bestimmten Ort x des Stromungsfeldes, d.h. in eineminfinitesimal kleinen Volumenelement dVx = dx1dx2dx3, zum Zeitpunkt t,N Molekule befinden, dann besitzt eine Untermenge Nj dieser Molekule dasEnergieniveau ej . Wir nennen Nj auch die Population oder Besetzungszahldieses Energieniveaus. Offenbar gilt

N(~x,t) =∑

j

Nj . (3.43)

Die Summation erfolgt uber alle Energieniveaus. Die innere Energie E inner-halb dVx im Stromungsfeld ist demnach

E(~x,t) =∑

j

ejNj . (3.44)

Die Großen N,E definieren einen ganz bestimmten makroskopischen Zu-stand, der sich aus einem Satz von Besetzungszahlen N0, N1, N2, . . . der Ener-gieniveaus e0, e1, e2, . . . ergibt. Aufgrund molekularer Stoße andert sich dermakroskopische Zustand und strebt eventuell dem wahrscheinlichsten Ma-krozustand, d.h. dem thermodynamischen Gleichgewicht zu.

60

Die statistische Thermodynamik geht davon aus, dass der wahrscheinlichsteMakrozustand die großte Zahl von Mikrozustanden besitzt. Ein Mikrozustandeines Gases unterscheidet sich von einem anderen (bei gleichem Makrozu-stand) dadurch, dass die Teilchen z.B. unterschiedlichen Drehimpuls besit-zen. In Bezug auf Abb. 3.8 heißt dies konkret: Wenn es zwei Teilchen mitdem Energieniveau e2 gibt (N2 = 2), dann existieren nach der Fermi-DiracStatistik6

gj !

(gj −Nj)!Nj !=

5!

3!2!= 10 (3.45)

verschiedene Mikrozustande fur ein und denselben Makrozustand. Beruck-sichtigt man alle Energieniveaus, dann ist die Gesamtzahl der Mikrozustandefur einen vorgegebenen Makrozustand (fur Fermionen)

W =∏

j

gj!

(gj −Nj)!Nj !(3.46)

W ist die thermodynamische Wahrscheinlichkeit oder ein Maß fur die Un-ordnung eines Systems, bestehend aus Teilchen. Der Gleichgewichtszustandeines Gases ist dann erreicht, wenn W maximal wird. Die Bedingung dafurlautet

d(lnW ) = 0. (3.47)

Nun ist die Fermi-Dirac Statistik (sowie die hier nicht diskutierte Bose-Einstein Statistik) nur fur sehr niedrige Temperaturen (< 5K) bedeutsam.Gase bei hohen Temperaturen folgen eher der Boltzmann-Statistik, die da-von ausgeht, dass die einzelnen Energieniveaus nur sehr schwach besetzt sind(Nj ≪ gj). Die Statistiken nach Fermi-Dirac und Bose-Einstein fuhren imGrenzfall, Nj ≪ gj, direkt zur Boltzmannschen Gleichgewichtsverteilung derMolekule

N∗j = N · gje

−ej/(kT )

κ gκe−eκ/(kT ). (3.48)

Den Nenner bezeichnet man als Zustandssumme Q

Q ≡∑

κ

gκe−eκ/(kT ). (3.49)

Q ist eine Funktion der Temperatur T und des betrachteten GasvolumensV (≡ dVx)

Q = f(T,V ). (3.50)

6Nach der Fermionen-Theorie kann nur jeweils ein Teilchen zu einem gegebenen Zeit-punkt einen entarteten Zustand einnehmen. Daher muss gi ≫ Ni sein. Fur ein Teilchengibt es gi mogliche Zustande. Fur das zweite Teilchen gibt es gi−1 mogliche Zustande. FurNi Teilchen gibt es gi!/(gi−Ni)! mogliche Zustande. Da die Teilchen aber ununterscheidbarsind, muss durch Ni! ununterscheidbare Mikrozustande dividiert werden.

61

Die fundamentale Boltzmannsche Formel fur die Gleichgewichtsverteilunglasst sich folgendermaßen interpretieren:

Fur Molekule oder Atome eines gegebenen Stoffes postuliert die Quanten-mechanik, dass es diskrete Energieniveaus ej gibt, die von den Teilchen zueinem bestimmten Zeitpunkt eingenommen werden und dass zu jedem Ener-giezustand eine bestimmte Zahl entarteter Mikrozustande, gj, gehoren. Wennsich im Volumen V N Teilchen im thermodynamischen Gleichgewicht befin-den, dann nimmt die Zahl aller Teilchen im Energieniveau ej mit steigenderTemperatur des Gases exponentiell ab. ej ist dabei die Summe aller moglichengequantelten thermischen Energien (Gl. (3.39)).

Um die Zustandssumme Q berechnen zu konnen, benotigen wir die quanten-mechanischen Formeln der einzelnen Energien. Wir rufen uns noch einmalins Gedachtnis, dass

e = etr + erot + evib + eel.

Fur die translatorische Energie liefert die Quantenmechanik:

etr =~

2

8m

(n21

a21

+n2

2

a22

+n3

2

a23

)

, (3.51)

wobei n1, n2, n3 Quantenzahlen sind, welche die Werte 1, 2, 3 usw. an-nehmen konnen. a1, a2, a3 sind die linearen Abmessungen des betrachte-ten Volumens (V = a1a2a3). ~ ist das Plancksche Wirkungsquantum(~ = 6,6261 · 10−34 J/s) und m die Masse des Teilchens.

Die rotatorische Energie lautet

erot =~

2

8π2IJ(J + 1), (3.52)

mit der Rotationsquantenzahl J = 0, 1, 2, 3, ..., usw. und dem Tragheitsmo-ment I des Molekuls.

Fur die Schwingungsenergie gilt bei harmonischer Oszillation:

evib = ~ν(n +1

2), (3.53)

mit der Schwingungsquantenzahl n = 0, 1, 2, . . . und der Schwingungseigen-frequenz des Molekuls (ν = 4,7 · 1013 1/s fur O2). Fur die Elektronenenergielasst sich keine analoge einfache Formel angeben.

62

Aus (3.49) folgt nun die Zustandssumme

Q = QtrQrotQvibQel =∑

i

j

n

l

gigjgngl exp[− 1

kT(ei,tr+ej,rot+en,vib+el,el)].

(3.54)

Die einzelnen Beitrage zu Q lauten

Qtr =(2πmkT

~2

)3/2

V, V = a1a2a3 (3.55)

Qrot =8π2IkT

~2, (3.56)

Qvib =1

1− e−~ν/(kT ), (3.57)

Qel =

∞∑

l=0

gle−el/(kT ). (3.58)

Zur Erinnerung sei vermerkt, dass, beginnend mit der BoltzmannschenGleichgewichtsverteilung (3.48), alle angegebenen Formeln den Gleichge-wichtszustand der thermischen Molekulenergien beschreiben.

e0

e1

e2

ei−1

ei

ei+1

rrr

rrr

?

6

6

?

Abbildung 3.9: Molekulubergange aus dem Niveau ei der Schwingungsenergiein benachbarte Niveaus und zuruck.

63

Im Nichtgleichgewichtszustand der Molekulenergien, der dann vorliegt, wennein Gas standig neuen außeren Bedingungen unterworfen wird (z.B. bei derUmstromung eines Wiedereintrittskorpers, dem Durchgang durch einen star-ken Stoß oder der Beschleunigung eines Gases in der Lavalduse zu hohenMachzahlen), sind die Besetzungszahlen Ni eines Energieniveaus nicht mehrzeitlich konstant, sondern andern sich, weil die Molekule infolge von Stoßenaus einem Energieniveau ins andere springen. Wir erlautern diese Vorgangeanhand der Schwingungsenergie eines zweiatomigen Molekuls. Abb. 3.9 illu-striert die Molekulubergange aus einem Energieniveau ins andere.

Die Besetzungszahl des i-ten Energieniveaus, Ni, wird dadurch erhoht, dassMolekule aus dem (i−1)-ten Niveau nach ei springen und aus dem (i+1)-tenNiveau unter Energieabgabe nach ei zuruckfallen. Gleichzeitig wird Ni durchUbergange von ei nach ei+1 und von ei nach ei−1 verringert. Die Ratenkon-stanten mit denen diese Ubergange erfolgen, bezeichnen wir mit ki+1,i, ki−1,i

etc. Der gesamte Nichtgleichgewichtsvorgang der u.U. in den Gleichgewichts-zustand fuhrt (Relaxationsvorgang) wird durch die sog. Mastergleichung derVibrationsrelaxation beschrieben

dNi

dt= ki+1,iNi+1 + ki−1,iNi−1 − ki,i+1Ni − ki,i−1Ni. (3.59)

Diese Gleichung gilt naturlich auch, wenn alle Schwingungsfreiheitsgrade imGleichgewicht sind (dNi/dt = 0). Dann liefert die Boltzmannverteilung (3.48)bei nahezu gleicher Entartung benachbarter Energiezustande das Ergebnis

N∗i

N∗i−1

=e−ei/(kT )

e−ei−1/(kT )= e−~ν/kT . (3.60)

Der letzte Ausdruck in dieser Gleichung folgt bei Verwendung der quantenme-chanischen Formel (3.53). Im Gleichgewichtszustand gilt ferner das Prinzipdetaillierten Gleichgewichts, d.h. die Zahl der Energieubergange pro Sekundein einer Richtung entspricht genau der Zahl der Ubergange in der anderenRichtung:

ki−1,iN∗i−1 = ki,i−1N

∗i (3.61)

oder

ki−1,i = ki,i−1N∗

i

N∗i−1

. (3.62)

Daraus folgt zusammen mit (3.60)

ki−1,i = ki,i−1e−~ν/(kT ). (3.63)

64

Diese Beziehung zwischen den Ratenkonstanten wird auch im Zustand desNichtgleichgewichts verwendet. Ein weiteres Ergebnis der Quantenmechanikist, dass die Ratenkonstanten der hoheren Energieniveaus durch die Raten-konstante vom Zustand i = 1 in den Grundzustand (i = 0) ausgedrucktwerden konnen

ki,i−1 = ik1,0. (3.64)

Daraus lasst sich folgern, dass

ki+1,i = (i+ 1)k1,0. (3.65)

Kombination der Beziehungen (3.63 - 3.65) liefert

ki−1,i = ik1,0e−~ν/(kT ) (3.66)

und schließlich die alternative Form der Mastergleichung

dNi

dt= k1,0{−iNi +(i+1)Ni+1 + e−~ν/(kT )[−(i+1)Ni + iNi−1]}. (3.67)

Diese Bilanzgleichung fur die Besetzungszahlen im Vibrationsnichtgleichge-wicht lasst sich in eine Relaxationsgleichung fur die Schwingungsenergie um-wandeln. Pro Masseneinheit des Gases gilt

evib =

∞∑

i=1

eiNi =

∞∑

i=1

(i~ν)Ni = ~ν

∞∑

i=1

iNi. (3.68)

Aus der zeitlichen Anderung

devib

dt= ~ν

∞∑

i=1

idNi

dt(3.69)

folgt dann nach einiger Zwischenrechnung (siehe Anderson (1989)) dieSchwingungsrelaxationsgleichung

devib

dt=

1

τvib(eeq

vib − evib), (3.70)

mit der Schwingungsrelaxationszeit

τvib ≡1

k1,0(1− e−~ν/(kT ))(3.71)

und dem Gleichgewichtswert

eeqvib =

~νN

e~ν/(kT ) − 1=

~ν/(kT )

e~ν/(kT ) − 1RT. (3.72)

(N=Zahl der Teilchen pro Masseneinheit, Nk = R).

65

Die Relaxationsgleichung (3.70) besagt, dass die thermische Energie derMolekulschwingung einem Gleichgewichtszustand exponentiell zustrebt undzwar umso schneller, je großer die Abweichung von diesem Zustand und jekleiner die Relaxationszeit τvib ist. τvib ist eine Funktion von p und T . Furdie meisten 2-atomigen Molekule gilt

τvib p = C1e(C2/T )1/3

. (3.73)

Aus Messungen sind fur die Parameter C1, C2 folgende Werte bekannt

C1[bar ·µs] C2[K]O2 5,4 · 10−5 2,9 · 106

N2 7,1 · 10−3 1,9 · 106

NO 4,8 · 10−3 1,4 · 105

3.3.2 Makroskopische Beschreibung des Gaszustandsim thermodynamischen Gleichgewicht. (Prak-

tische Berechnung thermodynamischer Eigen-schaften)

Im Gleichgewichtszustand gilt fur die innere Energie des VolumenelementsV ≡ dVx, das N Teilchen enthalt

E =∑

j

ejN∗j . (3.74)

Fuhren wir in diesen Ausdruck die Boltzmann-Verteilung (3.48) ein, dannfolgt

E =N

Q

j

gjeje−ej/(kT ). (3.75)

Wir differenzieren die in (3.49) definierte Zustandssumme Q(T, V ) nach derTemperatur und erhalten

(∂Q

∂T

)

v=

1

kT 2

j

gjeje−ej/(kT ). (3.76)

Damit lautet die innere Energie eines Systems aus N Teilchen im thermo-dynamischen Gleichgewicht:

E = NkT 2(∂ lnQ

∂T

)

v, (3.77)

66

oder bezogen auf die Masseneinheit

e =E

N ·m = RT 2(∂ lnQ

∂T

)

v. (3.78)

Diese Formel lasst sich nun auf die einzelnen Zustandssummen anwenden,z.B. auf die translatorische Energie (Gl. (3.55))

lnQtr =3

2lnT +

3

2ln(2πmk

~2

)

+ lnV. (3.79)

Daraus folgt(∂ lnQtr

∂T

)

v=

3

2

1

T. (3.80)

und nach Einsetzen in (3.78)

etr =3

2RT. (3.81)

In ahnlicher Weise finden wir die rotatorische Energie

erot = RT (3.82)

und die Schwingungsenergie

evib =~ν/(kT )

e~ν/(kT ) − 1RT. (3.83)

Wenn wir diese Formeln mit einem klassischen Satz der kinetischen Gastheo-rie vergleichen, der besagt, dass im Zustand thermodynamischen Gleichge-wichts auf jeden Molekulfreiheitsgrad der gleiche Energiebetrag entfallt, dannstellen wir folgendes Ergebnis fest:

Ein 2-atomiges Molekul besitzt drei translatorische und zwei rotatorischeFreiheitsgrade. In jedem dieser Freiheitsgrade steckt die Energie kT/2 proMolekul, d.h.

etr =3

2kT/m =

3

2RT, (3.84)

erot = 2kT/(2m) = RT. (3.85)

Die Molekulschwingung beinhaltet ebenfalls zwei Freiheitsgrade, namlichtranslatorische und potentielle Energie. Demnach ware

evib = 2kT/(2m) = RT. (3.86)

Wenn wir diese Beziehung mit Gl. (3.83) vergleichen, stellen wir fest, dass dasklassische Ergebnis (Gl. (3.86)) von der modernen statistischen Theorie nichtbestatigt wird. Vielmehr ist der Faktor vor RT kleiner als 1, d.h. evib < RT .Lediglich fur T → ∞ wird dieser Faktor 1, was jedoch unrealistisch ist, dabei hohen Temperaturen Dissoziation einsetzt.

67

Die zur Beschreibung des Gleichgewichtszustands adaquaten Formeln lautenalso zusammengefasst:

Innere Energie pro Masseneinheit und spezifische Warmekapazitatfur Atome:

e =3

2RT + eel, (3.87)

cv =3

2R+

∂eel

∂t, (3.88)

fur Molekule:

e =3

2RT +RT +

~ν/(kT )

e~ν/(kT ) − 1RT + eel (3.89)

cv =3

2R +R+

(~ν/(kT ))2e~ν/(kT )

(e~ν/(kT ) − 1)2R+

∂eel

∂T. (3.90)

3.4 Gleichgewichtsstromung und gefrorene

Stromung

Wir haben bislang uber die theoretischen Grundlagen von Gleichgewichts-und Nichtgleichgewichtszustanden in den inneren Molekulfreiheitsgraden undden chemischen Reaktionen eines hocherhitzten Gases gesprochen. Es ist jetztangebracht, zu diskutieren, was in praktischen Situationen, z.B. im Nasenbe-reich eines stumpfen Korpers beim Wiedereintritt passiert. Hierzu betrachtenwir das folgende qualitative Bild aus Andersons Buch (1989), Abb. 3.10.

In der Umgebung der Staustromlinie zwischen a und b ahnelt die Stromungder hinter einem senkrechten Verdichtungsstoß, wo bei großen Stoßmach-zahlen hohe Temperaturen entstehen und daher chemische Reaktionen ab-laufen. Die Stromung entlang der Staustromlinie wird komprimiert und aufGeschwindigkeit null im Staupunkt abgebremst, d.h. ein Fluidteilchen er-reicht den Staupunkt im Prinzip erst nach beliebig langer Zeit und hatdemnach ausreichend Zeit, sich auf einen Gleichgewichtszustand einzustel-len.Zwischen b und c wird die als reibungsfrei betrachtete Stromung stark

68

Abbildung 3.10: Schematische Darstellung der Stromungszustande bei Hy-perschallanstromung eines stumpfen Korpers. (Aus Anderson (1989)).

beschleunigt, wobei Dichte, Temperatur und Druck entsprechend abfallen,ahnlich der Nichtgleichgewichtsstromung in einer Lavalduse. Fallende Tem-peratur bedeutet eine Vergroßerung der Relaxationszeit bis zum Erreichenthermodynamischen Gleichgewichts. Dies heißt auch, dass einige Molekulfrei-heitsgrade keinen Gleichgewichtszustand erreichen und auf einem stromaufgelegenen Zustand verharren (einfrieren). Stromab des Punktes c, in demdie Stromung vom Unterschall in den Uberschall wechselt, liegt ein Gebietnahezu gefrorener Stromung vor. Da die Stromlinie aus einem Gebiet um bkommt, in dem die Luft dissoziiert und u.U. auch ionisiert ist, besteht dasGebiet nahezu gefrorener Stromung aus dissoziierter und ionisierter Luft, dieam Korper entlang transportiert wird. Ahnliche Vorgange spielen sich aufder Stromlinie A ab.

69

Stromlinie B hingegen durchlauft einen Stoßbereich mit viel geringerer Stoß-neigung und daher geringerer Dissoziation und Ionisation. Erst weit stromabkann die Stromung in einen Zustand thermodynamischen Gleichgewichts ge-langen.

Wir wollen nun mit Hilfe folgender Definition prazisieren, wann eineStromung ins thermodynamische Gleichgewicht gelangt und wann sie ein-friert.

Definition:

Man spricht von Gleichgewichtsstromung, wenn fur die Geschwindigkeitsko-effizienten oder Ratenkonstanten kf = kb → ∞ und fur die Schwingungsre-laxationszeit τvib = 0 gilt.

Fur eine gefrorene Stromung gilt sinngemaß kf = kb = 0 und τvib →∞.

Dieser Sachverhalt kann auch durch Damkohler-Zahlen Da ausgedruckt wer-den. Eine Damkohler-Zahl stellt prinzipiell den Quotienten aus einer charak-teristischen Stromungszeit L/U und einer Relaxationszeit τ dar

Da =L/U

τ. (3.91)

L/U ist diejenige Zeit, die ein Fluidteilchen mit der Geschwindigkeit Ubenotigt, um die Wegstrecke L zuruckzulegen. Demnach unterscheidet manzwischen Damkohler-Zahlen fur chemische Reaktionen und innere Mo-lekulfreiheitsgrade.

Es bietet sich an, die charakteristische Zeit τβ fur eine chemische Reaktionaus der Produktionsrate ωβ zu berechnen. Dann lautet die Damkohler-Zahlfur eine spezielle chemische Reaktion

Daβ =L/U

ρcβ/ωβ. (3.92)

Unter den verschiedenen Relaxationszeiten τ fur die einzelnen Molekulfrei-heitsgrade verwendet man meistens die fur die Molekulschwingung, τvib, unddefiniert die Damkohler-Zahl fur die Molekulschwingung

Davib =L/U

τvib

. (3.93)

70

Gleichgewichtsstromung liegt also vor fur

Daβ →∞, Davib →∞. (3.94)

Dann laufen die chemischen Reaktionen in jedem Punkt des Stromungsfeldespraktisch sofort ab (fast chemistry!) und die Schwingungsfreiheitsgrade ge-raten langs Stromlinien immer wieder in ein neues Gleichgewicht, das durchdie lokalen Werte des Drucks und der Temperatur gegeben ist. Anders aus-gedruckt heißt dies, dass die charakteristische Stromungszeit groß gegenuberτβ und τvib ist.

Der andere Extremfall heißt gefrorene Stromung. Hierbei andert sich derStromungszustand (und damit p, T ) so rasch, dass sich lokal kein thermi-sches und chemisches Gleichgewicht einstellen kann und das Gas in seinem’Ausgangszustand’ verharrt. Bei der Umstromung des stumpfen Korpers istder entsprechende ’Ausgangszustand’ der in der Umgebung des Staupunkts.Bei einer Dusenstromung ist der ’Ausgangszustand’ der vor dem engstenQuerschnitt. Gefrorene Stromung ist also durch

Daβ → 0, Davib → 0 (3.95)

charakterisiert.

Alle Stromungsformen, die zwischen der Gleichgewichtsstromung und dergefrorenen Stromung lieben, nennen wir Nichtgleichgewichtsstromungen.

3.4.1 Zusammenfassende Beschreibung der Gleich-gewichtsstromung

Wegen der Bedeutung der Gleichgewichtstromung fur die Raumfahrtaero-dynamik, wollen wir die beschreibenden Gleichungen hier zusammenfassen.Wenn wir nicht gerade den Reibungswiderstand und die thermischen La-sten eines Wiedereintrittskorpers vorhersagen mussen, konnen wir Reibungs-,Diffusions- und Warmeleiteffekte aus den beschreibenden Gleichungen eli-minieren und gelangen zu den Euler-Gleichungen. Dies ist auch gerechtfer-tigt, denn die in den Molekulfreiheitsgraden steckenden und fur chemischeReaktionen relevanten Energiebetrage sind wesentlich großer als dissipiertekinetische Energien und durch Warmeleitung und Diffusion transportierteWarmemengen.

71

Wir betrachten Luft als ein Gemisch idealer Gase, das aus den sieben Kom-ponenten N2, O2, N, O, NO, NO+, e− besteht. Gegenuber dem Beispielin Abschnitt 3.2.2 ist hier der atomare Stickstoff und Sauerstoff nicht io-nisiert. Thermodynamisches und chemisches Gleichgewicht dieser Kompo-nenten konnen wir beim Wiedereintrittsvorgang aus einer Kreisbahnmissionin Hohen unterhalb 45 km erwarten.

Stromungsgleichungen (Euler-Gleichungen):

Masse : ∂ρ∂t

+∇ ·(

ρu)

= 0 (3.96)

Impuls : ρ(

∂∂t

+ u ·∇)

u = −∇p (3.97)

Energie : ρ(

∂∂t

+ u ·∇)

H = ∂p∂t

(3.98)

H ist die Totalenthalpie, H = e+ p/ρ+ 12u · u.

Zustandsgroßen:

Alle thermodynamischen Zustandsgroßen e, p, ρ gelten fur die Mischung dersieben Gaskomponenten

e =∑

β

cβeβ (3.99)

p =∑

β

pβ (3.100)

ρ =∑

β

ρβ , 1 =∑

β

ρβ/ρ =∑

β

cβ. (3.101)

Die innere Energie pro Masse jeder molekularen Gaskomponente setzt sichaus Translations-, Rotations-, Schwingungs- und Elektronen-Energie zusam-men

eβ =3

2RβT +RβT +

~νβ/(kT )

e~νβ/(kT ) − 1RβT + (eel)β + (eo)β. (3.102)

(eo)β ist die Ruheenergie (oder Bildungsenergie am absoluten Nullpunkt). Dieentsprechende Beziehung fur die atomaren Komponenten enthalt nur die An-teile 1, 4 und 5 dieser Beziehung. Es fehlen nun noch Bestimmungsgleichun-gen fur die Konzentrationen cβ im Zustand chemischen Gleichgewichts. Siehangen in diesem Zustand nur von zwei Zustandsvariablen ab, namlich p undT . Die Gleichgewichtskonstanten Kc (vgl. Gl (3.33)) sind reine Funktionender Temperatur. Sie liefern 4 Bestimmungsgleichungen fur die cβ = [Aβ ]Mβ/ρ

72

Kc,O2 =[O]2

[O2], (3.103)

Kc,N2 =[N]2

[N2], (3.104)

Kc,NO =[N] · [O]

[NO], (3.105)

Kc,NO+ =[NO+] · [e−]

[O] · [N]. (3.106)

Diese Gleichgewichtskonstanten liefert uns die statistische Mechanik. Außer-dem liegen sie aus Messungen vor und sind tabelliert (JANAF Tables, Stull(1971)). Wir benotigen noch 3 weitere Gleichungen. Die Summe der Parti-aldrucke lautet

p = ([O2] + [N2] + [NO] + [NO+] + [O] + [N] + [e−])RT. (3.107)

Die beiden noch fehlenden Gleichungen folgen aus der Erhaltung der elektri-schen Ladung des Fluidelements und der Erhaltung der Materie. Man nimmtalso an, dass lokal zu jedem NO+-Teilchen ein freies Elektron existiert:

[NO+] = [e−]. (3.108)

Die Erhaltung der Materie wird so formuliert, dass die Zahl der O-Atomeund N-Atome im freien und gebundenen Zustand im Stromungsfeld konstantbleibt. Insbesondere kann das Verhaltnis dieser Zahlen aus dem Verhaltnisunter Normalbedingungen (0◦C und 1at) berechnet werden.

2[N2] + [N] + [NO] + [NO+]

2[O2] + [O] + [NO] + [NO+]

NN

NO=

0.8

0.2= 4. (3.109)

NN folgt aus pNV = NNkT .

Anmerkung: Die obige Diskussion zeigt, dass der thermodynamische Zu-stand einer Gleichgewichtsstromung vollstandig durch 2 Zustandsvariablen(z.B. p und T ) bestimmt ist. Diese wesentliche Vereinfachung gegenuber ei-ner Nichtgleichgewichtsstromung erlaubt es dennoch nicht, geschlossene ana-lytische Losungen von Gleichgewichtsstromungen zu finden, nicht einmal beiraumlich eindimensionalen Problemen. Gleichgewichtsstromungen erfordernimmer numerische Losungen.

73

3.4.2 Gegenuberstellung von Gleichgewichtsstromungund gefrorener Stromung

Die Unterschiede zwischen beiden Stromungen werden am besten an zweiBeispielen deutlich.

Beispiel 1: Expansion von atomarem Sauerstoff in einer Lavalduse.

Wir schicken atomaren Sauerstoff bei einem Druck von einem bar und ei-ner Ruhetemperatur von 5000K durch eine Lavalduse und studieren dieStromung einmal unter Gleichgewichtbedingungen, ein andermal unter gefro-renen Bedingungen. Die folgende Abbildung 3.11 zeigt eine Skizze der Dusesowie qualitative Verlaufe der Temperatur und der Sauerstoffkonzentrationenin der Dusenerweiterung.

Wenn chemisches Gleichgewicht angenommen wird, rekombinieren die Sau-erstoffatome aufgrund der sinkenden Temperatur zu O2. Uber dem Abstandvom engsten Querschnitt fallt also die Konzentration von O, cO, und cO2

steigt von null bis eventuell eins, vorausgesetzt das Querschnittsverhaltnisist groß genug und die Temperatur fallt auf Zimmertemperatur. In diesemFall sind alle Sauerstoffatome zu O2 rekombiniert. Die ausgezogenen Kurvenin den Abbildungen 3.11b und c geben diese Situation wieder.

Im Falle gefrorener Stromung verharren die Konzentrationen von O2 und Oauf ihren Werten vor dem engsten Querschnitt (co = 1, cO2 = 0) wahrenddes gesamten Expansionsvorgangs in der Duse. Gleichzeitig fallt die Tempe-ratur starker als bei der Gleichgewichtstromung. Der Grund dafur ist darinzu suchen, dass bei der Rekombination von Sauerstoff-Atomen Warme frei-gesetzt wird (exotherme Reaktion), die den inneren Freiheitsgraden zugutekommt und damit auch der Temperatur (translatorische innere Energie) derGleichgewichtsstromung.

Beispiel 2: Expansion von molekularem Sauerstoff in einer Lavalduse.

Die Ruhetemperatur betragt diesmal 2000 K und der Druck 1 bar. Wir neh-men an, dass die Molekule bei dieser Temperatur nicht chemisch reagieren,aber zur Schwingung angeregt sind. Unter der Annahme thermodynamischenGleichgewichts sind alle inneren Freiheitsgrade an jedem Ort der Duse imGleichgewicht. Nachdem die Temperatur stromab sinkt, geht auch thermi-sche Energie aus den Schwingungsfreiheitsgraden in die translatorischen undrotatorischen Molekulfreiheitsgrade.

74

Abbildung 3.11: Schematische Darstellung der Expansion von Sauerstoff ineiner Lavalduse einmal unter der Annahme chemischen Gleichgewichts undein andermal bei gefrorenen chemischen Reaktionen (Aus Anderson (1989)).

75

Dies ist bei gefrorener Stromung nicht der Fall, denn die Schwingungsener-gie, evib, verharrt auf ihrem Wert am Duseneintritt (gestichelte Linie inAbb. 3.12c). Folglich liegt die Temperatur bei gefrorener Stromung unterder bei Gleichgewichtsstromung. Dies verdeutlicht die folgende Abb. 3.12.

Spezifische Warmekapazitaten bei Gleichgewichtsstromung und ge-frorener Stromung

Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Stromungen macht sich in denspezifischen Warmekapazitaten bemerkbar. Fur das chemisch reagierendeGemisch idealer Gase hatten wir in der Einleitung zu Abschnitt 3.2 folgendeBeziehungen fur cp, cv angegeben:

cp =∑

β

cβcpβ +∑

β

(∂cβ∂T

)

p, (3.110)

cv =∑

β

cβcvβ +∑

β

(∂cβ∂T

)

v. (3.111)

Wie wir in Beispiel 1 gesehen haben, andert sich bei gefrorener Stromungdie Spezieskonzentration nicht mit der Temperatur, d.h. die zweiten Sum-men auf den rechten Seiten der obigen Gleichungen verschwinden. Die erstenSummen entsprechen daher den spezifischen Warmekapazitaten bei gefrore-ner Stromung:

cpf =∑

β

cβcpβ, (3.112)

cvf =∑

β

cβcvβ . (3.113)

Die Gleichungen (3.110) - (3.113) lassen sich folgendermaßen kombinieren:

cp = cpf +∑

β

(∂cβ∂T

)

p, (3.114)

cv = cvf +∑

β

(∂cβ∂T

)

v. (3.115)

In dieser Schreibweise wird klar, dass durch chemische Reaktionen ein eigenerBetrag zu cp, cv und damit zu h, e bzw. zur Temperatur des Gases geleistetwird, namlich in Form der Summen in den Gln. (3.114) - (3.115). Diese Sum-men weisen ein stark nichtlineares Verhalten auf, das in Abb. 3.13 fur Luftin Abhangigkeit von T und p dargestellt ist. Dieses Verhalten ist der Grunddafur, warum in numerischen Simulationen von Hochtemperaturstromungenselten mit cp, cv sondern direkt mit h und e gearbeitet wird.

76

Abbildung 3.12: Schematische Gegenuberstellung von Gleichgewichtsstro-mung und gefrorener Stromung bei der Expansion von molekularem nicht-reagierenden, aber zur Schwingung angeregten Sauerstoff in einer Lavalduse(Aus Anderson (1989)).

77

Abbildung 3.13: Molare spezifische Warmekapazitat, cv, fur Luft als Funktionder Temperatur bei verschiedenen Drucken (Aus Hansen (1959)).

78

3.5 Nichtgleichgewichtsstromungen –

Ergebnisse numerischer Simulationen

Als reprasentatives Beispiel der Stromung im Bugbereich einer Wiederein-trittskapsel hat A. Klomfass (1995) in seiner Dissertation die Stromung umeine Kugel mit einem Durchmesser von 4,5 m bei einer Anstromgeschwindig-keit von U∞ = 7 km/s in 80 km Hohe berechnet. Er hat dabei Luft als einnichtionisiertes, aus den funf Komponenten N2, O2, N, O, NO bestehendesGasgemisch betrachtet, das chemisch reagiert und neben translatorischenund rotatorischen Freiheitsgraden auch Schwingungsfreiheitsgrade besitzt.Die Ratenkonstanten der relativen Wechselwirkungen hat er Wray (1962)entnommen.

Unter diesen Flugbedingungen gerat die Luft zwischen Stoß und Kugelober-flache in einen Zustand signifikanten Nichtgleichgewichts. Die Zusammenset-zung der Atmosphare entspricht in 80 km Hohe jedoch noch in guter Nahe-rung der am Boden. Die Anstrombedingungen sind im Einzelnen:

U∞[m/s] ρ∞[kg/m3] p∞[Pa] T∞[K] Re∞[−] M[−]7000 1,65 · 10−5 0,85 180 34000 26

Die Stromungsberechnung wurde mit folgenden vier verschiedenen Modellendurchgefuhrt:

P15 Perfektes Gas, γ = 1,5LGG Lokales GleichgewichtCNG Chemisches Nichtgleichgewicht, thermisches GleichgewichtTNG Chemisches und thermisches Nichtgleichgewicht

Der Fall P15 entspricht einem gefrorenen Stromungszustand (Zustand nachdem Stoß), bei dem die spezifischen Warmekapazitaten im ganzen Feld kon-stant sind (kalorisch ideales Gas). Der Wert γ = 1,5 ergibt sich aus den An-nahmen, dass molekularer Sauerstoff vollstandig dissoziiert ist, molekularerStickstoff mit einem Massenanteil von cN2 = 0,4 vorliegt und die Molekulvi-bration durch zwei Freiheitsgrade beschrieben werden kann. Im Fall CNGherrscht Gleichgewicht der inneren Freiheitsgrade, so dass sich die innereEnergie e wie in Abschnitt 3.3.2 beschrieben, berechnet. Thermisches Nicht-gleichgewicht im Fall TNG bezieht sich nur auf die Schwingungsfreiheitsgra-de. Bezuglich der Details des Energietransfers zwischen den einzelnen innerenEnergien muss auf die Arbeit von Klomfass (1995) verwiesen werden.

79

Das Stromungsfeld um die Kugel wurde durch numerische Losung der Euler-Gleichungen (3.96) - (3.98) einschließlich der entsprechenden mikroskopi-schen Modelle ermittelt. Als Integrationsverfahren diente ein raumlich undzeitlich von 2. Ordnung genaues Charakteristikenverfahren. Die Rotations-symmetrie des Problems wurde dabei ausgenutzt. Die Stoßkontur war Teilder Losung. Es wurde ein ’shock-fitting’-Verfahren verwendet, bei dem derStoß anfanglich geschatzt und im Laufe der Rechnung iterativ verbessertwurde, solange, bis eine stationare Losung vorlag.

-2 -1 0 10

1

2

3

4

Abbildung 3.14: Isobaren fur den Fall unterschiedlicher physikalischer Mo-delle: P15

x

y

Abb. 3.14 - 3.16 zeigen Isobaren fur die drei physikalischen Modelle P15,LGG und TNG.

Auffallend an diesem Ergebnis sind die signifikant unterschiedlichen Stoß-abstande. Es ist durchaus verstandlich, warum der Fall LGG den geringstenStoßabstand liefert. Die Gleichgewichtsstromung fuhrt zu den hochsten Dich-ten entlang der Staustromlinie. Der Stoß kann dann naher an den Korperrucken. Die gefrorene Stromung besitzt den großten Stoßabstand und diegeringste Dichte, da keine chemischen Reaktionen ablaufen. Den Verlaufvon Dichte und Temperatur entlang der Staustromlinie entnehmen wir denAbb. 3.17, 3.18. Die Koordinate wird vom Kugelmittelpunkt aus gemessen.

80

-2 -1 0 10

1

2

3

Abbildung 3.15: Isobaren fur den Fall unterschiedlicher physikalischer Mo-delle: TNG

x

y

Die Unterschiede im Dichte- und Temperaturverlauf zwischen Gleichgewichtund Nichtgleichgewicht in den chemischen Reaktionen sind erwartungsgemaßgroß. Hingegen erweist sich der Einfluss thermischen Nichtgleichgewichts alsgering. Bei den Temperaturverlaufen wurde zwischen Translations- und Vi-brationstemperaturen unterschieden. Aus der Schwingungsenergie jeder ein-zelnen Gaskomponente lasst sich unter Verwendung der Gleichgewichtsformel(3.83) eine Schwingungstemperatur Tvib,β definieren

eeqvib,β =

R~νβ/k

e~νβ/(kTvib,β) − 1. (3.116)

Tvib,β ist nichts anderes als ein Maß fur die Schwingungsenergie, die in derKomponente β steckt. In Abb. 3.17 (rechts) entsprechen die BezeichnungenT (N2), T (O2), . . . diesen Schwingungstemperaturen. Anhand der Verlaufedieser Temperaturen erkennt man z.B., dass die Vibrationsrelaxation im vor-liegenden Fall in einer dunnen Zone unmittelbar hinter dem Stoß stattfindet.In der Nahe des Staupunkts verlauft die Stromung im Wesentlichen im loka-len thermischen Gleichgewicht. Die Annahme gefrorener Stromung fuhrt zueiner starken Uberschatzung der (Translations-)Temperatur hinter dem Stoß.Wie in dem Bild nicht gezeigt wird, variiert die Temperatur zwischen 17200und 18000 K. Die Annahme lokalen Gleichgewichts (LGG) fuhrt andererseitsauf zu geringe Temperaturen. Um das physikalische Bild zu vervollstandi-gen, diskutieren wir noch die Massenbruche entlang der Staustromlinie, vgl.Abb. 3.19.

81

-2 -1 0 10

1

2

3

Abbildung 3.16: Isobaren fur den Fall unterschiedlicher physikalischer Mo-delle: LGG

x

y

5.0E-05

1.0E-04

1.5E-04

2.0E-04

2.5E-04

3.0E-04

3.5E-04

-2.42 -2.39 -2.36 -2.33 -2.3 -2.27 -2.24

rho [kg/m3]

x [m]

LGGCNGTNG

Abbildung 3.17: Dichte entlang der Staustromlinie.

82

0

5000

10000

15000

20000

25000

-2.42-2.39-2.36-2.33 -2.3 -2.27-2.24

T [K]

x [m]

T LGGT CNGT(1) TNGT(N2) TNGT(O2) TNGT(NO) TNG

Abbildung 3.18: Temperatur entlang der Staustromlinie.

83

0.35

0.40

0.45

0.50

0.55

0.60

0.65

0.70

0.75

0.80

-2.42-2.39-2.36-2.33 -2.3 -2.27-2.24

x [-]

x [m]

x(N2) LGGx(N2) CNGx(N2) TNG

Abbildung 3.19: Massenbruche (x := c) von N2 entlang der Staustromlinie.

84

-0.05

0.00

0.05

0.10

0.15

0.20

0.25

-2.42-2.39-2.36-2.33 -2.3 -2.27-2.24

x [-]

x [m]

x(O2) LGGx(O2) CNGx(O2) TNGx(NO) LGGx(NO) CNGx(NO) TNG

Abbildung 3.20: Massenbruche (x := c) von O2, NO entlang der Staustrom-linie.

85

Man erkennt, dass der Sauerstoff (Bild 3.20) innerhalb einer dunnen Zonevollstandig dissoziert. Die Dissoziation von N2 erfolgt dagegen wesentlichlangsamer. Der Vergleich der physikalischen Modelle (LGG, CNG, TNG)zeigt, dass die Modelle CNG und TNG im Staupunkt ein chemisches Nicht-gleichgewicht vorhersagen. Dies liefert auch die Erklarung dafur, dass T undρ im Staupunkt keine Gleichgewichtswerte besitzen.

Vom Staupunkt ausgehend wird die Stromung entlang der Kugeloberflachestark beschleunigt. Sie expandiert sehr rasch, wobei Druck, Dichte und Tem-peratur auf geringe Werte abklingen. Die auf der Leeseite der Kugel wir-kenden Luftkrafte konnen daher in erster Naherung vernachlassigt werden.Abb. 3.21, 3.22 zeigen den Verlauf des Druckbeiwerts cp = 2(p−p∞)/(ρ∞U

2∞)

fur die Gleichgewichtsstromung und die Abweichungen △cp davon, fur dieanderen physikalischen Modelle.

Man erkennt, dass die Vorhersagen der Nichtgleichgewichtsstromungen nurwenig von der Vorhersage der Gleichgewichtsstromung abweichen. GefroreneStromung fuhrt insbesondere im Staupunktbereich zu großen Abweichungen.

Dem Temperaturverlauf entlang der Kugeloberflache in Abb. 3.23 entnimmtman, dass die Annahme chemischen und thermischen Gleichgewichts im Stau-punktbereich auf unterschatzte und stromab auf uberschatzte Temperaturenfuhrt. Die Schwingungsfreiheitsgrade der einzelnen Komponenten geratenaußerhalb des Staupunktbereichs (ϕ > 30◦) ins Nichtgleichgewicht (unter-schiedliche Schwingungstemperaturen). Der Massenbruch von N2 (Abb. 3.24)friert in der beschleunigten Stromung (ϕ > 80◦) nach Vorhersagen der Nicht-gleichgewichtsmodelle (CNG, TNG) ein.

86

0.0

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

1.2

1.4

1.6

1.8

2.0

0 20 40 60 80 100 120

C_P [-]

Phi [deg]

LGG

Abbildung 3.21: Druckbeiwert cp entlang der Kugeloberflache: LGG.

87

-0.14

-0.12

-0.10

-0.08

-0.06

-0.04

-0.02

0.00

0.02

0 20 40 60 80 100 120

Delta C_P [-]

Phi [deg]

P15CNGTNG

Abbildung 3.22: Druckbeiwert cp entlang der Kugeloberflache: Abweichungen△cp = cp − cp(LGG) fur P15, CNG, TNG.

88

1000

2000

3000

4000

5000

6000

7000

8000

0 20 40 60 80 100 120

T [K]

Phi [deg]

T LGGT CNGT(1) TNGT(N2) TNGT(O2) TNGT(NO) TNG

Abbildung 3.23: Temperatur von Stickstoff entlang der Kugeloberflache.

89

0.35

0.40

0.45

0.50

0.55

0.60

0.65

0 20 40 60 80 100 120

x [-]

Phi [deg]

x(N2) LGGx(N2) CNGx(N2) TNG

Abbildung 3.24: Massenbruch von Stickstoff entlang der Kugeloberflache.

90

Im Hinblick auf die folgenden Kapitel geben wir abschließend noch zwei aero-dynamische Beiwerte an, die A. Klomfass 1995) numerisch berechnet hat. Umeinen Anstellwinkeleinfluss untersuchen zu konnen, hat Klomfass der vorde-ren Halbkugel eine flache Ruckseite mit dem Basisradius Rb = 4m gegeben.Die Hinterkanten des Kugelsegments sehen dabei eine Uberschallstromungbis zu Anstellwinkeln von α = 20◦ und das luvseitige Stromungsfeld ist un-abhangig vom Anstellwinkel.

U∞

������

��:

2.25m

AAAAAAAK

4mHHHHHj

p p p p

Widerstand W und Auftrieb A sind zwei fur den Aerodynamiker wichtigeGroßen, die sich aus den Druckkraften an der Korperoberflache parallel undsenkrecht zur Anstromrichtung (u∞) ergeben. Da die Rechnungen auf denEuler-Gleichungen beruhen, tritt keine Wandreibung auf. Die Widerstands-und Auftriebsbeiwerte sind dabei definiert durch

cw =W

ρ∞U2∞πR

2b/2

, cA =A

ρ∞U2∞πR

2b/2

. (3.117)

Abb. 3.25, 3.26 zeigen cA, cw in Abhangigkeit des Anstellwinkels α. Die phy-sikalischen Modelle TNG, CNG und LGG liefern offenbar nahezu gleicheErgebnisse. Lediglich das Modell der gefrorenen Stromung P15 liefert zuniedrige Widerstandsbeiwerte.

91

-0.02

0.00

0.02

0.04

0.06

0.08

0.10

0.12

0.14

0.16

-20-15-10-50

C_A

alpha [deg]

P15CNGTNGLGG

Abbildung 3.25: Auftriebsbeiwerte in Abhangigkeit des Anstellwinkels

92

1.00

1.02

1.04

1.06

1.08

1.10

1.12

1.14

-20-15-10-50

C_W

alpha [deg]

P15CNGTNGLGG

Abbildung 3.26: Widerstandsbeiwerte in Abhangigkeit des Anstellwinkels

93

Kapitel 4

Kinetische Gastheorie

4.1 Geschwindigkeitsverteilung der Molekule

und Momente der Verteilungsfunktion

Die Molekule innerhalb eines Gases bewegen sich weder mit derselben Ge-schwindigkeit, noch bleibt die Geschwindigkeit eines gegebenen Molekuls imLaufe der Zeit konstant. Zur Beschreibung der Dynamik der Molekulbewe-gung bedient man sich statistischer Methoden und zwar der Geschwindig-keitsverteilungsfunktion.

Verteilungsfunktionen werden in der Statistik ganz allgemein verwendet; esgibt Verteilungsfunktionen fur alle Arten von Großen. Die Geschwindigkeits-verteilung soll hier in Analogie zur Massendichte ρ eines nichtgleichformigenDichtefeldes eingefuhrt werden, die ja auch eine Art Verteilungsfunktion dar-stellt.

Wir stellen uns vor, das Gas sei in einem Behalter des Volumens V nicht-gleichformig verteilt und wir fuhren eine ortliche Massendichte ρ(t,xi) ein. Dieuns vertraute makroskopische Vorstellung einer ortlichen Dichte soll jetztmit einer mikroskopischen Vorstellung verknupft werden. Ist ∆N die Zahlder Molekule, die sich in einem Volumen ∆Vx befinden, das zwischen x1 undx1 +∆x1, und x2 und x2 +∆x2 sowie x3 und x3 +∆x3 liegt, dann haben wir

ρ(t,xi) = lim∆Vx→0

m∆N

∆Vx

= m lim∆Vx→0

∆N

∆Vx

= mn(t,xi). (4.1)

Der Limes bedeutet, daß ∆Vx in einem makroskopischen Maßstab, der durchdie Behalterabmessungen vorgegeben ist, gegen null geht. Gleichzeitig ist∆Vx bzw. dVx jedoch noch groß im Vergleich zu molekularen Volumina (etwadem Volumen, das ein Molekul im Mittel einnimmt, 1/n).

94

n(t,xi) ist die Zahl der Molekule pro Volumen als Funktion des Lagevek-tors xi. n(t,xi) ist daher ein Maß fur die Verteilung der Molekule im Orts-raum. Allgemein gesprochen gibt eine Verteilungsfunktion die Konzentrationirgendeiner Große pro Volumen als Funktion der Position des Volumens indem bestimmten Raum wieder.

Kennen wir n(t,xi), dann ist die Zahl der Molekule dN in einem makrosko-pisch infinitesimalen Volumenelement dVx = dx1dx2dx3 am Ort xi

dN = n(t,xi) dVx. (4.2)

Die Gesamtzahl der im gesamten Volumen V enthaltenen Molekule ist

N =

V

n(t,xi) dVx. (4.3)

Wir interessieren uns nun nicht weiter fur die raumliche Verteilung (n(t,xi))der Molekule, sondern fur die Verteilung der molekularen Geschwindigkeiten.Bezeichnet ξi die Absolutgeschwindigkeit, dann ist

ci = ξi − ui (4.4)

die Eigengeschwindigkeit der Molekule (Fur den Spezialfall : ui = 0 istξi = ci).Die Molekulgeschwindigkeiten ξi lassen sich als Radiusvektoren in einem Ge-schwindigkeitsraum darstellen:

Abbildung 4.1: Definition von Ortsraum (links) und Geschwindigkeitsraum(rechts).

Die n(t,xi) Molekule, die in der Volumeneinheit des Ortsraumes enthal-ten sind, konnen jetzt durch Punkte im Geschwindigkeitsraum gekennzeich-net werden. Sie bilden eine Wolke von Punkten im Geschwindigkeitsraum.Diesem Geschwindigkeitsraum kann eine lokale Punktdichte f(ξi,xi,t) zuge-schrieben werden (d.h. Punkte pro Volumen des Geschwindigkeitsraumes),in Analogie zur Teilchendichte n(t,xi). f ist folgendermaßen definiert:

95

Die Zahl der Punkte im Geschwindigkeitsraum, deren Koordinaten sich inner-halb des Elements dVξ befinden, das zwischen ξ1 und ξ1 +dξ1, ξ2 und ξ2 +dξ2,ξ3 und ξ3+dξ3 liegt, ist gegeben durch f(ξi,xi,t)dVξ. fdVξ ist die Zahl der Mo-lekule mit Geschwindigkeiten in der Umgebung von ξ. Da jeder Punkt einemMolekul entspricht, gibt f(ξi,xi,t)dVξ gerade die Zahl der Molekule pro Volu-men des physikalischen Raumes wieder, deren Geschwindigkeiten in diesemBereich (um ξi) liegen. f(ξi,xi,t) bezeichnet man als Geschwindigkeitsvertei-lungsfunktion. Die Teilchendichte n(t,xi) errechnet sich aus

n(t,xi) =

f(ξi,xi,t) dVξ , (4.5)

dabei bedeutet das Integral eine dreifache Integration

(. . .) dVξ =

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

(. . .) dξ1 dξ2 dξ3.

Es sei nun Φ(ξi) eine skalare, vektorielle oder tensorielle Funktion der Mo-lekulgeschwindigkeit, eine Molekuleigenschaft also. Jedes der f(ξi,xi,t)dVξ

Molekule im Element dVξ des Geschwindigkeitsraumes, die aus der Volumen-einheit am Ort xi (zur Zeit t) stammen, liefert dann einen Beitrag Φ(ξi) zurgesamten Summe der Molekuleigenschaft Φ in der Volumeneinheit des Orts-raumes am Ort xi zur Zeit t. Der Mittelwert Φ dieser Molekuleigenschaftist

nΦ =

Φ(ξi)f(ξi,xi,t) dVξ . (4.6)

Dabei ist Φ ist ein Moment der Verteilungsfunktion f(ξi,xi,t). Wir setzenjetzt fur Φ der Reihe nach folgende Molekuleigenschaften

Φ = 1, ξi, mcicj,m

2c2,

m

2cic

2.

1. Teilchendichte:

n =

fdVξ n · 1 =

1 · f dVξ (4.7)

2. Mittlere (makroskopische) Molekulgeschwindigkeit (=Stromungsge-schwindigkeit)

nui =

ξifdVξ = ξi

f dVξ (4.8)

96

Mit der Definition ci = ξi − ui erhalt man insbesondere:

ci =1

n

ξif dVξ

︸ ︷︷ ︸

nui

−ui

f dVξ

︸ ︷︷ ︸

n

= 0 (4.9)

Der Mittelwert der thermischen Geschwindigkeit verschwindet also.

3. Spannungstensor τij :

τij = m

cicjfdVξ = nmcicj = ρ

c21 c2c1 c3c1c1c2 c22 c3c2c1c3 c2c3 c23

(4.10)

Daß es sich hierbei um einen symmetrischen Tensor handelt, ist of-fensichtlich. Ubrigens besitzt er dieselbe Gestalt wie der Tensor derReynolds-Spannungen, die sich aus der Schwankungsbewegung in einerturbulenten Stromung ergeben.Ersetzen wir die Indizes 1,2,3 durch x,y,z, dann sind die Komponentendes Spannungstensors τij

τij =

τxx τyx τzx

τxy τyy τzy

τxz τyz τzz

(4.11)

gleich den Normal- bzw. Schubspannungskomponenten auf den dreiFlachenelementen parallel zu den Achsen. In den Zeilen stehen dieSpannungen, die in einer Koordinatenrichtung wirken. In den Spal-ten stehen die Spannungen untereinander, die jeweils an der gleichenFlache wirken. Die Komponenten τxx,τyy,τzz sind dabei Normalspan-nungen. (Der 1. Index gibt die Richtung an, auf der das Flachenele-ment senkrecht steht, der zweite die Richtung, in der die Komponentewirkt.)

4. Druck:Der Druck ist definiert als der Mittelwert der Normalspannungen:

p =1

3(τxx + τyy + τzz) =

1

3ρ(

c2x + c2y + c2z

)

=

=1

3ρc2 =

1

3m

c2fdVξ

︸ ︷︷ ︸

nc2

(4.12)

Ein Ergebnis das wir bereits kennen.(Jedoch hier verallgemeinert furden Fall des Nichtgleichgewichts, bei dem durchaus τxx 6= τyy 6= τzz seinkann.)

97

5. Temperatur:

nm

2c2 = nm

3

2RT =

3

2nkT =

∫m

2c2fdVξ (4.13)

Die Definition der Temperatur, die auch fur Nichtgleichgewichts-zustande beibehalten wird (wenn also f keiner Gleichgewichtsvertei-lung folgt), fuhrt dazu, daß die ideale Gasgleichung in der kinetischenGastheorie Gultigkeit hat.

p = ρRT = nkT (4.14)

6. Warmestrom (Strom von Translationenergie in i-Richtung):

qi = nm

2cic2 =

ρ

2cic2 =

m

2

cic2fdVξ (4.15)

(Ist f eine ortliche Maxwellverteilung, dann ist qi = 0)———————————————————————————–

Beweis:

Warmestrom in y-Richtung:ortliche Maxwellverteilung

f =n(xi,t)

(2πRT (xi,t))3/2exp

−(

cx︷ ︸︸ ︷

ξx − u)2 + (

cy︷ ︸︸ ︷

ξy − v)2 + (

cz︷ ︸︸ ︷

ξz − w))2

2RT (xi,t)

98

Eingesetzt:

qy =

∫m

2cyc

2fdVξ =

=m

2

(∫

cyc2xfdcxdcydcz +

c3yfdcxdcydcz +

cyc2zfdcxdcydcz

)

=

=m

2

( +∞∫

−∞

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

cyc2x

n(xi,t)

(2πRT (xi,t))3/2exp

{

−c2x + c2y + c2z2RT (xi,t)

}

dcxdcydcz + . . .

)

=

=m

2

n(xi,t)

(2πRT (xi,t))3/2

(

RT (√

2πRT )2

+∞∫

−∞

cyexp

{

−c2y

2RT

}

dcy︸ ︷︷ ︸

=0

+

(√

2πRT )2

+∞∫

−∞

c3yexp

{

−c2y

2RT

}

dcy︸ ︷︷ ︸

=0

+

RT (√

2πRT )2

+∞∫

−∞

cyexp

{

−c2y

2RT

}

dcy︸ ︷︷ ︸

=0

)

= 0

——————————————————————————

7. Zahl der abhangigen Variablen (makroskopischen Großen):

n,ρ : 1ui : 3τij : 6qi : 3

= 13

Fur den Spannungstensor τij benotigt man nur sechs Variablen, da ersymmetrisch ist, τij = τji.

Fur eine Beschreibung des Gases im Sinne der Kontinuumsmechanikbenotigt man also im allgemeinsten Fall 13 voneinander unabhangigeVariablen. Der Druck p folgt aus der Spur des Spannungstensors undT ist mit p und ρ durch p = ρRT verknupft.

99

Eine solche Beschreibung ist jedoch nur dann exakt moglich, wenn diemittlere freie Weglange im Vergleich zu einer makroskopischen Lange(Grenzschichtdicke, Korperabmessung,...) genugend klein ist. Im allge-meinen mussen die Probleme im Mikroskopischen gelost werden, d.h. esmuß f(ξi,xi,t) gefunden werden, dann konnen daraus makroskopischeAussagen, die experimentell uberprufbar sind, gemacht werden.

4.2 Bestimmungsgleichung fur die Geschwin-

digkeitsverteilungsfunktion einatomiger

Gase – Die Boltzmann-Gleichung

Bevor diese Bestimmungsgleichung aufgestellt wird, sind einige Vorausset-zungen anzumerken:

1. Die Molekule besitzen kein Massentragheitsmoment, d.h. f ist nur eineFunktion von ci,xi und t (Punktmechanik).

2. Im Gas finden nur Zweierstoße statt. Der Molekuldurchmesser d ist sehrviel kleiner als λ, bzw. d3 ≪ 1

n. Das von einem Molekul eingenommene

Volumen (d3) ist also sehr viel kleiner als das tatsachlich zur Verfugungstehende: Gas von mittlerem Druck.Zweierstoße liegen auch dann noch vor, wenn fur p gilt: q ≤ O(10 bar)

3. f soll uber Wegstrecken der Großenordnung d konstant bleiben.Stromungsvorgange um Korper von molekularen Abmessungen konnenmit der Boltzmanngleichung nicht behandelt werden, jedoch um Korpervon der Großenordnung von λ. Die Boltzmanngleichung gilt auch nichtin Zeitintervallen von der Großenordnung der Stoßzeit τc (10−13s).

4. Es herrscht molekulare Unordnung (Chaos), d.h. die Wahrscheinlich-keiten fur die moglichen Geschwindigkeiten des einen Teilchens sollenvon der Geschwindigkeit des anderen Teilchens unabhangig sein.

Die Gasmolekule unterliegen im folgenden einem außeren Kraftfeld mFi, wel-ches eine Funktion von xi und t sein kann, jedoch nicht von ξi. (Der letzteFall ist fur die Elektromagnetodynamik ionisierter Gase von Bedeutung undwird hier nicht behandelt.)

Zwischen den Zeitpunkten t und t + dt andert sich die Geschwindigkeit ir-gendeines Teilchens, das gerade keinen Stoß erleidet, von ξi nach ξi + Fidtund sein Lagevektor xi nimmt den Wert xi + ξidt an.

100

Im Volumenelement dVx am Ort xi gibt es zur Zeit t dann f(ξi,xi,t)dVξdVx

Molekule (dVξdVx ist ein Element des 6-dimensionalen Phasenraumes), derenGeschwindigkeiten in einem Bereich dVξ um ξi liegen. Wenn diese Molekuleim Zeitintervall dt keine Zusammenstoße erleiden, so befinden sie sich zurZeit t + dt an der Stelle xi + ξidt und haben Geschwindigkeiten nahe beiξi +Fidt. Die Zahl solcher Teilchen im Intervall dVξdVx um ξi +Fi dt,xi + ξidtist dann:

f(ξi + Fi dt,xi + ξi dt,t+ dt) dVξ dVx

Beide Ausdrucke werden jedoch dann voneinander verschieden sein, wennStoße innerhalb des Gases stattfinden. Der Zuwachs an Teilchen gegenuberder letzteren Anzahl von Teilchen infolge von Stoßen ist proportional zudVξdVxdt und wird mit (∂f/∂t)Stoß dVξ dVxdt bezeichnet. Dann gilt:

(f(ξi + Fi dt,xi + ξi dt,t+ dt)− f(ξ,xi,t)) dVξ dVx =

(∂f∂t

)

StoßdVξ dVxdt

(4.16)

Man teilt durch dVξ dVxdt, laßt dt gegen 0 gehen und wendet auf das dannentstehende totale Differential der linken Seite die Kettenregel an

limdt→0

(f(ξi + Fi dt,xi + ξi dt,t+ dt)− f(ξ,xi,t)

dt

)

=

(∂f

∂t

)

Stoß

f folgt aus einer Art Kontinuitatsgleichung. Die totale zeitliche Anderungvon f resultiert aus Molekulstoßen (∂f/∂t)Stoß

df

dt≡ ∂f

∂t+

3∑

i=1

ξi∂f

∂xi+

3∑

i=1

Fi∂f

∂ξi=

(∂f

∂t

)

Stoß

(4.17)

Boltzmanngleichung

Wie noch gezeigt wird, kann (∂f/∂t)Stoß als Integral dargestellt werden, wel-ches die Verteilungsfunktion f enthalt. Die Boltzmanngleichung wird dannzur Integro-Differentialgleichung.

Die obige Boltzmanngleichung enthalt folgende Aussage:Die Zahl der Teilchen der Klasse ξi in der Volumeneinheit des PhasenraumesdVξdVx andert sich mit der Zeit t und als Folge von Konvektion der Molekuledurch die Oberflachen von dVx und dVξ oder aufgrund intermolekularer Stoßeinnerhalb dVx (Quellterm).

101

Die Molekule verlassen den Ortsraum xi infolge ihrer Geschwindigkeit ξi undden Geschwindigkeitsraum infolge der Beschleunigung Fi durch außere Kraft-felder (2. und 3. Term der linken Seite).

Die linke Seite der Boltzmanngleichung (df/dt) ist der Ableitung der skalarenGroße f in Richtung des 7-dimensionalen Vektors (t,xi,ξi) im 7-dimensionalenRaum (t,xi,ξi) (=Phasenraum) gleich und zeigt die Richtung der Trajektorieauf, welche von f in diesem Raum durchlaufen wird. f wird also nur langsder Trajektorie differenziert.

4.3 Boltzmannsches Stoßintegral

Zur Herleitung des Boltzmannschen Stoßintegrals sollen die Molekule alspunktformige Zentren von kugelsymmetrischen Kraftfeldern betrachtet wer-den. Es seien ξi und ξ1i die Geschwindigkeiten zweier Molekule lange vor dergegenseitigen Wechselwirkung, ξ′i und ξ′1i die entsprechenden Geschwindigkei-ten lange danach. Wir wahlen ein Koordinatensystem (Zylinderkoordinaten),dessen Ursprung O im Zentrum des Molekuls ohne Index (Auf-Molekul) liegt.

Abbildung 4.2: Zur Erlauterung des Boltzmannschen Stoßintegrals

Das Molekul (1) bewegt sich mit der Relativgeschwindigkeit gi = ξ1i − ξiauf das Molekul ohne Index (im Ursprung O) zu. Nach dem Stoß betragtdie Relativgeschwindigkeit zwischen beiden Molekulen g′i = ξ′1i − ξ′i. Aus derEnergieerhaltung fur den elastischen Stoß (siehe spater) folgt, daß g = g′,mit g = |gi| und g′ = |g′i|. Die Achse durch O liegt parallel zum Vektor gi derRelativgeschwindigkeit und ist Achse des Zylinderkoordinatensystems z,b,ǫ.

102

Die Annahme, daß die Stoßdauer τc sehr klein ist, im Vergleich zur mittlerenZeit zwischen zwei Stoßen, ist aquivalent der Annahme, daß die Reichwei-te der intermolekularen Krafte klein ist, verglichen mit der mittleren freienWeglange. In einem bestimmten Abstand vom Aufmolekul (der kleiner istals λ ) sind die Bahnkurven der Teilchen also ungestort.

Im Zeitintervall dt treten nun durch das Flachenelement bdbdǫ der P-Ebene

dVξ1 f(t,xi,ξ1i)︸ ︷︷ ︸

f1

g(b db dǫ)dt = f1gb db dǫ dt dVξ1 (4.18)

Molekule der Sorte ξ1i hindurch. Will man die Gesamtzahl der Stoße wissen,die das ξi-Molekul (Aufmolekul) erleidet, so hat man uber alle Winkel ǫ, alleStoßparameter b und alle Geschwindigkeiten ξ1i zu integrieren

dt

2π∫

ǫ=0

+∞∫

b=0

∫ ∫

(ξ1i)

f1gb db dǫ dVξ1.

Nun sind aber im Element dVξ des Ortsraumes f(ξi)dVξdVx Aufmolekuleenthalten, so daß die Gesamtzahl der Stoße dieser Art (d.h. aus ξi wird ξ′iund aus ξ1i wird ξ′1i) lautet:

dtdVxdVξf

∫ ∫ ∫ ∫ ∫

f1gb db dǫ dVξ1,

mit f = f(t,xi,ξi).

Nun gibt es andererseits auch Molekule, deren Ausgangsgeschwindigkeitendie Werte ξ′i und ξ′1i haben. Durch den sogenannten inversen Stoß erlan-gen sie gerade die Geschwindigkeiten ξi und ξ1i. Voraussetzung dafur ist einkugelsymmetrisches Kraftfeld (d.h. das Wechselwirkungspotential hangt nurvon der Entfernung der Molekulzentren ab).Wenn also durch Stoße Aufmolekule dem Volumenelement dVx verlorengehen,werden durch inverse Stoße wieder Aufmolekule gewonnen. Die Gesamtzahlder so gewonnenen Molekule ist analog:

dtdVxdVξ′

∫ ∫ ∫ ∫ ∫

f ′f ′1g

′b′ db′ dǫ′ dVξ′1.

103

Aus der Kugelsymmetrie des Stoßes (kugelsymmetrisches Kraftfeld) folgt:

g = g′

b = b′

ǫ = ǫ′

Im Gegensatz zu dem Ausdruck fur die durch Stoß verlorengegangenen ξi-Molekule, kann in dem Ausdruck fur die gewonnenen ξi-Molekule die Funk-tion f ′ nicht vor das Integral gezogen werden, da zu jeder Geschwindigkeitξ′1i eine Geschwindigkeit ξ′i gehort, derart, daß das ξ′i-Molekul durch Stoß dieGeschwindigkeit ξi erlangt.Bei der Transformation der Produkte (dVξ′ · dVξ′1

) vom ξ′i -bzw. ξ′1i -Raumin den ξi -bzw. ξ1i -Geschwindigkeitsraum, ergibt sich bei einem elastischenStoß die Funktionaldeterminante (Jacobi-Determinante) zu 1.

J =∂(ξ′i,ξ

′1i)

∂(ξi,ξ1i)= 1 (4.19)

Je Zeit- und Volumeneinheit des 6-dimensionalen Phasenraumes nimmt dieAnzahl der Aufmolekule (ξ-Molekule) durch Stoße also insgesamt zu

(∂f

∂t

)

Stoß

=

+∞∫

0

2π∫

0

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

(f ′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ1 (4.20)

Die Boltzmann-Gleichung lautet somit in vollstandiger Schreibweise:

∂f

∂t+

3∑

i=1

ξi∂f

∂xi

+3∑

i=1

Fi∂f

∂ξi=

2π∫

0

+∞∫

0

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

(f ′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ1

(4.21)

Die Art des Molekulmodells geht durch den Stoßparameter b in die Rechnungmit ein. Bei Vereinbarung der Einsteinschen Summationskonvention konnendie beiden Summen auch weggelassen werden.

104

4.4 Eigenschaften des Stoßintegrals

Wir wollen einige Symmetrie-Eigenschaften des Stoßintegrals kennenlernen,da diese spater gebraucht werden (Transportgleichungen). Das Stoßintegrallautet:

(∂f

∂t

)

Stoß

=

+∞∫

0

2π∫

0

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

(f ′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ1 (4.22)

Es ist eine Funktion von t,xi,ξi so wie die Verteilungsfunktion selbst. In derGaskinetik wird haufig die mit Φ(ξi) multiplizierte und uber ξi integrierteForm des Stoßintegrals benotigt. Wir bezeichnen sie mit IΦ

IΦ =

Φ(ξi)

(∂f

∂t

)

Stoß

dVξ =

8−fach

Φ(ξi)(f′f ′

1 − ff1)gb db dǫ dVξ dVξ1

Die folgenden Beziehungen werden hier ohne Beweis wiedergegeben, da die-ser eine rein mathematische Angelegenheit ist und uber den Rahmen derVorlesung hinausgeht (vgl. Literatur: Chapman, Kogan):

IΦ =1

2

8−fach

(Φ− Φ′)(f ′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ dVξ1

=1

2

8−fach

(Φ1 − Φ′1)(f

′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ dVξ1

=1

4

8−fach

(Φ + Φ1 − Φ′ − Φ′1)(f

′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ dVξ1

(4.23)

Die letzte Form enthalt nun eine wichtige physikalische Aussage, wenn furΦ die sogenannten additiven Stoßinvarianten Ψl gewahlt werden. Das sindGroßen, die durch den Stoß nicht geandert werden, wie etwa die Molekulmas-se, der Molekulimpuls und die kinetische Energie der Molekule. Jeder Stoß-prozess, bei dem das Wechselwirkungspotential nur vom Molekulabstand rabhangt (Kugelsymmetrie), erfullt diese Erhaltungssatze:

105

Masse : m+m1 = m′ +m′1

Impuls : mξi +m1ξ1i = m′ξ′i +m′1ξ

′1i

Energie : m(ξi)2 +m1(ξ1i)

2 = m′(ξ′i)2 +m′

1(ξ′1i)

2

(4.24)

Die Stoßinvarianten Ψl sind also

Ψ0 = m

Ψi = mξi i = 1,2,3

Ψ4 = m(ξi)2 = m((ξ1)

2 + (ξ2)2 + (ξ3)

2)

(4.25)

Die allgemeine Form des Erhaltungssatzes ist dann:

Ψl(ξi) + Ψl(ξ1i) = Ψl(ξ′i) + Ψl(ξ

′1i) (4.26)

Die letzte Form des Stoßintegrals (4.23) enthalt nun gerade diesen Erhal-tungssatz in Form des Klammerausdruckes (Φ + Φ1 − Φ′ − Φ′

1). Wahlt mandaher als Gewichtsfunktion Φ die additiven Stoßinvarianten Ψl, so verschwin-det das Stoßintegral identisch

IΦ =1

4

(8)

(Ψl(ξi) + Ψl(ξ1i)−Ψl(ξ′i)−Ψl(ξ

′1i)) ·

· (f ′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ dVξ1 ≡ 0

(4.27)

Dieses Ergebnis spielt eine wichtige Rolle bei der Herleitung der Erhal-tungssatze fur Masse, Impuls und Energie aus der Boltzmann-Gleichung.

106

4.5 Boltzmannsche H-Funktion und Gleich-

gewichtsverteilung (Maxwellverteilung)

Die Boltzmannsche H-Funktion ist durch die Gleichung:

H ≡∫

f ln f dVξ = H(xi,t) (4.28)

definiert, wobei das Integral uber alle vorkommenden Geschwindigkeiten zubilden ist.Fur ein raumlich homogenes Gas, hangt die Verteilungsfunktion f(t,ξi) nichtvon xi ab; damit ist auch H von xi unabhangig und nur eine Funktion derZeit t

∂H

∂t=

∫∂

∂t(f ln f) dVξ =

(1 + ln f)∂f

∂tdVξ (4.29)

Nimmt man daruber hinaus noch an, daß das Gas keinem außeren KraftfeldmFi unterliegt, dann laßt sich ∂f/∂t durch das Boltzmannsche Stoßintegralausdrucken. Die Boltzmanngleichung lautet fur ein raumlich homogenes Gasohne außeres Kraftfeld

∂f

∂t=

(f ′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ1 (4.30)

Damit kann ∂H/∂t folgendermaßen geschrieben werden

∂H

∂t=

∫ ∫

Φ(ξi)︷ ︸︸ ︷

(1 + ln f)(f ′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ1 dVξ

=1

4

∫ ∫

ln

(ff1

f ′f ′1

)

(f ′f ′1 − ff1)gb db dǫ dVξ1 dVξ

(4.31)

Der Klammerausdruck und der Wert des Logarithmus haben immer entge-gengesetztes Vorzeichen, denn fur

f ′f ′1 > ff1 folgt ln

ff1

f ′f ′1

< 0

und fur

f ′f ′1 < ff1 folgt ln

ff1

f ′f ′1

> 0.

Mit anderen Worten:∂H

∂t≤ 0 (4.32)

107

H kann also niemals wachsen, sondern nur abnehmen. Dies ist die Aussa-ge des Boltzmannschen H-Theorems. H kann aber auch nicht beliebig weitabnehmen, da die Molekule eine endliche Gesamtenergie besitzen. Vielmehrstrebt H einem Grenzwert zu, welcher durch die Bedingung ∂H/∂t = 0 fest-gelegt ist. Dieser Grenzwert ist dann erreicht, wenn

f ′f ′1 = ff1,

oderln f ′ + ln f ′

1 = ln f + ln f1.

ln f muß also eine additive Stoßinvariante sein.

Als solche kann sie, das wissen wir aus der Mechanik, als Linearkombinationder uns bereits bekannten additiven Stoßinvarianten dargestellt werden

ln f = am+ bimξi + dm

2ξ2,

wobei a, bi und d funf voneinander verschiedene Großen sind. (Fur einnichthomogenes Gas sind die a, bi und d Funktionen des Ortes und der Zeit.)

Ausfuhrlicher:

ln f = am+m(b1ξ1 + b2ξ2 + b3ξ3) +m

2d(ξ2

1 + ξ22 + ξ2

3)

= ln a∗ − d∗ 12m

[

(ξ1 − b1/d∗)2 + (ξ2 − b2/d∗)2+

(ξ3 − b3/d∗)2

]

= ln a∗ − 1

2d∗m

[(ξi − bi/d∗)2

]

f = a∗ exp

{

−1

2md∗(ξi − bi/d∗)2

}

108

Die Großen a∗, bi und d∗ mussen noch bestimmt werden. Das geschieht mitHilfe der Definitionsgleichungen fur die Dichte, Stromungsgeschwindigkeitund Temperatur. Fur die Teilchendichte folgt

n =∫fdVξ = a∗

∞∫

ξ1=−∞

exp

{

−1

2md∗

(

ξ1 −b1d∗

)2

︸ ︷︷ ︸

c21

}

dξ1︸︷︷︸

dc1

︸ ︷︷ ︸√2π

md∗

∞∫

ξ2=−∞

exp

{

−1

2md∗

(

ξ2 −b2d∗

)2

︸ ︷︷ ︸

c22

}

dξ2︸︷︷︸

dc2

︸ ︷︷ ︸√2π

md∗

∞∫

ξ3=−∞

exp

{

−1

2md∗

(

ξ3 −b3d∗

)2

︸ ︷︷ ︸

c23

}

dξ3︸︷︷︸

dc3

︸ ︷︷ ︸√2π

md∗

= a∗(

md∗

)3/2

(4.33)

Die Stromungsgeschwindigkeit liefert

nu1 =

fξ1dVξ = a∗∞∫

ξ1=−∞

ξ1 exp

{

−1

2md∗

(

ξ1 −b1d∗

)2

︸ ︷︷ ︸

c21

}

dξ1︸︷︷︸

dc1

∞∫

ξ2=−∞

exp

{

−1

2md∗

(

ξ2 −b2d∗

)2

︸ ︷︷ ︸

c22

}

dξ2︸︷︷︸

dc2

︸ ︷︷ ︸√2π

md∗

∞∫

ξ3=−∞

exp

{

−1

2md∗

(

ξ3 −b3d∗

)2

︸ ︷︷ ︸

c23

}

dξ3︸︷︷︸

dc3

︸ ︷︷ ︸√2π

md∗

109

nu1 =∫fξ1dVξ = a∗

(2π

md∗

)

∞∫

c1=−∞

c1 exp

{

−1

2md∗c21

}

dc1

︸ ︷︷ ︸

0

+b1d∗

∞∫

c1=−∞

exp{. . .}dc1

︸ ︷︷ ︸√2π

md∗

= a∗b1d∗

(2π

md∗

)3/2

Allgemein:

nui = a∗bid∗

(2π

md∗

)3/2

a∗ = n

(2π

md∗

)−3/2

oder

ui =bid∗

. (4.34)

Damit entspricht

ξi −bid∗

= ci = ξi − ui

der thermischen Geschwindigkeit oder Eigengeschwindigkeit der Molekule.

Es gilt jetzt noch die Große d∗ zu bestimmen. Sie folgt aus der Definitions-gleichung fur die Temperatur, die fur jede beliebige Verteilung der Geschwin-digkeiten gelten soll, also auch fur die obige:

3

2kT =

m

2n

c2fdVξ =m

2n

(c21 + c22 + c23)fdVξ =3

2d∗

d∗ =1

kT(4.35)

Man erhalt somit die endgultige Form der sogenannten Maxwellschen Ge-schwindigkeitsverteilungsfunktion:

110

f =n

(2πRT )3/2exp

{

−(ξi − ui)2

2RT

}

=n

(2πRT )3/2exp

{

−(ξ1 − u1)2 + (ξ2 − u2)

2 + (ξ3 − u3)2

2RT

}

(4.36)

Maxwellverteilung

Die Ableitung der Maxwellverteilung aus dem H-Theorem zeigt an, daß Ga-se, welche eine andere als diese Verteilungsfunktion aufweisen, im Laufe derZeit einem Grenzzustand mit Maxwellscher Geschwindigkeitsverteilung zu-streben. Ist dieser erreicht, so andert sich die H-Funktion nicht mehr. Die obi-ge Maxwellverteilung wird bei etwas allgemeinerer Betrachtungsweise (sieheKogan) zur ortlichen Maxwellverteilung:

fOM(t,xi,ξi) =n(t,xi)

(2πRT (t,xi))3/2exp

{

− c2

2RT (t,xi)

}

mit

c2 = (ξi − ui(t,xi))2 ,

im Gegensatz zur ruhenden (oder raumzeitlich konstanten) Maxwellvertei-lung fM , bei der n, ui und T weder von t noch von xi abhangen.

fM =n

(2πRT )3/2exp

{

− c2

2RT

}

(4.37)

Bemerkung: Das H-Theorem laßt sich auch fur ein raumlich nichthomoge-nes Gas, allerdings unter großerem Aufwand, ableiten.

111

Fur uns ist es wichtig zu wissen, dass sich bei bekannter Verteilungsfunktionf durch Mittelwertbildung alle interessierenden makroskopischen Großen alsMomente der Verteilungsfunktion bestimmen lassen:

Dichte : ρ = m

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

f dξ1 dξ2 dξ3,

Geschwindigkeit : u =m

ρ

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

ξf dξ1 dξ2 dξ3,

Temperatur : T =m

3ρR

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

(ξ − u)2f dξ1 dξ2 dξ3, (4.38)

Spannungstensor : τij = m

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

(ξi − ui)(ξj − uj)f dξ1 dξ2 dξ3, etc.

Warmestromvektor : qi =m

2

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

(ξi − ui)(ξ − u)2f dξ1 dξ2 dξ3

Durch die Beziehungen (4.38) ist der Zusammenhang zwischen der mikrosko-pischen Beschreibung des Gaszustandes und den gasdynamischen Zustands-großen ρ, u, T , etc. hergestellt, wie dies in der Einleitung angedeutet wurde.

Den Gleichgewichtszustand, von dem im vorherigen Kapitel die Rede war,kennzeichnet die Maxwellsche Verteilungsfunktion fOM .

Sie folgt aus dem Boltzmannschen Stoßintegral und der Tatsache, dass ln (f)als Summe von Stoßinvarianten (Masse, Impuls, kinetische Energie) geschrie-ben werden kann. fOM hat die Form:

fOM(t, x, ξ) = n( m

2πkT

)3/2

exp(

−(ξ − u)2

2RT

)

. (4.39)

Darin sind n, u, T Funktionen von (t, x). Die mit der ortlichen Maxwellver-teilung berechneten Momente lauten:

112

Dichte : ρ = m

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

fOM dξ1 dξ2 dξ3,

Geschwindigkeit : u =m

ρ

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

ξfOM dξ1 dξ2 dξ3,

Temperatur : T =m

3ρR

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

(ξ − u)2fOM dξ1 dξ2 dξ3, (4.40)

Spannungstensor : τij = m

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

(ξi − ui)(ξj − uj)fOM dξ1 dξ2 dξ3 = pδij

Warmestromvektor : qi =m

2

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

(ξi − ui)(ξ − u)2fOM dξ1 dξ2 dξ3 = 0.

Mit anderen Worten: Der Maxwellsche Gleichgewichtszustand der Molekulebeschreibt Stromungen ohne Reibung und Warmeleitung (Euler-Gleichung).

Interessiert man sich nicht fur die Richtung der Molekulgeschwindigkeiten,sondern nur fur deren Betrag, dann gelangt man zur Maxwellverteilung derGeschwindigkeitsbetrage c =| c |=| ξ − u |:

f(c) =4πc2n

(2πRT )3/2exp

(

− c2

2RT

)

. (4.41)

Aus ihr lassen sich ohne weiteres die folgenden charakteristischen Geschwin-digkeiten errechnen:

Der Mittelwert des Geschwindigkeitsbetrages:

c =1

n

∞∫

c=0

cf(c) dc =

8RT

π(4.42)

Die Wurzel aus dem mittleren Geschwindigkeitsquadrat:

√c2 =

(1

n

∞∫

c=0

c2f(c) dc)1/2

=√

3RT (4.43)

113

Abbildung 4.3: Maxwellverteilung der Geschwindigkeitskomponente cx furverschiedene Temperaturen

Die wahrscheinlichste Teilchengeschwindigkeit (Maximum der Funktion f(c))

cm =√

2RT. (4.44)

cm unterscheidet sich kaum von der Schallgeschwindigkeit√κRT . Die Abbil-

dungen 4.3 und 4.4 zeigen Maxwellverteilungen einer thermischen Geschwin-digkeitskomponente und des Betrags der thermischen Geschwindigkeit c inAbhangigkeit der Gastemperatur.

Wir wollen uns nun noch mit dem Spezialfall der freien Molekulstromungbefassen. Das Gas ist in diesem Fall so stark verdunnt, dass Stoße zwischenden Teilchen praktisch nicht vorkommen, d.h.,

(∂f/∂t)Stoße ≡ 0. (4.45)

Fur das Verhaltnis von mittlerer freier Weglange λ zu einer charakteristischenKorperdimension L, das auch als Knudsenzahl Kn bezeichnet wird (Kn =λ/L), gilt:

Kn≫ 1 (4.46)

Ein Gas ist auch dann im Zustand freier Molekulstromung, wenn man sichfur Stromungsvorgange interessiert, die sich in einem Zeitintervall abspielen,das kleiner ist als die mittlere Zeitdauer zwischen zwei aufeinander folgendenStoßen.

114

Abbildung 4.4: Maxwellverteilung der Geschwindigkeitsbetrage fur verschie-dene Temperaturen.

In der freien Molekulstromung uben die Randbedingungen den entscheiden-den Einfluss auf das Stromungsfeld aus.

Bei der stationaren Umstromung eines Zylinders beispielsweise wird derankommende Teilchenstrom in keiner Weise von den reflektierten Teilchengestort, da Stoße der Teilchen untereinander vernachlassigt werden. Fur dieBerechnung makroskopischer Stromungsgroßen in einem beliebigen AufpunktP nach den Gln. (4.40), muss man sich jedoch vorstellen, dass alle Teilchen,deren Geschwindigkeiten im Bereich (A) liegen, von der Wand kommen, so-mit also die Verteilung fw besitzen und dass alle Teilchen des Bereiches (B)der ursprunglichen Verteilung f∞ angehoren (Abb. 4.5).

Dies ist das sog. Leessche Sichtkegelprinzip. Es liefert die exakte Losung furdie stationare Zylinderumstromung im Bereich freier Molekulstromung, z.B.unter der Annahme einer vollig diffus reflektierenden Oberflache. Bereich (A)weitet sich immer mehr auf, wenn der Aufpunkt P (x) sich dem Korper nahertund entartet zu einem Halbraum, wenn P (x) auf der Oberflache selbst liegt.Das Prinzip ist auf alle Korperformen anwendbar.

115

Abbildung 4.5: Sichtkegelprinzip von Lees

Komplizierter werden die Verhaltnisse allerdings, wenn es sich um konkaveKorper oder zwei benachbarte Korper handelt, weil in diesen Fallen Molekule,die von der Oberflache reflektiert werden, nach Reflexion an dem anderenKorper - oder an einem anderen Teil desselben Korpers - wieder zum selbenPunkt der Oberflache zuruckkehren konnen (interreflections).

4.6 H-Theorem und Entropie

Die Definitionsgleichung fur die H-Funktion kann auch folgendermaßen ge-schrieben werden

H ≡∫

f ln fdVξ = n ln f

Fur eine (ortliche) Maxwellverteilung lautet ln f :

ln fOM = lnn− 3

2ln (2πRT )− c2

2RT

Verwenden wir die Definitionsgleichung fur die Temperatur in der Form

1

2c2 =

3

2RT oder

c2

2RT=

3

2dann ergibt sich fur H :

H = n ln fOM = n (lnn− 3

2ln (2πRT )− 3

2)

116

Dieser Wert ist auf das Volumen bezogen (da n auf das Ortsvolumen bezogenist). Je Masseneinheit gilt

Hm =H

ρ=

H

mn=

1

mln[n(2πRT )−3/2

]+ konst.

In der Thermodynamik ist die Entropie folgendermaßen definiert

ds =1

T

(

di− dp

ρ

)

.

Fur ein ideales Gas gilt

di = cp dT (spezifische Enthalpie)

Mit R = cp − cv und p = (cp − cv)ρT, dp = (cp − cv)[Tdρ+ ρ dT ] folgt:

ds = cv︸︷︷︸

32R

dT

T−Rdρ

ρ= R(

3

2

dT

T− dρ

ρ)

Integriert:

s = R ln(T )3/2

ρ+ konst.

Wir bilden jetzt den Ausdruck kHm + s:

kHm + s =k

m︸︷︷︸

R

ln(m)1/2

(2πk)3/2+ konst.′ = konst.

Dieser Ausdruck ist offenbar unabhangig vom Zustand des Gases. Der Zu-sammenhang zwischen H-Funktion und Entropie ist demnach:

s = −kHm + konst. = −R ln f + konst.

Fur ein Gas im ortlichen thermodynamischen Gleichgewicht ist die Boltz-mannsche H-Funktion proportional zur negativen Entropie.

117

Wahrend die Entropie s in der Thermodynamik nur fur schwach gestorteGleichgewichtszustande definiert ist, laßt sich die Funktion H (und damitHm) fur beliebige (nichtmaxwellsche) Verteilungsfunktionen berechnen. Dieobige Beziehung legt somit eine mogliche Definition von s fur Gase nahe, diesich weit weg vom Gleichgewichtszustand befinden. Das H-Theorem, welchesbesagt, daß die H-Funktion in einem abgeschlossenen System nur abnehmenkann, erweist sich nun als verallgemeinerte Form des zweiten Hauptsatzesder Thermodynamik, nach welchem die Entropie in einem abgeschlossenenSystem nur zunehmen kann. Es ist jedoch zu beachten, daß die Grundvoraus-setzungen bei der obigen Ableitung statistischer Art waren, und daß daherdas Boltzmannsche H-Theorem sowie der zweite Hauptsatz nicht als not-wendige Gesetze, sondern als an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeitenaufzufassen sind.

4.7 Maxwellsche Transportgleichung

In Kapitel 4.1 (Geschwindigkeitsverteilung der Molekule und Momente derVerteilungsfunktion) hatten wir verschiedene Momente der Verteilungsfunk-tion f eingefuhrt, die in der Gasdynamik von fundamentaler Bedeutung sind.Es sind dies die gasdynamischen Variablen Dichte ρ, Stromungsgeschwindig-keit ui, Temperatur T , Spannungstensor τij und Warmestromvektor qi. Daßdiese Momente existieren und daß zum Beispiel n =

∫fdVξ =

∫fOMdVξ

gilt, deutet bereits an, daß zur Beschreibung oder Vorhersage einer gas-dynamischen Situation die vollstandige Kenntnis der Verteilungsfunktion fnicht erforderlich ist. Es ist daher ganz naturlich, daß versucht wird, aus derBoltzmanngleichung durch Integration entsprechende Bestimmungsgleichun-gen fur die gasdynamischen Variablen herzuleiten.

Dazu wird die Boltzmann-Gleichung jeweils mit Molekuleigenschaften Φ(ξ)multipliziert und uber den Geschwindigkeitsraum integriert. Auf diese Weiseerhalt man ein System von Transportgleichungen, zu denen auch die bekann-ten Erhaltungssatze fur Masse, Impuls und Energie gehoren, die dadurchgekennzeichnet sind, daß sie keinen Beitrag zum Stoßintegral liefern. Aufdiese Weise kann jedoch kein in sich geschlossenes System von Differential-gleichungen entstehen, wie sich noch zeigen wird.

118

Zunachst soll eine allgemeine Transportgleichung fur irgendeine makrosko-pische Große Φ hergeleitet werden. Diese makroskopische Große Φ ist alsMittelwert einer Eigenschaft des molekularen Zustandes anzusehen. Wir be-trachten gewohnlich Molekuleigenschaften der Art Φ(ξi)

nΦ =

Φ(ξi)f dVξ

Nach Multiplikation beider Seiten der Boltzmann-Gleichung mit Φ(ξi) undIntegration uber alle moglichen Molekulgeschwindigkeiten (−∞ ≤ ξi ≤ ∞)folgt

Φ(ξl)

(∂f

∂t+ ξj

∂f

∂xj

+ Fj∂f

∂ξj

)

dVξ =

Φ(ξl)

(∂f

∂t

)

Stoß

dVξ = IΦ

IΦ ist das in Kapitel 4.4 eingefuhrte Stoßintegral mit den bekannten Sym-metrieeigenschaften. Betrachten wir die linke Seite der obigen Gleichung. Dadie Integrationsgrenzen nicht von der Zeit t abhangen, kann die Reihenfolgevon Integration und Differentiation vertauscht werden und man erhalt:

∞∫

−∞

Φ(ξl)∂f

∂tdVξ =

∂t

∞∫

−∞

Φ(ξl)f dVξ

Ganz entsprechend folgt fur den zweiten Term:

∞∫

−∞

Φ(ξl)ξj∂f

∂xj

dVξ =∂

∂xj

∞∫

−∞

Φ(ξl)ξjf dVξ

und den dritten Term nach partieller Integration bezuglich ξj, wobei zu be-achten ist, daß j ein an Fj gebundener Index ist:

∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

Φ(ξl)︸ ︷︷ ︸

u

∂f

∂ξ(j)dξ(j) dξi

︸ ︷︷ ︸

dv

dξk =

∞∫

ξi=−∞

∞∫

ξk=−∞

Φ(ξl) [f ]∞ξj=−∞dξi dξk

−∞∫

−∞

∞∫

−∞

∞∫

−∞

f∂Φ(ξl)

∂ξjdVξ

Zu dem letzten Term kann noch folgendes gesagt werden:

119

Wenn die Energie des Gases endlich ist, kann es nur sehr wenige Molekule mitsehr großen Geschwindigkeiten geben, deshalb muß f wenigstens so schnellwie |ξ|−2 gegen null gehen, wenn |ξ| → ∞ (Dies folgt aus der Betrachtung der

kinetischen Energie der Molekule (m/2 ξ2 =endlich). Es wird im folgendenstets angenommen, daß f genugend schnell gegen null geht, wenn |ξ| gegen∞ geht, so daß der erste Term auf der rechten Seite der obigen Gleichungvernachlaßigt werden kann.

Die allgemeine Form der Maxwellschen Transportgleichung ist damit:

∂t

Φ(ξl)fdVξ +∂

∂xj

Φ(ξl)ξjfdVξ − Fj

f∂Φ(ξl)

∂ξjdVξ = IΦ (4.47)

oder

∂(nΦ(ξl))

∂t+

∂xj

(nΦ(ξl)ξj)− Fjn∂Φ(ξl)

∂ξj= IΦ (4.48)

Wir verwenden jetzt als Funktionen Φ(ξl) die additiven Stoßinvarianten Ψl

Ψl = m, mξi,m

2ξ2

In Kapitel 4.4 hatten wir gezeigt, daß IΨl≡ 0 gilt. Mit den folgenden Defi-

nitionen (Siehe Kapitel 4.1) fur die gasdynamischen Großen, namlich

Dichte ρ =

mf dVξ = nm

Geschwindigkeit nmui︸ ︷︷ ︸

ρui

= nmξi =

mξif dVξ

120

Temperatur T =1

32ρR

∫m

2c2f dVξ

=2

3ρR

∫m

2(ξ2

i − 2uiξi + u2i )f dVξ

=2

3ρR

∫m

2ξ2i f dVξ −

1

3nR

2ui

ξifdVξ

︸ ︷︷ ︸

nui

−u2i

f dVξ

︸ ︷︷ ︸

n

=2

3ρR

∫m

2ξ2f dVξ −

1

3Ru2

i

=⇒ nm

2ξ2 =

∫m

2ξ2f dVξ =

3

2ρRT +

ρ

2u2

i

Spannungstensor nmξi ξj =

mξi ξjf dVξ =

m(ci + ui)(cj + uj)f dVξ

= τij + ρuiuj

mit τij = m

ci cj f dVξ und

ci f dVξ = 0

Warmestrom nm

2ξi ξ

2 =m

2

ξi ξ2 f dVξ

=m

2

(ci + ui)(c2 + 2cj uj + u2

j)f dVξ

= qi + ujτij + ρui(3

2RT +

1

2u2)

121

Daraus folgen die gasdynamischen Erhaltungssatze:

1. Kontinuitatsgleichung (Φ = m)

∂ρ

∂t+

∂xi

(ρui) = 0 (4.49)

Substantielle Ableitung:D

Dt=

∂t+ ui

∂xi

Dt+ ρ

∂ui

∂xi= 0 (4.50)

in Komponenten:∂ρ

∂t+∂(ρu1)

∂x1+∂(ρu2)

∂x2+∂(ρu3)

∂x3= 0

2. Impulsgleichung (Φ = mξi)

∂(ρui)

∂t+

∂xj(ρuiuj + τij)− Fiρ = 0

oder unter Verwendung der Kontinuitatsgleichung

ui∂ρ

∂t+ ρ

∂ui

∂t+ ρuj

∂ui

∂xj+ ui

∂(ρuj)

∂xj= −∂τij

∂xj+ Fiρ

(∂

∂t+ uj

∂xj

)

ui = −1

ρ

∂τij∂xj

+ Fi (4.51)

3. Energiegleichung (Φ =m

2ξ2)

∂tρ

3

2RT︸ ︷︷ ︸

cvT

+1

2u2

i

+∂

∂xj

ρuj

3

2RT︸ ︷︷ ︸

cvT

+1

2u2

i

+ ukτkj + qj

−ρFiui = 0

oder unter Berucksichtigung der Kontinuitatsgleichung sowie der Im-pulsgleichung

ρ3

2R

︸︷︷︸

cv

(∂

∂t+ uj

∂xj

)

T = − ∂qj∂xj− τij

∂ui

∂xj(4.52)

122

Diese funf Gleichungen (Kontinuitat, Impuls und Energie) enthalten die 14Variablen ρ,ui, τij ,T und qi und reichen daher nicht aus, alle diese Großenzu bestimmen. Das Differentialgleichungssystem ist also nicht geschlossen.Um das Gleichungsssystem zu schließen, mussen wir zusatzliche Beziehun-gen zwischen den darin auftretenden Großen finden. (Die obigen Gleichungenenthalten weder die Euler- noch die Navier-Stokes-Gleichungen. In der Gas-dynamik wird fur τij der Ansatz gemacht, daß τij zum Deformationstensorproportional ist, und qi proportional zum Temperaturgradienten. Damit laßtsich das obige Differentialgleichungssystem schliessen).

Die linearen Beziehungen zwischen τij,qi und den Gradienten von ui, T diein der Gasdynamik gelten, stellen allerdings einen sehr speziellen Fall dar,der nur fur Stromungen mit kleinen Knudsenzahlen zutrifft, d.h. also furStromungen, die dem ortlichen Gleichgewicht sehr nahe sind (Siehe spater:Chapman-Enskog-Theorie).

Im allgemeinen Nichtgleichgewichtsfall reichen die obigen Gleichungen nichtaus und die Stromung laßt sich nicht nur durch die gasdynamischen Varia-blen beschreiben. Das Differentialgleichungssystem der Erhaltungssatze kannnicht geschlossen werden. Jede weitere (hohere) Transportgleichung enthaltein neues unbekanntes Moment Φ der Verteilungsfunktion. Daruber hinausmussen fur alle ubrigen Transportgleichungen mit Φi 6= Ψi die Stoßintegraleberechnet werden, was ein sehr muhsames Unterfangen ist. (Fur spater seiangemerkt, daß ein System von unendlich vielen Transportgleichungen derBoltzmann-Gleichung aquivalent ist).

4.8 Linearisierte Boltzmann-Gleichung

Wegen der komplizierten nichtlinearen Struktur des Boltzmannschen Stoßin-tegrals (dieses ist in f quadratisch), laßt sich die Boltzmann-Gleichung inihrer allgemeinsten Form bis heute nicht losen. Die Eigenschaften der allge-meinen Losung dieser Integro-Differentialgleichung konnen jedoch qualitativstudiert werden, wenn man vereinfachte Modellgleichungen hernimmt. Einesolche Naherung der nichtlinearen Boltzmann-Gleichung stellt die linearisier-te Boltzmann-Gleichung dar, die man aus jener fur nur geringe Abweichungenvon der Gleichgewichtsverteilung erhalt. Die universellste Linearisierung istdie in Bezug auf eine ruhende Maxwellverteilung fM mit raumzeitlich kon-stanter Anzahldichte, Geschwindigkeit und Temperatur.

123

Diese Verteilung ist eine Losung der Boltzmann-Gleichung fur ein Stromungs-feld ohne außere Krafte, Fi ≡ 0

∂f

∂t+ ξi

∂f

∂xi=

(∂f

∂t

)

Stoß

= I(t, xi, ξi) , (4.53)

da sie das Stoßintegral I zu null macht und ebenso die linke Seite der Glei-chung uneingeschrankt erfullt:

∂fM

∂t+ ξi

∂fM

∂xi≡ 0 ,da fM = fM(ξi) (4.54)

Fur schwach gestortes Gleichgewicht kann die Verteilungsfunktion in der fol-genden Form geschrieben werden:

f(t, xi, ξi) = fM + f ∗ = fM(1 + ϕ) (4.55)

wobei

fM =n

(2πRT )3/2exp

{

− c2

2RT

}

, ϕ = ϕ(t, xi, ξi) (4.56)

f ∗ und ϕ sind kleine Storungen, so daß gelten muß:

|f ∗| ≪ fM , |ϕ| ≪ 1

Diese beiden Ungleichungen lassen nicht beliebige Machzahlen der Stromungzu und setzen daruber hinaus kleine relative anderungen in der Temperaturvoraus.Der einzige in der Boltzmann-Gleichung auftretende nichtlineare Term in fist das Stoßintegral. Unterdruckt man quadratische Glieder in ϕ, so ergibtsich fur die Verteilungsfunktionen im Stoßintegral folgender Ausdruck:

(f ′f ′1 − ff1) = f ′

Mf′M1(1 + ϕ′)(1 + ϕ′

1)− fMfM1(1 + ϕ)(1 + ϕ1) =

= f ′Mf

′M1(1 + ϕ′ + ϕ′

1 + . . .)− fMfM1(1 + ϕ+ ϕ1 + . . .) =

= f ′Mf

′M1 − fMfM1

︸ ︷︷ ︸

=0

+f ′Mf

′M1(ϕ

′ + ϕ′1)− fMfM1(ϕ+ ϕ1) =

= fMfM1(ϕ′ + ϕ′

1 − ϕ− ϕ1)

(4.57)

124

Die linearisierte Boltzmann-Gleichung lautet somit:

dt≡ ∂ϕ

∂t+ ξi

∂ϕ

∂xi=

5

fM1(ϕ′ + ϕ′

1 − ϕ− ϕ1)gb db dǫ dVξ1 (4.58)

Die Verteilung fM ist in bezug auf t und xi konstant und kann bei der In-tegration uber dVξ1 vor das Stoßintegral gezogen und gekurzt werden, da sievon ξi und nicht von ξ1i abhangt.

Die linearisierte Boltzmann-Gleichung ist nach wie vor eine Integrodifferen-tialgleichung und daher sehr schwer losbar, jedoch wegen ihrer Linearitateinfacher als die vollstandige Boltzmann-Gleichung. Es lassen sich mit ihrdie Ausbreitung von Schallwellen, Ultraschallwellen, sowie relativ langsameGasstromungen beschreiben. In der Mehrzahl der praktisch interessierendenFalle, sind Stromungen jedoch nicht schwach gestort (z.B. ruft eine Stromungmit hoher Machzahl große Temperaturdifferenzen hervor). Dennoch konnenanhand von Losungen der linearisierten Gleichung eine Reihe von Eigen-schaften diskutiert werden, die auch die nichtlineare Boltzmann-Gleichungbesitzt.

Aus der Bedingung |ϕ| ≪ 1 sollen jetzt Aussagen uber zulassige Anderungender Dichte, Stromungsgeschwindigkeit und Temperatur im Feld abgeleitetwerden. Die Bedingung |ϕ| ≪ 1 soll auch dann gelten, wenn fM selbst nichtvernachlaßigbar klein ist, also fur:

(ξi − ui)2

2RT∼ 1

Um zu sehen, welche Abweichungen vom Gleichgewicht fM die lineari-sierte Boltzmann-Gleichung beschreiben kann, setzen wir nun Storgroßenδn, δui und δT an:

n = n+ δn

ui = ui + δui

T = T + δT

n, ui und T sind die gestorten Großen; n, ui und T sind raumzeitlich kon-stant und definieren die absolute Maxwellverteilung.

125

Dann erhalten wir wegen

n ≡∫

fMdVξ

ui ≡1

n

ξifMdVξ

T ≡ 1

3nR

(ξi − ui)2fMdVξ

fur die Storgroßen:

δn =

fMϕdVξ = nϕ

δui =1

n

(ξi − ui)fMϕdVξ

δT =T

n

fMϕ

[(ξi − ui)

2

3RT− 1

]

dVξ

Daraus folgt unmittelbar wegen |ϕ| ≪ 1

δn

n≪ 1

In dem Bereich, in dem fM nicht vernachlassigbar klein ist, gilt |ξi − ui| ∼√2RT und wir erhalten:

δui ∼1

n

√2RT

fMϕdVξ =δn

n

√2RT

δui√2RT

∼ δMa ∼ δn

n≪ 1

Die mit der Storgeschwindigkeit δui gebildete Machzahl δMa ist also sehrgering und die Storgeschwindigkeit selbst sehr klein.

Zu δT ist zu sagen, daß der Klammerausdruck

[(ξi − ui)

2

3RT− 1

]

maximal von

der Großenordnung 1 ist, woraus wegen der Bedingung fur |ϕ|

δT

T= 0

(δn

n

)

≪ 1

folgt.

126

Die Bedingung fur δui besagt naturlich nicht, daß ui selbst kleiner alsSchallgeschwindigkeit sein muß. Die obigen Bedingungen stellen starke Ein-schrankungen fur praktische Probleme dar, da Verdunnungserscheinungengewohnlich mit hohen Machzahlen (der Grundstromung) verbunden sind unddiese starke Temperaturunterschiede im Stromungsfeld hervorrufen. Das In-teresse an der linearisierten Boltzmann-Gleichung ist dennoch sehr groß, dasie im ganzen Knudsen-Zahlenbereich (d.h. fur beliebige freie Weglangen)Gultigkeit besitzt.

4.9 BGK-Gleichung (Krook-Gleichung)

Neben der linearisierten Boltzmann-Geichung, die sich mathematisch exaktaus der nichtlinearen Boltzmann-Gleichung herleiten lasst, wird vielfach ei-ne andere Naherung verwendet, die keine strenge mathematische Grundlagebesitzt, jedoch fur viele Probleme bei beliebigen freien Weglangen qualitativrichtige Ergebnisse liefert. Die Naherung besteht darin, daß fur das Stoßin-tegral ein sogenannter Relaxationsansatz verwendet wird

df

dt=∂f

∂t+ ξi

∂f

∂xi

+ Fi∂f

∂ξi=

1

τ(fOM − f) (4.59)

Hierin ist τ die mittlere Zeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Stoßen

τ = τ(t,xi) =1

nσmg= konst. , (4.60)

n die Teilchendichte, σm ein mittlerer Stoßquerschnitt

σm = σ(g) = 2π

bmax∫

0

b(g) db

und g die mittlere Relativgeschwindigkeit zweier Teilchen

g =1

n2

∫ ∫

|ξi − ξ1i|ff1 dVξ dVξ1 (4.61)

fOM bezeichnet eine ortliche Maxwellverteilung mit raumzeitvariabler Dichte,Stromungsgeschwindigkeit und Temperatur.

n(t,xi), ui(t,xi), T (t,xi)

Nachdem n, ui, T aus f ermittelt werden und in fOM enthalten sind, handeltes sich bei der obigen BGK-Gleichung wiederum um eine Integrodifferential-gleichung.

127

Der obige Stoßterm besitzt die wesentlichsten Eigenschaften des Boltzmann-schen Stoßterms.

1. Der Stoßterm verschwindet in den Erhaltungssatzen, d.h.

1

τ

(fOM − f) dVξ ≡ 0

1

τ

ξi(fOM − f) dVξ ≡ 0

1

τ

∫m

2ξ2(fOM − f) dVξ ≡ 0

Es bleiben Masse, Impuls und Energie erhalten, da:∫

fOMdVξ = n =

f dVξ

ξifOMdVξ = 0 =

ξif dVξ

Damit diese Beziehungen gelten, muß τ von ξi unabhangig sein, wasvorausgesetzt wurde.

2. Die ortliche Maxwellverteilung fOM ist wie im Falle des Boltzmann-schen Stoßterms Losung des BGK-Stoßterms.

1

τ(fOM − fOM) ≡ 0

Eine dritte Eigenschaft betrifft die gesamte BGK-Gleichung.

3. In einem raumlich homogenen Gas ohne außere Krafte strebt dieLosung der BGK-Gleichung dem Gleichgewichtszustand fM exponenti-ell zu. Zunachst lautet die BGK-Gleichung ohne außere Krafte Fi ≡ 0fur den raumlich homogenen Fall, ∂/∂xi ≡ 0:

∂f

∂t=

1

τ(fOM − f)

Aus den Erhaltungssatzen fur Masse, Impuls und Energie (vgl. Kapi-tel 4.7)

∂ρ

∂t+

∂xi(ρui) = 0

128

∂(ρui)

∂t+

∂xj

(ρuiuj + τij) = 0

∂t

[

ρ(3

2RT +

1

2u2)

]

+∂

∂xj

[

ρuj(3

2RT +

1

2u2

i ) + ukτkj + qj

]

= 0

folgt sofort die zeitliche Konstanz von ρ,ui undT , d.h. aber, daß dieortliche Maxwellverteilung fOM durch eine ruhende MaxwellverteilungfM zu ersetzen ist.

fOM → fM

Schließlich ist auch τ raumzeitlich konstant.

∂f

∂t+

1

τf =

1

τfM

Dies ist eine inhomogene gewohnliche Differentialgleichung, die mandurch Variation der Konstanten integriert:

f(ξi,t) = fM + e−tτ [f(ξi,0)− fM ]

Die Verteilungsfunktion f strebt also dem Gleichgewichtszustand fM

exponentiell zu und zwar mit einer Relaxationszeit, die der mittle-ren Zeitdauer zwischen zwei aufeinanderfolgenden Stoßen entspricht.Je dichter das Gas (umso kleiner τ), umso schneller ist also der Gleich-gewichtszustand erreicht. Dieselbe Eigenschaft besitzt die Boltzmann-Gleichung.

Zusammenfassend laßt sich festhalten, daß die BGK-Gleichung

• eine Approximation der Boltzmann-Gleichung darstellt,

• die allgemeinen Erhaltungssatze fur Masse, Impuls und Energie erfulltund fur Reihenentwicklungen der Art f = fOM(1 + ϕ + ...) , |ϕ| ≪ 1die Euler- und Navier-Stokes-Gleichungen liefert,

• das H-Theorem erfullt und

• die Relaxation einer beliebigen Nichtgleichgewichtsverteilung gegen dieMaxwellverteilung beschreibt.

Das BGK-Modell ist neuerdings Ausgangspunkt verschiedener numerischerLosungsansatze fur Kontinuumsprobleme (Lattice-Boltzmann-Verfahren).

129

4.10 Anfangs- und Randbedingungen

Um eine spezielle Losung der Boltzmann-Gleichung

∂f

∂t+ ξi

∂f

∂xi+ Fi

∂f

∂ξi= I(t,x,ξ) ≡

(∂f

∂t

)

Stoß

zu konstruieren, mussen Anfangs- und Randbedingungen vorgegeben werden.

4.10.1 Anfangsbedingungen

Die Verteilungsfunktion f(t,x,ξ) ≥ 0 zum Anfangszeitpunkt t = t0 unterliegtdabei keinerlei Einschrankungen, sie kann z.B. als Maxwellverteilung odergestorte Maxwellverteilung vorgeschrieben werden. Ihre Form hangt ganzvon der Problemstellung ab.

4.10.2 Randbedingungen

Die Vorgange an der Berandung eines Stromungsfeldes sollen gleich noch et-was detaillierter betrachtet werden, anhand eines Gases, dessen Molekule ander Oberflache der Berandung keine chemischen Reaktionen eingehen.Ein Molekul, das auf die Oberflache mit ξ

aauftrifft, wird mit einer Geschwin-

digkeit ξr

reflektiert.

Abbildung 4.6: Zur Reflexion von Molekulen an festen Wanden

Es bezeichnet W (ξa,ξ

r)dVξadVξr die Wahrscheinlichkeit dafur, daß Molekule,

deren Auftreffgeschwindigkeit zwischen ξa

und ξa+ dξ

aliegt, von der Ober-

flache mit einer Geschwindigkeit zwischen ξr

und ξr+ dξ

rreflektiert werden.

130

Die Zahl der Teilchen, die pro Zeit auf die Flacheneinheit mit Geschwindig-keiten (im Bereich dVξa nahe bei) ξ

aauftreffen ist:

−(ξa·n)f(xR,ξa

)dVξa

Der Anteil dieser Molekule, welcher mit Geschwindigkeiten nahe ξrreflektiert

wird, ist:−(ξ

a·n)f(xR,ξa

)W (ξa,ξ

r)dVξadVξr

Durch Integration uber alle ξa, d.h. uber alle auftreffenden Molekule ergibt

sich die Gesamtzahl der pro Flache mit Geschwindigkeiten nahe ξr

reflektier-ten Molekule:

(ξr·n)f(xR,ξr

)dVξr = −dVξr

ξa·n<0

(ξa·n)f(xR,ξa

)W (ξa,ξ

r)dVξa

Eine sehr wesentliche Bedingung an der Wand ist die Undurchlassigkeitsbe-dingung: Die Zahl der auftreffenden und reflektierten Teilchen ist gleich, d.h.an der Oberflache verschwinden und entstehen keine Teilchen, die Wand istalso undurchlassig.

ξr·n>0

(ξr·n)f(xR,ξr

)dVξr = −∫

ξa·n<0

(ξa·n)f(xR,ξa

)dVξa

Aus der obigen Beziehung folgt, daß W (ξa,ξ

r) auf 1 normiert sein muß.

ξr·n>0

W (ξa,ξ

r)dVξr = 1

Die Funktion W (Verbundwahrscheinlichkeit) hangt von den physikalischenund chemischen Beschaffenheiten der Oberflache und den Eigenschaften desauftreffenden Molekuls ab. Ihre Kenntnis ist also fur die Behandlung vonStromungen mit festen Begrenzungen von großer Wichtigkeit.

Die Schwierigkeiten, die sich bei der theoretischen Behandlung der Wechsel-wirkung Gas - Oberflache ergeben, beruhen in erster Linie auf unserer Un-kenntnis von Wechselwirkungspotentialen zwischen auftreffendem Molekulund Festkorpermolekul.

131

Trifft ein Molekul auf eine Oberflache, so wird es adsorbiert und geht physi-kalische und chemische Bindungen mit den Molekulen der Oberflache ein. Eskann dabei dissoziieren, ein Elektron verlieren oder eines erwerben. Molekule,die mit großer Energie auftreffen, konnen an der Oberflache adsorbierte Mo-lekule oder auch Festkorpermolekule losschlagen. Aufgrund dieser moglichenWechselwirkungen kann ein Molekul wahrend des Adsorptionsvorgangs un-terschiedlichen Impuls und unterschiedliche innere Energie besitzen.Der Zustand der Oberflache hangt von ihrer Rauhigkeit, Sauberkeit und Tem-peratur ab. Fur die Wechselwirkung zwischen Gas und fester Wand sind diean der Oberflache abgelagerten Schichten von Verunreinigungen von großerBedeutung. Das Fremdmaterial (Gase) kann dabei durch chemische oder phy-sikalische Bindung (Chemisorption bzw. Physisorption) an der Oberflachehaften. Gerade diese adsorbierten Gasschichten fuhren dazu, daß die Ergeb-nisse experimenteller Untersuchungen der Wechselwirkung zwischen Gas undFestkorper eine große Streubreite besitzen.

Wegen des Mangels an geeigneten Experimenten werden auch heute nochmehr oder weniger plausible Annahmen fur die Form der Verteilungsfunktionreflektierter Molekule gemacht.

1. Spiegelnde Reflexion:

Die Teilchen andern bei der Reflexion ihre Geschwindigkeit dem Be-trage nach nicht, weshalb auch kein Energieaustausch mit der Wanderfolgt.

Abbildung 4.7: Spiegelnde Reflexion an einer festen Wand

fr(t,xR,ξr) = fa(t,xR,ξr

− 2(ξr·n)n) , fur ξ

r·n > 0 (4.62)

Diese Aussage steht im Widerspruch zur experimentellen Erfahrung.Spiegelnde Reflexion ist nur vertraglich mit einer Gleichgewichtssitua-tion (also z.B. nicht anwendbar bei Grenzschichtproblemen).

132

2. Diffuse Reflexion, d.h. vollstandige Akkommodation:Die reflektierten Molekule besitzen eine Maxwellverteilung entspre-chend der Wandtemperatur und Wandgeschwindigkeit, d.h. ihre Ver-teilung ist vollig unabhangig von der Verteilung der auftreffenden Mo-lekule.

fr = fdiff (t, xR, ξr) = nW (2πRTW )−3/2 exp

{

−(ξ

r− uW )2

2RTW

}

(4.63)

nW folgt aus der Undurchlassigkeitsbedingung der Wand.

3. Maxwellsches Reflexionsgesetz:

Eine der altesten und am haufigsten verwendeten Naherungen fur dieVerteilungsfunktion der reflektierten Molekule wurde von Maxwell an-gegeben. Sie beruht auf der Annahme, daß ein Bruchteil (1 − σ) derMolekule spiegelnd und der Rest (σ) diffus reflektiert wird (Vgl. Kapi-tel 2.3). Die Verteilungsfunktion lautet somit:

f(t, xR, ξr) = (1− σ)fa(t, xR, ξr

− 2(ξr·n)n)

+σnW (2πRTW )−3/2 exp

{

−(ξ

r− uW )2

2RTW

} (4.64)

Mit der Maxwellschen Formulierung der Randbedingung sind alle ma-kroskopischen Großen (Q) an der Wand von der Form:

Qr = (1− σ)Qsp + σQdiff

Qsp und Qdiff sind jeweils die Werte fur rein spiegelnde bzw. rein diffuseReflexion. Aufgrund von Qa = Qsp und Qr +Qa = Qges ergibt sich furσ:

σ =Qsp −Qr

Qsp −Qdiff=

Qa −Qr

Qa −Qdiff(4.65)

Das Experiment zeigt nun, daß der Wert des Akkommodationkoeffi-zienten σ je nach der verwendeten Große Q variiert, daß man alsozu unterscheiden hat zwischen Tangentialimpuls- , Normalimpuls- undEnergieakkommodationskoeffizienten:

133

Tangentialimpulsakkommodationskoeffizient σt:

σt =τa − τrτa − τdiff

=τa − τrτa

, (4.66)

τdiff = m

ξr·n>0

fdiffξr||(ξ

r·n) dVξr = 0 (ungerader Integrand)

τa = −m∫

ξa·n<0

faξa||(ξ

a·n) dVξa (Halbbereichsgroße)

τr = m

ξr·n>0

frξr||(ξ

r·n) dVξr = (1− σ) τa + σ τdiff

︸ ︷︷ ︸

=0

= τa − στa

d.h. στa ist der Tangentialimpuls, der durch die Molekule an dieWand abgegeben wird. Fur spiegelnde Reflexion ist offenbar σ = 0und fur diffuse σ = 1.

Normalimpulsakkommodationskoeffizient σn:

σn =pa − pr

pa − pdiff(4.67)

pdiff = m

ξ ·n>0

fdiff (ξr·n)2 dVξr

pa = −m∫

ξ ·n<0

fa(ξa·n)2 dVξa

pr = m

ξ ·n>0

fr(ξr·n)2 dVξr

134

Energieakkommodationskoeffizient α:

α =Ea −Er

Ea − Ediff(4.68)

Ea = −∫

ξ ·n<0

m

2ξ2a(ξa·n)fa dVξa

α = 0 bedeutet, daß die Molekule keine Energie mit der Wandaustauschen (spiegelnde Reflexion). Fur α = 1 kommen dieMolekule mit der Wand ins thermische Gleichgewicht (diffuseReflexion) und akkommodieren somit vollstandig.

Abbildung 4.8: Definition von Molekulgeschwindigkeiten und Einheitsvekto-ren.

135

Kapitel 5

Allgemeine Losungsmethodender Boltzmann-Gleichung

5.1 Momenten-Methode

In Kapitel 4.7 hatten wir die allgemeine Form der Maxwellschen Transport-gleichung kennengelernt (Gl. 4.48):

∂(nΦ)

∂t+

∂xi

(nΦξi)− Fin∂Φ

∂ξi= IΦ

Sie ist Ausgangspunkt der hier zu betrachtenden Momentenmethoden.Wahlen wir ein vollstandiges System von Funktionen Φ(ξi), dann ist dasSystem der unendlich vielen Transport- oder Momentengleichungen wegender Vollstandigkeit der Φ der Boltzmann-Gleichung aquivalent. Mit anderenWorten: Die Kenntnis der Verteilungsfunktion f kann auf die Kenntnis ei-nes Systems von unendlich vielen Momenten der Verteilungsfunktion zuruck-gefuhrt werden.

Diese Tatsache nutzt man aus, um verschiedene Naherungsverfahren abzu-leiten. Der Grundgedanke dieser Verfahren besteht darin, daß in den meistenpraktischen Fallen nur einzelne wenige Momente der Verteilungsfunktion in-teressieren und eine genaue Kenntnis von f nicht erforderlich ist. Es wirddaher nur eine begrenzte Zahl von Momentengleichungen erfullt. Die Vertei-lungsfunktion f kann daher bis zu einem gewissen Grad frei gewahlt werden.Die Einzelheiten, die dabei nicht festgelegt werden, lassen sich aus geeig-neten Transportgleichungen bestimmen. Wir machen einen Ansatz fur dieVerteilungsfunktion, der N noch unbestimmte Paramter ai enthalt:

136

f = f(t,xi,ξi,a1, . . . ,aN )

Durch Einsetzen von f in die Maxwellsche Transportgleichung und die Wahlvon N Molekuleigenschaften ergibt sich ein geschloßenes Differentialglei-chungssystem zur Bestimmung der ai. Dieses System ist im allgemeinennichtlinear. Die Wahl der Parameter und der Aufbau von f wird in der Re-gel von dem speziell zu untersuchenden gasdynamischen Problem abhangenund erfolgt meist aufgrund von physikalischen Uberlegungen. Stromungsme-chanische Großen wie ρ,ui,T,τij ,qi ergeben sich damit in Abhangigkeit vona1, . . . ,aN .

Was die Wahl der Momentengleichungen und damit die Auswahl der Φ(ξi)angeht, wird man in erster Linie die Erhaltungssatze fur Masse, Impuls undEnergie erfullen, die sich fur

Φ = m,mξi,m

2ξ2

ergeben. Das Stoßintegral IΦ wird dann identisch null.

Daruber hinaus werden weitere Momentengleichungen benotigt, da sonst dasErgebnis von dem molekularen Wechselwirkungsgesetz unabhangig ist. Furdie Auswahl dieser zusatzlichen Gleichungen gibt es keine besonders stich-haltigen Argumente, was naturlich gewisse Einwande gegen die Momenten-methode hervorruft.

Im Falle Maxwellscher Molekule (Abstoßungskraft der Molekule: K = κ/r5)kann das Stoßintegral IΦ, wie Maxwell zeigte, unabhangig von der Form derVerteilungsfunktion berechnet und in Abhangigkeit makroskopischer Feld-großen dargestellt werden. Es ergibt sich beispielsweise fur

Φ = mξjξk : =⇒ IΦ = −pµτjk

Φ = ξkm

2ξ2 : =⇒ IΦ = −p

µ

(2

3qk + ujτjk

)

,

mit

137

τjk = m

cjckfdVξ cj = ξj − uj

p =m

3

c2fdVξ

qk =m

2

ckc2fdVξ

µ =2kT

3A2

√m

2κA2 = 1,3682

κ = Parameter des Potenzgesetzes (2.2)

5.1.1 Gradsche Momentenmethode

Zu den Momentenmethoden zahlt auch die von H. Grad vorgeschlagene Me-thode, die Verteilungsfunktion f in Hermitesche Polynome zu entwickeln. Eshandelt sich dabei um eine Entwicklung um ortliches Maxwellsches Gleich-gewicht der Form

f = fOM

∞∑

n=0

1

n!a(n)

α1...αnH(n)

α1...αn

= fOM(a(0)H(0) + a(1)α1H

(1)α1 +

1

2!a(2)

α1α2H(2)

α1α2+ . . .)

(5.1)

Sowohl die Koeffizienten a(n)α1...αn als auch die Polynome n-ter Ordnung H

(n)α1...αn

sind Tensoren n-ter Stufe. Wir fuhren zunachst dimensionslose Großen ein:

vi =ci√RT

g =(RT )3/2

n(t,xi)f

gOM =1

(2π)3/2exp

{

−v2

2

}

(5.2)

Die Hermiteschen Polynome n-ter Ordnung sind Polynome in den drei un-abhangigen Variablen v1, v2 und v3. Sie werden durch die folgende Beziehungdefiniert

138

H(n)α1...αn

(v1, v2, v3) =(−1)n

gOM

∂ngOM

∂vα1 . . . ∂vαn

.

Die ersten Polynome lauten

H(0) = 1

H(1)i = vi

H(2)ij = vivj − δij

H(3)ijk = vivjvk − (viδjk + vjδik + vkδij).

Die Polynome sind orthogonal in Bezug auf die Gewichtsfunktion gOM , d.h.

∫ ∞∫

−∞

gOMH(n)α1...αn

H(m)β1...βm

dv1dv2dv3 =

0 fur m 6= n

δ(n)αβ fur m = n

wobei δ(n)αβ ein Tensor 2n-ter Stufe ist

δ(1)αβ = δαβ , δ

(2)αβ = δα1β1δα2β2 + δα1β2δα2β1 + δα1α2δβ1β2 , etc.

Unter Verwendung dieser Orthogonalitatsbeziehungen finden wir fur die Her-miteschen Koeffizienten, indem wir die Entwicklung fur f mit H

(n)α1...αn mul-

tiplizieren und uber dVξ integrieren

a(n)α1...αn(t,xi) =

1

n(t,xi)

fH(n)α1...αn

dVξ

=1

n(t,xi)

fOM(a(0)H(0) + a(1)β1H

(1)β1

+ . . .) dVξ.

(5.3)

Verwenden wir jetzt der Reihe nach die obigen Polynome in dieser Bezie-hung, so lassen sich die Koeffizienten als Momente der Verteilungsfunktion fausdrucken und wir erhalten

139

a(0) = 1,

a(1)i = 0,

a(2)ij =

pij

p,

a(3)ijk =

mSijk

p√RT

,

wobei pij = τij − pδij ,

τij = m∫cicjfdVξ,

Sijk =∫cicjckfdVξ,

(m

2Sijj =

∫m

2cic

2fdVξ = qi

)

.

Die Hermite-Koeffizienten sind demnach raumzeitvariable Großen, d.h. siesind als Zustandsvariablen zu werten. Ihre Anzahl bestimmt den Grad derNaherung. Ist die Zahl der Koeffizienten klein, so laßt sich dies als eine Ver-allgemeinerung der Gasdynamik auffassen. In der Gasdynamik (Kontinuums-mechanik) ist ein Stromungszustand durch ρ, ui und T eindeutig festgelegt,denn daraus lassen sich der Spannungstensor τij und der Warmestrom qi be-stimmen. Der Druck p ist die Spur von τij und durch p = ρRT (thermischeZustandsgleichung) festgelegt.

Bei der Gradschen Momentenmethode sind τij und qi Zustandsvariablen,uber die nichts ausgesagt wird.Wir betrachten jetzt eine Naherung, die besondere physikalische Bedeutungbesitzt, da sie die 13 Momente ρ, ui, τij und qi enthalt. Man spricht daherauch von der Gradschen 13-Momentenmethode. Die Entwicklung fur f wirdnach dem dritten Glied abgebrochen und insbesondere fur H

(3)ijk das reduzierte

Polynom

140

H(3)i = H

(3)ijj = viv

2 − (vi δjj︸︷︷︸

3

+ vjδij︸︷︷︸

vi

+ vjδij︸︷︷︸

vi

)

= vi(v2 − 5)

(5.4)

sowie fur a(3)i = 2qi/(p

√RT ) verwendet. Dann lautet die Verteilungsfunktion

fur die 13-Momente-Naherung

f = fOM

[

1 +pij

2pRTcicj −

qipRT

(

1− c2

5RT

)

ci

]

. (5.5)

Die Bestimmungsgleichungen fur die 13-Momente erhalt man jetzt, indemman f in die Boltzmann-Gleichung einsetzt und entsprechend der allgemei-nen Momenten-Methode die Transportgleichungen herleitet

H(n)

(∂f

∂t+ ξi

∂f

∂xi

)

dVξ = IH(n) (5.6)

Es ergeben sich die Erhaltungssatze fur Masse, Impuls und Energie und dieTransportgleichungen fur Schubspannung und Warmestrom

∂ρ

∂t+

∂xj

(ρuj) = 0 1 Gleichung

∂ui

∂t+ uj

∂ui

∂xj+

1

ρ

∂τij∂xj

= 0 3 Gleichungen

∂p

∂t+

∂xj(ujp) +

2

3τij∂ui

∂xj+

2

3

∂qj∂xj

= 0 1 Gleichung

∂pij

∂t+

∂xk

(ukpij) +2

5

(∂qi∂xj

+∂qj∂xi

− 2

3δij∂qk∂xk

)

+ pik∂uj

∂xk+ pjk

∂ui

∂xk− 2

3δijpkl

∂ul

∂xl+

+ p

(∂ui

∂xj+∂uj

∂xi− 2

3δij∂uk

∂xk

)

+ 6A

m

(8κ

m

)1/2

ρpij = 0 5 Gleichungen

141

∂qi∂t

+∂

∂xj(ujqi) +

7

5qj∂ui

∂xj+

2

5qj∂uj

∂xi+

2

5qi∂uj

∂xj+

+RT∂pij

∂xj+

7

2pij

∂xj(RT )− pij

ρ

∂τjk∂xk

+

+5

2p∂

∂xi(RT ) + 4

A

m

(8κ

m

)

ρqi = 0 3 Gleichungen

mit A = 0.343 und κ = Parameter des Potenzgesetzes (2.2).

Dem obigen System entnimmt man sofort, daß die Zahl der Anfangsbedin-gungen der Zahl der abhangigen Variablen entspricht, also 13. Fur dieses Sy-stem der 13-Momentengleichungen mussen geeignete Randbedingungen an-gegeben werden. Dies erweist sich als ein außerst schwieriges Problem. ZweiFragen hat man zu beantworten:

1. Wieviele Randbedingungen mussen gestellt werden, und

2. Wie erhalt man diese Randbedingungen.

Die erste Frage laßt sich durch Betrachten der Charakteristiken des Differen-tialgleichungssystems beantworten. Entsprechend den 13 Variablen gibt es13 charakteristische Richtungen, die von einem Punkt (t,x) ausgehen. Liegtdieser Punkt auf der Berandung des Stromungsfeldes (x = xR), so wird diesevon den Charakteristiken durchsetzt.

Abbildung 5.1: Zur Erlauterung der Zahl der Randbedingungen

Die Zahl der Charakteristiken, die die Berandung verlassen (ausgezogeneLinien), also nicht auf sie zuweisen gestrichelte Linien), entspricht der Zahlder zu stellenden Randbedingungen.

142

Zur zweiten Frage: Die Randbedingungen fur die Momente ergeben sich ausder Randbedingung fur die Verteilungsfunktion durch Momentenbildung, inder Weise etwa

f+ =

fr , fur ξ ·n > 0

0 , fur ξ ·n < 0

f− =

fa , fur ξ ·n < 0

0 , fur ξ ·n > 0

Damit wird

f = f+ + f− = fr + fa , fur alle ξ ·n R 0

Die Randbedingungen ergeben sich z.B. zu

Φ(~ξ)fdVξ = nΦ|Wand = n(Φa + Φr)Wand.

5.1.2 Diskontinuierliche Verteilungsfunktionen

Im Kapitel 4.10 wurde gezeigt, daß die Verteilungsfunktion in Punkten, dieauf der Berandung des Stromungsfeldes liegen, diskontinuierlich ist. Lassenwir den Feldpunkt ins Stromungsfeld wandern, dann wird sich diese Diskon-tinuitat in der Verteilungsfunktion erst einige freie Weglangen vom Randentfernt aufgelost haben. Bei Stromungsproblemen mit großen Knudsenzah-len ist das Gebiet in dem f diskontinuierlich ist unter Umstanden sehr groß.Es empfiehlt sich daher in entsprechenden Punkten des Stromungsfeldes denGeschwindigkeitsraum in einzelne Bereiche (A) und (B) einzuteilen, in denengetrennte Verteilungsfunktionen gelten.

Die gezeigte Bereichseinteilung gilt nur dann exakt, wenn es sich um freieMolekulstromung handelt. Dann tritt im ersten Fall bei stationarer Stromungder Sprung beispielsweise fur alle Feldpunkte P (x3) an der Stelle ξ3 = 0 auf.Allgemein ist

143

Abbildung 5.2: Sichtkegelprinzip in freier Molekulstromung

f(xi,ξi) =

fA , im Bereich (A)

fB , im Bereich (B).

Man dehnt diese Art der Formulierung nun auch auf das Ubergangsgebiet ausund setzt in jedem der Bereiche Entwicklungen oder ahnliches an. Dann sinddie Verteilungen in (A), (B), (C) etc. kontinuierlich und die Entwicklungenkonvergieren schneller als eine Entwicklung fur den gesamten Geschwindig-keitsraum.

fA = fA(t,xi,ξi,a1, . . . ,aN )

fB = fB(t,xi,ξi,b1, . . . ,bM )

f = fA + fB

Fuhrt man diese Ansatze in die Definitionsgleichungen fur die Momente vonf bzw. in die Transportgleichungen ein, so erhalt man Beziehungen zwischenden Koeffizienten ai,bi, d.h. partielle Differentialgleichungen. Insgesamt wer-den N +M Transport- oder Momentengleichungen benotigt.

Ein sehr bekannter Ansatz fur eine diskontinuierliche Verteilungsfunktionstammt von Lees

144

fA,B =nA,B(t,xi)

(2πRTA,B(t,xi))3/2

exp

{

−[ξi − uiA,B

(t,xi)]2

2RTA,B(t,xi)

}

. (5.7)

In den Bereichen (A) und (B) des Geschwindigkeitsraumes eines jeden Feld-punktes P (xi) wird die Verteilungsfunktion jeweils durch eine Maxwellvertei-lung ersetzt. Dies hat den Vorteil, daß bei rein diffuser Reflexion an der Wanddort die Verteilungsfunktion richtig wiedergegeben wird und beim ubergangzum Kontinuum (sehr kleine Weglangen) mit

nA → nB

TA → TB

uiA → uiB

die Verteilungsfunktion f in die ortliche Maxwellverteilung der EulerschenNaherung (siehe spater) ubergeht.

Beispiel: Rayleigh-Problem

Abbildung 5.3: Sichtkegelprinzip fur das Rayleigh-Problem der plotzlich be-wegten Platte

145

Anfangsbedingungt ≤ 0 f = f0

Randbedingung:

t > 0 , x3 = 0 f =

fa = f0 , fur ξ3 < 0

fr = (1− σ)fa + σfW , fur ξ3 > 0

fa = f0 =n0

(2πRT0)3/2exp

{

− ξ2

2RT0

}

fW =nW

(2πRTW )3/2exp

{

−(ξ1 − U)2 + ξ22 + ξ2

3

2RTW

}

Die Boltzmann-Gleichung lautet fur freie Molekulstromung

∂f

∂t+ ξ3

∂f

∂x3= 0 (ξ3 =

dx3

dt).

Totales Differential von f

df =∂f

∂tdt+

∂f

∂x3dx3

df

ds=∂f

∂t

dt

ds+∂f

∂x3

dx3

ds= 0

Der Vergleich beider Gleichungen liefert

dt

ds= 1 und

dx3

ds= ξ3.

Folglich muß f langs s konstant sein. Losung mit der Charakteristikentheorie

146

dt

1=dx3

ξ3= ds ⇒ t = s+ c1

x3 = ξ3s+ c2

x3 = ξ3(t− c1) + c2

x3 = ξ3t+ konst. oder konst. = x3 − ξ3t

f = f(0,x3 − ξ3t,ξi) = f(t,x3,ξi)

x3 − ξ3t ist die Startposition des Teilchens zur Zeit t = 0

t > 0 , x3 = 0 f =

f0 fur ξ3 ≤x3

t

(1− σ)f0 + σfW fur ξ3 >x3

t

Ausgehend von dieser Losung laßt sich ein Ansatz fur das Ubergangsgebietformulieren

f(t,x3,ξi) =

af1

n1

, fur ξ3 ≤x3

t

bf1

n1+ c

fW

nW, fur ξ3 >

x3

t

(5.8)

mit

f1 =n1

(2πRT1(t,x3))3/2exp

{

−(ξ1 − u1(t,x3))2 + ξ2

2 + (ξ3 − v1(t,x3))2

2RT1(t,x3)

}

a,b,c sind von t und x3 abhangige Teilchendichten.

u1,v1 sind von t und x3 abhangige Geschwindigkeitskomponenten.

T1 ist eine nicht messbare Temperatur, die den auftreffenden Teil-

chenstrom charakterisiert.

147

Diese sechs Unbekannten mussen aus sechs Momentengleichungen bestimmtwerden:

1. Kontinuitatsgleichung (Φ = m)

2. Impulsgleichung in der x1-Richtung (Φ = mξ1)

3. Impulsgleichung in der x3-Richtung (Φ = mξ3)

4. Energiegleichung (Φ =m

2ξ2)

5. Transportgleichung fur Φ = mξ1ξ3

6. Transportgleichung fur Φ =m

2ξ3ξ

2

5.2 Chapman-Enskog-Methode

Die Chapman-Enskog-Methode dient u.a. der Herleitung der Erhaltungssatzefur reibungsbehaftete, warmeleitende Stromungen, d.h. der Navier-StokesGleichungen. Sie geht - anders als dies bei der linearisierten Boltzmann-gleichung der Fall ist - von einer Linearisierung der Verteilungsfunktion umortliches Maxwellsches Gleichgewicht aus

f = fOM(1 + ϕ). (5.9)

Die Storfunktion ϕ wird wieder als klein angenommen (|ϕ| ≪ 1). DieVerteilungsfunktion fOM , die von der Anzahldichte, Temperatur und derStromungsgeschwindigkeit abhangt, ist ahnlich wie fM nur in sehr spezi-ellen Fallen Losung der Boltzmann-Gleichung. Durch Einsetzen von f in dieBoltzmann-Gleichung erhalten wir mit

(f ′f ′1 − ff1) = fOMfOM1

(ϕ′ + ϕ′1 − ϕ− ϕ1) + . . .

diese Gleichung in der Form(∂fOM

∂t+ ξi

∂fOM

∂xi

)

(1 + ϕ) + fOM

(∂ϕ

∂t+ ξi

∂ϕ

∂xi

)

=

∫fOMfOM1

(ϕ′ + ϕ′1 − ϕ− ϕ1)gbdbdǫdVξ1 = I(ϕ).

(5.10)

Beim ersten Term der linken Seite kann ϕ gegenuber 1 vernachlaßigt werden.Der zweite Term ist dem ersten um eine Ordnung unterlegen (er enthaltAbleitungen von ϕ) und kann daher vernachlaßigt werden. Somit ergibt sichdie endgultige Form der Chapman-Enskog-Gleichung zu

148

∂fOM

∂t+ ξi

∂fOM

∂xi=

fOMfOM1(ϕ′ + ϕ′

1 − ϕ− ϕ1)gb db dǫ dVξ1 = I(ϕ) .

(5.11)

Dies ist eine reine Integralgleichung fur ϕ und damit mathematisch leichterzu handhaben als die Integrodifferentialgleichung von Kapitel 4.8.

Die spezielle Wahl der Parameter (n,T,ui) in fOM fuhrt wegen der Definitiondieser Parameter (als Erwartungswerte oder Momente von f) zu gewissenBedingungen fur ϕ

n =∫f dVξ =

∫fOM(1 + ϕ) dVξ = n+

∫fOMϕdVξ

→∫fOMϕdVξ = 0

ui =1

n

ξif dVξ =1

n

ξifOM(1 + ϕ) dVξ = ui +1

n

ξifOMϕdVξ

→∫fOMϕξi dVξ = 0

T =1

3nR

(ξi − ui)2f dVξ

→∫fOMϕξ

2 dVξ = 0

Die physikalische Aussage dieser Bedingung ist folgende:

Der Anteil ϕfOM der obigen Entwicklung f = fOM + ϕfOM tragt nichts zuden lokalen Werten der Dichte, Stromungsgeschwindigkeit und Temperaturbei. Umgekehrt tragt der erste Anteil, da er einem lokalen thermodynami-schen Gleichgewicht entspricht, nichts zum Warmestromvektor und viskosenSpannungstensor bei.

149

Es ist:

Nullte Naherung:

τij = m∫cicjfOM dVξ = m

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

+∞∫

−∞

cicjn

(2πRT )3/2exp

{

− c2

2RT

}

dVξ

= p δij

qi =m

2

cic2fOM dVξ ≡ 0

Erste Naherung:

τij = m

cicjfOM(1 + ϕ) dVξ

= pδij +

cicjfOMϕdVξ

qi =m

2

cic2ϕfOM dVξ

Damit die obige inhomogene Integralgleichung dfOM/dt = I(ϕ) eine physika-lisch vernunftige Losung ϕ besitzt, hat die linke Seite funf Bedingungen zuerfullen. Fur das Stoßintegral Iϕ gilt fur beliebige ϕ dann und nur dann

Φ(ξi)I(ϕ) dVξ ≡ 0,

wenn es sich bei Φ(ξi) um die additiven Stoßinvarianten handelt.

Ψl(ξi) = m,mξi ,m

2ξ2

Dies bedeutet, daß das Stoßintegral zu den Erhaltungssatzen fuhren muß.Somit muß fur die linke Seite der Integralgleichung gelten

Ψl(ξi)

(∂fOM

∂t+ ξi

∂fOM

∂xi

)

dVξ = 0. (5.12)

Diese funf Bedingungen sind notwendig und, wie die Theorie der Integral-gleichungen lehrt, auch hinreichend fur die Losbarkeit der genaherten Boltz-manngleichung. Sie stellen nichts anderes dar als die Erhaltungssatze, diewir aus der Maxwellschen Transportgleichung bekommen hatten, mit dem

150

einzigen Unterschied, daß hier die exakte Verteilungsfunktion f durch dieortliche Maxwellverteilung fOM ersetzt wird. Wir haben somit in den Erhal-tungssatzen nur τij durch pδij und qi durch 0 zu ersetzen und bekommen dieErhaltungssatze der Gasdynamik ohne Reibung und Warmeleitung (Euler-Gleichungen):

∂ρ

∂t+∂(ρui)

∂xi= 0

∂ui

∂t+ uj

∂ui

∂xj+

1

ρ

∂p

∂xi= 0

∂T

∂t+ ui

∂T

∂xi

+2

3T∂ui

∂xi

= 0

Mittels dieser funf Beziehungen, welche zugleich die nullte Naherung an dieexakten Erhaltungssatze darstellen, werden jetzt die zeitlichen Ableitungenvon ρ,ui und T aus dfOM/dt eliminiert. Aus

ln fOM = lnn− 3

2lnT − (ξi − ui)

2

2RT+ const.

folgt

dfOM

fOM

=dn

n− 3

2

dT

T− cid(ξi − ui)

RT+

c2

2RT

dT

T

=dn

n+

(c2

2RT− 3

2

)dT

T− cid(ξi − ui)

RT.

Schreibt man die linke Seite der obigen Integralgleichung (Gl. 5.12) folgender-maßen um

dfOM

dt=∂fOM

∂t+ ξi

∂fOM

∂xi

=DfOM

Dt+ ci

∂fOM

∂xi

,

dann folgen die einzelnen Terme aus dem obigen Differential

1

fOM

DfOM

Dt=

1

ρ

Dt+

(c2

2RT− 3

2

)1

T

DT

Dt+

cjRT

Duj

Dt

ci1

fOM

∂fOM

∂xi

= ci

[1

ρ

∂ρ

∂xi

+

(c2

2RT− 3

2

)1

T

∂T

∂xi

+cjRT

∂uj

∂xi

]

.

Berucksichtigt man noch, daß

p = ρRT unddp

p=dρ

ρ+dT

T,

dann kann folgendermaßen zusammengefasst werden

151

1

fOM

[DfOM

Dt+ ci

∂fOM

∂xi

]

=

(

− c2

3RT

∂ui

∂xi

− ciT

∂T

∂xi

+ ci

(c2

2RT− 3

2

)1

T

∂T

∂xi

+

cjciRT

∂uj

∂xi

)

=

=

(c2

2RT− 5

2

)

ci∂T

T∂xi+

1

RT

(

cicj∂uj

∂xi− c2

3

∂ui

∂xi

)

.

Die außere Kraft Fi in der Boltzmanngleichung konnte mitverwendet werden.Sie wurde in dem obigen Ausdruck trotzdem nicht mehr in Erscheinung treten(Siehe Waldmann S. 387).Der letzte Term kann noch etwas umgeformt werden

cicj∂uj

∂xi− c2

3

∂ui

∂xi= cicj

[1

2

(∂ui

∂xj+∂uj

∂xi

)

− 1

3δij∂uk

∂xk

]

.

Die Naherung fur die Boltzmanngleichung nimmt damit die endgultige Forman

fOM

[{1

2

(∂ui

∂xj+∂uj

∂xi

)

− 1

3δij∂uk

∂xk

}cicjRT

+∂T

∂xici

c2

RT− 5

2T

]

= I(ϕ). (5.13)

Eine eindeutige Losung dieser inhomogenen linearen Integralgleichung istmoglich, da ϕ die eingangs erwahnten Bedingungen erfullen muß. Die Linea-ritat sowohl der Bedingungen als auch der Integralgleichung fordert, daß ϕdie Form haben muß

ϕ = −1

n

(

A(c)ciT

∂T

∂xi

+B(c)1

2RTcicj

{(∂ui

∂xj

+∂uj

∂xi

)

− 2

3δij∂uk

∂xk

})

.

(5.14)

In dieser Form ist ϕ wieder eine skalare Große, wie es sein muß. Bis auf dienoch unbekannten Funktionen A(c) und B(c) liegt die Verteilungsfunktiondamit fest. A(c) und B(c) werden in die Integralgleichung eingesetzt undergeben sich nach Koeffizientenvergleich der verschiedenen Gradienten alsLosung zweier Integralgleichungen. Es konnen jetzt der Spannungstensor undWarmestromvektor fur die erste Naherung der Chapman-Enskog-Theorie an-gegeben werden.

152

τij = m

cicjf dVξ = m

cicjfOM dVξ +m

cicjϕfOM dVξ

= pδij −(∂ui

∂xj

+∂uj

∂xi

− 2

3δij∂uk

∂xk

)∫B(c)

2nRTc2i c

2jfOM dVξ

︸ ︷︷ ︸

µ

qi =m

2

cic2f dVξ =

m

2

cic2fOM dVξ +

m

2

cic2ϕfOM dVξ

= − ∂T∂xi

∫mA(c)

2nTc2i c

2fOM dVξ

︸ ︷︷ ︸

λT

(5.15)

Man erkennt sofort, daß der Ausdruck fur den Spannungstensor τij dem inden Navier-Stokes-Gleichungen enthaltenen Ausdruck entspricht. Man hat inder Erhaltungssatzen fur Impuls und Energie also nur diesen Ausdruck fur τijeinzusetzen. Entsprechendes gilt fur den Warmestromvektor. Beide Großenhangen linear von dem Gradienten des Geschwindigkeits- und Temperatur-feldes ab. Damit laßt sich auch das System der Erhaltungssatze schließen undes bestatigt sich, daß im Bereich der Kontinuumsstromung der Zustand einesGases vollstandig durch ρ, ui, T und deren Gradienten beschrieben wird.

Zum Abschluß dieses Kapitels soll fur das Stoßintegral noch eine einfacheAbschatzung durchgefuhrt werden, die eine Aussage uber den Gultigkeitsbe-reich der Chapman-Enskog-Theorie ermoglicht.

I(ϕ) = fOM

(5)

fOM1(ϕ′ +ϕ′

1−ϕ−ϕ1)gb db dǫ dVξ1 ≈ fOMn|ϕ|gOMσm (5.16)

Mit der mittleren freien Weglange λ ≈ 1/(nσm) und gOM ≈√

2RT ≈ c folgtdamit fur

I(ϕ)

fOM

≈ c|ϕ|λ

Mit der Bedingung |ϕ| ≪ 1 ergeben sich schließlich zwei notwendige Bedin-gungen fur die Gultigkeit der Chapman-Enskog-Gleichung

1.cicjRT

{1

2

(∂ui

∂xj+∂uj

∂xi

)

− 1

3δij∂uk

∂xk

}

≪ c

λ

153

2.∂T

∂xi

ci2T

(c2

RT− 5

)

≪ c

λ.

In der Gasdynamik ist es ublich, Großenordnungen von Gradienten durchQuotienten von typischen Großen zu charakteristischen Langen (z.B. Korpe-rabmessungen) auszudrucken (fur den Deformationstensor also U/L).Damit ist die Bedingung fur die Gultigkeit der Linearisierung

U

L≪ c

λoder

λ

L

U

c∼ Kn ·Ma ≪ 1. (5.17)

Entsprechend

c

L

∆T

T≪ c

λoder

λ

L

∆T

T∼ Kn

∆T

T≪ 1. (5.18)

Diese Bedingungen lassen sich nur fur Kn → 0 uneingeschrankt erfullen.Die Chapman-Enskog-Theorie und damit die Navier-Stokes Gleichungen ge-statten eine korrekte Beschreibung von Stromungsvorgangen in der Nahe desthermodynamischen Gleichgewichts (Kontinuumsstromung).

154

Kapitel 6

Spezielle Losungen derBoltzmann-Gleichung

6.1 Exakte Losungen der Boltzmann-

Gleichung

1. Absolute Maxwellverteilung

Die Verteilungsfunktion

fM =n

(2πRT )3/2exp

{

−(ξi − ui)2

2RT

}

beschreibt den Zustand eines Gases im absoluten Gleichgewicht, wennkeine außeren Kraftfelder wirksam sind (Fi ≡ 0). n,ui und T sind raum-zeitlich konstant. Fur eine solche gleichformige Translationsstromungwird sowohl das Stoßintegral als auch die linke Seite der Boltzmann-Gleichung zu null.

2. ortliche Maxwellverteilung

Im Fall lokalen thermodynamischen Gleichgewichts gilt

fOM =n

(2πRT )3/2exp

{

−(ξi − ui)2

2RT

}

.

n,ui und T sind sowohl von der Zeit als auch vom Ort abhangig. fOM

macht das Stoßintegral ebenfalls zu null und muß daher auch die fol-gende Bedingung erfullen:

155

∂fOM

∂t+ ξi

∂fOM

∂xi= 0

Es kommt auch hier zu Stoßen zwischen den Molekulen, die sich jedochstatistisch gesehen nicht auswirken.

∂fOM

∂t+ ξi

∂fOM

∂xi= fOM

(∂

∂t+ ξi

∂xi

)

ln fOM =

= fOM

[(c2

2RT− 5

2

)ciT

∂T

∂xi+cicjRT

{1

2

(∂ui

∂xj+∂uj

∂xi

)

− 1

3δij∂uk

∂xk

}]

= 0

Fur das Stromungs- und Temperaturfeld folgen daraus die Bedingungen

a)∂T

∂xi= 0

b)1

2

(∂ui

∂xj+∂uj

∂xi

)

− 1

3δij∂uk

∂xk= 0.

Das Temperaturfeld ist also hochstens zeitabhangig und der Span-nungstensor τij reduziert sich auf −pδij (Euler-Niveau). Aus der Ener-giegleichung

∂T

∂t+ ui

∂T

∂xi+

2

3T∂uk

∂xk= 0

folgt wegen a)∂T

∂t= −2

3T∂uk

∂xk= fkt(t)

und∂

∂xi

(∂T

∂t

)

= −2

3T∂

∂xi

(∂uk

∂xk

)

= 0.

Differenzieren der Bedingung b) nach xk liefert

1

2

(∂2ui

∂xk∂xj

+∂2uj

∂xk∂xi

)

= 0

oder∂2ui

∂xk∂xj= 0.

Einmal integriert:

∂ui

∂xj

= bij(t) = sij(t) + rij(t)

mit sij = 12(ui,j + uj,i), rij = 1

2(ui,j − uj,i) = −1

2ǫijkωk, ωi = ǫijkuk,j .

156

Nochmals integriert:

ui = bij(t) xj + ai(t) = sij(t) xj + rij(t) xj + ai(t)

= − 1

2T

∂T

∂txi −

1

2ǫijkωk xj + ai(t)

In symbolischer Schreibweise

~u = ~a(t)− b(t) ·x− 1

2ω(t)× x (6.1)

undT (t) = α + β(t) · t+ γt2. (6.2)

ω(t) ist die Winkelgeschwindigkeit fur das als Festkorper rotierendeGas. Die moglichen Bewegungen (also Stromungsformen), die fOM imKontinuumsbereich zulasst, setzen sich also aus einer Translationsbe-wegung, einer radialen Expansion und einer Festkorperrotation zusam-men.

3. Freie Molekulstromung (Kn sehr groß)

(a) stationarer Fall ohne außeres Kraftfeld:

ξi∂f

∂xi= 0

Dies bedeutet, daß f sowohl raumlich als auch zeitlich konstantist und sich nur an festen Oberflachen andert.

Abbildung 6.1: Sichtkegelprinzip

f =

{fW , im Bereich A

f∞ , im Bereich B(6.3)

157

Abbildung 6.2: Sichtkegelprinzip fur die plotzlich aufgeheizte und querbe-wegte Platte

(b) instationare Stromung:

∂f

∂t+ ξi

∂f

∂xi

= 0

Es ergeben sich bei diesem Fall nichttriviale Losungen fur die ent-sprechenden Rand- und Anfangsbedingungen.

Beispiel: Die plotzlich aufgeheizte und querbewegte Platte

∂f

∂t+ ξp

∂f

∂lp= 0

ξp = |~ξp| = Betrag der Teilchengeschwindigkeit

lp = Ort auf der Bahnkurve der Teilchen

lp = 0 Randkurve

Galilei-Transformation:

t′ = t , l′p = lp −V t

sin(ϕ+ Ψ), ξ′p = ξp −

V

sin(ϕ+ Ψ)

(ϕ+ Ψ) ergeben die Richtung der Bahnkurve lp in Bezug auf P1.

158

Fur ein Koordinatensystem, das sich mit der Platte mitbewegt,ist die Boltzmanngleichung

∂f

∂t+ ξ′p

∂f

∂l′p= 0.

Die Losung dieser Gleichung lautet

f(P1) =

f0 + (fW − f0)H(ξ′p −l′pt) , im Bereich 1

f0 + (fW − f0)H(ξ′p −l′p

t− b/V ) , im Bereich 2

f0 , im Bereich 3

f0 + (fW − f0)H(ξ′p −l′p

t− a/V ) , im Bereich 4

(6.4)

H(. . .) ist die Heaviside-Funktion. Fur den Bereich 1 folgt zumBeispiel

f(P1) =

f0 , fur ξ′p < l′p/t bzw. ξp < lp/t

fW , fur ξ′p > l′p/t bzw. ξp > lp/t

Abbildung 6.3: Geometrie und Bereiche des Geschwindigkeitsraums fur dasKompressionsgebiet in der Umgebung einer querbewegten Platte (Lange L)

159

Abbildung 6.4: Einfluß der Wandtemperatur auf den Dichteverlauf bei lang-samer Kolbenbewegung (Kompressionsseite)

Abbildung 6.5: Einfluß der Wandtemperatur auf die Tangentialgeschwindig-keit bei langsamer Kolbenbewegung (Kompressionsseite)

160

Abbildung 6.6: Einfluß der Wandtemperatur auf die Normalgeschwindigkeitbei langsamer Kolbenbewegung (Kompressionsseite)

Abbildung 6.7: Stromlinien fur die querbewegte, einseitig unendlich langePlatte bei Ma = 0,1 und l (korperfestes Bezugssystem)

161

6.2 Couette-Stromung (stationar)

Abbildung 6.8: Couette-Stromung

Randbedingungen (diffuse Reflexion):

f1,2 =n1,2

(2πRT1,2)3/2exp

{

−(ξx ∓ U/2)2 + ξ2

y + ξ2z

2RT1,2

}

Ansatz mit ortsunabhangigen Mischfunktionen (BZV 11; Dissertation vonDr. J.W. Beck; Lehrstuhl fur Stromungsmechanik, TU Munchen, 1965):

ξy > 0 : f(y) = α(y)f1 + β(y)f2

ξy < 0 : f(y) = γ(y)f1 + δ(y)f2

f = f + f

Boltzmanngleichung (F ≡ 0):

ξy∂f

∂y= I(y,ξi)

Maxwellsche Transportgleichung:

∂y(nΦξy) = IΦ

Fur die additiven Stoßinvarianten:

Ψl = m,mξx , mξy ,m

2ξ2

Aufgrund der Symmetrieeigenschaften wird IΦa zu Null und daher folgt

nΨlξy =

ΨlξyfdVξ = konst.

162

1. Ψ0 = m :

m

ξyfdVξ = ρv(y) = const. = 0 (Randbedingung)

∞∫

ξx=−∞

∞∫

ξy=0

∞∫

ξz=−∞

ξyf dVξ +

∞∫

ξx=−∞

0∫

ξy=−∞

∞∫

ξz=−∞

ξyf dVξ = 0

Es ergibt sich somit die Transportgleichung fur die Massenbilanz zu

ν√τ (α− γ) + (β − δ) = 0 (6.5)

mit ν = n1/n2 , τ = T1/T2

2. Ψ1 = mξx :

m

ξxξyf dVξ = const. = m

(cx + u)cyf dVξ

= m

cxcyf dVξ +mu

cyf dVξ

︸ ︷︷ ︸

=0

= Pxy.

Die Transportgleichung fur den Horizontalimpuls lautet

ν√τ(α− γ)− (β − δ) = ζ1 (6.6)

mit ζ1 =2√

2πPxy

mn2U√RT2

.

3. Ψ2 = mξy :

m

ξ2yfdVξ = const. = Pyy

Die Transportgleichung fur den Vertikalimpuls ist analog

ντ(α + γ) + (β + δ) = ζ2 (6.7)

mit ζ2 =2Pyy

mn2RT2

163

Die Energiegleichung liefert keine neue Information, da sie sich als Line-arkombination der ubrigen Transportgleichungen schreiben laßt. Diesist eine Konsequenz des speziellen Ansatzes.

4. Φ = mξxξy :

d

dy

(∫

ξxξ2yfdVξ

)

=pPxy

mµd

dη{ντ(α + γ)− (β + δ)} − ζ1

2Kn{ν(α + γ) + (β + δ)} = 0

mit:

Kn =λ2

d=

πcp/cv2

Ma

Re

Re = ρ2Ud/µ2

η = y/d

Randbedingungen:

y =d

2: f = f1 → γ(y = d/2) = 1 , δ(y = d/2) = 0

y = −d2

: f = f2 → α(y = −d/2) = 0 , β(y = −d/2) = 1

Analytische Losung der Differentialgleichung:

β =

(

1 +ζ14

+ζ2

2(τ − 1)

)

exp

{ζ1(τ − 1)

8τKn(1 + 2η)

}

− ζ22(τ − 1)

− ζ14

δ = β +ζ12

α =ζ2

2ν(τ − 1)+

ζ14ν√τ− 1

ντ

(

1 +ζ14

+ζ2

2(τ − 1)

)

exp

{ζ1(τ − 1)

8τKn(1 + 2η)

}

γ = α− ζ12ν√τ

164

Aus den Randbedingungen laßt sich schlußfolgern, daß das Emissionsverhalt-nis ν von Kn und τ abhangt

1

2Kn

(√τ + 1)(ντ − 1)

τ+ ln

∣∣∣∣

2− (√τ + 2)(1− ντ)

2τ +√τ(1− ντ)

∣∣∣∣= 0.

Ferner gilt:

ζ1 =2(1− ντ)√

τ − 1, ζ2 = 1 + ντ

Makroskopische Stromungsgroßen:

n

n2=

1

2(ν(α + γ) + (β + δ))

u

U=

1

4

ν(α + γ)− (β + δ)

n/n2

T

TW2

=1

2

ν(α + γ)

{

τ +cpMa2

3cv

(u

U− 1

2

)2}

+ (β + δ)

{

1 +cpMa2

3cv

(u

U+

1

2

)2}

n/n2

qy = uPxy

{

1− 2(τ − 1)

cpMa2/cv

U

u

}

(6.8)

Abbildung 6.9: Dichteprofil fur τ = TW1/TW2 = 4 (Ma2 ≪ 1)

165

Abbildung 6.10: Geschwindigkeitsprofil fur τ = TW1/TW2 = 4 (Ma2 ≪ 1)

Abbildung 6.11: Temperaturprofil fur τ = TW1/TW2 = 4 (Ma2 ≪ 1)

166

Abbildung 6.12: Gleitgeschwindigkeit fur τ = TW1/TW2 = 4 und Ma2 ≪ 1(Vergleich mit anderen Ergebnissen)

167

6.3 Struktur eines Verdichtungsstoßes

In der klassischen Gasdynamik ist der Stoß eine Diskontinuitatsflache. Gas-kinetisch betrachtet, ist die Stoßzone ein Gebiet starken (Translations-. . . )Nichtgleichgewichts, das sich uber einige freie Weglangen erstreckt.

In einem mit dem Stoß bewegten Koordinatensystem ist das Problem eindi-mensional und stationar.

Abbildung 6.13: Zur Struktur des Verdichtungsstoßes

Der Stoß trennt zwei Gleichgewichtszustande voneinander

x → −∞ : f1 =n1

(2πRT1)3/2exp

{

−(ξx − u1)

2 + ξ2y + ξ2

z

2RT1

}

x → +∞ : f1 =n2

(2πRT2)3/2exp

{

−(ξx − u2)

2 + ξ2y + ξ2

z

2RT2

}

Ansatz von Mott-Smith:Innerhalb des Stoßes ist f eine Mischung aus den Verteilungen der Rand-zustande

f(x) = nα(x)f1

n1+ nβ(x)

f2

n2.

u1,u2,T1 und T2 sind Konstante.

Das Problem besteht in der Bestimmung der Unbekannten nα und nβ . DieRandbedingungen liefern

x → −∞ : nα = n1 nβ = 0,

x → +∞ : nα = 0 nβ = n2.

Maxwellsche Transportgleichung:

d

dx

(∫

ΦξxfdVξ

)

= IΦ

Setzt man Φ = m,mξx , mξ2/2, so folgt

168

nαu1 + nβu2 = C1,

nα(u21 +RT1) + nβ(u2

2 +RT2) = C2,

nαu1(u2

1

2+

5

2RT1) + nβu2(

u22

2+

5

2RT2) = C3.

Mit den Randbedingungen folgen daraus die Hugoniot-Relationen

n1u1 = n2u2 = C1,

n1(u21 +RT1) = n2(u

22 +RT2) = C2,

n1u1(u2

1

2+

5

2RT1) = n2u2(

u22

2+

5

2RT2) = C3.

(6.9)

Damit werden die obigen Erhaltungsgleichungen linear abhangig und es kannnur eine Gleichung zur Bestimmung von nα oder nβ verwendet werden. Eswird eine weitere Transportgleichung benotigt

d

dx

(∫

ΦξxfdVξ

)

= IΦ ,

wobei Φ frei wahlbar ist, z.B. Φ = mξ2x oder mξ3

x.Fur Maxwellsche Molekule ist IΦ analytisch berechenbar.

Ergebnisse:Definition der Stoßdicke in dimensionsloser Darstellung

L∗

δm, δm =

u2 − u1

(du/dx)max. (6.10)

L∗ ist eine mikroskopische Bezugslange

L∗ =µ∗

ρu, µ = ρν ∼ ρaλ ,

µ

ρu∼ ρaλ

ρu∼ λ.

µ∗ ist fur T ∗ = 2/(γ + 1)T0 = 3/4 T0 zu berechnen. T ∗ ist die Temperatureiner isentropen Stromung bei Schalldurchgang.

169

L1 =16

5

µ1

ρ1

√2πRT1

Abbildung 6.14: Geschwindigkeitsprofil fur M = 1,3

Abbildung 6.15: Geschwindigkeitsprofil fur M = 2

170

Abbildung 6.16: Geschwindigkeitsprofil fur M = 5

171

Abbildung 6.17: Dicke der Stoßwelle in Bezug auf die Lange L∗

172