Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

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Dissertation Titel der Dissertation Bildtopologie. Spielräume des Imaginären nach Henri Bergson und Marcel Duchamp Verfasserin Sarah Kolb, Mag. phil. angestrebter akademischer Grad Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) Wien, 2016 Matrikelnummer: 9507099 Studienkennzahl lt. Studienblatt: R 792 607 Studienrichtung lt. Studienblatt: Dr.-Studium der Philosophie, Kunst u. kulturwiss. Studien Betreuer_in: Univ.-Prof. Mag. Dr. Sabeth Buchmann

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Dissertation

Titel der Dissertation

Bildtopologie. Spielräume des Imaginären nach

Henri Bergson und Marcel Duchamp

Verfasserin

Sarah Kolb, Mag. phil.

angestrebter akademischer Grad

Doktorin der Philosophie (Dr. phil.)

Wien, 2016

Matrikelnummer: 9507099

Studienkennzahl lt. Studienblatt: R 792 607

Studienrichtung lt. Studienblatt: Dr.-Studium der Philosophie, Kunst u. kulturwiss. Studien

Betreuer_in: Univ.-Prof. Mag. Dr. Sabeth Buchmann

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Sarah Kolb

BILDTOPOLOGIE

Spielräume des Imaginären nach

Henri Bergson und Marcel Duchamp

Februar 2016

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In Erinnerung an meine Oma.

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DANKSAGUNG

Die vorliegende Dissertation konnte nur Dank der großzügigen ideellen und finanziellen

Unterstützung vieler beteiligter Personen und Institutionen fertiggestellt werden. Mein Dank

gilt im Besonderen dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien und

dessen engagiertem und warmherzigen Team, das mein Projekt von 2005 bis 2007 unter der

damaligen Leitung von Hans Belting im Rahmen eines Junior Fellowship und eines Abroad

Fellowship unterstützt und mir ein überaus inspirierendes und motivierendes Arbeitsumfeld

zur Verfügung gestellt hat; dem Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg »Medien und

kulturelle Kommunikation« der Universität zu Köln unter der damaligen Leitung von Ludwig

Jäger, wo ich als IFK Fellow von 2006 bis 2007 herzlich aufgenommen wurde und an den

vielfältigen Aktivitäten des Forschungskollegs teilnehmen und mitwirken durfte; dem

Staatlichen Museum Schwerin unter der Leitung von Dirk Blübaum, das als einer der

international wichtigsten Standorte der Duchamp-Forschung über einen reichen Bestand an

Originalen verfügt und wo ich Dank der Freunde des Staatlichen Museums und namentlich

der finanziellen Unterstützung von Brigitte Feldtmann von 2011 bis 2012 im Rahmen eines

Duchamp-Forschungsstipendiums am Original forschen durfte und stets herzlich in Empfang

genommen wurde; dem großartigen Team des Duchamp-Forschungszentrums des Staatlichen

Museums und im Besonderen Kornelia Röder, Gerhard Graulich, Antonia Napp, Katharina

Uhl und Christina May, die mir innerhalb der letzten Jahre stets mit Rat und Tat zur Seite

standen und deren freundschaftliche Unterstützung und fundierte Kenntnisse mich in vieler

Hinsicht bereichert und mir neue Perspektiven eröffnet haben; und nicht zuletzt der Akademie

der bildenden Künste Wien unter der Leitung von Eva Blimlinger, Andrea Braidt und Karin

Riegler, die mein Dissertationsprojekt 2009 mit einem Förderstipendium und 2015 mit einem

Dissertationsabschlussstipendium unterstützt hat und die von einem Klima der Offenheit, der

Toleranz und der Wertschätzung geprägt ist, das für meine Forschungen so überaus wertvoll

war. Ferner gilt mein Dank Michael Taylor vom Philadelphia Museum of Art, Rhonda Roland

Shearer vom Art Science Research Laboratory in New York, Shūsaka Arakawa und Madeline

Gins von der Architectural Body Research Foundation in New York, Jacqueline Matisse

Monnier als Verwalterin des Duchamp-Archivs in Villiers-sous-Grez, Jean-Luc Thierry von

der Association pour l’Étude de Marcel Duchamp und den Archives de Bergson der

Bibliothèque littéraire Jacques Doucet in Paris für die Möglichkeit, Einsicht in die

Archivbestände zu nehmen und mein Wissen im persönlichen Gespräch zu vertiefen.

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Mein allerherzlichster Dank gilt Sabeth Buchmann, die mein Dissertationsprojekt seit 2009

mit großem Engagement begleitet hat und deren konstruktive, stets wohldosierte Kritik und

überaus motivierende Wertschätzung und Zuversicht von unschätzbarem Wert waren. In

diesem Zusammenhang danke ich auch jenen Dissertant/innen, mit denen ich im Rahmen des

Dissertant/innenseminars im Gespräch war und deren Fragen und Anregungen meiner Arbeit

immer wieder neue Impulse gegeben und sie so Stück für Stück vorangetrieben haben. Von

den vielen inspirierenden Gesprächen, die ich innerhalb und außerhalb eines institutionellen

Kontexts führen durfte und die mein Forschungsprojekt in vielerlei Hinsicht bereichert haben,

möchte ich insbesondere diejenigen mit Ilka Becker, Hans Belting, Peter Berz, Kornelia von

Berswordt-Wallrabe, Mary Ann Caws, Michael Cuntz, Dieter Daniels, Iris Därmann, Mladen

Dolar, Romana Filzmoser, Anne von der Heiden, Franck André Jamme, Jean-Michel Rabaté,

Stefan Rieger, Ruth Sonderegger, Sjoerd van Tuinen und Michael Wetzel hervorheben.

Ganz herzlich bedanken möchte ich mich insbesondere auch bei Simone Schardt für ihr

gewissenhaftes Lektorat, ihre wertvollen Anregungen und ihr zeitliches Entgegenkommen,

bei Romana Filzmoser, Monika Gorlitzer und Michael Horsky für ihre kritische Lektüre und

ihre bereichernden Kommentare, bei Bettina Brunner und Jeanette Pacher für den hilfreichen

Einsatz ihrer Englischkenntnisse und bei Caroline Ecker für die Bildbearbeitung, die grafische

Gestaltung des Abbildungsteils, die vielen inspirierenden und motivierenden Gespräche und

die so überaus wertvolle Unterstützung bei der Drucklegung.

Mein inniger Dank gilt meiner Familie und meinem Freundeskreis, die mich stets in meinem

Vorhaben unterstützt und mir das Vertrauen geschenkt haben, auf dem richtigen Weg zu sein,

und ganz besonders Emma und Paula für die Liebe, mit der sie mich immer wieder aufatmen

lassen. Und nicht zuletzt: Rouven, Arthur und Rosa, ich danke Euch über alles für die vielen

Freuden des Alltags und die liebevolle Anteilnahme, unermüdliche Geduld und tatkräftige

Unterstützung, ohne die ich dieses Projekt nie hätte realisieren können. Danke!

Wien, im Februar 2016 Sarah Kolb

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INHALT

Einführung: Plädoyer für einen neuen Bildbegriff 8

1. Historischer Hintergrund: Duchamp nach Bergson 23

1.1. Bergson als »Jongleur der Konzepte« 28

1.1.1. Die Anfänge einer steilen Karriere 29

1.1.2. Bergsons Aufstieg zum Pop-Philosophen 32

1.1.3. Bergson als Wegbereiter eines neuen Kunstbegriffs 34

1.2. Duchamps Zugang zum Bergsonismus 39

1.2.1. »Notizen eines Malers«: Henri Matisse 41

1.2.2. La Section d’Or: Kubismus à la Puteaux 46

1.2.3. Futurismus, Chronofotografie und Kinematografie 58

1.3. Duchamps Schöpferische Entwicklung 67

1.3.1. Duchamps emanzipatorischer Akt 68

1.3.2. Die Entwicklung von der Jungfrau zur Braut 76

1.3.3. Ende der Erzählung, das Spiel kann beginnen 90

2. Das dreifaltige Bild: Spielräume des Imaginären 94

2.1. Unterwegs zum Ursprung des Bildes 94

2.1.1. Horizont/Haut: Was ist ein Bild? 97

2.1.2. Topos/Utopos: Bild-Werden bei Bergson 114

2.1.3. Eros/Rrose: Braut-Werden bei Duchamp 119

2.2. Perspektiven zur Kunst der Verschleierung 136

2.2.1. Perspektivische Multiplikationen: Die Erscheinung der Braut 137

2.2.2. Spieglerische Assimilationen: Das Prinzip der Auserwählten 143

2.2.3. Transgressive Subversionen: Der Künstler als Medium 149

2.3. Malerei im Dienste der Metaphysik 152

2.3.1. »Plastische Dauer«: Das Bild als Idee 157

2.3.2. »Rendezvous mit dem Schicksal«: Das Bild als Medium 164

2.3.3. »Ironie der Indifferenz«: Das Bild als Wirklichkeit 176

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3. Zeithistorischer Kontext: Bergson nach Duchamp 185

3.1. »Artist of the Century«: Duchamp als Ikone des Neo- und Post-Avantgardismus 187

3.1.1. Duchamp als Kurator und Konservator seines eigenen Werks 188

3.1.2. Duchamps Weg zur Ikone: »Dada’s Daddy« und »Pop’s Granddada« 195

3.1.3. Zurück in die Zukunft: Minimalismus, Konzeptkunst, Appropriation Art 205

3.2. »Bergson im Werden«: Vom Anti-Bergsonismus zur bergsonschen Wende 222

3.2.1. Das Für und Wider: Epistemologie, Phänomenologie, Strukturalismus 224

3.2.2. Bergson als »Theoretiker der Differenz«: Gilles Deleuzes Neo-Bergsonismus 246

3.2.3. Der Bergsonian turn: Bergson und die »Kunst der Immanenz« 266

3.3. Bildtopologie: Prozessualität, Kontingenz und Transformismus 273

3.3.1. Das Modell des dreifaltigen Bildes: Symbolisches, Imaginäres und Reales 275

3.3.2. Der dreifaltige Horizont der Kunst: Produktion, Werk und Rezeption 279

3.3.3. Jenseits der Domänen: Duchamps Spiel mit den Geschlechtergrenzen 286

Abbildungsverzeichnis 299

Literaturverzeichnis 321

Lebenslauf 341

Abstract 342

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EINFÜHRUNG: PLÄDOYER FÜR EINEN NEUEN BILDBEGRIFF

Es ist gewiß wahr, daß jeder Philosoph, jeder Maler das, was die anderen als sein Werk ansehen,

lediglich als den Entwurf eines immer noch zu schaffenden Werkes versteht.1

Mit ihren diametral entgegengesetzten Werken haben Henri Bergson (1859–1941) und Marcel

Duchamp (1887–1968) beide eine radikal neue Konzeption des Schöpferischen entwickelt

und die Philosophie- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts damit maßgeblich geprägt.

Einer Reihe historischer Verbindungslinien und zahlreicher inhaltlicher und methodischer

Berührungspunkte zum Trotz sind ihre Positionen bislang jedoch nur punktuell und am Rande

miteinander in Verbindung gebracht worden.2 Die vorliegende Dissertation hat sich daher

zum Ziel gesetzt, ein ganzes Spektrum zentraler Werke, Strategien und Konzepte Bergsons

1 Maurice Merleau-Ponty: »Lob der Philosophie« (1953), in: ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, auf der Grundlage der Übers. v. Hans Werner Arndt, Claudia Brede-Konersmann, Friedrich Hogemann, Andreas Knop, Alexandre Métraux u. Bernhard Waldenfels, neu bearbeitet, kommentiert u. mit einer Einleitung v. Christian Bermes, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2003, S. 177–224, S. 188. 2 So beschränken sich bislang vorliegende Forschungen zu Bergson und Duchamp einerseits auf eher beiläufige Erwähnungen Bergsons im Kontext der Duchamp-Forschung (Antliff 2006, Décimo 2004, Henderson 1998, Jansen 2005, Linde 1986, Tomkins 1999) und andererseits auf einige kürzere Analysen, die sich entweder nur mit ausgewählten Aspekten befassen (Beier 1976, Davies 1979, Décimo 2002, Egenhofer 2008 und 2009, Henderson 2014, Luisetti 2010, Rosenberg 1999, Wetzel 2009) oder weitgehend an der Oberfläche bleiben (Villa 1998), vgl. Alan Antliff: »The Making and Mauling of Marcel Duchamp’s Ready-Made«, in: Canadian Art Magazine 23 (Frühjahr 2006), S. 56–61, S. 56–57; Lucia Beier: »The Time Machine: A Bergsonian Approach to ›The Large Glass‹ Le Grand Verre«, in: Gazette des Beaux-Arts 6 (November 1976), S. 194–200; Ivor Davies: »New Reflections of the Large Glass: The Most Logical Sources for Duchamp’s Irrational Work«, in: Art History 2, Nr. 1 (März 1979), 85–94, S. 85ff.; Marc Décimo: Marcel Duchamp mis à nu: A propos du processus créatif, Dijon: Les Presses du réel 2004, S. 56/61/72/114/157/160/212; ders.: »Jean-Pierre Brisset et Marcel Duchamp: deux artistes en leur genre«, in: Étant donné Marcel Duchamp, Nr. 4 (2002), S. 32–51, S. 41–44 (§ »Duchamp, lecteur de Bergson?«); Sebastian Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität. Die Wahrheitsfunktion des Werks in der Moderne, München: Wilhelm Fink Verlag 2008, S. 166ff. (zu einer Reihe weiterer Erwähnungen, vgl. auch das Personenregister, ebd., S. 379); ders.: »Guss und Projektion. Die Ready-mades und das Große Glas«, in: Wolfram Pichler, Ralph Ubl (Hg.): Topologie. Falten, Knoten, Netze, Stülpungen in Kunst und Theorie, Wien: Turia + Kant 2009, S. 193–233, S. 207ff.; Linda Dalrymple Henderson: Duchamp in Context: Science and Technology in the Large Glass and Related Works, Princeton: Princeton University Press 1998, S. 63/128–129 (zu einer Reihe weiterer Erwähnungen, vgl. auch den Index, ebd., S. 350); dies.: »Paradigm Shifts and Shifting Identities in the Career of Marcel Duchamp, Anti-Bergsonist »Algebraicist of Ideas««, in: Ann Collins Goodyear, James W. McManus (Hg.): aka Marcel Duchamp. Meditations on the Identities of an Artist, Washington, D.C.: Smithsonian Institution Scholarly Press 2014, S. 76–106; Bert Jansen: »Marcel Duchamp: De schoonheid van indifferentie«, in: Jong Holland 21, Nr. 2 (2005), S. 10–18, S. 12; Ulf Linde: Marcel Duchamp, Stockholm: Rabén & Sjögren 1986, S. 81ff.; Federico Luisetti: »Reflections on Duchamp: Bergson Readymade«, in: diacritics 38, Nr. 4 (Winter 2010), S. 77–93; Martin E. Rosenberg: »Poincaré, Bergson, Duchamp: The Science, Philosophy and Art of Interpretation« (unveröffentlichter Vortrag im Rahmen des Symposiums Methods of Understanding in Art and Science – The Case of Duchamp and Poincaré, Cambridge 1999); Calvin Tomkins: Marcel Duchamp. Eine Biographie, München/Wien: Carl Hanser Verlag 1999, S. 9/83–84/256; Theodore F. Villa: Marcel Duchamp and the Utopian Philosophies of Peter Kropotkin and Henri Bergson, Michigan: Michigan State University 1998; Michael Wetzel: »Règles d’art/Kunstregeln: Duchamp zwischen Bergson und Poincaré« (unveröffentlichter Vortrag im Rahmen des Kolloquiums Die Wiedergeburt der künstlerischen Avantgarde aus dem Geiste der Experimentalsysteme: Zum 40. Todesjahr von Marcel Duchamp, Bonn 2009).

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und Duchamps im Rahmen einer vergleichenden Diskursanalyse gegenüberzustellen, kritisch

zu beleuchten und unter Berücksichtigung jeweils angrenzender Diskurse (Kunst, Literatur,

Populärkultur, Chronofotografie3, Kinematografie, Psychologie, Biologie, Mathematik etc.)

hinsichtlich ihres produktiven Potentials zu befragen. Durch diese Form der Konfrontation

und Kontextualisierung wird eine Art Laborsituation hergestellt, die nicht nur etablierte

Lesarten reflektiert und miteinander verschränkt, sondern auch bislang vernachlässigten

Aspekten und Kontingenzspielräumen Rechnung trägt und damit eine experimentelle

Perspektive in den Vordergrund stellt. Konkret sollen Bergson und Duchamp als Wegbereiter

jenes radikalen Entwicklungsgedankens gewürdigt werden, der seit den 1960er Jahren

gleichsam paradigmatisch geworden ist, insofern ein essentialistischer Bild- respektive

Werkbegriff im Kontext strukturalistischer und poststrukturalistischer Theorien und neo- und

postavantgardistischer Konzepte und Praktiken zunehmend als überholt angesehen wurde.

Ausgehend von den Prinzipien der Prozessualität, der Kontingenz und des Transformismus,

die parallel zur fortschreitenden Rezeption und Appropriation der Werke Bergsons und

Duchamps in den Fokus der Kunst und Philosophie geraten sind, soll mit dem Konzept der

›Bildtopologie‹ im Rahmen der vorliegenden Arbeit ein relationaler Bildbegriff entwickelt

werden, der sich wie ein roter Faden durch die Werke und Wirkungsgeschichten Bergsons

und Duchamps verfolgen lässt und somit die konzeptuelle Fluchtlinie der vergleichenden

Diskursanalyse bildet. Vor dem Hintergrund der raumzeitlichen Kontiguität von Bergsons

und Duchamps Leben und Wirken gilt es dementsprechend nicht nur eine Reihe historischer

Berührungspunkte offenzulegen, sondern auch in produktionsästhetischer, werkästhetischer

und rezeptionsästhetischer Hinsicht ein breites Spektrum von Querverbindungen und

Interferenzen nachzuweisen, deren Analyse ein Desiderat darstellt und auf deren Basis

Bergson und Duchamp neu im Diskurs der Gegenwart zu verorten sind.

Das Konzept der Bildtopologie basiert auf einer Revision und Verschränkung zentraler

Thesen, Begrifflichkeiten, Motive und Strategien Bergsons und Duchamps, die im

3 Die etymologische Herkunft des Suffixes *-grafie von griech. graphéin »schreiben, zeichnen« wird hier und im Folgenden trotz neuer Schreibung mitgedacht. Allgemeiner Hinweis zur Zitierweise und Genderspezifizierung: Zitate im Zitat werden im Folgenden entgegen § 95 der amtlichen Regeln für die deutsche Rechtschreibung und Zeichensetzung (vgl. Duden, Bd. 1: Die deutsche Rechtschreibung, Mannheim u.a.: Dudenverlag 2000, K 12) durch doppelte Anführungszeichen gekennzeichnet (»Zitat »Zitat im Zitat««), um eine Unterscheidung von Kursivierungen (»im Sinne einer Hervorhebung von Textpassagen«) und Hervorhebungen durch einfache Anführungszeichen (»im Sinne von ›unter Anführungszeichen‹ gesprochen«) seitens der zitierten Autor/innen möglich zu machen. Zwecks besserer Lesbarkeit wird im Folgenden auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung durch sprachliche Markierung (»Autor/innen«, »Betrachter/innen«, etc.) im Allgemeinen verzichtet. Wo aus inhaltlichen Gründen relevant, gibt es punktuell Abweichungen von dieser Regel. Begriffe, die nur in der männlichen Form genannt werden (»Autoren«, »Betrachter«, etc.), gelten im Sinne der Gleichbehandlung jeweils für alle Geschlechter.

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beginnenden 20. Jahrhundert beide – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen und mit ganz

anderen Mitteln – einen wesentlichen Beitrag zur Grundlegung eines neuen Bild- und

Werkbegriffs gemacht haben und deren Werke sich damit bis zum heutigen Tag als virulent

erweisen. Wie im Anschluss an Sebastian Egenhofers wegweisende Studien zu den

topologischen Implikationen von Bergsons Philosophie und Duchamps Kunstbegriff4 zu

zeigen ist, propagieren Bergson und Duchamp beide einen universalistischen Begriff des

Schöpferischen, indem sie den Topos ›Bild‹ – jene zentrale Instanz des Denkens und der

Kunst – jenseits einer rein idealistischen oder rein materialistischen Definition in seiner

prinzipiellen Ambivalenz, Unentscheidbarkeit und Flüchtigkeit ansichtig machen. Nach

Bergson und Duchamp ist ein Bild also keine konstante, statische und hermetische Entität,

sondern ein temporäres, dynamisches und relationales Phänomen, das als Aspekt eines

größeren Ganzen im Spannungsfeld zwischen Virtualität und Aktualität, Erinnerung und

Vergegenwärtigung, Vorstellung und Wirklichkeit oszilliert und sich dabei kontinuierlich

weiterentwickelt. Die symptomatische ›Unschärfe‹ und ›Unberechenbarkeit‹ von Bildern, die

mit dieser Oszillationsbewegung einhergeht und die mit der explosionsartigen Verbreitung

neuer Medien und Medientheorien und dem parallelen Aufkommen der Bildwissenschaft als

Disziplin an der Schnittstelle zwischen Wissenschafts-, Philosophie- und Kulturgeschichte

innerhalb der letzten Jahrzehnte geradewegs zum Allgemeinplatz avancierte,5 steht dabei in

unmittelbarem Zusammenhang mit jener vielfach herbeizitierten Wirkmacht und Faszination

von Bildern, die Jacques Lacan im Rahmen seiner Theorie des »Blicks« auf ein Wechselspiel

zwischen ›Vision‹ und ›Revision‹ zurückgeführt hat.6 Wenn Georges Didi-Huberman dem

Sichtbaren ausgehend von Lacan eine »unausweichliche weil paradoxe Modalität« attestiert,

so ist diese mit dem Konzept der Bildtopologie nicht nur auf einen erweiterten Bildbegriff,

sondern auch auf den gegenwärtigen Kunstbegriff zu übertragen, für den Didi-Hubermans

Fazit geradezu maßgeschneidert scheint: »Was wir sehen gewinnt in unseren Augen Leben

und Bedeutung nur durch das, was uns anblickt, uns betrifft.«7

4 Vgl. Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 149–182 sowie ders.: »Guss und Projektion. Die Ready-mades und das Große Glas«. 5 Vgl. u.a. Gottfried Boehm: Was ist ein Bild?, München: Wilhelm Fink Verlag 1994; William John Thomas Mitchell: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago/London: The University of Chicago Press 1994; ders.: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago: The University of Chicago Press 2005; Christa Maar, Hubert Burda (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont 2004; Hans Belting: Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München: Wilhelm Fink Verlag 2007. 6 Vgl. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar. Buch XI (1964), Textherstellung Jacques-Alain Miller, aus dem Franz. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin: Quadriga 1996, S. 73–126. 7 Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, aus dem Franz. v. Markus Sedlaczek, München: Wilhelm Fink Verlag 1999, S. 11. Zu Didi-Hubermans Metapsychologie des Bildes, vgl. unten, Kap. 2.1.1.

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Wie Kathrin Busch und Iris Därmann in ihrem 2011 erschienenen Band zum herausragenden

Einfluss französischer Bildtheorien auf den zeitgenössischen Bildbegriff hervorheben, erweist

sich der bildwissenschaftliche Ansatz vor allem insofern als gewinnbringend, als er »die

sprach- und textlastigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen nachhaltig irritieren und die

erkenntnistheoretische Frage nach dem Wesen des Bildes (›Was ist ein Bild?‹) hinter die

Untersuchung ihrer kulturell und kulturhistorisch je verschiedenen Herstellungs-, Gebrauchs-

und Rezeptionsweisen zurücktreten lassen« konnte.8 Die »eigentümliche Zwischenstellung«

der Bilder »zwischen bloßen Dingen und Kunstwerken«, die mit der bildwissenschaftlichen

Perspektive erstmals in vollem Umfang offengelegt worden sei, gebe dabei nicht nur Anlass

zur »Untersuchung der immensen Bandbreite und Variationsfülle der Bilder«, sondern rücke

insbesondere auch die Frage »nach ihrer je eigenen Verortung und Ortlosigkeit, nach ihrer

Verkörperung, Materialität und Rahmung« und nach ihren »genuinen Leistungen, Handlungs-,

Bindungs- und Affektkräften« ins Zentrum des Interesses.9 Jenseits der »vielfältigen

materiellen Kulturen des Bildes« habe ein zeitgenössischer Bildbegriff folglich nicht nur die

»Rolle von Phantasmen, Traumbildern, Phantasien oder Erinnerungsbildern« mit zu

berücksichtigen, sondern auch »Prozesse, Ereignisse und Widerfahrnisse« wie »Mimesis,

Imitation, Identifizierung und Mimikry«.10

Entgegen der fortschreitenden Spezialisierung, mit der die zeitgenössische Bildwissenschaft

einen derart breit angelegten Bildbegriff zu untermauern sucht, versteht sich das Konzept der

Bildtopologie als Instrument einer transdisziplinären Analyse, das dazu beitragen soll, Bilder

nicht länger auf eine je bestimmte Ebene der Betrachtung zu reduzieren, sondern sich ihnen

vielmehr gleichzeitig aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedlichen Ebenen

anzunähern und ihnen damit in ihren mannigfaltigen Grundlagen, Erscheinungsformen und

Wirkungszusammenhängen gerecht zu werden. Die objektive Materialität eines Bildes ist

demnach weder von dessen kontingentem Erscheinungsbild noch von dessen immanenter

Ereignishaftigkeit zu trennen. Weder eine rein ästhetische noch eine rein analytische oder

experimentelle Perspektive scheint dazu geeignet, das Bild als solches in den Blick zu

bekommen. Denn als Phänomen (von griechisch phaínein »sichtbar machen«, phaínesthai

»sichtbar werden, erscheinen«) impliziert das Bild immer schon ein Zusammenwirken der

drei Ebenen: Ding, Erscheinung, Ereignis. Dementsprechend erhebt die vorliegende Arbeit

mit Wolfram Pichler und Ralph Ubl gesprochen nicht den Anspruch, »durch eine theoretische

8 Kathrin Busch, Iris Därmann: »Zum Auftakt«, in: dies. (Hg.): Bildtheorien aus Frankreich. Ein Handbuch, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 11–12, S. 11. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 12.

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Betrachtung von Bildern etwas über das Bewusstsein, die Wahrnehmung oder die Kunst zu

erfahren«, sondern erhofft sich vielmehr »von Philosophie, Wahrnehmungspsychologie oder

Kunstgeschichte Aufschlüsse über das Wesen oder Unwesen der Bilder«, über das es sich »im

transdisziplinären Austausch dieser und anderer Fächer« zu verständigen gilt.11 Die zentrale

These der vorliegenden Arbeit lautet damit, dass man vom Wesen oder Unwesen der Bilder

nur im Rahmen einer Theorie des Bildes sprechen kann, die produktionsästhetische,

werkästhetische und rezeptionsästhetische Faktoren miteinander kurzschließt und die rigide

Unterscheidung zwischen symbolischen, imaginären und realen Aspekten hinterfragt, indem

sie das Bild in Anlehnung an Lacan im allerengsten Wortsinn als einen Topos denkt, der die

Ebenen des Symbolischen, des Imaginären und des Realen nach dem Bild des Borromäischen

Knotens in ihrem Innersten verknüpft.12 Mit Gilles Deleuze gesprochen ist das Bild demnach

als »Singularität« zu denken,13 in anderen Worten, als irreduzibles raumzeitliches Gefüge, in

dem die Ebenen der Abstraktion, der Projektion und der Konkretion miteinander verschränkt

sind. So gesehen ist ein Bild per definitionem etwas Gemachtes (Produktionsästhetik), das

nicht nur notwendig als einzigartiges Phänomen und als Attraktor in Erscheinung tritt

(Werkästhetik), sondern auch notwendig eine Definitionslücke und damit einen blinden Fleck

oder »Blick« impliziert (Rezeptionsästhetik). In Anlehnung an Egenhofers erweiterten

Produktionsbegriff vertritt die vorliegende Arbeit also einen Bildbegriff, der ȟber die

materielle Herstellung von Objekten hinaus auf das Werden und Gewordensein des

Wirklichen selbst sowie der symbolischen und technischen Mittel seiner Reproduktion und

Repräsentation« abzielt.14

11 Wolfram Pichler, Ralph Ubl: Bildtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius 2014, S. 10. 12 Zu Lacans Konzept des Borromäischen Knotens, vgl. http://lacan-entziffern.de/topologie/sinn-symbolisch-imaginaer-und-real/ (aufgerufen am 28.12.2015) sowie unten, Kap. 3.3.1. 13 Zu Deleuzes Begriff der »Singularität«, vgl. u.a. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, aus dem Franz. v. Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink Verlag 1997; ders.: Logik des Sinns, aus dem Franz. v. Bernhard Dieckmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 sowie unten, Kap. 3.2.2. In der Physik und Astronomie bezeichnet der Begriff der ›Singularität‹ Zustände, bei denen bestimmte Aspekte eines Phänomens, wie z.B. die betrachteten Raumzeiten und deren Metrik, in einzelnen Punkten oder komplizierteren Mannigfaltigkeiten nicht lückenlos definiert werden können. Ein bekanntes Beispiel für eine derartige Singularität ist das ›Schwarze Loch‹, das allein durch seine Wirkung auf die umgebende Raumzeit charakterisiert werden kann, während spezifische Eigenschaften in seinem Innern, wie etwa die Dichte, nicht näher definiert werden können. Vgl. den Artikel »Singularität (Astronomie)« in Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Singularit%C3%A4t_%28Astronomie%29 (aufgerufen am 28.12.2015). 14 Sebastian Egenhofer: Produktionsästhetik, Zürich: diaphanes 2010, S. 7. Vgl. dazu ebd.: »Produktionsästhetik erzählt nicht von der materiellen Herstellung der Werke. Der Begriff impliziert keine Präferenz fürs Handwerk und keine Nostalgie für die Singularität des Kunstwerks [...]. Er zielt über die materielle Herstellung von Objekten hinaus auf das Werden und Gewordensein des Wirklichen selbst sowie der symbolischen und technischen Mittel seiner Reproduktion und Repräsentation. Er trägt so der zentralen marxschen Einsicht Rechnung, dass die Produktion nicht dargestellt, nicht sichtbar gemacht oder erzählt werden kann. Die Darstellung kommt gegenüber der Produktion immer zu spät, denn das Produzierte der Produktion ist die Ebene der Darstellung selbst.«

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Mit den Ebenen der Abstraktion (Produktionsästhetik), der Projektion (Werkästhetik) und der

Konkretion (Rezeptionsästhetik) basiert das Konzept der Bildtopologie auf einem dreistufigen

Argumentationssystem, das im Wesentlichen auf die Bildbegriffe Bergsons und Duchamps

zurückzuführen ist. Es schließt einerseits an jene Metaphysik des Bildes an, die Bergson in

seiner Abhandlung über Materie und Gedächtnis (1896) im Spannungsfeld zwischen Intellekt,

Wahrnehmung und Intuition verortet,15 und orientiert sich andererseits an jenem relationalen

Werkbegriff, den Duchamp mit seinem Großen Glas (1915–1923) in ein anschauliches

Modell übersetzt hat16 und den er 1957 im Rahmen seines Vortrags »The Creative Act«

dahingehend veranschaulichte, dass im Rahmen des schöpferischen Prozesses »eine Art

›Übertragung‹ des Künstlers auf den Betrachter in Gestalt einer ästhetischen Osmose durch

die leblose Materie hindurch« stattfinde.17 Das Konzept der Bildtopologie beruht damit auf

drei Ebenen der Untersuchung:

BILDTOPOLOGIE BERGSON DUCHAMP

Rezeptionsästhetik Methode der Intuition Domäne der Braut

Werkästhetik Wahrnehmung (de facto) Horizont/Kleid der Braut

Produktionsästhetik Mechanismus des Denkens Domäne der Junggesellen

Aus diesem dreigliedrigen Modell, das einen Bogen vom historischen Entstehungskontext

(Produktionsästhetik) über die konkrete Verfasstheit und den aktuellen Präsentationsmodus

(Werkästhetik) bis hin zu den produktiven Kapazitäten und Unschärfen (Rezeptionsästhetik)

von Bildern respektive Kunstwerken spannt, ergeben sich auch für die Gegenüberstellung der

Werke Bergsons und Duchamps drei Ebenen der Analyse, die den konzeptuellen Rahmen der

drei Kapitel zum historischen Hintergrund, zum dreifaltigen Bild und zum zeithistorischen

Kontext bilden.

15 Henri Bergson: Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris: Alcan 1896; dt.: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, aus dem Franz. v. Julius Frankenberger, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1991. 16 Duchamps erstes monumentales Werk, das so genannte Große Glas mit dem eigentlichen Titel Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar (1915–1923), ist als Ausgangspunkt und Schlüssel seines gesamten weiteren Schaffens zu betrachten – angefangen von Ready-mades (sprich: »ready maids«, seit 1913) und Rrose Sélavy (1921), über die so genannte Grüne Schachtel (1934), die analog zum Großen Glas den Titel Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar trägt und damit einen integralen Bestandteil des Werks darstellt, bis hin zu Duchamps zweitem monumentalem, erst posthum veröffentlichten Werk Gegeben sei: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtgas (1946–1966), das er als Variation des selben Themas definierte. 17 Marcel Duchamp: »Der schöpferische Prozeß«, in: Robert Lebel: Marcel Duchamp, Köln: DuMont 1972, S. 165–167, S. 166. Den Vortrag »The Creative Act« hielt Duchamp im April 1957 im Rahmen einer Tagung der American Federation of Arts (Houston, Texas); Erstveröffentlichung in: Art News 56, Nr. 4 (Sommer 1957), S. 28–29.

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14

Das Kapitel »Historischer Hintergrund: Duchamp nach Bergson« beschäftigt sich mit dem

historischen Kontext (1889–1912), in dem Bergson zum richtiggehenden ›Pop-Philosophen‹

avancierte und damit auch für den jungen Duchamp eine zentrale Rolle spielte. Im Anschluss

an eine biografische Einführung zu Bergson und Duchamp gibt das Kapitel zunächst einen

Überblick zum Bergsonismus als Modephänomen, das seinen Anfang bereits in den frühen

1890er Jahren im Kontext der künstlerisch-literarischen Strömungen des Impressionismus

und Symbolismus nahm und das in seiner Eigenschaft als ideologisch motiviertes Zerrbild

von Bergsons Philosophie im beginnenden 20. Jahrhundert zur zentralen Referenz für die

unterschiedlichen künstlerischen Avantgarden wurde, mit denen sich Duchamp bis 1912

intensiv auseinandersetzte und mit denen er zum Teil auch in engem persönlichen Kontakt

stand. Es gilt zu zeigen, dass sich Duchamp spätestens seit Ende 1911 kritisch mit Bergsons

Philosophie befasste, indem er sich dem dogmatischen Bergsonismus der zeitgenössischen

Kunstwelt entgegenstellte und in Anlehnung an das Prinzip der Chronofotografie den Versuch

unternahm, mit den Mitteln der Malerei und unter gleichzeitiger Bezugnahme auf die

zeitgenössische experimentelle Literatur eine Abstraktion der Bewegung zu erzielen.

Duchamps frühe Auseinandersetzung mit Bergson fällt damit mit jenem fundamentalen

Wendepunkt in seiner künstlerischen Entwicklung zusammen, der ihn 1912 zur Entscheidung

brachte, dem rigiden Kunstbegriff der historischen Avantgarden den Rücken zu kehren und

sein künstlerisches Methodenvokabular radikal zu erweitern. Indem Duchamp im Rahmen

seines legendären München-Aufenthalts im Sommer 1912 begann, sich mit seinen ersten

Studien zum Thema der »Braut« den Aspekten des Übergangs und des Werdens zuzuwenden

und dabei unterschiedlichste Quellen (angefangen von der älteren Kunstgeschichte über die

zeitgenössische Wissenschaft und Philosophie bis hin zur zeitgenössischen Literatur und

Populärkultur) für seine künstlerische Auseinandersetzung fruchtbar zu machen, legte er die

Grundlagen jenes radikal erweiterten Kunstbegriffs, mit dem sein Name bis heute verbunden

ist und der, wie im Rahmen der vergleichenden Diskursanalyse zu zeigen sein wird, aufs

Engste mit Bergsons Philosophie des Schöpferischen korrespondiert.

Das Kapitel »Das dreifaltige Bild. Spielräume des Imaginären« nimmt in einem zweiten

Schritt eine werkästhetische Perspektive zum Ausgangspunkt und führt im Rahmen einer

Konfrontation ausgewählter Werke, Konzepte und Strategien Bergsons und Duchamps im

Sinne einer Verschränkung der beiden Positionen das Konzept des ›dreifaltigen Bildes‹ ein,

das als solches weder bei Bergson noch bei Duchamp Erwähnung findet, sondern vielmehr als

konzeptueller Fluchtpunkt der vorliegenden Gegenüberstellung zu verstehen ist. Das Konzept

des dreifaltigen Bildes schließt einerseits an Bergsons Begriff des Schöpferischen an, der das

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15

Bild als Resultat eines Zusammenspiels von »Intellekt«, »faktischer Wahrnehmung« und

»Intuition« fasst, und orientiert sich andererseits am dreigliedrigen Modell von Duchamps

Großem Glas, das mit der unteren »Domäne der Junggesellen«, dem zentralen »Horizont«

und der oberen »Domäne der Braut« anlog zu Bergsons Bildbegriff auf einer Integration der

Prinzipien »Präzisionsmalerei«, »Infra-mince« und »Indifferenzschönheit« basiert. Im Sinne

einer experimentellen Form der Werkanalyse wird der Topos des Bildes unter Bezugnahme

auf ein ganzes Spektrum angrenzender Diskurse (Topologie, Psychoanalyse, Gendertheorie,

Phänomenologie, Mythologie, Perspektivtheorie, etc.) wechselweise als metaphysische

Kategorie, konkretes Medium und produktive Instanz adressiert und mit den Prinzipien der

Prozessualität, der Kontingenz und des Transformismus auf ein Zusammenspiel produktions-,

werk- und rezeptionsästhetischer Faktoren zurückgeführt. Dabei gilt es im Hinblick auf die

Werke Bergsons und Duchamps nicht nur zahlreiche inhaltliche und methodische Parallelen,

Korrespondenzen und Interferenzen zutage zu fördern, sondern vor allem auch zu zeigen, dass

Duchamp gerade durch seine Emanzipation vom Bergsonismus zu einem Kunstbegriff

gelangte, der von einer adäquaten Auseinandersetzung mit Bergsons Philosophie des

Schöpferischen zeugt, insofern er sie nicht absolut setzt, sondern sie im Gegenteil als

Ausgangpunkt einer eigenständigen Entwicklung begreift.

Das Kapitel »Zeithistorischer Kontext: Bergson nach Duchamp« konzentriert sich in einem

letzten Schritt auf die rezeptionsästhetische Ebene und stellt ausgehend von einer Einführung

in die Wirkungsgeschichte Bergsons und Duchamps das Konzept der Bildtopologie vor. Es

wird gezeigt, inwiefern die Werke Bergsons und Duchamps zunächst weitgehend aus dem

philosophischen und kunsttheoretischen Diskurs verdrängt wurden und seit Mitte der 1950er

Jahre schließlich zeitgleich neues Interesse auf sich gezogen haben, um nicht nur einem

historisch neuartigen Verständnis von Kunst respektive Philosophie, sondern auch einer

bemerkenswerten Konjunktur topologischer Denkfiguren den Weg zu ebnen. Der zentrale

Fokus des Kapitels liegt auf der Rezeption im Kontext neo- und postavantgardistischer und

(post)strukturalistischer Theorien und Praktiken, die einerseits eine Vielzahl hartnäckiger

Mythen und (vor allem im Fall von Duchamp) ein enormes Ausmaß an Redundanz mit sich

gebracht, andererseits aber auch eine Reihe produktiver Revisionen angestoßen haben. Diese

Rezeptionsbewegung geht so weit, dass Bergson und Duchamp bis heute (und Bergson

aktuell sogar wieder vermehrt) im Zentrum philosophischer und kunsttheoretischer Debatten

stehen. Die Parallelen, Korrespondenzen und Interferenzen, die im Rahmen der historischen

Gegenüberstellung und der vergleichenden Werkanalyse offengelegt wurden, betreffen damit

auch den zeithistorischen und zeitgenössischen Rezeptionskontext. Wenn Bergson und

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16

Duchamp aus heutiger Perspektive paradoxerweise als Überväter eines neuen Relativismus

hochstilisiert werden, so ist allerdings hervorzuheben, dass der kritische Impetus, mit dem

sich postmoderne Wissensmodelle im Namen von Institutionskritik, Methodenvielfalt, etc.

gegen zentrale Denkfiguren der Moderne wenden, wiederum neue Paradigmen und damit die

Notwendigkeit mit sich bringt, die Werke Bergsons und Duchamps nicht nur im Hinblick auf

ihre Aktualität und Produktivität, sondern vor allem auch im Hinblick auf ihr subversives

Potential zu würdigen. Das Konzept der Bildtopologie versteht sich dementsprechend als

Instrument einer transdisziplinären Werkanalyse, die entgegen einem essentialistischen

Werkbegriff von einer Verschränkung produktionsästhetischer, werkästhetischer und

rezeptionsästhetischer Faktoren ausgeht und den Fokus damit auf prozessuale, kontingente

und transformatorische Aspekte legt. Das Prinzip der ›Wendung‹, das als zentraler Dreh- und

Angelpunkt der Annäherung an einen relationalen Bildbegriff zu betrachten ist, knüpft dabei

nicht zuletzt bei jenen cultural turns (linguistic, pictorial, iconic, spatial, topological, etc.) an,

die den zeitgenössischen Diskurs maßgeblich prägen, indem sie mit Doris Bachmann-Medick

gesprochen »die innertheoretische Transformation des kulturwissenschaftlichen Theoriefelds

und seiner spezifischen »Vokabulare«*« vorantreiben.18 Mit dem Prinzip der Wendung

orientiert sich das Konzept der Bildtopologie nicht nur an Bergsons Methode der »Intuition«,

die als unteilbarer Akt Bergson zufolge nichtsdestoweniger auf einem Schatz an Erfahrungen

und Kenntnissen basiert, sondern auch an Duchamps Methodenvokabular, das er in seiner

Formel »Präzisionsmalerei, und Indifferenzschönheit« zusammengefasst und mit seinem

Konzept des »Infra-mince« auf ein Prinzip der Wechselwirkung zurückgeführt hat, mit dem

sich dichotome Begriffspaare (Präzision versus Indifferenz, Produktion versus Rezeption,

Intellekt versus Intuition) und damit einhergehende Genderkategorien (Junggesellen versus

Braut) in letzter Konsequenz als unhaltbar erweisen – was in einer finalen Pointe anhand einer

Überlagerung der zwei Domänen des Großen Glases zu belegen sein wird.

Wenn das Hauptaugenmerk der vorliegenden Untersuchung auf einer Konfrontation zentraler

Werke, Motive und Strategien Bergsons und Duchamps liegt, so gilt es diese im Rahmen der

vergleichenden Diskursanalyse einerseits zu historisieren, andererseits aber auch mit einer

Reihe angrenzender Forschungsgegenstände, Theorien und Praktiken kurzzuschließen und

damit auf das Konzept der Bildtopologie zuzuspitzen. Punktuell wird die Konfrontation der

18 Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 20; *der Hinweis auf die »Vokabulare« findet sich bei Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000, S. 50. Zum Konzept der kulturtheoretischen Transformation, vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 19–21, sowie Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien.

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Werke Bergsons und Duchamps dementsprechend durch EXKURSE19 vertieft und vorangetrieben.

In Anbetracht der Tatsache, dass die vorliegende Gegenüberstellung von einer historischen

Kontiguität der Werke Bergsons und Duchamps ausgeht, ist hervorzuheben, dass diese nicht

etwa ein generalisierendes Einflussmodell unterstützen, sondern entsprechend dem Prinzip

der Prozessualität nur auf produktionsästhetischer Ebene zum Tragen kommen soll, während

auf werkästhetischer und rezeptionsästhetischer Ebene die Prinzipien der Kontingenz und des

Transformismus den Leitfaden der Untersuchung bilden. Im Vordergrund der Analyse steht

damit die produktive Zusammenführung zweier diametral entgegengesetzter Werkkomplexe,

die auf einen ersten Blick inkompatibel erscheinen mögen, bei näherer Betrachtung jedoch

um ein und dieselbe Problemstellung kreisen, insofern sie mit den Konzepten der »Dauer«

(Bergson) respektive der »Braut« (Duchamp) beide die Prinzipien der Singularität und der

Mannigfaltigkeit ins Zentrum ihres Interesses stellen. Mit dem Konzept der Bildtopologie will

sich die vorliegende Arbeit also der von Pichler/Ubl in Anschlag gebrachten Herausforderung

stellen, nicht nur »Bezüge zwischen der mathematischen Topologie und ihren künstlerischen

und philosophischen Nach-, aber auch Vorbildern historisch zu rekonstruieren«, sondern

gleichzeitig auch »die intellektuellen Impulse, die von dieser undisziplinierten Topologie

ausgehen, in das eigene Vorgehen aufzunehmen«.20

Methodisch knüpft die Arbeit im Wesentlichen an jenem transdisziplinären Forschungsansatz

an, den der französische Philosoph, Soziologe und Literaturtheoretiker Roger Caillois seit den

frühen 1930er Jahren ausgehend von seinen (in kritischer Auseinandersetzung mit dem

Surrealismus entstandenen) Forschungen zur Mimikry entwickelte und den er 1960 mit

seinem Modell der »diagonalen Wissenschaften« auf ein Prinzip des »polyvalenten Wissens«

zurückführte, das sich entsprechend den »transversalen Vorgehensweisen der Natur« nicht auf

etablierte Kategorien beschränkt und innerhalb von deren Grenzen neue Elemente hinzufügt,

sondern im Gegenteil einen flexiblen und erweiterbaren Rahmen darstellt, innerhalb dessen es

auch Undenkbares und vermeintlich Unmögliches anzudenken und auszuloten gilt.21 Der

19 Exkurse sind im Folgenden jeweils durch einen Wechsel der Schriftart gekennzeichnet. Die Hervorhebung zentraler Schlagworte erfolgt durch KAPITÄLCHEN. 20 Wolfram Pichler, Ralph Ubl: »Vorwort«, in: dies.: Topologie, S. 7–11, S. 7. 21 Roger Caillois: »Diagonale Wissenschaften« (1960), in: ders.: Méduse & Cie, und andere mimikrytheoretische Schriften, aus dem Franz. v. Peter Geble, Berlin: Brinkmann & Bose 2007, S. 47–52, S. 51–52: »Gelehrte, die auf einem begrenzten Gebiet große Kenntnisse aufweisen, sind selten imstande, Beziehungen wahrzunehmen, die einzig und allein ein polyvalentes Wissen herzustellen vermag. Meist ist es nur der Zufall, verbunden mit einer gewissen imaginativen Kühnheit, der dieser Art von Entdeckungen den Weg bahnt. Daher sollten die Begegnungen von Wissenschaftlern, die zwar bestimmten Disziplinen angehören, ihre Ergebnisse, Methoden und Sackgassen aber auch mit denen anderer Disziplinen vergleichen wollen, vermehrt dazu genutzt werden, jenes geheime Einverständnis herzustellen, das die Entzifferung dessen erst erlaubt, was ich soeben die transversalen Vorgehensweisen der Natur genannt habe. Vermutlich wird es aber nur eine kleine Zahl von Forschern sein, die – fasziniert von der Untersuchung von Erscheinungen, die die traditionellen Grenzen der verschiedenen Wissenschaften übergreifen – jene vernachlässigten Korrelationen aufzuspüren vermag, die das

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relationale Bildbegriff, der mit dem Konzept der Bildtopologie entwickelt wird, steht damit

im allerengsten Wortsinn im Zeichen jener »Logik des Imaginären«, die Caillois im Zuge

seiner diagonalen Forschungen in den Blick nahm, indem er versuchte,

das wahrnehmbare Universum zu erschließen in dem Bemühen, in ihm Korrelationen zu entdecken, Netzwerke, Kreuzungen, Regelmäßigkeiten, in einem Wort, einige jener mysteriösen Echos, von denen die Oberhaut der Welt geprägt oder erhellt ist, angefangen von den Zeichnungen der Steine in der inerten Materie bis hin zu den Bildern der Dichter in den offensichtlich freien Spielen der Imagination.22

Mit Bruno Latour gesprochen erhebt die vorliegende Arbeit folglich nicht den Anspruch, wie

»durch eine Fensterscheibe« auf die gegenübergestellten Werkkomplexe zu blicken und diese

von einem vermeintlich objektiven Standpunkt aus miteinander in Verbindung zu bringen,

sondern vielmehr »so reflexiv, artikuliert und raffiniert« zu sein wie ihre zentralen »Akteure«,

um die »Quellen der Unbestimmtheit« ebenso wie die »Mannigfaltigkeit der Einwände und

Gegenstände« in den Blick zu nehmen und »Verbindungen zwischen den vielen Mittlern

herzustellen, die sich bei jedem Schritt vermehren«.23 Ausgehend von Latours Behauptung,

dass es »keine In-formation, nur Trans-formation« gibt, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit,

nicht unbedingt »objektiv«, aber jedenfalls »dicht« zu sein: »Was heißt, daß sie nicht bloß ein

transparentes Fenster ist, das ohne Deformation irgendeine Information über ihre Forschung

transportiert«, sondern sich im Gegenteil im Sinne eines »Laboratoriums«, einer »Stätte für

Versuche, Experimente und Simulationen« versteht,24 als die sie sich in die Tradition jener

»Experimentalsysteme« reiht, die der Biologe und Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg

Rheinberger charakterisiert als »Strukturen, die wir uns ausgedacht haben, um Nicht-

Ausdenkbares einzufangen«, in anderen Worten, als »Vorkehrungen zur Erzeugung von

unvorwegnehmbaren Ereignissen« und »Orte der Emergenz«.25 Die Konfrontation der Werke

Netz der bereits gefundenen Beziehungen vervollständigen. | Es ist an der Zeit, diagonalen Wissenschaften eine Chance zu geben.« 22 Caillois zit.n. Odile Felgine: »Roger Caillois. Vie et Œuvre, 1913–1978«, in: Roger Caillois: Œuvres, hg. v. Dominique Rabourdin, Paris: Éditions Gallimard 2008, S. 31–80, S. 74 (Übers. d. Verf.). Zu Caillois’ »Logik des Imaginären«, vgl. im Besonderen Roger Caillois: Approches de l'imaginaire, Paris: Éditions Gallimard 1974. Zum Begriff des Imaginären und dessen Problematik, vgl. auch Gilles Deleuze: »Zweifel am Imaginären« (1986), in: ders.: Unterhandlungen 1972–1990 (1990), aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 92–100. Deleuze zufolge bezieht sich der Begriff des Imaginären im Wesentlichen auf die »Nicht-Unterscheidbarkeit von Realem und Irrealem«, auf den »Austausch zwischen einem aktuellen und einem virtuellen Bild«, ebd., S. 97. 23 Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, aus dem Engl. v. Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, S. 211–212. 24 Ebd., S. 257–258. 25 Hans-Jörg Rheinberger: »Man weiss nicht genau, was man nicht weiss. Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen«, in: Neue Zürcher Zeitung (5. Mai 2007), http://www.nzz.ch/articleELG88-1.354487 (aufgerufen am 28.12.2015). Vgl. u.a. auch ders.: Iterationen, Berlin: Merve 2005, sowie ders.: »Dimensionen der Darstellung in der Praxis des wissenschaftlichen Experimentierens«, in: Michael Hampe, Maria-Sibylla Lotter (Hg.): »Die

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Bergsons und Duchamps erfolgt also in einer Art Laborsituation, in deren Rahmen die

beobachteten Gegenstände nicht nur unabhängig voneinander befragt und aufeinander

bezogen, sondern gleichzeitig auch in ein neues Licht gerückt und kurzgeschlossen werden,

um nicht nur Erwartungen und Potentiale widerzuspiegeln oder zu multiplizieren, sondern

auch Ungereimtheiten und Kontingenzspielräumen Rechnung zu tragen und aus diesen neue

Schlüsse ziehen.

Aus dieser experimentellen Perspektive sollen Bergson und Duchamp als Wegbereiter jenes

historisch neuartigen Bildbegriffs gewürdigt werden, der seit den 1960er Jahren gleichsam

paradigmatisch geworden ist, insofern postmoderne Theorien den Anspruch erheben, nicht

nur (wie die historischen Avantgarden, selbstherrlich) im Trüben der Zukunft zu fischen,

sondern auch (wie Bergson und Duchamp, reflexiv, artikuliert und raffiniert) in ihrer eigenen

Vergangenheit und Gegenwart ungeahnte Horizonte offenzulegen. So gilt es im Rahmen der

vorliegenden Gegenüberstellung nicht nur historische Verbindungslinien zu rekonstruieren,

sondern auch unerwartete, diagonale Zusammenhänge zu erschließen, die bislang von der

Forschung außer acht gelassen wurden. Entgegen den Implikationen eines essentialistischen

Werkbegriffs sollen die analysierten Werke hinsichtlich ihrer produktiven Kapazitäten und

ihrer symptomatischen Flüchtigkeit zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Grundidee

der Arbeit versteht sich damit in Analogie zur Grundidee des Großen Glases, entschied sich

Duchamp doch bewusst für ein transparentes Trägermedium, um die Ebene des statischen

Bildes zugunsten eines variablen »Horizonts« zu transzendieren. Im Gegensatz zu den

plakativen Ansprüchen der Puteaux-Kubisten zielte Duchamp namentlich darauf ab, das

Prinzip der ›multiplen Perspektive‹ nicht nur auf formaler Ebene einzusetzen, sondern auch

auf die Verfahren der Produktion und den Kontext der Rezeption zu übertragen. Konkret

ermöglichte ihm Glas als Material, die drei Ebenen von Vergangenheit, Gegenwart und

Zukunft in sein Bild zu integrieren, indem es ihm nicht nur den Rückgriff auf die traditionelle

Methode der Perspektivkonstruktion erlaubte, sondern gleichzeitig auch den Blick auf den

aktuellen Kontext und den Horizont des Unvorhersehbaren freigab. In Anbetracht seines

relationalen Werkbegriffs spielten der Prozess der Produktion und der Kontext der Rezeption

aber auch jenseits des Großen Glases eine zentrale Rolle für Duchamp. So trat er nicht nur

mit seiner Maxime »Der Betrachter macht das Bild«26 für einen Kunstbegriff ein, der ein

Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben«. Über Formen der Erfahrung in den Wissenschaften, Berlin: Duncker & Humblot 2000, S. 235–246. 26 Zit.n. Marcel Duchamp: Duchamp du signe. Écrits (1975), hg. v. Michel Sanouillet, erweiterte Neuausgabe in Zusammenarbeit mit Elmer Peterson, Paris: Flammarion 2005, S. 247, Originalwortlaut: »Ce sont les REGARDEURS qui font les tableaux.«

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Moment des Unerwarteten in sich birgt, sondern entwickelte auch sein Konzept des Ready-

made im Sinne eines »Rendezvous mit dem Schicksal«,27 um seine künstlerischen Intentionen

zu relativieren und sich vom Erscheinungsbild seiner fertig vorgefundenen Skulpturen selbst

in seiner Funktion als Entscheidungsträger überraschen zu lassen. In Anlehnung an jene

Kritik des Stereotypen (tout fait), die Bergson in Das Lachen entwickelt,28 zielte Duchamp

mit dem Konzept des Ready-made namentlich darauf ab, beliebige Gegenstände durch den

Akt der Wahl aus ihrem gewohnten Kontext zu reißen und der Macht des Vorgefertigten mit

Werken wie Stolperfalle (1917) das befreiende und buchstäblich erschütternde Potential des

Humors entgegenzusetzen.29

Wenn Duchamp 1966 im Interview mit Pierre Cabanne erklärt, er habe sich »nie dazu bringen

können, etablierte Formeln anzunehmen« oder sich »beeinflussen zu lassen«,30 so kann man

daraus schließen, dass er Bergson in gewisser Hinsicht beim Wort nahm, indem er sich dem

Einfluss der historischen Avantgarden entzog und sich sowohl in methodischer wie auch in

inhaltlicher Hinsicht über deren Ansprüche hinwegsetzte. Wie im Rahmen der vorliegenden

Arbeit gezeigt werden soll, entwickelte Duchamp also gerade dadurch einen adäquaten

Umgang mit Bergsons Philosophie, dass er dem Bergsonismus den Rücken kehrte und sich

einem ganzen Spektrum unterschiedlicher Inspirationsquellen öffnete, angefangen von der

zeitgenössischen Literatur und Populärkultur über die neuesten Errungenschaften der

Naturwissenschaft und Technik bis hin zum reichen Schatz der älteren Kunstgeschichte und

Kunsttheorie. Damit ist Duchamps experimenteller Zugang zur Kunst gleichsam als Prototyp

jener paradoxalen Methode der »Intuition« zu betrachten, die Bergson in seiner »Einführung

in die Metaphysik« auf die Fähigkeit zurückführt, die »praktischen Denkgewohnheiten«

hinter sich zu lassen, sich durch »Sympathie« in das »Innere eines Gegenstandes« zu

versetzen und dem diskriminierenden Bewusstsein damit die Möglichkeit zu eröffnen, »sich

selber ohne Schleier zu erscheinen«: »Kein Bild kann die unmittelbare Intuition der Dauer

ersetzen«, schreibt Bergson, »aber viele verschiedenartige Bilder, die den verschiedensten

27 Duchamp zit.n. Georges Charbonnier: Entretiens avec Marcel Duchamp, Interviews vom 6. Dezember 1960 bis zum 2. Januar 1961, Marseille: André Dimanche 1994, S. 68. 28 Henri Bergson: Le Rire. Essai sur la signification du comique, Paris: Alcan 1900; dt.: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, aus dem Franz. v. Roswitha Plancherel-Walter, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2011. 29 Zu Duchamps Bezugnahme auf Bergsons Konzept des Stereotypen, vgl. unten, Kap. 2.3.2. 30 Zit.n. Pierre Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, aus dem Franz. v. Ursula Dreysse, Köln: Galerie Der Spiegel 1972, S. 28.

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Bereichen der Dinge entlehnt werden, können durch die Konvergenz ihrer Wirkung das

Bewußtsein auf den Punkt hinlenken, wo eine gewisse Intuition möglich ist.«31

Zusammenfassend kann man sagen, dass Bergson und Duchamp, der illustre Apologet der

Intuition und der solitäre Wegbereiter der Konzeptkunst, in ihrer Kritik des Stereotypen und

Vorgefertigten einerseits völlig gegenläufige Strategien verfolgen, während ihre Werke, wie

ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte deutlich macht, andererseits doch in ein und dieselbe

Stoßrichtung zielen. Dabei ist bezeichnend, dass nicht nur Duchamp dem Bergsonismus der

historischen Avantgarden skeptisch gegenüberstand, sondern auch Bergson selbst, der die

Meinung vertrat, in den Künsten würde er dem »Genie« den Vorzug geben, welches unter

keinen Umständen aus irgendwelchen Theorien oder Philosophien abzuleiten sei.32 Ebenso

bezeichnend ist, dass Duchamp in seinen Siebzigern noch eingestehen sollte, er sei jedenfalls

von Bergson beeinflusst, insofern er nicht an einen »Fortschritt« glaube, sondern allein das

»Primat der Veränderung im Leben« anerkenne.33

Dieses »Primat der Veränderung« soll auch der vorliegenden Arbeit als Leitbild dienen, steht

sie doch im Zeichen einer Kunst und einer Philosophie, die sich auf viele verschiedenartige

Bilder aus unterschiedlichen Disziplinen einlässt, um durch die »Konvergenz ihrer Wirkung«

einen relationalen Bildbegriff zu erschließen und damit zu einer Synthese zu gelangen, die der

Analyse entsprechend der transversalen »Logik des Imaginären« gewissermaßen von Anfang

an zugrunde lag. Als ich Bekanntschaft mit Duchamps Werk machte, war ich weit davon

entfernt zu wissen, dass Bergsons Philosophie, mit der ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits

eingehend beschäftigt hatte, in dessen Kontext eine wesentliche Rolle spielen mochte. Ich war

mir keineswegs darüber im Klaren, welcher Art die Querverbindungen wären, die es zwischen

einem ›postmodernen Duchamp‹ und einem ›postmodernen Bergson‹ offenzulegen gälte. Und

doch ahnte ich, dass es im Spannungsfeld der Werke und Wirkungsgeschichten Bergsons und

Duchamps mehr als nur vereinzelte, kontingente Berührungspunkte und Überscheidungen,

Differenzen und Diskrepanzen geben würde. Wenn diese ursprüngliche »Intuition« im Zuge

meiner Forschungen nach und nach an Boden gewonnen hat, so entspricht diese Tatsache

nicht nur ihrer eigentlichen Motivation, sondern auch ihrem zentralen Argument, mit dem ich

zum Schluss komme: Intuition und Intellekt, Indifferenz und Präzision, Kontemplation und

31 Henri Bergson: »Einführung in die Metaphysik« (1903), in: ders.: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, aus dem Franz. v. Leonore Kottje, mit einem Nachw. v. Konstantinos P. Romanòs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1993, S. 180–225, S. 183/187–188. 32 Vgl. Maurice Verne: »Un jour de pluie chez M. Bergson«, in: L’Intransigeant (26. November 1911), S. 1 sowie unten, Kap. 1.2.2. 33 Duchamp 1958 im Interview mit Laurence S. Gold, zit.n. Marcel Duchamp: Interviews und Statements, hg. v. Ulrike Gauss, gesammelt, übers. u. annotiert v. Serge Stauffer, Stuttgart: Hatje Cantz 1992, S. 67.

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Aktion sind zwei Seiten einer Medaille, deren Wert erst in dem Moment zum Tragen kommt,

da sie von einer Hand zur anderen wandert und wechselweise die eine oder die andere Seite

Oberhand gewinnt. Was den schöpferischen Geist und die Freiheit zur Wahl anbelangt, so ist

es schließlich einerlei, ob man nun das Vorgefertigte in den Blick nimmt, das philosophische

oder künstlerische Werk, die Idee, die Garderobe, oder das, was als Intuition noch ungreifbar,

da gerade erst in Entstehung begriffen – und unter Umständen eben auch eine Stolperfalle ist.

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1. HISTORISCHER HINTERGRUND: DUCHAMP NACH BERGSON

So hat die Kunst, ob Malerei, Bildhauerei, Dichtung oder Musik, im Grunde keinen anderen Zweck, als die

praktisch-nützlichen Symbole, die konventionellen Verallgemeinerungen, kurz, alles, was die Wirklichkeit

verschleiert, aus dem Weg zu räumen und uns mit der nackten Wirklichkeit zu konfrontieren.1

Nur wenige Persönlichkeiten haben die Philosophie und Kunst des 20. und beginnenden 21.

Jahrhunderts so unmittelbar und nachhaltig geprägt wie Henri Bergson und Marcel Duchamp.

Nur wenige haben es verstanden, ihre Zeitgenossen nicht nur in den Bann zu ziehen und zu

veritablen Begeisterungsstürmen hinzureißen, sondern auch in gleichem Maße zu befremden

oder vor den Kopf zu stoßen. Nur wenige sind so konsequent für eine Anerkennung des

Gegenwärtigen eingetreten, ohne die Errungenschaften der Vergangenheit preisgeben oder

das Ungewisse der Zukunft vorwegnehmen zu wollen. Und nur wenigen ist es gelungen,

radikal neuartige Ideen auf so raffinierte Weise mit traditionellen Konzepten und

Wertvorstellungen kurzzuschließen, dass ihre Werke die Aufmerksamkeit einer breiten

Öffentlichkeit auf sich ziehen konnten, ohne ihrer Originalität und Sprengkraft verlustig zu

gehen oder sich in bloßen Allgemeinplätzen zu verlieren. Wenn Bergson und Duchamp die

Philosophie und Kunst im beginnenden 20. Jahrhundert revolutioniert haben, so scheint ihr

Vermächtnis heute, ein Jahrhundert später, aktuell wie eh und je. Daher stellt sich die Frage,

ob die beiden, der illustre Intuitionist und ›Pop-Philosoph‹2 (Abb. 1) und der eigenwillige

Konzeptkünstler und ›An-Artist‹3 (Abb. 2), nicht doch mehr miteinander am Hut haben, als

es bisherige Forschungen vermuten lassen würden.

1 Bergson: Das Lachen, S. 111–112. 2 Der Terminus »Pop-Philosophie« geht (wohlgemerkt nicht im Kontext mit Bergson, auf dessen rhetorische Fähigkeiten und ungeheure Popularität hier angespielt wird) auf Gilles Deleuze und Félix Guattari zurück: »Was man gemeinhin Pop nennt – Popmusik, Popphilosophie, Popliteratur: Wörterflucht. Vielsprachigkeit in der eigenen Sprache verwenden, von der eigenen Sprache kleinen, minderen oder intensiven Gebrauch machen, das Unterdrückte der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegenzustellen, die Orte der Nichtkultur, der sprachlichen Unterentwicklung finden, die Regionen der sprachlichen Dritten Welt, durch die eine Sprache entkommt, eine Verkettung in sich schließt.« Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, aus dem Franz. v. Burkhart Kroeber, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 38–39, zit.n. Tom Holert: »›Dispell them‹ – Anti-Pop und Pop-Philosophie: Ist eine andere Politik des Populären möglich?«, in: Peter Gente, Peter Weibel (Hg.): Deleuze und die Künste, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 168–189, S. 168. 3 In einem unveröffentlichten Interview mit George Heard Hamilton und Richard Hamilton, das 1959 im BBC Third Programme ausgestrahlt wurde, bemerkte Duchamp: »Ich bin gegen das Wort anti, weil es ein bißchen ähnlich ist wie Atheist, verglichen mit Gläubigem. Und ein Atheist hat genausoviel von einem religiösen Menschen wie der Gläubige, und ein Anti-Künstler hat genausoviel von einem Künstler wie der andere Künstler. A-Künstler (an-artist) wäre viel besser, wenn ich es ändern könnte, statt Anti-Künstler. A-Künstler, das heißt, kein Künstler überhaupt. Das wäre meine Auffassung, und ich habe nichts dagegen, ein A-Künstler [zu sein].« Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 83. Wie Serge Stauffer hervorhebt, schwingt im englischen

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Bergson erscheint im Rückblick als Denker auf der Höhe der Zeit, der nicht nur die

abendländische Philosophie von Grund auf erneuert, sondern auch künstlerische und

politische Bewegungen maßgeblich beeinflusst und die Philosophie damit zu einer

Angelegenheit des allgemeinen öffentlichen Interesses gemacht hat.4 Das außerordentliche

Ansehen, das Bergson unter Intellektuellen bereits in jungen Jahren genoss und das sich –

seiner konservativen Erscheinung zum Trotz – im beginnenden 20. Jahrhundert im

internationalen Modephänomen des Bergsonismus niederschlagen sollte, spiegelt sich in

bewundernden Schilderungen seiner Schüler und Anhänger wider, unter denen sich neben

einem ausgewählten Kreis von Akademikern und Intellektuellen vor allem auch viele

Künstler und Literaten befanden.5 Eine der eindrücklichsten Beschreibungen des illustren

Professors gibt Tancrède de Visan, der sich als junger Literat bereits zu Bergsons ersten,

legendär gewordenen Vorlesungen am Collège de France eingefunden hatte und der sich 1911

wie folgt erinnern sollte:

Bergson kam zügig herein – man könnte sagen hastig – wie ein Dompteur, ein sehr einfacher Dompteur. Er war sehr klein, aber hinter diesem billigen, schmuddeligen Holzkatheder schien er sehr groß zu sein, mit seinem gespannten Hals und seinem nach vorne geworfenen Vogelkopf, gleichsam magnetisch angezogen von unseren Sympathien. Auf unseren unbequemen Bänken, Bänken eines Kinderchors, uns unserer Knie als Schreibpulte bedienend, hörten wir mit religiöser Andacht diese kleine, verkniffene Stimme, die bis auf den Grund unserer unruhigen Leben drang. Ach! Mit welchem Durst wir sie aufsogen, diese vor Poesie triefende Rede! Denn wenn die meisten Philosophen gut schreiben, so sprechen viele schlecht; und wir, die wir diese

Terminus an-artist auch Duchamps Affinität zum Prinzip des Anarchismus mit, vgl. ebd., S. 84, Anm. 6. Auf diese Interpretationsmöglichkeit verweist auch Thomas Girst in seinem Essay »(Ab)Using Marcel Duchamp: The Concept of the Readymade in Post-War and Contemporary American Art« (2003), http://www.toutfait.com/issues/volume2/issue_5/articles/girst2/girst1.html#_ednref2 (aufgerufen am 28.12.2015). 4 Vgl. François Azouvi: La gloire de Bergson. Essai sur le magistère philosophique, Paris: Éditions Gallimard 2007, S. 327–328: »Il vaut la peine de le redire: l’Essai sur les données immédiates de la conscience, Matière et mémoire, Le Rire, l’»Introduction à la métaphysique« et L’Évolution créatrice ont fait la gloire de Bergson sans que ce dernier ait eu besoin d’avoir une vie sexuelle agitée, d’intervenir dans les débats les plus brûlants, d’écrire des pièces de théâtre ni de paraître dans tous les journaux. Il lui a en quelque sorte suffi d’écrire des livres de philosophie. Cela ne constitue pas un jugement de valeur, quoi qu’on puisse croire, c’est un simple constat. | Autour de l’auteur de L’Évolution créatrice, il s’est en fait produit quelque chose de vraiment neuf en France: l’instance philosophique est devenue la chose de tous.« 5 Der Schriftsteller, Sozialist und spätere Katholizist Charles Pierre Péguy beschreibt das äußerst breit gefächerte Publikum, das auf Bergsons Vorlesungen anzutreffen war, im Vorwort zu seinen Prosawerken: »I saw elderly men, women, young girls, young men, many young men, Frenchmen, Russians, foreigners, mathematicians, naturalists, I saw there students in letters, students in science, medical students, I saw there engineers, economists, lawyers, laymen and priests, … I saw there poets, artists, I saw there M. Sorel, I saw there Charles Guieysse and M. Maurice Kahn, I saw there Emile Boivin, who takes notes for someone in the provinces; they descend from the Cahiers, from Pages libres … they come from the Sorbonne and I think the École Normale; I saw there well known bourgeois types, socialists, anarchists.« Charles Péguy: Œuvres en prose, 1898–1908, Paris: Éditions Gallimard 1959, S. 483, zit.n. Mark Antliff: Inventing Bergson: Cultural Politics and the Parisian Avant-Garde, Princeton: Princeton University Press 1993, S. 4.

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Theorien nur durchsegelten, um in den Hafen einer erhabenen und würdevollen Literatur einzulaufen, einer Literatur der Ideen, mit einem reichhaltigen methodischen Rüstzeug im Gepäck, wir konnten nicht gleichgültig bleiben gegenüber den Äußerungen eines Denkens, das nach Poesie strebte, um der Wahrheit näher zu kommen. | Die Augen auf seine inneren Bilder gerichtet, sprach Bergson ohne Notizen, ohne irgendwelche Unterlagen, bald ein winziges Taschentuch knetend, bald seine Hände vereinigend und vorwärts erhebend mit der Geste eines Badenden, der in Gehirne eintauchen will. In bewundernswerter Weise verknüpft, strömten die Worte hervor, indem sie zwischen ihren eleganten und subtilen Metaphern Wirbelstürme vielsagender Gedanken, Flüsse von Suggestionen auftauchen ließen.6

Da Bergsons Philosophie im beginnenden 20. Jahrhundert auch politisch instrumentalisiert

wurde (namentlich sowohl von der extremen Linken im Namen des Antiparlamentarismus als

auch von der extremen Rechten im Namen des Nationalismus), geriet sie im Vorfeld des

Ersten Weltkriegs aber auch zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik.7 So wurde Bergson eines

fatalen Intuitionismus bezichtigt, infolgedessen er – so ungerechtfertigt die Vorwürfe in

Bezug auf seine eigene politische Haltung auch sein mochten8 – mit Ausbruch des Ersten

Weltkriegs jäh von der öffentlichen Bildfläche verschwand. Mit einer breiten Welle des Anti-

Bergsonismus wurde Bergsons Philosophie daraufhin über Jahrzehnte hinweg weitgehend aus

dem philosophischen Diskurs verdrängt, um erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts – zunächst

durch Autoren wie Jean Wahl, Jean Hyppolite und Maurice Merleau-Ponty und schließlich

vor allem durch die Pionierarbeit von Gilles Deleuze9 – nach und nach rehabilitiert zu werden

und sich im Kontext postmoderner Theorien und Praktiken in Begriffen wie Komplexität,

6 Tancrède de Visan: L’Attitude du lyrisme contemporain, Paris: Mercure de France 1911, S. 426–427, zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 99–100 (Übers. d. Verf.). 7 Zum außerordentlich ambivalenten Status von Bergsons Philosophie, vgl. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 173–234/293–323. Im Vorwort fasst Azouvi die Kontroversen um den Bergsonismus zusammen: »Les contemporains de Bergson se sont jetés à corps perdu sur cette philosophie qui valorisait l’intuition et critiquait l’intelligence. Elle leur a ouvert des portes, elle a rendu leur monde moins opaque, elle les a aidés à trouver qu’il avait un sens, c’est-à-dire qu’il allait quelque part. Non que tous aient applaudi à ce destin et se soient empressés d’y collaborer; beaucoup au contraire s’efforcèrent comme ils le purent de freiner cette avancée et même d’inverser complètement la trajectoire du monde moderne. Mais les uns et les autres, les modernes comme les antimodernes, ont lu leur présent avec des lunettes bergsoniennes. Il y a eu un moment en France où le bergsonisme a coloré toute la culture. [...] la France bergsonienne recrute ses plus gros bataillons dans la droite nationaliste, conservatrice, volontiers adversaire du système parlementaire, parfois même franchement antirépublicaine; mais également – du moins jusqu’en 1914 – dans une gauche antiparlementaire elle aussi, révolutionnaire ou anarchisante.« Ebd., S. 16–17. 8 Vgl. ebd., S. 237–247, sowie Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München: Verlag C. H. Beck 2005, S. 261–262: »Der neue Irrationalismus war vielfach mit einer Ablehnung der 3. Republik verbunden. Nur Bergson blieb auf dem Boden dieser demokratischen Republik und verabscheute konsequent den Rassismus der Rechtsextremen. Das hat freilich nicht verhindert, dass der Bergsonismus von eben diesen Extremisten instrumentalisiert worden ist.« 9 Zu Gilles Deleuzes Rückgriff auf Bergson, vgl. u.a. Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, aus dem Franz. u. hg. v. Martin Weinmann, Hamburg: Junius 1997 (Originaltitel: Le Bergsonisme, Paris: Presses Universitaires de France 1966); ders.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1 (1983), aus dem Franz. v. Ulrich Christians u. Ulrike Bokelmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997; ders.: Das Zeit-Bild. Kino 2 (1985), aus dem Franz. v. Klaus Englert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.

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Prozessualität, Kontingenz, Singularität, Mannigfaltigkeit, Heterogenität und Transformismus

niederzuschlagen.10

Duchamp hingegen genoss in jungen Jahren alles andere als breite Anerkennung. Nachdem er

sich 1912 von den Programmen der historischen Avantgarden losgesagt und sein berühmt-

berüchtigtes Gemälde Nu descendant un escalier n° 2 (Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2),

das er im Januar 1912 vollendet hatte, ihm 1913 – im Zuge der Präsentation auf der New

Yorker Armory Show – zu amerikaweiter Berühmtheit verholfen hatte,11 entwickelte sich

Duchamp bald zum Enfant terrible der zeitgenössischen Kunstwelt und war über Jahrzehnte

hinweg nur dem relativ engen Kreis seiner Freunde, Künstlerkollegen und Sammler ein

Begriff. In Gesellschaft der Kunstfigur Rrose Sélavy, die er 1919 ins Leben rief und die er

fortan als sein weibliches Alter Ego in Szene setzte, hatte Duchamp, der sich bald als »An-

Artist« oder »A-Künstler«12 und bald als »Atmer«13 gab, bis ins hohe Alter das Ansehen eines

überaus charismatischen, geistreichen und mit exquisitem Humor begabten, aber doch etwas

exzentrischen und eigenbrötlerischen, da aus Überzeugung indifferenten Außenseiters. Die

Schriftstellerin und Objektkünstlerin Beatrice Wood, eine frühe Geliebte und Weggefährtin

Duchamps, erinnert sich in einem 1987 publizierten Essay mit einer Metapher an Duchamp:

There is a wonderful Indian saying that the eyes cannot see until they are incapable of tears. Marcel’s saying that »nothing had importance« somehow reflects the same idea. It was as if he had gone through all trials of the flesh and left that behind. With his grave perception, did he realize that in the long space of time, nothing really mattered? He had the objectivity of a guru. His mind touched stillness, beholding the unity of life. Yet with this understanding went a certain deadness. Many have observed it. The upper part of his face was alive, the lower part lifeless. […] Marcel was then living in a small studio on Fourteenth Street. I went to see him there, and found the same unmade bed, chocolates on the window sill, and more readymades. Again I told him that I could not understand the readymades, but I do not think he really listened. To him, it made no difference whether people responded to his work or not. Chess was his mistress, perhaps his escape from fame, from worldly stupidity.14

10 Vgl. unten, Kap. 3.2. und Kap. 3.3. 11 Zur Erfolgsgeschichte von Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 (1912), vgl. u.a. Arturo Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, New York: Delano Greenidge Editions 2000, S. 562–563, sowie Tomkins: Marcel Duchamp, S. 140ff. 12 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 83. 13 Im Interview mit Newsweek bemerkte Duchamp ca. 1959/1960: »Ich glaube, man könnte sagen, ich verbringe meine Zeit mit Atmen [...]. Ich bin ein respirateur – ein Atmer. Ich genieße das ungeheuerlich.« Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 85. 14 Beatrice Wood: »Marcel«, in: Rudolf E. Kuenzli, Francis M. Naumann (Hg.): Marcel Duchamp. Artist of the Century, Cambridge, Mass.: MIT Press 1991, S. 12–17, S. 16–17.

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Obschon dies aus heutiger Perspektive leicht in Vergessenheit gerät, sollte Duchamps

durchschlagender Erfolg erst einsetzen, als er selbst bereits in seinen Siebzigern war und das

Gros seiner Werke vollendet (das heißt, im Hinblick auf die zentrale Instanz des Betrachters,

vielmehr noch »unvollendet vollendet«) hatte. Erst seit den 1960er Jahren wurde Duchamp

nach und nach zu jenem »Jahrhundertkünstler« hochstilisiert,15 der seiner Zeit stets einen

Schritt voraus war, um seine Nachwelt schließlich um einen ganzen Schatz an neuen

künstlerischen Medien, Techniken und Strategien zu bereichern – man denke nur an

Assemblagen und Objektkunst, Op Art und Rauminstallationen, Aktions- und Prozesskunst,

Fotografie und Film, Gender Performance und Body Art, Appropriation Art, das Konzept des

Künstlerkurators und die Kunst der Selbstvermarktung, die in der einen oder anderen Form

alle auf Duchamps eklektizistisches Methodenvokabular zurückzuführen sind.16 Jenen Thron

am Zenit des Kunsthimmels, den Duchamp seither besetzt, sollte er damit buchstäblich erst in

den Augen jener von ihm selbst vielfach herbeizitierten Nachwelt einnehmen, durch deren

Rückgriff er für Generationen von Künstler/innen und Theoretiker/innen zur unumgänglichen

Referenz werden sollte.

Wenn die Werke Bergsons und Duchamps im Folgenden gegenübergestellt und miteinander

kurzgeschlossen werden sollen, so ist dabei besonderes Augenmerk auf die Tatsache zu legen,

dass sie einerseits in einem sich überschneidenden raumzeitlichen Kontext wurzeln, indem sie

sich andererseits aber nicht nur zeitversetzt, sondern auch auf höchst unterschiedliche Weise

zu diesem verhalten. Duchamp bezieht sich auf Bergson aus der Position desjenigen, der eine

Generation jünger ist und dem der illustre Philosoph ein Begriff unter vielen ist, wohingegen

Bergson, der der zeitgenössischen Kunst prinzipiell nicht viel abgewinnen konnte und der

folglich auch keinen Anlass sah, sich näher mit ihr zu beschäftigen,17 von Duchamp aller

Wahrscheinlichkeit keinerlei Notiz genommen hat. Das Referenzsystem ›Duchamp nach

Bergson‹ ist damit nicht nur ein asymmetrisches, sondern auch ein ambivalentes. Schließlich

interessierte sich Duchamp neben der zeitgenössischen Philosophie, die von Bergson nun

15 Vgl. den Band von Kuenzli/Naumann: Marcel Duchamp. Artist of the Century (1990); Erstveröffentlichung in: Dada/Surrealism 16, Nr. 1 (1987). 16 Vgl. Herbert Molderings: »Relativismus und historischer Sinn. Duchamp und die Postmoderne«, in: ders.: Die nackte Wahrheit. Zum Spätwerk von Marcel Duchamp, München: Carl Hanser Verlag 2012, S. 7–25, S. 7: »In den aktuellen Handbüchern zur Kunst der Moderne figuriert Duchamp als Erfinder fast sämtlicher, die Malerei transzendierenden [sic] Innovationen in der Kunst des vergangenen Jahrhunderts: der Assemblage und der Objektkunst, der Kinetik und der Installation, der Aktions- und der Prozesskunst, der konzeptuellen Fotografie, der Gender Performance, der Body Art und der Appropriation Art. War sein Einfluss zu Zeiten von Dada und Surrealismus bereits groß und sein Werk nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wichtigsten Bezugspunkte so konträrer Bewegungen wie der Pop und der Minimal, der Op und der Concept Art, so machte ihn die Theorie der Postmoderne in den 1970er Jahren endgültig zum wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts.« 17 Vgl. unten, Kap. 1.2.2.

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einmal nicht zu trennen war, auch für viele andere Dinge, denen er zum Teil weit weniger

kritisch gegenüberstand und die er mitunter auch direkt für seine künstlerische Entwicklung

verantwortlich machte.18 Während Bergsons Philosophie von den historischen Avantgarden

euphorisch aufgegriffen und im Sinne eines dogmatischen Kunstbegriffs instrumentalisiert

wurde, stand Duchamp dem Bergsonismus also von Anfang an kritisch gegenüber und war

seit 1912 auch aktiv darum bemüht, unterschiedlichste Inspirationsquellen in sein Schaffen zu

integrieren und diese im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Bergsonismus in

Richtung eines neuen Kunstbegriffs weiterzudenken. Indem Duchamp begann, sich einerseits

mit seinen eigenen Bedürfnissen als Künstler (und vor allem mit seiner Unabhängigkeit vom

Kunstmarkt), andererseits aber auch mit den historischen Voraussetzungen und dem späteren

Rezeptionskontext seiner Werke auseinanderzusetzen,19 verfolgte er in seiner Rezeption von

Bergsons Philosophie nicht nur eine weit reflektiertere Strategie als die historischen

Avantgarden, sondern brachte damit – im Gegensatz zu den ›Ismen‹ der historischen

Avantgarden – auch ein Oeuvre auf den Weg, das, wie im Detail zu zeigen sein wird, aufs

Engste mit Bergsons Philosophie des Schöpferischen korrespondiert. Damit sollte sich gerade

die Distanz, die Duchamps Zugang kennzeichnet, als produktiv erweisen: Denn wäre er

Bergsons Philosophie ohne Vorbehalte und Ambivalenzen begegnet, hätte er ihren Nerv, den

zentralen Freiheitsgedanken, nie in einer Art und Weise treffen können, angesichts derer

andere, dogmatischere Interpretationen unweigerlich auf der Strecke bleiben mussten.

1.1. Bergson als »Jongleur der Konzepte«

Henri-Louis Bergson wurde am 18. Oktober 1859 in Paris als zweites von sieben Kindern in

eine jüdische Familie hineingeboren.20 Sein Vater Michaël Bergson war ein Pianist und

18 So führt Duchamp seine künstlerische Emanzipation unter anderem auf den Einfluss Raymond Roussels zurück, dessen experimentelle literarische Methode bei Duchamp unvergleichlichen Eindruck hinterließ, vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 110ff. Zu Duchamps Interesse an der zeitgenössischen Wissenschaft und Technologie, vgl. Henderson: Duchamp in Context. 19 »The Italian Futurists«, konstatiert Clement Greenberg 1971 in einem Aufsatz zur Genealogie des Konzepts des Avantgardismus, »were the first to think in terms of avant-gardeness, and to envisage newness in art as an end in itself; and they were the first group to adopt a program, posture, attitude, stance that was consciously ›avant-garde.‹ […] The Futurists discovered avant-gardeness, but it was left to Duchamp to create what I call avant-gardism. […] With avant-gardism, the shocking, scandalizing, startling, the mystifying and confounding, became embraced as ends in themselves and no longer regretted as initial side-effects of artistic newness that would wear off with familiarity. Now these side-effects were to be built in.« Clement Greenberg: »Counter-Avant-Garde« (1971), in: Joseph Masheck (Hg.): Marcel Duchamp in Perspective, Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice-Hall 1975, S. 122–133, S. 123–124. 20 Einen tabellarischen Überblick über Bergsons Leben und Werk, auf den im Folgenden auch ohne weitere Erwähnung Bezug genommen wird, gibt Frédéric Worms in seiner »Chronologie«, in: magazine littéraire, Nr.

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Komponist polnischer Herkunft, seine Mutter Katherine Bergson (geborene Levison) stammte

aus einer englischen Ärzte- und Gelehrtenfamilie mit irischen Wurzeln und sollte ihren Sohn

zeitlebens nur in ihrer Muttersprache adressieren. Seine frühe Kindheit verbrachte Bergson

vorwiegend in London und Genf (wo sein Vater seit 1863 eine Stelle am Konservatorium

innehatte), um 1866 gemeinsam mit seiner Familie nach Paris zu übersiedeln. Nachdem seine

Familie 1870 nach London zurückkehrte, blieb der Elfjährige, der fortan ein jüdisches Internat

besuchen sollte, allein in Frankreich zurück, um mit seiner Volljährigkeit schließlich auch die

französische Staatsbürgerschaft anzunehmen und den Rest seines Lebens in Paris und

Umgebung zu verbringen.21

1.1.1. Die Anfänge einer steilen Karriere

Nach einer glänzenden Schulkarriere, im Zuge derer Bergson nicht nur seine ausgesprochene

Sprachbegabung, sondern vor allem auch sein mathematisches Talent unter Beweis stellte,22

wurde er 1878 an der Pariser École normale supérieure aufgenommen, wo Jean Jaurès, Émile

Durkheim und Paul Desjardins zu seinen Mitschülern zählten (Abb. 3) und er durch die Kurse

von Émile Boutroux, Léon Ollé-Laprune, Jules Lachelier und Félix Ravaisson mit Kant und

der französischen Tradition des Spiritualismus Bekanntschaft machte. Diesem Einfluss hatte

er auch seine Auseinandersetzung mit dem englischen Philosophen und Soziologen Herbert

Spencer zu verdanken, dessen Evolutionismus für ihn zum Ausgangspunkt einer radikalen

Kritik des traditionellen Zeitbegriffs werden sollte.23 Letztere bildet die zentrale These von

Bergsons Dissertation, die er 1889 unter dem Titel Essai sur les données immédiates de la

conscience (Zeit und Freiheit, wörtlich: Abhandlung über die unmittelbaren Gegebenheiten

des Bewusstseins) veröffentlichte24 und in der er unter dem Schlagwort der »Dauer« (durée)

386: Bergson, philosophe de notre temps (April 2000), S. 18–23. 21 Vgl. Martin Weinmann: »Einleitung«, in: Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, S. 7–21, S. 9; Philippe Soulez, Frédéric Worms: Bergson. Biographie, Paris: Presses Universitaires de France 2002, S. 29ff. 22 Vgl. Soulez/Worms: Bergson, S. 29/33ff. 23 Herbert Spencer (1820–1903) wandte Charles Darwins Evolutionstheorie (On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle of Life, London: Murray 1859) um 1860 erstmals auf die Soziologie an und begründete damit das Paradigma des Evolutionismus, auf das u.a. auch die Theorie des Sozialdarwinismus zurückgeht. Zwischen 1855 und 1896 veröffentlichte er seine Hauptwerke in einer enzyklopädischen Ausgabe unter dem Titel A System of Synthetic Philosophy (First Principles, 1962; The Principles of Psychology, 1855–1872; The Principles of Biology, 1864–1867; The Principles of Sociology, 1874–1896; The Principles of Ethics, 1892–1893). Zu Bergsons Bezugnahme auf Spencer, vgl. u.a. Mirjana Vrhunc: Bild und Wirklichkeit. Zur Philosophie Henri Bergsons, München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 26. 24 Henri Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris: Alcan 1889; dt.: Zeit und Freiheit, aus dem Franz. v. Paul Fohr, mit einem Nachw. v. Konstantinos P. Romanòs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1994. Ursprünglich setzte sich Bergsons Dissertation, die er 1888 verteidigte, aus zwei Teilen zusammen. Der zweite (lateinische) Teil mit dem Titel Quid Aristoteles de loco senserit wurde erst posthum veröffentlicht, vgl. Henri Bergson: L’Idée de lieu chez Aristote [Quid Aristoteles de loco senserit] (1889), aus

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jenes Konzept der wirklichen, gelebten und unmittelbar erfahrenen Zeit entwickelte, das

fortan im Zentrum seiner Philosophie stehen sollte. Namentlich distanzierte sich Bergson mit

seiner Dissertation nicht nur von der zeitgenössischen Assoziationspsychologie, insofern

diese eine quantitative Beschreibung seelischer Zustände forcierte,25 sondern auch von Kants

Konzeption der »Zeit als ein homogenes Medium«,26 um mit seinem Konzept der durée im

Gegenzug für einen intuitiven Zeitbegriff zu plädieren, der auf Kategorien wie ›Qualität‹ und

›Intensität‹ basiert und genuin räumlichen Kategorien wie ›Ausdehnung‹, ›Messbarkeit‹ und

›Berechenbarkeit‹ damit komplementär entgegengesetzt ist.27 Dabei führte Bergson seinen

Zugang nicht nur auf ein eingehendes Studium zeitgenössischer wissenschaftlicher Ansätze

zurück, sondern auch auf eine kritische Haltung gegenüber philosophischen Systemen im

Allgemeinen, infolge derer er, wie Mirjana Vrhunc in ihrer Analyse von Bergsons Bildbegriff

hervorhebt, vor allem auf die Notwendigkeit verwies, jenseits theoretischer Überlegungen

auch auf eigene Beobachtungen zurückzugreifen und damit nicht nur auf die »Tatsachen«

selbst, sondern auch den »gesunden Menschenverstand« mit ins Spiel zu bringen.28 Wie

François Azouvi in seiner Studie über das Modephänomen des Bergsonismus zeigt, ergriff

Bergson in der zeitgenössischen Kontroverse ›Spiritualismus‹ versus ›Pragmatismus‹ damit

als einer der ersten Partei für jenen »spiritualistischen Realismus oder Positivismus«, den

Ravaisson in seinem berühmten Rapport sur la philosophie en France au XIXe siècle (Bericht

über die Philosophie in Frankreich im 19. Jahrhundert) von 1867 prognostiziert hatte.29

Bereits mit seiner Dissertation sorgte Bergson für beachtliches Aufsehen. Obwohl das Werk

in Fachkreisen heftig kritisiert wurde und ihm viele Kommentatoren mit unüberbrückbaren

ideologischen Differenzen gegenüberstanden, betrachteten es, wie Azouvi hervorhebt, doch

die meisten als »bemerkenswertes philosophisches Ereignis«30 und äußerten ihre tiefe

Bewunderung angesichts eines Werkes, das, wie der Mathematiker, Ingenieur und Philosoph

Georges Lechalas es ausdrückt, »durch die Tiefe und Originalität seiner Einsichten

ernsthafteste Prüfung verdient, sogar von denjenigen, die seinen Vorstellungen am fernsten dem Lat. v. Robert Mossé-Bastide, in: ders.: Mélanges, hg. u. annotiert v. André Robinet, Paris: Presses Universitaires de France 1972, S. 1–56. 25 Vgl. Bergson: Zeit und Freiheit, S. 9ff. 26 Ebd., S. 171. Zu Bergsons Bezugnahme auf Kant, vgl. auch ebd., S. 171ff. 27 Vgl. ebd., S. 60ff. 28 Vrhunc: Bild und Wirklichkeit, S. 26. 29 Vgl. Félix Ravaisson: Rapport sur la philosophie en France au XIXe siècle (1867), Paris: Vrin 1978, S. 275, zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 26: »À bien des signes, il es donc permis de prévoir comme peu éloignée une époque philosophique dont le caractère général serait la prédominance de ce qu’on pourrait appeler un réalisme ou positivisme spiritualiste, ayant pour principe générateur la conscience que l’esprit prend en lui-même d’une existence dont il reconnaît que toute existence dérive et dépend, et qui n’est autre que son action.« Zur zeitgenössischen Kontroverse ›Spiritualismus versus Pragmatismus‹, vgl. ebd., S. 25–31. 30 Azouvi: La gloire de Bergson, S. 41 (Übers. d. Verf.).

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stehen«.31 Bergsons »gewaltiger Erfolg«, von dem der Philosoph Xavier Léon zwei Jahre

später spricht,32 spiegelt sich auch in einem Kommentar des einflussreichen Philosophen und

Experimentalpsychologen Théodule Ribot wider, der 1892 in einem Brief an Alfred Espinas

berichtet: »An der Sorbonne erzählt man mir, dass der metaphysische Stern von Boutroux zu

verblassen beginnt gegenüber demjenigen des Jongleurs der Konzepte; der aufsteigende Stern

ist Bergson. Mit Darlu ist er derjenige, der den Achtzehnjährigen die Köpfe verdreht.«33

Bergson unterrichtete inzwischen (seit 1890 und bis 1898) am Pariser Lycée Henri IV, einer

der anspruchsvollsten und angesehensten höheren Schulen Frankreichs, und arbeitete bereits

an seinem zweiten Buch mit dem Titel Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à

l’esprit (Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und

Geist), das 1896 veröffentlicht wurde.34 Mit dieser höchst elaborierten, auf empirischen

Grundlagen beruhenden Metaphysik der Wahrnehmung, die in der Fachwelt zunächst mit

äußerst gemischten Gefühlen wahrgenommen wurde und erst Jahre später eingehend rezipiert

werden sollte,35 untermauerte Bergson seinen Status eines Philosophen, dessen »völlig

unabhängiges« Denken, wie der Philosoph Gustave Belot 1897 schreibt, »wahrlich in keine

der gängigen philosophischen Kategorien passt«, »sich von keinem Modephänomen

31 Georges Lachelas: »Le nombre et le temps dans leurs rapports avec l’espace«, in: Annales de la philosophie chrétienne 22 (1890), zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 41 (Übers. d. Verf.). 32 Xavier Léon an Élie Halevy, zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 47 (Übers. d. Verf.). 33 Théodule Ribot: »Lettres à Alfred Espinas«, in: Revue philosophique 100 (1975), zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 47 (Übers. d. Verf.). Émile Boutroux (1845–1921), der 1874 seine einflussreiche Dissertation De la contingence des lois de la nature (Die Kontingenz der Naturgesetze) verfasst hatte, wurde 1888 als Professor für Geschichte und neuere Philosophie an die Sorbonne berufen und war eines der Jurymitglieder bei Bergsons Disputation. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten über Positivismus versus Spiritualismus beschäftigte sich Boutroux’ Philosophie, die von seiner Anhängerschaft in Abgrenzung zum zunehmend in Verruf geratenen Spiritualismus als »Kontingentismus« bezeichnet wurde, vor allem mit dem Gegensatz von Determinismus und Willensfreiheit. Boutroux unterschiedet seinen Begriff der Kontingenz (contingence), der sich auf eine Abwesenheit von Notwendigkeit im Einzelfall beziehe, ohne die Gültigkeit von Gesetzen im Allgemeinen zu leugnen, von jenem des Zufalls (hasard), der allgemein auf das unverursachte Eintreffen von Ereignissen verweise. Alphonse Darlu (1849–1921), seit 1882 Professor am Lycée Saint-Louis, am Lycée Henri IV und am Lycée Concordet und berühmt als Lehrer von Marcel Proust, gründete 1895 gemeinsam mit einigen seiner Schüler die renommierte Revue de métaphysique et de morale, die sich in cartesianischer Tradition als Organ gegen die doppelte Bedrohung von Positivismus und Spiritualismus verstand. 34 Bergson: Matière et mémoire; dt.: Materie und Gedächtnis. Wie Jean Guitton hervorhebt, wurde Bergsons spezifisches Interesse am Problem der Wahrnehmung nicht zuletzt durch die Tatsache verstärkt, dass seine 1893 geborene Tochter Jeanne Bergson, die später Bildhauerin werden sollte, taubstumm war: »Sie war sein Stolz und seine Prüfung – dieser unabwendbare schmerzhafte Stachel: Man bemerkte rasch, daß das Kind nicht hören und nicht sprechen konnte. Ihr schien die Existenz einer gefangenen Seele bestimmt; und das in einem Moment, da ihr Vater geduldig und genial die Verwirrungen der Sprache studierte, um eine neue Interpretation der Beziehungen zwischen Seele und Körper aufzustellen: Er zog die Schlußfolgerung, daß Gedächtnis und Materie voneinander unabhängig, daß ein Leben nach dem Tode möglich sei.« Jean Guitton: »Leben und Werk von Henri Bergson«, in: Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, aus dem Franz. v. Gertrud Kantorowicz, Begleittexte übers. v. Renée Schlesier, Zürich: Coron-Verlag 1967 (Nachdruck der Nobelpreisausgabe), S. 23–35, S. 33–34. 35 Vgl. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 54–57.

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beeindrucken lässt«, »vor keinem mutmaßlichen Paradox haltmacht« und »vor keinem

Allgemeinplatz zurückschreckt«.36 1897 und 1898 erschienen dementsprechend auch zwei

Artikel in der renommierten Revue de métaphysique et de morale, einer von Frédéric Rauh

und einer von Benjamin Jacob,37 die Bergson bei allem »bemerkenswerten Talent« (Rauh)

eines Antirationalismus bezichtigen, der den Errungenschaften der cartesianischen Tradition

zuwiderlaufe und damit für jene beunruhigende Tendenz der zeitgenössischen Philosophie

symptomatisch sei, die, wie Azouvi zusammenfasst, »für Kontingenz einsteht, dem Werden

größere Bedeutung beimisst als dem Sein, und die glauben will, dass es ein [Zitat Jacob]

»inneres Leben gibt, das der Intelligenz und der Intelligibilität vorausgeht und die eine wie

die andere hervorbringt«.«38 So charakterisiert Jacob Bergsons Philosophie mit abschätzigem

Unterton als »heutige« Philosophie, die den Anspruch auf rationale Erkenntnis im Sinne einer

Metaphysik der Intuition und einer Philosophie des Handelns hinter sich lasse.39

1.1.2. Bergsons Aufstieg zum Pop-Philosophen

So vernichtend diese Urteile auch ausfallen mögen, sie markieren doch einen Meilenstein in

der Geschichte des Bergsonismus, indem sie Bergsons Philosophie der wirklichen, gelebten

Zeit zum Inbegriff des gegenwärtigen Zeitgeists hochstilisieren.40 Dass Bergson noch im

selben Jahr von der Sorbonne, der Pariser Eliteuniversität, abgelehnt wurde, sollte sein

öffentliches Ansehen, wie Azouvi hervorhebt, um nichts verringern – im Gegenteil, sollte er

zwei Jahre später, im symbolträchtigen Jahr 1900, doch zum Professor am Collège de France

berufen werden,41 der renommiertesten aller wissenschaftlichen Institutionen Frankreichs, wo

– anders als an er Sorbonne – keine Zugangsbeschränkungen herrschten und wo Bergson es 36 Gustave Belot: »Un nouveau spiritualisme«, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger, Nr. 44 (1897), S. 183–199, S. 199, zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 55, Originalwortlaut im Textzusammenhang: »Comment interpréter une doctrine »qui ne rentre franchement dans aucune des catégories philosophiques courantes«, se demande honnêtement Belot. Et d’essayer tour à tour les différents vêtements que la tradition philosophique a taillés: idéalisme, réalisme, spiritualisme, empirisme. Mais aucun ne convient à cette pensée »absolument indépendante, à laquelle aucune thèse en vogue n’en impose, qu’aucun paradoxe apparent n’arrête, qu’aucune vérité de sens commun ne rebute«. Maurice Merleau-Ponty sollte sogar 1959 noch bemerken, dass Materie und Gedächtnis das mit Abstand am wenigsten gelesene von Bergsons Hauptwerken sei, vgl. Maurice Merleau-Ponty: »Bergson im Werden«, in: ders.: Zeichen, auf der Grundlage der Übers. v. Barbara Schmitz, Hans Werner Arndt u. Bernhard Waldenfels, hg., komm. u. mit einer Einl. v. Christian Bermes, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2013, S. 265–280, S. 269. 37 Frédéric Rauh: »La conscience du devenir«, in: Revue de métaphysique et de morale, Nr. 5 (1897), S. 659–681; Benjamin Jacob: »La philosophie d’hier et celle d’aujourd’hui«, in: Revue de métaphysique et de morale, Nr. 6 (1898), S. 170–201. 38 Azouvi: La gloire de Bergson, S. 57. 39 Vgl. Jacob: »La philosophie d’hier et celle d’aujourd’hui« sowie Worms: »Chronologie«, S. 20. 40 Vgl. Azouvi: La gloire de Bergson, Kap. II: »Une philosophie décadente, symboliste et impressionniste«, S. 59–76. 41 Zunächst wurde Bergson auf den Lehrstuhl für antike Philosophie berufen, 1904 sollte er den Lehrstuhl für zeitgenössische Philosophie übernehmen.

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jenseits einer intellektuellen Elite, wie Azouvi betont, mit einem enorm breit gefächerten

Publikum zu tun bekommen sollte:

Jedenfalls besteht kein Zweifel, dass ein Teil der Berühmtheit des Philosophen seiner ›Ablehnung‹ von Seiten der Universität geschuldet sein wird. Wenn Péguy, Jacques und Raïssa Maritain, Lotte und Psichari, Georges Sorel oder die Comtesse de Noailles die Rue Saint-Jacques überqueren werden, um sich aufs Collège zu begeben und die Vorlesungen desjenigen zu hören, den die Sorbonne nicht wollte und von dem sie nichts Gutes sagt, werden sie das Gefühl einer Übertretung haben; ihre Abneigung gegenüber der Universität, gegenüber ihrer Verkalkung, ihrer ›germanischen‹ Gelehrtheit und ihren veralteten Professoren, wird ihnen helfen, in den Unterweisungen dieses Professors alle gegenteiligen Qualitäten zu entdecken: Jugendlichkeit, Freiheit, Charme, Offenheit und mystische Inspiration.42

Mit seiner Berufung ans Collège und der zeitgleichen Veröffentlichung seines populären

Essay Le Rire. Essai sur la signification du comique (Das Lachen. Ein Essay über die

Bedeutung des Komischen),43 mit dem er eine Kritik der Stereotype und ein Plädoyer für das

befreiende Potential menschlicher Kreativität vorlegte, avancierte Bergson innerhalb der

folgenden Jahre geradewegs zum Pop-Philosophen. Frédéric Worms zufolge beginnt der

Bergsonismus als internationales Modephänomen mit der Veröffentlichung von Bergsons

»Introduction à la métaphysique« (»Einführung in die Metaphysik«) im Jahr 1903,44 die als

eine Art Manifest seiner Philosophie innerhalb kürzester Zeit in zahlreiche Sprachen übersetzt

wurde und eine lebhafte Kontroverse zur Folge hatte.45 1907 legte Bergson mit L’Évolution

créatrice (Schöpferische Entwicklung)46 schließlich jenes epochale Werk vor, das mit dem

Konzept der »Lebensschwungkraft« (élan vital)47 im Sinne einer Synthese seiner früheren

Werke zu begreifen ist und mit dem der Bergsonismus nicht nur ein idealtypisches Emblem

finden, sondern vor auch für die zeitgenössischen künstlerischen Avantgarden zur zentralen

Referenz werden sollte. Das Buch, das mit Jean Guitton als »kühnes, verwirrendes, poetisches

42 Azouvi: La gloire de Bergson, S. 60 (Übers. d. Verf.). 43 Bergson: Le Rire; dt.: Das Lachen. Das 1900 veröffentlichte Buch basierte auf einer Artikelreihe, die Bergson 1899 in der Revue de Paris veröffentlicht hatte (1. und 15. Februar sowie 1. März 1899, S. 512–544, S. 759–799, S. 146–179). 44 Henri Bergson: »Introduction à la métaphysique«, in: Revue de métaphysique et de morale (29. Januar 1903), S. 1–36; Wiederabdruck in: ders.: La Pensée et le mouvant. Essais et conférences (1934), Paris: Presses Universitaires de France 1999, S. 177–227; dt.: »Einführung in die Metaphysik«. 45 Vgl. Worms: »Chronologie«, S. 20. Zum Phänomen des Bergsonismus, vgl. auch Julien Benda: Le Bergsonisme ou une philosophie de la mobilité, Paris: Mercure de France 1912; Tancrède de Visan: »La philosophie de M. Bergson et le lyrisme contemporain«, in: Vers et prose 5, Nr. XX (Januar/Februar/März 1910), S. 125–140. Weitere Ausführungen dazu finden sich bei Antliff: Inventing Bergson, S. 3ff.; Azouvi: La glorie de Bergson, S. 13ff./59ff.; Jean-Louis Vieillard-Baron: Bergson et le Bergsonisme, Paris: Armand Colin 1999, S. 71ff.; u.a. 46 Henri Bergson: L’Évolution créatrice, Paris: Alcan 1907; dt.: Schöpferische Entwicklung. 47 Vgl. Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 275–357.

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und revolutionäres« Werk zu betrachten ist48 und das 1927 als erstes philosophisches Werk

sogar mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet werden sollte,49 erschien innerhalb

kürzester Zeit in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen.50 Gleichzeitig erschienen auch

neue Auflagen und Übersetzungen seiner anderen Bücher, die Bergson – insbesondere dank

ihrer literarischen Qualitäten – bald zu einem der meistgelesenen Philosophen aller Zeiten

machen sollten.51 So stand der illustre Professor, der zeitlebens größten Wert auf seine

Privatsphäre legte, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg (1911–1914) endgültig am Zenit

seiner Karriere: Bergsons gefeierte Vorlesungen am Collège de France platzen aus allen

Nähten, er wurde zu Vorträgen nach Italien, England und Spanien eingeladen, und nachdem

er 1901 bereits zum Mitglied der Académie des sciences morales et politiques ernannt worden

war, wurde er 1914 schließlich auch noch zum Mitglied der Académie française ernannt

(Abb. 4).52

1.1.3. Bergson als Wegbereiter eines neuen Kunstbegriffs

Ehe die historischen Avantgarden im Vorfeld des Ersten Weltkriegs den Anspruch erhoben,

ausgehend vom Modephänomen des Bergsonismus einen neuen Kunstbegriff zu entwickeln,

hatte die zeitgenössische Kunstszene Bergson wohlgemerkt längst für sich entdeckt. So war

Bergsons Philosophie seit den frühen 1890ern mit den Bewegungen des Impressionismus und

des Symbolismus in Verbindung gebracht worden, die ihre Kunst entgegen einer rationalen

und objektiven Sicht der Dinge in den Dienst einer neuen Innerlichkeit und Unmittelbarkeit

stellten.53 Jenseits ihrer literarischen Qualitäten korrespondierte Bergsons Philosophie auch

auf inhaltlicher Ebene aufs Engste mit den Idealen der Impressionisten und der Symbolisten.

So entstanden im Laufe der 1890er und 1900er Jahre zahlreiche literarische und theoretische

48 Guitton: »Leben und Werk von Henri Bergson«, S. 33. 49 Zur Nobelpreisverleihung im Jahr 1927, vgl. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 247–252, sowie Kjell Strömberg: »Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises an Henri Bergson«, in: Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 7–14. 50 Die erste Auflage war innerhalb weniger Wochen ausverkauft, bis 1914 erschienen insgesamt 16 Auflagen. 1923 sprach Albert Thibaudet rückblickend vom unmittelbaren Erfolg des Buches, durch den Bergson jene »eigentümliche Verlängerung des Ruhmes« erfahren habe, die man als »Legende« bezeichnet. Vgl. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 136. Eine detaillierte Auflistung der unterschiedlichen Ausgaben und Übersetzungen findet sich in: André Robinet: »Éditions et Traductions. Apparat Critique«, in: Henri Bergson: Œuvres, hg. u. annotiert v. André Robinet, Paris: Presses Universitaires de France 1984, S. 1485–1539, S. 1512ff. 51 Vgl. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 133–134 sowie Robinet: »Éditions et Traductions«, S. 1485ff. 52 Vgl. Worms: »Chronologie«, S. 20–21. 53 Vgl. Azouvi: La gloire de Bergson, Kap. II: »Une philosophie décadente, symboliste et impressionniste«, S. 59–76.

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Texte, die Bergsons Philosophie zum Inbegriff einer neuen Kunstauffassung hochstilisierten

und sie in den Dienst ihres jeweiligen Interesses stellten.54

Der Historiker und Sozialist Jean Jaurès, ein ehemaliger Mitschüler Bergsons, stellt in seiner

1892 veröffentlichten Dissertation De la réalité du monde sensible (Von der Realität der

wahrnehmbaren Welt) als einer der ersten ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen

Bergsons Philosophie und dem Symbolismus her: »Vielleicht täusche ich mich«, schreibt

Jaurès, »aber das ist die Metaphysik der dekadenten Kunst«: »Auch er [Bergson] findet, das

wirklich fatale an Worten ist, dass sie einen Sinn haben. Und so reduziert er seine Sätze auf

ein Zusammenspiel von Klängen, die bestimmte seelische Verfassungen desto besser

wiedergeben, je unverständlicher sie sind.«55 Auch Rauh bringt Bergsons Philosophie 1897

direkt mit der zeitgenössischen Ästhetik in Verbindung, indem er dessen Werk weniger als

das eines Philosophen denn als das eines »symbolistischen Literaten« (littérateur symboliste)

charakterisiert.56 Jacob wiederum spricht 1898 – mit aller Aufbruchsstimmung, die in seinen

Anführungszeichen zum Ausdruck kommt – von der »Unruhe« oder »Beunruhigung« einer

ganzen Generation (notre ›inquiétude‹), die in der flirrenden Ästhetik der Impressionisten

ebenso wie im übersteigerten Mystizismus der Symbolisten zum Ausdruck komme und

angesichts derer Bergson mit seiner Philosophie nur noch offene Türen einzurennen habe:

»Begrüßen wir [diese Philosophie] als geniales Werk, von dem man hoffen muss, dass es

zahlreiche Bewunderer und keinen einzigen Schüler finden wird.«57 Eine erste ausführlichere

Diskussion von Bergsons Philosophie im Kontext der zeitgenössischen Kunst findet sich

schließlich bei de Visan, der in seinen Paysages introspectifs von 1904 zahlreiche Parallelen

zwischen dem Bergsonismus und dem Symbolismus dingfest macht.58 Der Philosoph Jean

Blum wiederum hebt 1906 in seinem Artikel »La philosophie de M. Bergson et la poésie

symboliste« hervor, dass Bergsons Philosophie die Irrtümer des Determinismus und

Materialismus aufzeige und mit dem Symbolismus in Verbindung stehe, insofern dieser

»durch seine subtile und tiefe Psychologie, durch seine musikalische Tendenz, durch seine

54 Eine detaillierte Diskussion der unterschiedlichen Autoren und Texte findet sich ebd., S. 59ff. sowie bei Antliff: Inventing Bergson, S. 39ff. 55 Zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 62 (Übers. d. Verf.). 56 Frédéric Rauh: »La conscience du devenir«, in: Revue de métaphysique et de morale, Nr. 5 (1897), S. 659–681, zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 61. 57 Jacob: »La philosophie d’hier et celle d’aujourd’hui«, zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 60 (Übers. d. Verf.). 58 Tancrède de Visan: Paysages introspectifs: poésies, avec un essai sur le symbolisme, Paris: Jouve 1904. So schreibt de Visan, indem er implizit auf Bergson verweist, beispielsweise: »En dépit de leurs divergences apparentes, les philosophes s’accordent à distinguer deux manières profondément différentes de connaître une chose, nous dit un éminent penseur contemporain; »la première implique qu’on tourne autour de cette chose; la seconde qu’on entre en elle.«« Ebd., S. XXX. Vgl. dazu auch de Visans späteren Text »La philosophie de M. Bergson et le lyrisme contemporain«.

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Reaktion gegen den skulpturalen und darwinistischen Parnass« ähnliche Ziele anstrebe.59

Infolge dieser breiten Diskussion wurde Bergsons Philosophie um die Jahrhundertwende als

symptomatisch für jene zeitgenössischen kulturellen Entwicklungen erachtet, die von seinen

Gegnern unter dem abwertenden Schlagwort der ›Dekadenz‹ zusammengefasst wurden.

Da die Bewegungen des Impressionismus und des Symbolismus die Ideale einer neuen

Natürlichkeit und Sinnlichkeit für sich in Anspruch nahmen, war es aber auch naheliegend,

dass Bergsons Philosophie ihr Interesse weckte. Das beginnt schon damit, was Bergson –

wohlgemerkt nicht mit Blick auf die zeitgenössische Kunst, sondern als Anhänger eines

konservativen Kunstbegriffs – bereits auf den ersten Seiten seines Essai sur les données

immédiates de la conscience über die Empfindung des Schönen schreibt:

Um zu begreifen, wie das Gefühl des Schönen selbst einer Abstufung fähig ist, müßte man es einer sorgfältigen Analyse unterziehen. Vielleicht ist die Schwierigkeit, die man bei seiner Definition empfindet, insbesondere darauf zurückzuführen, daß man die Naturschönheiten als den Schönheiten der Kunst voraufgehend ansieht: die Verfahrungsweisen der Kunst wären dann nur die Mittel, wodurch der Künstler das Schöne ausdrückt, und das Wesen des Schönen bliebe im dunkeln. Man könnte aber wohl die Frage stellen, ob die Natur nicht gerade durch das glückliche Zusammentreffen mit gewissen Verfahrungsweisen unserer Kunst schön sei und ob die Kunst nicht in einem gewissen Sinn der Natur voraufgehe. [...] Indem man sich auf diesen Standpunkt stellt, wird man, glauben wir, gewahr werden, daß der Zweck der Kunst darin liegt, die aktiven oder vielmehr widerstrebenden Kräfte unserer Persönlichkeit einzuschläfern und uns auf solche Weise in einen Zustand vollendeter Fügsamkeit überzuführen, in dem wir die Vorstellungen, die man uns suggeriert, verwirklichen und das zum Ausdruck gebrachte Gefühl mitfühlen. [...] So hat es die Kunst eigentlich mehr darauf abgesehen, uns einen Eindruck von den Gefühlen zu geben als diesen einen Ausdruck; sie suggeriert sie uns und legt keinen Wert darauf, die Natur nachzuahmen, falls sie noch wirksamere Mittel findet. [...] Aus dieser Analyse ergibt sich, daß das Gefühl des Schönen kein Gefühl eigener Art ist, sondern daß jedes von uns erlebte Gefühl einen ästhetischen Charakter annehmen kann, vorausgesetzt, daß es suggeriert und nicht äußerlich verursacht worden ist.60

Während Alexander Gottlieb Baumgarten die Disziplin der Ästhetik im ersten Band seiner

epochalen Aesthetica (1750) als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis (analogon rationis)

definiert und Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) entgegen Baumgartens

Auffassung eine Dichotomie von äußerlichem Gegenstand (Ding an sich) und ästhetischem

59 Vgl. Jean Blum: »La philosophie de M. Bergson et la poésie symboliste«, in: Mercure de France, Nr. 63 (15. September 1906), S. 201–207, zit.n. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 106 (Übers. d. Verf.). Azouvi bemerkt weiter: »On peut dire sans forcer le trait qu’à partir des années 1905–1906, Bergson est solidement installé comme le philosophe officiel du symbolisme.« Ebd., S. 107. 60 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 18–20.

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Geschmacksurteil (Sinneswahrnehmung) voraussetzt, ist die Ästhetik Bergson zufolge weder

ein Problem der objektiven Erkenntnis noch ein Problem des subjektiven Geschmacks. Mit

Bergson gesprochen geht es in der Ästhetik vielmehr darum, Wahrnehmungen und Urteile in

einer gleichsam künstlerischen Haltung zu integrieren und die »unmittelbaren Gegebenheiten

des Bewusstseins« damit kritisch zu reflektieren. Ausgehend von der Tatsache, dass es in der

Natur – und damit auch im menschlichen Leben – keinen Stillstand gibt, führt Bergson seinen

Begriff der Ästhetik also auf eine Verschränkung rationaler und intuitiver Aspekte zurück. In

Anbetracht der Determiniertheit von Verstandesbegriffen und der Unvorwegnehmbarkeit des

Sinnlichen birgt ein derartiger Begriff der Ästhetik einen vermeintlichen Widerspruch in sich,

den es vermittels einer schöpferischen Perspektive aufzulösen gilt. Im Feld der Ästhetik geht

es Bergson zufolge dementsprechend um eine aktive Ausschaltung aktiver Prozesse: Wenn

die sinnliche Wahrnehmung immer schon eine bestimmte Form von Urteil impliziert, so sind

die beiden Kategorien durch den Rückgriff auf das unmittelbar Gegebene zu transzendieren.

So ist auch die Methode der »Intuition«, die Bergson in seiner gefeierten »Einführung in die

Metaphysik« zum paradoxalen terminus technicus seiner Philosophie erklärt, im Sinne einer

Art geistiger Koinzidenz zu verstehen: »Wir bezeichnen hier als Intuition die Sympathie«, so

Bergson, »durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er

Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren.«61 In seinem

1911 gehaltenen Vortrag »L’intuition philosophique« (»Die philosophische Intuition«)62 führt

Bergson weiter aus:

Steigen wir also in unser eigenes Innere[s] hinab: je tiefer der Punkt ist, zu dem wir hinabdringen, um so stärker wird die Kraft sein, die uns wieder zur Oberfläche zurückwirft. Die philosophische Intuition ist dieser innere Kontakt, die Philosophie ist dieser Elan. Der Außenwelt zugewandt durch einen inneren Antrieb, der aus der Tiefe kommt, werden wir uns mit der Wissenschaft vereinigen in demselben Maße, wie unser Denken sich in der Zerstreuung entfaltet. [...] Die Wissenschaft ist die Gehilfin unseres Handelns. Und unser Handeln zielt auf ein Ergebnis hin. [...] Mit Methoden, die bestimmt sind, das absolut Fertige zu erfassen [à saisir le tout fait], vermag sie im allgemeinen nicht in das einzudringen, was erst wird, vermag sie nicht der Bewegung zu folgen, das Werden zu erfassen, das das Leben der Dinge ist. [...] Weder gehorcht der Philosoph, noch herrscht er; er sucht zu sympathisieren.63

61 Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 183. 62 Henri Bergson: »L’intuition philosophique« (1911), in: ders: La Pensée et le mouvant, S. 117–142; dt.: »Die philosophische Intuition«, in: ders.: Denken und schöpferisches Werden, S. 126–148. 63 Ebd., S. 144–145. Auf den Ausdruck tout fait, den Bergson seit 1899 regelmäßig verwendet, wird auch in Bezug auf Duchamps »Ready-mades« noch zurückzukommen sein, vgl. unten, Kap. 2.3.2.

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Warum er für seine Methode den Begriff »Intuition« wählte und was genau er mit dieser

Form von Sympathie oder Koinzidenz meint, sollte Bergson schließlich in seiner Einleitung

zum 1934 veröffentlichten Band La Pensée et le mouvant. Essais et conférences (Denken und

schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge)64 erläutern:

Diese Untersuchungen über den Begriff der Dauer erschienen uns entscheidend: In zunehmendem Maße ließen sie uns die Intuition zur philosophischen Methode erheben. ›Intuition‹ ist übrigens ein Wort, bei dem wir länger zögerten. Von allen Ausdrücken, die einen Modus der Erkenntnis bezeichnen, ist es der passendste, und dennoch gibt er leicht Anlaß zur Unklarheit: weil ein Schelling, ein Schopenhauer u. a. schon sich auf die Intuition berufen haben, weil sie mehr oder weniger die Intuition der Intelligenz entgegengestellt haben, konnte man glauben, daß wir dieselbe Methode anwendeten. Als ob ihre Intuition nicht der Versuch des unmittelbaren Erfassens des Ewigen wäre! Als ob es sich bei uns nicht gerade im Gegensatz dazu darum handelte, die wahre Dauer wiederzufinden. [...] Die Intuition, von der wir sprechen, bezieht sich also vor allem auf die innere Dauer. Sie erfaßt eine Aufeinanderfolge, die keine Nebeneinanderstellung ist, ein Wachstum von innen her, die ununterbrochene Verlängerung der Vergangenheit in eine Gegenwart hinein, die ihrerseits in die Zukunft eingreift. Es ist die direkte Schau des Geistes durch den Geist. Nichts schiebt sich mehr dazwischen, keine Brechung der Strahlen durch das Prisma, dessen eine Fläche der Raum und dessen andere die Sprache ist. [...] Intuition bedeutet also zunächst Bewußtsein, aber ein unmittelbares Bewußtsein, eine direkte Schau, die sich kaum von dem gesehenen Gegenstand unterscheidet, eine Erkenntnis, die Berührung und sogar Koinzidenz ist. [...] Der Verstand geht gewöhnlich aus vom Unbewegten und rekonstruiert recht und schlecht die Bewegung durch nebeneinander gesetzte unbewegliche Punkte. Die Intuition geht von der Bewegung aus, setzt sie oder vielmehr erfaßt sie als die Wirklichkeit selber und sieht in der Unbeweglichkeit nur eine Abstraktion, gleichsam eine Momentaufnahme unseres Geistes. Die Intelligenz hat es für gewöhnlich nur mit Dingen zu tun und versteht darunter etwas Statisches und macht aus der Veränderung ein Akzidenz, das sich den Dingen als etwas Äußerliches noch hinzufügt. Für die Intuition ist die Veränderung das Wesentliche: was das Ding angeht, wie es der Verstand auffaßt, so ist es nur ein Querschnitt im Fluß des Werdens, den unser Geist als Ersatz für das Ganze genommen hat. Der Gedanke stellt sich gewöhnlich das Neue vor als eine neue Anordnung von vorher existierenden Bestandteilen, für ihn geht nichts verloren, entsteht aber auch nichts Neues. Intuition, mit einer Dauer verbunden, bedeutet inneres Wachstum, sie gewahrt in ihr eine ununterbrochene Kontinuität von unvorhersehbarer Neuheit, sie sieht, sie weiß, daß der Geist über sich selbst hinaus zu wachsen vermag, daß die wahre Geistigkeit gerade darin besteht, und daß die vom Geist durchdrungene Wirklichkeit Schöpfung ist.65

Bergsons Auffassung von Ästhetik, deren Grundlagen er im Rahmen seines wegweisenden

Essai sur les données immédiates de la conscience legte, die er in Matière et mémoire zu 64 Henri Bergson: La Pensée et le mouvant. Essais et conférences, Paris: Alcan 1934; Querverweise beziehen sich in der vorliegenden Arbeit auf die spätere Ausgabe: Paris: Presses Universitaires de France 1999; dt.: Denken und schöpferisches Werden. 65 Henri Bergson: »Einleitung (Zweiter Teil)« (1922), in: ders.: Denken und schöpferisches Werden, S. 42–109, S. 42/44/46–47 (Originaltitel: »Introduction (deuxième partie). De la position des problèmes«, in: ders.: La Pensée et le mouvant, S. 25–98).

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einer elaborierten Theorie der Wahrnehmung weiterentwickelte, die er in Le Rire anhand

einer konkreten Problemstellung veranschaulichte und die er in L’Évolution créatrice nicht

zuletzt mit den mannigfaltigen Erscheinungsformen des Lebens in Verbindung brachte, diese

Ästhetik war damit gleichsam prädestiniert, von der zeitgenössischen Kunstwelt im Sinne

eines zukunftsweisenden philosophischen Unterbaus vereinnahmt zu werden und nicht nur

die Impressionisten und Symbolisten, sondern in weiterer Folge auch die unterschiedlichen

historischen Avantgarden in ihrem Selbstverständnis zu prägen. Angefangen beim Fauvismus

(seit 1905), Kubismus (seit 1907) und Futurismus (seit 1909) über den Konstruktivismus (seit

1913) bis hin zum Dadaismus (seit 1916) und Surrealismus (seit 1920) sollten sich führende

Vertreter der Avantgarden im beginnenden 20. Jahrhundert in unterschiedlicher Weise auf

Bergsons Philosophie beziehen, und es würde zu weit führen, im Rahmen der vorliegenden

Untersuchung im Detail auf all diese Bezugnahmen einzugehen. So wird im Folgenden nur

ein Schlaglicht auf jene Tendenzen zu werfen sein, mit denen sich Duchamp im Zuge seiner

künstlerischen »Schwimmübungen«66 eingehend auseinandergesetzt hat und durch die er mit

dem Bergsonismus in Berührung gekommen ist, um ihn schließlich hinter sich zu lassen und

sich daraufhin auf höchst eigenständige Weise an Bergsons Vermächtnis abzuarbeiten.

1.2. Duchamps Zugang zum Bergsonismus

Als Bergsons steile Karriere mit der Veröffentlichung seiner Dissertation ihre Initialzündung

erfuhr, machte Henri-Robert-Marcel Duchamp gerade seine ersten Schritte. Eine Generation

jünger als Bergson und im Geiste mehr schon ein Kind des 20. Jahrhunderts, war er am 28.

Juli 1887 in Blainville-Crevon, einem Dorf im Herzen der Normandie, als viertes von sechs

(ursprünglich sieben)67 Kindern in eine kleinbürgerliche französische Familie hineingeboren

worden.68 Sein Vater Eugène (mit Geburtsnamen Justin-Isidore) Duchamp hatte in Blainville

zunächst das angesehene Amt des Notars und später das Amt des Bürgermeisters inne. Seine

Mutter Marie-Caroline-Lucie Duchamp (geborene Nicolle), die unter einer fortschreitenden

Hörschwäche litt und die sich zum Zeitpunkt von Marcels Geburt bereits weitgehend in ihr

Inneres zurückgezogen hatte, weshalb sie dem Kind äußerst »indifferent« erschien,69 war die

66 Zeitlich verortet Duchamp seine »Schwimmübungen« zwischen 1902 und 1912, vgl. Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 21–31. Der Verweis auf die »Schwimmübungen« findet sich ebd., S. 31. 67 Duchamps ältere Schwester Madeleine war sechs Monate vor seiner Geburt im Alter von drei Jahren an der Kinderkrankheit Morbus Krupp gestorben, vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 29. 68 Einen Überblick über Duchamps Leben und Werk, auf den im Folgenden auch ohne weitere Erwähnung Bezug genommen wird, gibt Tomkins in seiner 1997 veröffentlichten Biografie mit dem Titel Marcel Duchamp. 69 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 26ff. Auffällig ist die Parallele zu Bergsons taubstummer Tochter Jeanne,

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Tochter von Émile-Frédéric Nicolle, einem erfolgreichen Schiffsagenten aus Rouen, der sich

als erstklassiger akademischer Zeichner 1875 auf seine Hauptinteressen, die Malerei und die

Kupferstecherei, zurückgezogen hatte.70 In seiner frühen Kindheit wuchs Duchamp praktisch

als Einzelkind auf, da seine älteren Brüder Gaston und Raymond (geboren 1875 und 1876),

die er über alles bewunderte, seit seiner Geburt ein Internat besuchten. In seiner jüngeren

Schwester Suzanne (geboren 1889) sollte er jedoch bald eine enge Verbündete finden.

Duchamp war kein unbegabter, aber auch kein besonders engagierter Schüler. Obwohl seine

Stärke (wie jene Bergsons) zunächst im Bereich der Mathematik lag galt sein Interesse schon

früh dem Zeichnen. Als Duchamp begann, sich ernsthaft mit Kunst auseinanderzusetzen, war

er fünfzehn Jahre alt. Aus dem Jahr 1902 stammen laut Arturo Schwarz’ Werkverzeichnis 19

Arbeiten, hauptsächlich Szenen aus dem Familienalltag in Tusche auf Papier, aber auch

Gemälde mit Landschaftsmotiven, deren Niveau davon zeugt, dass seine künstlerischen

»Schwimmübungen« schon deutlich früher begonnen haben dürften.71 Dies liegt auch

insofern nahe, als Duchamps Eltern ihre Kinder von Anfang an in ihren künstlerischen

Neigungen unterstützten und seine beiden älteren Brüder bereits eine künstlerische Laufbahn

eingeschlagen hatten – Gaston, indem er 1895 sein Jurastudium aufgab, und Raymond, indem

er 1900 sein Medizinstudium fallenließ. Seit 1897 verkaufte Gaston unter dem Pseudonym

Jacques Villon, das er zeitlebens beibehalten sollte, auch Zeichnungen an die damals äußerst

populären humoristischen Zeitschriften Le Rire und Le Courrier Français, die Duchamp nicht

nur sehr bewundert, sondern auch ehrgeizig nachgeahmt haben soll (Abb. 5). Marcels großer

Held jedoch, das Wunderkind und Genie der Familie, war Raymond, der sich 1900 für die

Bildhauerei entschieden hatte und der es unter dem Pseudonym Raymond Duchamp-Villon,

mit dem er sowohl seinem Vater als auch seinem Bruder Loyalität bekundete, innerhalb

weniger Jahre zu beträchtlichem Erfolg bringen sollte.72

1904, als Duchamp das Lycée in Rouen halbwegs erfolgreich abgeschlossen und zu diesem

Anlass die Medaille der Société des Amis des Arts – deren höchste Auszeichnung – erhalten

hatte, fühlte er sich in seinem Vorhaben, ebenfalls Künstler zu werden, bestärkt und gesellte

sich zu seinem Bruder Gaston ins Pariser Künstlerviertel Montmartre, wo sich gerade erste

avantgardistische Tendenzen abzuzeichnen begannen.73 Nachdem er sich 1905 ohne Erfolg

vgl. oben, Kap. 1.1.1. 70 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 26–28. 71 Wenn nicht anders vermerkt, stammen die Angaben zu Duchamps Werk im Folgenden aus Arturo Schwarz’ »Critical Catalogue Raisonné«, in: ders.: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 445–893. 72 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 33–38. 73 Vgl. ebd., S. 41–42.

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einer Aufnahmeprüfung an der renommierten École des Beaux-Arts unterzogen und daraufhin

mit mäßigem Engagement Kurse an einer privaten Kunstschule belegt, seinen Wehrdienst

abgeleistet und – um letzteren zu verkürzen – eine Ausbildung als Kunstdrucker absolviert

hatte, schlüpfte Duchamp im Oktober 1906, wie Tomkins schreibt, schließlich dankbar in die

Rolle des freiheitsliebenden flâneur, »eines distanzierten Beobachters der vorüberziehenden

Szene, dessen künstlerische Neigungen keiner unangebrachten Verausgabung von Energie

bedurften.«74 Nach dem Vorbild Gastons versuchte er sich bisweilen als Humorist und

Illustrator, um sich 1907 vermehrt der Malerei zuzuwenden und 1908, da es ihm mit der

Kunst ernst wurde und er Abstand von den Ablenkungen des Großstadtlebens suchte, nach

Neuilly zu übersiedeln, einen Pariser Vorort in der Nähe von Puteaux, wo seine Brüder bald

darauf die Künstlerkolonie der Puteaux-Kubisten gründen sollten. Vor dem Hintergrund

seiner früheren Auseinandersetzung mit dem Symbolismus und Impressionismus und vor

allem mit den Positionen Édouard Manets und Paul Cézannes beschäftigte sich Duchamp

daraufhin vorwiegend mit jenen Avantgardebewegungen, die sich unter den Schlagworten

›Fauvismus‹, ›Kubismus‹ und ›Futurismus‹ parallel zur Bergsons zunehmender Berühmtheit

zu formieren begannen und Duchamp nicht zuletzt infolge ihrer konzeptuellen Ansätze vor

eine neue Herausforderung stellen sollten.75

1.2.1. »Notizen eines Malers«: Henri Matisse

Im Herbst 1905 wurde im Saal VII des alljährlich veranstalteten Pariser Salon d’Automne76

eine Ausstellung gezeigt, die wie eine Bombe einschlug. Mit Henri Matisse, André Derain,

Maurice de Vlaminck, Henri Manguin, Charles Camoin und Albert Marquet wurde eine

Gruppe von Malern präsentiert, die den flirrenden und illusionistischen Bildkompositionen

des Impressionismus entgegenarbeiteten, um das autonome Zusammenspiel leuchtender

Farben und ein Prinzip der Flächigkeit und der Konstanz ins Zentrum ihrer Malerei zu stellen.

Der einflussreiche Schriftsteller und Kunstkritiker Louis Vauxcelles sah sich angesichts der

74 Ebd., S. 47. 75 Vgl. ebd., S. 48–51. 76 Der Salon d’Automne, der seit 1903 jeden Herbst im Pariser Grand Palais ausgerichtet wurde und sich für alle Tendenzen der Malerei offen zeigte, war durch den Architekten Frantz Jourdain (unter Mitwirkung von Georges Rouault, Albert Marquet, Édouard Vuillard, Odilon Redon, Paul Cézanne, Eugène Carrière und Auguste Renoir) als Reaktion auf die konservative Politik des Salon de Paris ins Leben gerufen worden, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Soci%C3%A9t%C3%A9_du_Salon_d%E2%80%99Automne (aufgerufen am 28.12.2015).

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Ausstellung veranlasst, die vertretenen Künstler in seiner Rezension in Gil Blas als »wilde

Tiere« (fauves) zu bezeichnen, womit er zum Urheber der Bezeichnung ›Fauvismus‹ wurde.77

Die Ausstellung machte auf Duchamp außerordentlichen Eindruck und regte ihn unmittelbar

zu einer Serie neuer Malereien an, die vor allem von den farbgewaltigen, flächigen Figuren

von Matisse inspiriert waren – dem er sich offenbar so verbunden fühlte, dass er 1966, im

Interview mit Cabanne, so weit gehen sollte zu behaupten, Matisse sei »der eigentliche

Urheber dieser Bilder«.78

Matisse zählt nun aber auch zu den jenen Avantgardisten der ersten Stunde, die sich aktiv mit

dem Modephänomen des Bergsonismus auseinandersetzen. Mark Antliff zufolge besaß er

eine Reihe von Bergsons Büchern und beschäftigte sich spätestens seit 1908 mit Bergsons

Philosophie, mit der er durch die ästhetischen Theorien des Kunstkritikers Matthew Stewart

Prichard, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband, in Berührung gekommen war.79 Dieser

Einfluss zeigt sich besonders in Matisses »Notizen eines Malers« (1908),80 in denen er unter

Bezugnahme auf Bergsons Philosophie der Dauer das Konzept einer neuen Formensprache

entwickelt, wie Antliff hervorhebt:

Art historians have long recognised the profound influence of Bergson’s thought on Matisse from 1908 onwards […]. I would argue that many of Matisse’s pre-war images […] were premised on notions of organic completion and aesthetic closure, but that his portraits were simultaneously based on a Bergsonian conception of durée as an unbounded flux which, in the words of Gilles Deleuze, remained ›irreducible and nonclosed‹, in a permanent state of ›coming into being‹. [...] Far from being alone in his interest in Bergson, Matisse should be seen as the most prominent artist among a cross-section of Parisian modernists who looked to Bergsonian theory to justify their aesthetic innovations.81

Während Prichard ausgehend von Bergsons Begriff der Mannigfaltigkeit (multiplicité) an

einer Synthese der bergsonschen, byzantinischen und islamischen Ästhetik arbeitete, mit der

er die Idee der ästhetischen Geschlossenheit problematisierte, entwickelte Matisse Antliff

zufolge im Wesentlichen drei ästhetische Strategien, in denen seine Affinität zu Bergsons

77 Louis Vauxcelles: »Le Salon d’Automnce«, in: Gil Blas (17. Oktober 1905), S. 8 (Beiheft). Vgl. Jack Flam (Hg.): Henri Matisse. 1859–1954, Köln: Könemann 1994, S. 47. 78 Zit.n. Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 23. Duchamps fauvistische Experimente begannen mit Landschaftsbildern wie Maison rouge dans les pommiers (Rotes Haus unter Apfelbäumen) (1908) und reichten bis zum Gemälde Jeune homme et jeune fille en printemps (Jüngling und Mädchen im Frühling) (1911). 79 Vgl. Mark Antliff: »The rhythms of duration: Bergson and the art of Matisse«, in: John Mullarkey (Hg.): The New Bergson, Manchester: Manchester University Press 1999, S. 184–208, S. 185–186. Zu Matisses Affinität zu Bergsons Philosophie, vgl. auch Lorenz Dittmann: Matisse begegnet Bergson: Reflexionen zu Kunst und Philosophie, Köln: Böhlau Verlag 2007. 80 Henri Matisse: »Notes d’un peintre«, in: La Grande Revue, Nr. 52 (Dezember 1908), S. 731–745; dt.: »Notizen eines Malers«, in: Flam: Henri Matisse, S. 76–96. 81 Antliff: »The rhythms of duration«, S. 185–186.

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Philosophie zum Ausdruck kommt: Er negierte das Konzept des euklidischen Raumes

zugunsten von Bergsons komplexerem Begriff der Ausdehnung (extension); er integrierte den

Rahmen in die organische Gesamtheit des Gemäldes; und er reagierte auf das Problem der

ästhetischen Geschlossenheit mit einer rhythmischen Strukturierung seiner Bilder.82 Diese

ästhetischen Neuerungen gehen nun gewiss nicht allein auf Bergsons Philosophie zurück;

man denke nur an andere wesentliche Einflussfaktoren wie Richard Wagners Konzept des

Gesamtkunstwerks, die flirrende Ästhetik des Impressionismus und Neo-Impressionismus,

den zeitgenössischen Primitivismus mit seinem romantischen Ideal einer Rückkehr zur Natur,

die aperspektivischen Bildräume Paul Cézannes oder die zeitgenössische Kontroverse zum

Topos der Vierten Dimension. Dennoch kann man mit Antliff davon ausgehen, dass Matisses

Auseinandersetzung mit dem Problem einer neuen Formensprache in Bergsons Philosophie

gleichsam eine übergeordnete Schnittstelle gefunden hat.

Das Konzept der Mannigfaltigkeit, das auf Bergsons Essai von 1889 zurückgeht und das für

Matisses Konzeption des piktoralen Raumes zentralen Stellenwert hat, basiert auf einer Kritik

am traditionellen Zeitbegriff. Eines der grundlegenden Missverständnisse in Bezug auf die

Unterscheidung von Raum und Zeit resultiert Bergson zufolge daraus, dass die euklidische

Idee eines ausgedehnten, homogenen und teilbaren Raumes, die er schon an und für sich

problematisch findet, in der abendländischen Philosophie weitgehend unhinterfragt auf die

Idee der Zeit übertragen wurde. Von der wirklichen Zeit kann man schließlich unmöglich

behaupten, dass sie ausgedehnt, homogen oder teilbar wäre, argumentiert Bergson im Sinne

seiner Theorie der Dauer, ist die wirkliche Zeit genau genommen doch rein qualitativer und

intensiver Natur und damit wesentlich unausgedehnt, heterogen und unteilbar:

Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Sukzession unsrer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen. Dazu hat es keineswegs nötig, sich an die vorübergehende Empfindung oder Vorstellung ganz und gar zu verlieren; denn dann würde es ja im Gegenteil zu dauern aufhören. Ebensowenig braucht es die vorangegangenen Zustände zu vergessen: es genügt, wenn es diese Zustände, indem es sich ihrer erinnert, nicht neben den aktuellen Zustand wie einen Punkt neben einen andern Punkt stellt, sondern daß es sie mit ihm organisiert, wie es geschieht, wenn wir uns die Töne einer Melodie, die sozusagen miteinander verschmelzen, ins Gedächtnis rufen. Könnte man nicht sagen, daß, wenn diese Töne auch aufeinanderfolgen, wir sie dennoch ineinander apperzipieren, und daß

82 Ebd., S. 186. Antliff fasst Matisses Strategien im Originalwortlaut wie folgt zusammen: »a disavowal of Euclidean space in favour of a Bergsonian notion of extensity; an absorption of the frame within the ›organic‹ parameters of the painting itself; and the rhythmic structuring of the canvas with a view to initiating a reopening of aesthetic closure.«

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sie als Ganzes mit einem Lebewesen vergleichbar sind, dessen Teile, wenn sie auch unterschieden sind, sich trotzdem gerade durch ihre Solidarität gegenseitig durchdringen?83

Während der traditionelle Zeitbegriff Bergson zufolge auf einer Projektion der Zeit in das

Medium des Raumes basiert, verweist er mit seinem Konzept der Dauer im Gegenzug auf ein

Konzept der Mannigfaltigkeit, das – analog zu den Tönen einer Melodie – nicht auf einem

Prinzip des Nebeneinander, sondern vielmehr auf einem Prinzip des Miteinander basiert.

Ebenso wie sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Wahrnehmung gegenseitig

durchdringen, impliziert jede Form von Aktualität gleichzeitig ein Moment der Reflektion

und der Projektion. Das dichotome Konzept von extensivem Raum (espace) und intensiver

Zeit (durée) erweist sich nach Bergson als unhaltbar, sind Raum und Zeit auf der Ebene der

Wahrnehmung doch notwendig und immer schon ineinander verschränkt. Die irreduzible

Mannigfaltigkeit, die jeder Form von Bewusstsein zugrunde liegt, beruht dementsprechend

auf zwei gegenläufigen Tendenzen, die unmittelbar aneinander gekoppelt sind: Während sich

quantitative Mannigfaltigkeiten im Raum entfalten sind qualitative Mannigfaltigkeiten in der

Dauer gleichsam eingefaltet. So zielt Bergson mit seinem Konzept der Ausdehnung auf »eine

Art Zwischending zwischen der geteilten Ausdehnung um dem reinen Unausgedehnten« ab,

das im Gegensatz zur rein räumlichen Ausdehnung (extension) jene grenzüberschreitende

Dimension (extensif) impliziert, die in der rhythmischen Struktur wirklicher, gelebter und

erlebter Dauer zum Ausdruck kommt.84 Dieses Modell der Ausdehnung überträgt Matisse auf

das Feld der bildnerischen Komposition, indem er sich vom Impressionismus und von dessen

Kultivierung des Eindrucks distanziert:

Die ganze Anordnung meiner Bilder ist Ausdruck: welchen Raum die Körper einnehmen, der freie Raum, der sie umgibt, die Proportionen, alles hat daran seinen Anteil. [...] Von dieser Abfolge von Momenten ausgehend, welche die oberflächliche Existenz der Wesen und der Dinge ausmacht und sie beständig verändert und umformt, kann man nach einem wahrhaftigeren, wesentlicheren Charakter forschen, an den der Künstler sich halten wird, um der Wirklichkeit eine dauerhaftere Interpretation zu geben. [...] Eine im Fluß festgehaltene Bewegung ist für uns nur dann bedeutungsvoll, wenn wir sie weder von der vorhergehenden noch von der darauffolgenden isolieren. [...] Meine Art ist es nicht, die Natur sklavisch nachzuahmen, ich muß sie interpretieren

83 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 77–78. 84 Vgl. Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 245–246: »Gegeben, wirklich ist eine Art Zwischending zwischen der geteilten Ausdehnung und dem reinen Unausgedehnten; wir haben es das Extensive genannt. Die Extensivität ist die auffallendste Eigenschaft der Wahrnehmung. Wenn wir sie verfestigen und mittels eines abstrakten Raumes, den wir auf Grund der Bedürfnisse unserer Aktivität unter ihr ausspannen, in Teile zerlegen, stellen wir die vielfältige und unendlich teilbare Ausdehnung her. Wenn wir sie dagegen verfeinern und bald sich in affektiven Empfindungen auflösen, bald in Nachahmungen der reinen Begriffe verflüchtigen lassen, erhalten wir jene inextensiven Empfindungen, aus welchen wir vergebens Bilder zu rekonstruieren versuchen.«

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und dem Geist des Bildes unterordnen. Habe ich die Beziehungen der Töne untereinander erst einmal gefunden, so sollte daraus eine lebhafte Farbharmonie entstehen, eine Harmonie, die derjenigen einer musikalischen Komposition vergleichbar ist.85

Ob Duchamp Matisses Bezugnahme auf Bergsons Philosophie zur Kenntnis genommen hat

oder nicht, das sei dahingestellt. Jedenfalls waren Matisses theoretische Überlegungen für

Duchamp von nachhaltiger Relevanz. Indem er 1912 seine Arbeit am Konzept des Großen

Glases aufnahm, befasste er sich schließlich nicht nur mit dem Prinzip der Perspektive86 und

der Theorie der Vierten Dimension87, die im zeitgenössischen Diskurs zentralen Stellenwert

hatte und die eng mit dem Thema der raumzeitlichen Mannigfaltigkeit verknüpft ist.88 Vor

allem stellte er mit seinem Großen Glas auch das Konzept des Rahmens in Frage, indem er

den realen Hintergrund des Bildes – die irreduzible Mannigfaltigkeit der Lebenswirklichkeit –

durch dessen Transparenz in sein Werk integrierte. Wenn Duchamp 1912 beschloss, mit der

Idee der ästhetischen Geschlossenheit zu brechen, so spiegelt sich dieser Entschluss aber auch

85 Matisse: »Notizen eines Malers«, S. 77–79. 86 Vgl. u.a. Hans Belting: Der Blick hinter Duchamps Tür. Kunst und Perspektive bei Duchamp, Sugimoto, Jeff Wall, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2009, S. 17–76; Jean Clair: »Duchamp and the Classical Perspectivists«, in: Artforum 16, Nr. 7 (März 1978), S. 40–48; Craig Adcock: Duchamp's Perspective: The Intersection of Art and Geometry (1. April 2003), http://toutfait.com/duchamps-perspectivethe-intersection-of-art-and-geometry/ (aufgerufen am 28.12.2015). 87 Zum zeitgenössischen Diskurs über die Vierte Diskussion leistete vor allem der französische Mathematiker, Physiker und Philosoph Henri Poincaré, der als Begründer der algebraischen Topologie gilt, einen wesentlichen Beitrag. Die so genannte Poincaré-Vermutung von 1904, die sich, vereinfacht gesagt, mit der dreidimensionalen »Oberfläche« eines vierdimensionalen Körpers beschäftigt, galt bis vor kurzem als das bedeutendste ungelöste Problem der Topologie. Vgl. u.a. http://de.wikipedia.org/wiki/Poincar%C3%A9-Vermutung (aufgerufen am 28.12.2015) sowie unten, Kap. 2.1.1. Duchamps wesentliche Quellen zur vier- und n-dimensionalen Geometrie waren Egenhofer zufolge neben Poincaré (La Science et l’hypothèse, Paris: Flammarion 1902; La Valeur de la science, Paris: Flammarion 1905; Science et méthode, Paris: Flammarion 1908; Dernières pensées, Paris: Flammarion 1913) auch Esprit Pascal Jouffret (Traité élémentaire de géométrie à quatre dimensions, Paris: Gauthier-Villars 1903) und Gaston de Pawlowski (Voyage au pays de la quatrième dimension, Paris: Fasquelle 1912), vgl. Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 196, Anm. 7. Zu Duchamps Auseinandersetzung mit Poincaré, vgl. u.a. Craig Adcock: »Conventionalism in Henri Poincaré and Marcel Duchamp«, in: Art Journal 44, Nr. 3 (Herbst 1984), S. 249–258; Barry Cipra: »Duchamp and Poincaré Renew an Old Acquaintance«, in: Science 286 (26. November 1999), S. 1668–1669; Gerald Holton: »Henri Poincaré, Marcel Duchamp and Innovation in Science and Art«, in: Leonardo/ISAST 34, Nr. 2 (2001), S. 127–134; Michael Wetzel: »Règles d’art/Kunstregeln: Duchamp zwischen Bergson und Poincaré«. Eine detaillierte Analyse der Bedeutung der Vierten Dimension für die moderne Kunst im Allgemeinen und für Duchamp im Speziellen findet sich bei Linda Dalrymple Henderson: The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in Modern Art, Princeton: Princeton University Press 1983; dies.: Duchamp in Context (vgl. die entsprechenden Einträge im Index, ebd., S. 349–374). 88 So hebt Egenhofer beispielsweise hervor, »dass es keine interpretatorische Gewalt bedeutet, Bergson mit Spinoza und der vierdimensionalen Perspektive in Verbindung zu bringen«: »Es zeichnet sich hier eine große systematische Einheit ab, die von der klassischen Metaphysik über Nietzsche und Bergson zu Deleuze reicht und die Poincaré, zweifellos ein Bergsonianer, und eine bestimmte thermodynamische Naturwissenschaft einschließt.« Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 210 (Herv. d. Verf.) Zu Bergsons Konzept der raumzeitlichen Mannigfaltigkeit, das er im Zuge seine Auseinandersetzung mit Einstein entwickelte, vgl. Henri Bergson: Durée et simultanéité. À propos la théorie d’Einstein, Paris: Alcan 1922; zitiert wird im Folgenden nach der späteren Ausgabe: Paris: Presses Universitaires de France 2009; dt.: Dauer und Gleichzeitigkeit: Über Einsteins Relativitätstheorie, aus dem Franz. v. Andris Breitling, hg. v. Christina Vagt, Hamburg: Philo Fine Arts 2014.

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in seinen unterschiedlichen Schachteln, in seinen Ready-mades und in seiner Maxime »Der

Betrachter macht das Bild« wider, mit denen er die Prinzipien Prozessualität, der Kontingenz

und des Transformismus ins Zentrum seiner künstlerischen Auseinandersetzung rückte.89 Ehe

er diese bahnbrechenden Schritte setzen konnte, sah sich Duchamp allerdings noch mit einer

Reihe weiterer künstlerischer Innovationen konfrontiert, denen er sich ausgehend von seiner

Auseinandersetzung mit Matisse stellte.

1.2.2. La Section d’Or: Kubismus à la Puteaux

Matisse war natürlich nicht der einzige, der die Kunst in jenen Jahren revolutionierte und

Duchamp in seiner künstlerischen Selbstfindung beeinflusste. Einen entscheidenden Schritt in

Richtung Abstraktion bedeutete auch die neue Maltechnik, die Pablo Picasso und Georges

Braque seit 1907 entwickelten und für die Vauxcelles, der bereits für die Bezeichnung

›Fauvismus‹ Pate gestanden hatte, 1908 die Bezeichnung ›Kubismus‹ prägte.90 In Anlehnung

an jenen ›modernen Primitivismus‹, den Paul Gauguin entgegen dem impressionistischen

Primat der Sinneswahrnehmung im ausgehenden 19. Jahrhundert im Sinne einer »Kunst der

geistigen Konzeption« und einer Rückkehr zum »Ursprünglichen« propagiert hatte und der

sich bereits in der expressiven Bildsprache der Fauvisten widerspiegelte,91 zielten Picasso und

Braque – im Gegensatz zu Matisse – auf eine Kritik der realistischen Malerei ab, indem sie

das Paradigma der Zentralperspektive unterwanderten und ihren bildnerischen Ausdruck

inspiriert von der Kunst indigener Völker auf ein geometrisches Formenvokabular und ein

89 Die Idee, vorgefertigte Gegenstände in Kunstwerke zu transformieren, beschäftigte Duchamp seit 1914, wobei er den Begriff »Ready-made« erst 1915 prägte, vgl. u.a. Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 66–67, sowie unten, Kap. 2.3. Das Konzept der Edition von mit Zettelwerk oder Miniaturen gefüllten Schachteln, erstmals realisiert in der Schachtel von 1914, entwickelte Duchamp als integralen Bestandteil des Großen Glases. Die Notizen, die Duchamp in seinen Schachteln veröffentlichte, sind den typografischen Vorgaben entsprechend wiedergegeben in: Duchamp: Duchamp du signe; dt.: Die Schriften, Bd. 1: Zu Lebzeiten veröffentlichte Texte, hg. v. Serge Stauffer, Zürich: Regenbogen-Verlag 1981. Seine Maxime »Der Betrachter macht das Bild« erläuterte Duchamp 1957 im Rahmen seines Vortrags »The Creative Act« (dt.: »Der schöpferische Prozeß«). Weitere Informationen zu den erwähnten Arbeiten finden sich in Schwarz’ »Critical Catalogue raisonné«. 90 Als Braque seine neuesten Landschaftsbilder 1908 für die Ausstellung im Salon d’Automne einreichte, war es Guillaume Apollinaire zufolge zunächst Matisse, der Braque als Jurymitglied nicht nur abgelehnt, sondern auch gegenüber Vauxcelles bemerkt haben soll, dass Braques Bilder aus lauter kleinen Kuben bestünden. Demzufolge hat Vauxcelles diese Charakterisierung (namentlich in seiner Besprechung einer Ausstellung von Braque in der Pariser Galerie Kahnweiler in Gil Blas vom 14. November 1908) also nur übernommen, indem er schrieb: »Il méprise la forme, réduit tout, sites et figures et maisons, à des schémas géométriques et à des cubes.« Als Vauxcelles in einer weiteren Rezension in Gil Blas vom 2. Mai 1909 anlässlich der Bilder von Braque auch noch von »bizarreries cubiques« sprach, hatte er endgültig die Bezeichnung ›Kubismus‹ geprägt, die seit 1910 in der Presse geläufig wurde. Vgl. Pierre Assouline: L’homme de l’art. D.-H. Kahnweiler 1884–1979, Paris: Éditions Balland 1988, S. 117. 91 Während Gauguins Primitivismus noch mehr philosophischer als ästhetischer Natur war, legten die Fauvisten seit 1906 Sammlungen der Kunst ›primitiver‹ Kulturen an und begannen sich auch in formaler Hinsicht an dieser zu orientieren, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Primitivismus_%28Kunst%29 (aufgerufen am 28.12.2015).

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gedämpftes Farbspektrum reduzierten. Gabriele Hoffmann unterstellt Picasso und Braque in

diesem Zusammenhang ein »analoges geistiges Wollen« mit Bergsons Philosophie, das

angesichts von deren ausdrücklicher Kritik an einer theoretischen Kontextualisierung der

Kunst allerdings reichlich weit hergeholt erscheint.92

Im Anschluss an die Periode des so genannten analytischen Kubismus, der vor allem auf einer

Zersplitterung und Fragmentierung von Objekten und Figuren basierte, thematisierten Picasso

und Braque seit etwa 1912 mit dem so genannten synthetischen Kubismus zunehmend auch

deren Aufbau, indem sie mit den Grenzen zwischen dargestellten und realen Gegenständen zu

experimentieren begannen. Zentrale Bedeutung hatte dabei die Technik des Papier collé, eine

Frühform der Collage, die sie entwickelten, indem sie Zeitungsausschnitte, Notenblätter,

farbiges Papier, Motivtapeten, Holzimitate, Textilien und andere Gegenstände des Alltags in

ihre Bilder integrierten. Mit Herta Wescher gesprochen ging es ihnen dabei nicht nur darum,

»Dinge des täglichen Lebens in neuer Form in ihre Malerei aufzunehmen«, sondern auch um

»Kompositionen eines vielschichtigen, irrealen Bildraums«, wie sie Braque bereits früher zu

erzielen versucht hatte, indem er Gemälde wie Violon et palette (Violine und Palette) (1909)

oder Violon et cruche (Violine und Krug) (1909–1910) in einer Umkehrung der Trompe-l’œil-

Technik mit aus der Bildfläche ragenden Nägeln versah.93

Obschon das Prinzip der Integration alltäglicher Gegenstände, das Picasso und Braque mit

ihren Papiers collés erstmals auf die Spitze trieben, im Konzept des Ready-made bald noch

eine radikalere Ausformung finden sollte, war Duchamp um 1912 noch vorwiegend mit einer

anderen, diametral entgegengesetzten Spielart des Kubismus befasst. Auch wenn Duchamp,

wie er Cabanne gegenüber erwähnt, ursprünglich in der Galerie Kahnweiler, die Braque und

Picasso vertrat und die er damals regelmäßig frequentierte, vom Kubismus »gepackt« wurde

und er Braque 1910 oder 1911 sogar einmal in dessen Atelier besuchte,94 pflegte er zu dieser

92 Gabriele Hoffmann: »Intuition, durée, simultanéité. Drei Begriffe der Philosophie Henri Bergsons und ihre Analogie im Kubismus von Braque und Picasso von 1910 bis 1912«, in: Hannelore Paflik-Huber (Hg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim: Acta Humoriana 1987, S. 39–64, S. 40. Hoffmanns Artikel stellt eine der ersten Untersuchungen zum Bergsonismus der historischen Avantgarden dar. Ein noch früherer Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Kubismus und Bergsonismus findet sich bei Marianne L. Teuber, die erwähnt, dass Bergsons Ideen in den Pariser Ateliers und Künstlercafés diskutiert worden seien, vgl. Marianne L. Teuber: »Formvorstellung und Kubismus oder Pablo Picasso und William James«, in: Kubismus. Künstler – Themen – Werke, 1907–1920, Köln: Josef-Haubrich-Kunsthalle 1982, S. 9–57, S. 17–18. Tatsächlich sprachen sich Picasso und Braque zeitlebens vehement gegen eine theoretische Kontextualisierung ihrer Arbeiten aus, vgl. u.a. von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden, S. 252–253. Dass eine theoretische Auseinandersetzung auch das Feld der zeitgenössischen Philosophie (und damit den Bergsonismus) betreffen könnte, wie beispielsweise im Fall von Matisse oder von Albert Gleizes und Jean Metzinger, lässt Klaus von Beyme im Rahmen seiner eingehenden Analyse allerdings weitgehend außer acht, vgl. ebd., S. 253–254. 93 Herta Wescher: Die Geschichte der Collage. Vom Kubismus bis zur Gegenwart, Köln: DuMont 1980, S. 17. 94 Vgl. Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 27.

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Zeit – im Gefolge seiner beiden älteren Brüder – schließlich viel engeren Kontakt zu den

Kubisten von Puteaux, die sich um 1911, wie Duchamp konstatiert, in einer Art »geistiger

Konkurrenz« zum Kubismus eines Picasso oder Braque zu einer Gruppe zusammenfanden,

die sich im Gegensatz zu diesen auch aktiv mit der Bezeichnung ›Kubismus‹ identifizierte.95

So erinnert sich Duchamp im Interview mit Cabanne:

Als der Kubismus zu einem gesellschaftlichen Phänomen wurde, sprach man vor allem von Metzinger. Er analysierte und erklärte den Kubismus, Picasso dagegen hat nie etwas erklärt. Daß nichts sagen oft besser ist, als zuviel sagen – das erkannten wir erst Jahre später. [...] Damals habe ich mich vom Fauvismus ab- und dieser neuen Sache, dem Kubismus, zugewandt. Ich hatte ihn entdeckt, und er interessierte mich. Ich nahm ihn sehr ernst. [...] Mißtrauisch in Bezug auf die mit ihm verbundene Systematisierung. Ich habe mich nie dazu bringen können, etablierte Formeln anzunehmen, zu kopieren oder mich beeinflussen zu lassen.96

Die Puteaux-Kubisten, die mit Unterstützung der Schriftsteller Guillaume Apollinaire und

André Salmon im Frühjahr 1911 im Rahmen ihrer Ausstellung im Salon des Indépendants

erstmals öffentlich als Gruppe auftraten und die mit der im Oktober 1912 in der Pariser

Galerie La Boétie veranstalteten Ausstellung Salon de la Section d’Or unter der Bezeichnung

›Section d’Or‹ bekannt wurden, waren im Gegensatz zu Picasso und Braque von Anfang an

um eine theoretische Untermauerung ihrer formalen Innovationen bemüht, die sie nicht nur

im Rahmen von eigenständigen Publikationen, sondern auch im Rahmen von Artikeln in

zeitgenössischen Kunstzeitschriften und in der Pariser Tagespresse vorantrieben.97 So legte

die Gruppe auch großen Wert auf die regelmäßigen Treffen, die in Pariser Künstlercafés und

– jeweils am Sonntag – in Puteaux im Atelier von Duchamps Bruder Gaston (alias Jacques

Villon) stattfanden (Abb. 6) und bei denen nicht nur spielerische Wettkämpfe wie Pétanque,

Bogenschießen und Hindernisrennen, sondern auch intensive philosophische Diskussionen

ausgetragen wurden. Neben dem damals überaus populären Thema der Vierten Dimension,

mit dem die Künstler von Puteaux eine »höhere Realität« assoziierten und ihr Konzept der

95 Vgl. ebd., S. 28. 96 Zit.n. Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 28. Zu den Puteaux-Kubisten zählten neben Albert Gleizes und Jean Metzinger, den beiden ›theoretischen Köpfen‹ der Gruppe, auch zahlreiche andere Künstler und Theoretiker wie Guillaume Apollinaire, Robert Delaunay, Robert de La Fresnaye, Henri Le Fauconnier, František Kupka, Fernand Léger, Francis Picabia, Maurice Princet, André Salmon und Duchamps Brüder Jacques Villon und Raymond Duchamp-Villon. 97 Tomkins zufolge war es in erster Linie der theoretische »Kopf« der Gruppe, »Jean Metzinger, durch den Duchamp und die anderen aufstrebenden Kubisten ihr verbales Verständnis der neuen Kunst vermittelt bekamen.« Tomkins, Marcel Duchamp, S. 71. Der »goldene Schnitt« (section d’or) war ein Thema, das von der Puteaux-Gruppe viel diskutiert wurde und das wesentliche Bedeutung für Duchamps spätere Entwicklung haben sollte, vgl. Jean Suquet: »Section d’or«, in: Jean Clair (Hg.): Marcel Duchamp: tradition de la rupture ou rupture de la tradition?, Paris: Union Générale d’Éditions 1979, S. 235–250.

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»multiplen Perspektive« untermauerten,98 sorgte dabei insbesondere auch das Modephänomen

des Bergsonismus, das damals gerade seinen Höhepunkt erreichte, für Gesprächsstoff. »Wie

viele andere«, schreibt Tomkins, »fanden die Künstler der Puteaux-Gruppe wichtige Elemente

ihrer ästhetischen Grundlagen in der anregenden Philosophie von Henri Bergson.«99

Bekanntschaft gemacht hatten die Puteaux-Kubisten mit Bergsons Philosophie durch den

Schriftsteller Jules Romains und dessen 1908 ins Leben gerufene literarisch-philosophische

Bewegung des ›Unanimismus‹ (von lat. unanimus »einträchtig«), die das Individuum als

aktiven Teil eines größeren, kollektiven Bewusstseins begriff und deren zentrales Konzept der

Intuition direkt auf Bergsons Philosophie zurückging.100 Entscheidenden Einfluss auf den

Bergsonismus der Puteaux-Gruppe hatte vor allem auch der symbolistische Literat und

Kunstkritiker de Visan, der bereits Bergsons erste Vorlesungen am Collège de France besucht

hatte und mit seiner Bewunderung für den Philosophen nicht hinter dem Berg hielt. Seit 1904

hatte de Visan im Rahmen mehrerer Publikationen auf die zentrale Bedeutung Bergsons für

die zeitgenössische Kunst hingewiesen, so auch 1910 in seinem Essay »La philosophie de M.

Bergson et le lyrisme contemporain« (Bergsons Philosophie und die zeitgenössische Lyrik)

und in seinem 1911 veröffentlichten Buch L’Attitude du lyrisme contemporain (Die Haltung

der zeitgenössischen Lyrik), dem auch die bereits zitierte, bewundernde Beschreibung seines

Meisters entstammt.101 Da die Puteaux-Kubisten, wie Antliff hervorhebt, de Visans Texte mit

großem Interesse studierten und überdies in regelmäßigem Kontakt mit ihm standen, war es in

erster Linie de Visan, der den Puteaux-Kubisten die Tür zum Bergsonismus öffnete und auf

dessen Initiative hin sie Bergson schließlich sogar persönlich kontaktierten, um ihn – letzten

Endes ohne Erfolg – für ein Vorwort in der Begleitbroschüre zu ihrer Ausstellung Salon de la

Section d’Or zu gewinnen.102

98 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 74. Neben Henri Poincaré und H. G. Wells hatten um 1900 bis 1910, wie Tomkins schreibt, auch viele andere populäre Schriftsteller dazu beigetragen, »die Idee von einer höheren, ›kosmischen‹ Dimension jenseits von Raum und Zeit zu verbreiten« (ebd., S. 73). 99 Tomkins: Marcel Duchamp, S. 82–83. Im Anschluss führt Tomkins weiter aus: »Wenige Denker sind zu ihren Lebzeiten so gefeiert gewesen wie Bergson, dessen ungeheurer Einfluß auf das Denken und die Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts heutzutage selten gewürdigt wird. Seine Vorträge am Collège de France während der Anfangsjahre des Jahrhunderts waren überfüllt, und sein Buch La Pensée et la Mouvant (Denken und schöpferisches Werden), das 1912 [sic] erschien und vielfach übersetzt wurde, fand praktisch überall Beifall.« Ebd., S. 83. La Pensée et le mouvant wurde tatsächlich erst 1934 veröffentlicht, 1912 hingegen erschien kein neuer Titel von Bergson. Zu den Versammlungen in Puteaux, vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 72–75. 100 Vgl. Antliff: Inventing Bergson, S. 40. Der Begriff Unanimismus geht zurück auf Jules Romains’ Buch La vie unanime: poème (Paris: L’Abbaye 1908), wobei Romains auch andere einschlägige Texte publiziert hat, so z.B. »Intuitions«, in: La Phalange (Juli–Dezember 1906), S. 175, »La poésie immédiate«, in: Vers et prose (Oktober–Dezember 1909), S. 90–95 sowie »Sur quelques rapports de la philosophie et de l’époque«, in: La Grande Revue (10. August 1910), S. 619. 101 Vgl. de Visan: Paysages introspectifs: poésies, avec un essai sur le symbolisme; ders.: »La philosophie de M. Bergson et le lyrisme contemporain«; ders.: L’Attitude du lyrisme contemporain, Paris: Mercure de France 1911. 102 Vgl. Antliff: Inventing Bergson, S. 39–42. André Salmon bemerkt in seinem Artikel »Bergson et les cubistes« (Paris-Journal, 29. November 1911), indem er auf de Visans Begegnungen mit Metzinger, Gleizes, Le

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Das ausgeprägte Interesse der Puteaux-Kubisten an Bergsons Philosophie fällt in genau jenen

Zeitraum, in dem Albert Gleizes und Jean Metzinger, die ›theoretischen Köpfe‹ der Gruppe,

intensiv an einem Buch über die theoretischen Grundlagen des Kubismus arbeiteten. Dieses

Buch mit dem Titel Du »Cubisme« (Über den »Kubismus«), das sie im Oktober 1912 in einer

ersten von zahlreichen Auflagen veröffentlichten (Abb. 7), sollte, wie Fritz Metzinger als

Herausgeber der dreisprachigen Ausgabe von 1993 hervorhebt, »zusammen mit den von

Bernard herausgegebenen Gesprächen und Briefen Cézannes bis 1914 der meistgelesene

Beitrag zur modernen Malerei« bleiben.103

Antliff zufolge ist das Werk nun als richtiggehende Lobeshymne auf den Bergsonismus zu

betrachten.104 Obwohl Bergsons Name kein einziges Mal fällt und die Entstehungsgeschichte

des Buches gewiss eine komplexere ist, lassen sowohl der Jargon als auch der persönliche

Hintergrund der Autoren daran keinen Zweifel. Wie Daniel Robbins in seinem Vorwort zur

deutschen Ausgabe von 1988 bemerkt, wurzelte Gleizes’ inhaltlicher Beitrag unter anderem

in der 1906 gegründeten Schriftstellervereinigung Abbaye de Créteil, zu deren Mitgliedern

unter anderem auch Jules Romains zählte und die sich »im Zusammenhang mit einer nach-

symbolistischen Suche nach neuen künstlerischen Formen« vor allem mit der »Idee der

Gleichzeitigkeit als Phänomen des zwanzigsten Jahrhunderts« beschäftigte.105 Metzinger

hingegen hatte sich zunächst vor allem mit dem Fauvismus und Neo-Impressionismus

beschäftigt, wodurch er Robbins zufolge »ein tiefes Verständnis für das erlangte, was er die

›intuitive Synthese‹ und die ›interpsychologische‹ Durchdringung nennt«.106 Und nicht zuletzt

erwähnt Robbins als wesentliche Referenz für beide Autoren Duchamps Brüder Jacques

Villon und Raymond Duchamp-Villon, die insbesondere in den Gebieten der Mathematik, der

modernen Naturwissenschaften und der Soziologie bewandert waren und denen Gleizes und

Metzinger »im Sommer 1912 Auszüge aus ihrem Manuskript vorlasen«.107

Fauconnier und Léger anspielt: »Qui rencontre ces messieurs aux soirées de Vers et Prose semble tout désigné pour les présenter à l’illustre métaphysicien.« Zit.n. ebd., S. 194, Anm. 4. Am 22. Juni 1912 berichtet Salmon in einem Artikel in Gil Blas – wenn auch allzu voreilig – bereits von Bergsons unverbindlicher Zusage, ein Vorwort zur für den Herbst geplanten Ausstellung der Section d’Or zu verfassen – »if he was definitively won over by their ideas.« Zit.n. Antliff, Inventing Bergson, S. 39. 103 Albert Gleizes, Jean Metzinger: Du »Cubisme«, Paris: Figuière 1912. Eine dreisprachige Ausgabe des Buches veröffentlichte Fritz Metzinger: dies.: Du »Cubisme« / On »Cubism« / Über den »Kubismus«, aus dem Franz. u. mit einer dreisprachigen Einf. v. Fritz Metzinger, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1993. Der Verweis auf den unmittelbaren Erfolg des Buches – die vierzehnte Auflage erschien bereits im Dezember 1912 – findet sich im Vorwort und in der Einleitung von Fritz Metzinger (S. 115/117). 104 Vgl. Antliff: Inventing Bergson, Kap. II: »Du Cubisme between Bergson and Nietzsche«, S. 39–66. 105 Daniel Robbins: »Vorwort«, in: Albert Gleizes, Jean Metzinger: Über den »Kubismus«, aus dem Franz. u. hg. v. Fritz Metzinger, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1988, S. 13–20, S. 17. 106 Ebd., S. 17–18. 107 Ebd., S. 16/18.

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Zu diesen Hintergründen, die deutlich machen, dass sich die beiden Autoren seit geraumer

Zeit mit dem Phänomen des Bergsonismus beschäftigt hatten, kam nun seit 1911, im Zuge der

Arbeit an Du »Cubisme«, auch eine aktive Auseinandersetzung mit Bergsons Philosophie, die

sich im Grundtenor des gesamten Werkes widerspiegelt. So greifen Gleizes und Metzinger

geradezu gebetsmühlenartig immer wieder auf bergsonsche Ideen und Termini zurück:

[S. 129:] Das Wort Kubismus wird hier nur verwendet, um bei dem Leser jeden Zweifel über den Gegenstand dieser Studie auszuräumen, und wir erklären sofort, daß die von ihm hervorgerufene Vorstellung, nämlich diejenige geometrischer Körper, eine Bewegung allein nicht beschreiben kann, die auf die Verwirklichung einer ganzheitlichen Malerei gerichtet ist. [S. 131:] Der einzig mögliche Fehler in der Kunst besteht in der Nachahmung. Sie greift das Gesetz der Zeit an, die das Gesetz selbst ist. [S. 132:] Nach unserer Meinung gehört [uns] die Zukunft nicht, und man muß schon ausgesprochen naiv sein, wenn man die Gegenwart mit der Elle der Vergangenheit messen will. [S. 133:] Das Gemälde trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst. [...] Da es im wesentlichen unabhängig ist und notwendigerweise vollständig, muß es den Verstand [ésprit] nicht sofort zufriedenstellen, sondern es muß ihn im Gegenteil Schritt für Schritt zu den imaginären Tiefen hinziehen, wo das ordnende Licht strahlt. Es steht nicht im Einklang mit dieser oder jener Teileinheit, es steht im Einklang mit der Gesamtheit aller Dinge, mit dem Universum: Es ist ein Organismus. [S. 134:] Wie sollte sich auch das Verständnis genau so schnell entwickeln wie die schöpferischen Fähigkeiten? Es folgt ihrem Schlepptau. [S. 137:] Der Maler [...] wandelt die Quantität in Qualität um. [S. 138:] Um den bildhaften Raum zu schaffen, müssen wir auf unsere tastenden und motorischen Empfindungen zurückgreifen, praktisch auf all unsere Fähigkeiten. Unsere ganze Persönlichkeit, ob sie sich nun konzentriert oder ausschweift, verwandelt die Fläche des Bildes. [S. 139:] Für uns sind Linien, Oberflächen und Körper nur Nuancen des Begriffs der Fülle. Nur die Körper nachzuahmen hieße, diese Nuancen zugunsten einer eintönigen Intensität aufzugeben. [...] Gewisse Formen müssen so unbestimmbar bleiben, daß der Geist des Betrachters der gewählte Ort ist, wo sie eigentlich erst konkrete Gestalt annehmen. [S. 155:] Kurz, der Kubismus, dem man vorwirft, ein System zu sein, verdammt alle Systeme. [...] Wir können zugestehen, daß es sich hierbei um eine Methode handelt, aber wir wehren uns dagegen, daß Methode mit System verwechselt wird. Der Kubismus ersetzt die von Courbet, Manet, Cézanne und den Impressionisten gewonnenen partiellen Freiheiten durch eine unbegrenzte Freiheit.108

Die Affinität der Autoren zu Bergsons Philosophie ist nicht von der Hand zu weisen. Bereits

in den ersten Zeilen des Werks wird eingeräumt, der Begriff des Kubismus, der die

Vorstellung »geometrischer Körper« impliziere, werde allein aus pragmatischen Gründen

verwendet und sei genau genommen nicht dazu geeignet, das Ideal einer »ganzheitlichen

Malerei« widerzuspiegeln (S. 129). Analog dazu lesen wir in Bergsons »Einführung in die

108 Albert Gleizes, Jean Metzinger: »Über den »Kubismus««, in: dies.: Du »Cubisme« / On »Cubism« / Über den »Kubismus«, S. 129–155. Die Seitenangaben in den eckigen Klammern beziehen sich jeweils auf die folgende Textpassage, auf Auslassungszeichen neben den Seitenangaben wurde an dieser Stelle verzichtet.

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Metaphysik«: »So sehr auch die abstrakten Begriffe für die Analyse wertvolle Dienste leisten

können, d. h. bei einem wissenschaftlichen Studium des Objektes in seinen Beziehungen zu

anderen, so sehr sind sie unfähig, die Intuition zu ersetzen, d. h. die metaphysische

Untersuchung des Objektes, in dem, was ihm wesentlich und eigentümlich ist.«109 Wenn

Gleizes und Metzinger unter Berufung auf das »Gesetz der Zeit« postulieren, die Kunst dürfe

schlichtweg alles, nur nicht nachahmen (S. 131), so schwingt darin jene Auffassung von

Ästhetik mit, die Bergson in seiner Dissertation formuliert: »So hat es die Kunst eigentlich

mehr darauf abgesehen, uns einen Eindruck von den Gefühlen zu geben als diesen einen

Ausdruck; sie suggeriert sie uns und legt keinen Wert darauf, die Natur nachzuahmen, falls

sie noch wirksamere Mittel findet.«110 In Schöpferische Entwicklung führt Bergson diesen

Gedanken näher aus, indem er darauf hinweist, dass die Wissenschaft nicht umhin komme,

ihre Analysen auf Symbole zu stützen, während die Ästhetik der Analyse komplementär

entgegengesetzt sei: »Für das psychologische Leben dagegen, wie es unterhalb dieser

überdeckenden Symbole abrollt, leuchtet unmittelbar ein, dass die Zeit sein Stoff selber

ist.«111 Wie Bergson sind auch Gleizes und Metzinger der Meinung, es wäre naiv, »die

Gegenwart mit der Elle der Vergangenheit messen« oder die Zukunft vorwegnehmen zu

wollen (S. 132). Die reine Dauer ist schließlich weder messbar noch berechenbar, sondern

vielmehr ein »ununterbrochenes Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und

im Voranrücken anschwillt«, wie Bergson in Schöpferische Entwicklung erklärt: »So wächst

also unsere Persönlichkeit, weitet sich und reift unablässig. Jeder ihrer Momente ist ein

Neues, das sich allem früher Gewesenen zugesellt. Und mehr als dies: nicht ein Neues nur,

sondern ein Unvorhersehbares.«112 Und wenn Gleizes und Metzinger zum Schluss kommen,

ein Gemälde müsse den Betrachter nicht intellektuell zufriedenstellen, sondern »Schritt für

Schritt zu den imaginären Tiefen hinziehen, wo das ordnende Licht strahlt« (S. 133), liegt es

nahe, daran zu denken, was Bergson in seiner »Einführung in die Metaphysik« schreibt – zu

einem Zeitpunkt, da vom Konzept der multiplen Perspektive noch keine Rede ist:

Kein Bild kann die unmittelbare Intuition der Dauer ersetzen, aber viele verschiedenartige Bilder, die den verschiedensten Bereichen der Dinge entlehnt werden, können durch die Konvergenz ihrer Wirkung das Bewußtsein auf den Punkt hinlenken, wo eine gewisse Intuition möglich ist. Indem man möglichst disparate Bilder auswählt, verhindert man, daß eines unter ihnen sich anmaßt, die Intuition, die es wachrufen soll, ganz wiederzugeben, da es sofort durch die rivalisierenden Bilder verdrängt werden wird. Indem man so erreicht, daß sie trotz ihrer Verschiedenheiten von unserem Geiste

109 Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 189. 110 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 19. 111 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 51. 112 Ebd., S. 52–53.

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gewissermaßen dieselbe Art der Aufmerksamkeit fordern, bzw. denselben Grad der Spannung, wird man allmählich das Bewußtsein an eine ganz besondere und ganz bestimmte Disposition gewöhnen, und zwar gerade an diejenige, die sie annehmen muß, um sich selber ohne Schleier zu erscheinen.113

Gleizes und Metzinger zufolge ist ein Gemälde dementsprechend nichts anderes als ein

»Organismus«, der sich nicht durch den »Einklang mit dieser oder jener Teileinheit«, sondern

allein durch den »Einklang mit der Gesamtheit aller Dinge« definiere (S. 133), weshalb unser

intellektuelles Verständnis unseren schöpferischen Fähigkeiten notwendig hinterherhinke (S.

134). Analog dazu betont Bergson in seiner »Einführung in die Metaphysik«: »Wir können es

nicht oft genug wiederholen: von der Intuition kann man zur Analyse übergehen, aber nicht

von der Analyse zur Intuition.«114 Während Gleizes und Metzinger von der »Quantität« zur

»Qualität« übergehen wollen (S. 137), setzt Bergson der Idee eines räumlichen Maßstabs die

Unermesslichkeit wirklicher Zeit entgegen, die mit dem Ineinanderfließen der Töne einer

Melodie vergleichbar sei, die »untereinander eine Komposition eingegangen sind und nicht

durch ihre Quantität als solche wirkten, sondern durch die Qualität, die ihre Quantität aufwies,

d.h. durch die rhythmische Organisation ihres Ganzen.«115 Und während die Kubisten der

Überzeugung sind, nicht nur ihre »tastenden und motorischen Empfindungen«, sondern ihre

»ganze Persönlichkeit, ob sie sich nun konzentriert oder ausschweift«, fließe in ihre Kunst

ein, indem sie die Fläche des Bildes verwandle (S. 138), entwickelt Bergson in Materie und

Gedächtnis die zentrale These:

Ich verstehe die Art des Einflusses, den die äußeren Bilder auf das Bild, welches ich meinen Leib nenne, ausüben: sie übertragen Bewegung auf ihn. Ebenso verstehe ich den Einfluss meines Leibes auf die äußeren Bilder: er gibt ihnen Bewegung zurück. Mein Leib ist also in der Gesamtheit der materiellen Bilder ein Bild, das sich wie die anderen Bilder betätigt: Bewegung aufnimmt und abgibt, mit dem einzigen Unterschiede vielleicht, daß mein Leib bis zu einem gewissen Grade die Wahl zu haben scheint, in welcher Form er das Empfangene zurückgeben will. [...] In Wirklichkeit gibt es kein unausgedehntes Bild, das sich im Bewußtsein bildet und dann in den Punkt P projiziert wird. Die Wahrheit ist die, daß der Punkt P, die Strahlen, die er aussendet, die Netzhaut und die beteiligten Elemente des Nervensystems ein solidarisches Ganzes bilden, in dem der Punkt P ein Teil ist, und daß im Punkte P, und nirgends anders, das Bild von P gebildet und wahrgenommen wird.116

Die Vorstellung einer fundamentalen »Fülle«, die den unterschiedlichen »Nuancen« der

»Linien, Oberflächen und Körper« zugrunde liege und die sich, wie Gleizes und Metzinger

113 Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 187–188. 114 Ebd., S. 203. 115 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 81. 116 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 3/28.

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finden, nur durch unbestimmbare Formen darstellen lasse, um im »Geiste des Betrachters«

schließlich »konkrete Gestalt« anzunehmen (S. 139), deckt sich mit Bergson Idee der Dauer:

»Wenn ich das Bild eines Spektrums mit 1000 Nuancen wachrufe, habe ich vor mir etwas

Fertiges, Abgeschlossenes, während die Dauer ein kontinuierliches Werden bedeutet. [...]

Man kann sie nicht durch Bilder darstellen.«117 Und ebenso wie Gleizes und Metzinger

betonen, beim Kubismus handle es sich keineswegs um ein »System«, sondern vielmehr um

eine »Methode«, welche die »partiellen Freiheiten durch eine unbegrenzte Freiheit« ersetze

(S. 155), unterstellt Bergson jeglicher Form von Systematik einen symptomatischen Mangel

an Präzision. »Die philosophischen Systeme sind nicht auf die Wirklichkeit, in der wir leben,

zugeschnitten. Sie sind zu weit für sie«, konstatiert Bergson in der Einleitung zu seinem Band

Denken und schöpferisches Werden: »Ein richtiges System ist eben eine Gesamtheit von so

abstrakten und infolgedessen unbestimmten Begriffen, daß man hierin neben dem Wirklichen

alles Mögliche und selbst Unmögliches unterbringen kann.«118 So gründet Bergsons Methode

der »Intuition« in der Überzeugung, dass die Philosophie eine Befreiung von vorgefertigten

Systemen und Stereotypen voraussetzt: »Die Metaphysik ist also die Wissenschaft, die sich

aller Symbole zu entledigen sucht.«119

Genug der Kommentare zu einem einzigen, wenn auch in der Geschichte des Avantgardismus

äußerst zentralen Text, dienen sie an dieser Stelle doch nur dazu zu zeigen, dass das Interesse

der Puteaux-Kubisten an Bergsons Philosophie alles andere als peripherer Natur ist. Bleibt die

Frage, inwiefern die Künstler von Puteaux Bergsons Philosophie nicht nur auf theoretischer

Ebene vereinnahmt, sondern auch tatsächlich in ihren Beweggründen wahrgenommen und

künstlerisch weiterentwickelt haben. Diese Frage jedoch fällt eindeutig in Richtung eines

grundlegenden Missverständnisses aus, insofern die Puteaux-Kubisten Bergsons Philosophie

nicht etwa weiterdachten, sondern sie im Gegenteil in den Dienst einer zutiefst dogmatischen

Kunstauffassung stellten. Jenseits des standardisierten Formenvokabulars und Farbspektrums,

das sie auf formaler Ebene entwickelten, wird dies vor allem auch in Anbetracht von Gleizes’

und Metzingers abschließendem Kommentar deutlich. »Da objektives Wissen als Trugbild

erkannt und bewiesen ist, daß alles, was die Menge unter ›natürlicher Form‹ versteht, etwas

Überkommenes darstellt, wird der Maler keinen anderen Gesetzen mehr gehorchen als

denjenigen des Geschmacks«, schreiben die beiden selbsternannten Apologeten einer Kunst

117 Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 187. 118 Henri Bergson: »Einleitung (Erster Teil)« (1922), in: ders.: Denken und schöpferisches Werden, S. 21–41, S. 21 (Originaltitel: »Introduction (première partie). Croissance de la vérité. Mouvement rétrograde du vrai«, in: ders.: La Pensée et le mouvant, S. 1–23). 119 Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 184.

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auf der Höhe der Zeit, indem sie ihr Manifest mit den Worten beenden: »Als Realist gestaltet

er [der Maler] die Realität nach seiner geistigen Vorstellung; denn es gibt nur eine Wahrheit,

nämlich die unsrige; sie wollen wir allen auferlegen. Und es ist der Glaube an die Schönheit,

der die dazu notwendige Kraft verleiht.«120

Mehr als deutlich kommt in Zeilen wie diesen jene absolutistische Tendenz zum Ausdruck,

die das Modephänomen des Bergsonismus von Anfang an wie ein Schatten begleitete und die

im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs dazu führte, dass Bergson eines fatalen Intuitionismus

bezichtigt wurde. Dabei lässt die Affinität der Puteaux-Kubisten zu Bergsons Philosophie, die

nicht zuletzt im Hinblick auf ihre politischen Untertöne problematisch ist,121 alles andere als

einen logischen Umkehrschluss zu. Schließlich stand Bergson zeitlebens für ein aufgeklärtes

und kritisches Denken ein, das die Fähigkeiten des Intellekts keinesfalls unterschätzen, sie im

Gegenzug aber auch keinesfalls überschätzen sollte. Bergsons Philosophie war also nie gegen

die Vernunft als solche gerichtet, sehr wohl aber gegen ihre unhinterfragte Vormachtstellung,

die Bergson mit seiner Methode der Intuition hinterfragen und zugunsten einer schöpferischen

Perspektive transzendieren wollte, um jenseits von vorgefertigten Begriffen und Kategorien

auch einer in kontinuierlicher Veränderung befindlichen Lebensrealität gerecht zu werden.

Bergsons Methode der Intuition versteht sich damit als Gegengewicht zur Vernunft, mit dem

es den Gewissheiten des Intellekts ein Prinzip der Unvoreingenommenheit entgegenzusetzen

gilt, in anderen Worten, ein Gewissen, das nicht an äußerlichen Wahrheiten festzumachen ist,

sondern vielmehr ein inneres Bewusstsein, eine moralische Bewusstheit voraussetzt.122

In logischer Konsequenz stand Bergson der dogmatischen Kunstauffassung der Kubisten von

Puteaux ausgesprochen skeptisch gegenüber. Als Maurice Verne ihn im November 1911 im

Rahmen eines Interviews für L’Intransigeant zu einem Artikel befragte, den Metzinger kurz

zuvor in der Zeitschrift Paris-Journal veröffentlicht und in dessen Rahmen er die multiple

120 Gleizes/Metzinger: »Über den »Kubismus««, S. 155. 121 Zu den politischen Beweggründen der Puteaux-Kubisten, vgl. von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden, S. 260ff.; Antliff: Inventing Bergson, S. 168ff., im Besonderen ebd., S. 168–169: »The Puteaux Cubists and their Symbolist allies attacked the Action française for its praise of the »clarity« and »rationality« of Cartesian thought: in their hands la lumière de la raison became a negative phrase standing for the hegemony of vision and intellect over empathy and intuition. […] In effect, the intuitive, rhythmic, and durational principles that made the Cubists’ canvases organic wholes were now used to delineate the consciousness of a people and the geographical borders of a corporative federation. The French people, along with their Celtic confrères in the United Kingdom and northern Europe, were united by their racial background in opposition to the Germano-Latin races.« 122 Vgl. lat. conscientia »Gewissen, Mitwissen«, ahd. gewizzeni »(inneres) Bewusstsein, (religiös-moralische) Bewusstheit«.

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Perspektive der Kubisten auf Bergsons Konzept der Dauer zurückgeführt hatte,123 erklärte

Bergson schließlich ohne Umschweife:

Was man heute beobachten kann ist, dass die Theorie der Verwirklichung vorangeht ... Ja, in allem: in den Künsten wie in den Wissenschaften ... Früher war das umgekehrt ... Für die Künste würde ich das Genie [génie] bevorzugen, und Sie? ... Aber wir haben die Natürlichkeit [ingénuité] verloren, man muss sie wohl durch etwas ersetzen ...124

Angesichts von Bergsons Eingeständnis, er bedaure, die Bilder der Kubisten selbst noch nie

gesehen zu haben,125 ist dieser Kommentar weniger als fundierte Kritik zu bewerten denn als

ein weiterer Beleg seines wenn nicht mutwilligen, so wenigstens auffälligen Desinteresses an

der zeitgenössischen Kunst, das sich im Übrigen in all seinen Äußerungen betreffend Kunst

und Ästhetik niederschlagen sollte. Dennoch ist Bergsons Kommentar, so wenig er sich auch

auf konkretes Anschauungsmaterial bezieht, in gewisser Hinsicht berechtigt. Denn Tatsache

ist: Bergson stößt sich nicht nur daran, dass der Theorie neuerdings ein Vorrang gegenüber

der Verwirklichung eingeräumt werde. Er tut auch seine Überzeugung kund, dass man sich

von Seiten der Kunst einen unabhängigeren und eigenständigeren Umgang mit jedweder

Form von Theorie – und dementsprechend auch mit seiner eigenen Philosophie – erwarten

sollte. Und damit hat er, wie man rückblickend leicht sagen kann, in Bezug auf die Bilder der

Kubisten nicht ganz Unrecht. Denn auch wenn die Bedeutung des Kubismus im historischen

Kontext kaum überschätzt werden kann, hat er sich inzwischen längst überholt, um das Feld

der Kunst für originellere, individuellere und radikalere Lösungsvorschläge zu räumen.

Anders als sein Bruder Raymond, der Bergsons Philosophie, wie Tomkins befindet, im

Vergleich zu den anderen Kubisten noch »am wirkungsvollsten in Kunst umsetzte«,126 war

Duchamp aus heutiger Sicht gewiss derjenige, der den ersten bahnbrechenden Schritt in

Richtung einer derartigen Originalität, Individualität und Radikalität gemacht hat, indem er

im Gegensatz zu den formalen und theoretischen Innovationen der historischen Avantgarden

seit 1912 ein Prinzip der Methodenvielfalt entwickelte, mit dem er jeden konventionellen

Rahmen sprengte und damit jenem Paradigma der künstlerischen Freiheit Vorschub leistete,

123 Konkret bezog sich Vernes Frage sich auf Metzingers Aussage: »Le tableau possédait l’espace, voilà qu’il règne aussi dans la durée.« Jean Metzinger: »Cubisme et tradition«, in: Paris-Journal (16. August 1911), S. 5. 124 Zit.n. Verne: »Un jour de pluie chez M. Bergson«, S. 1 (Übers. d. Verf.). 125 Vgl. ebd. 126 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 84: »In den aufeinanderfolgenden Versionen seines Meisterbildwerkes Das Pferd, an dem er 1913 zu arbeiten begann, gelang Duchamp-Villon eine Verschmelzung multipler Perspektiven, von neuer Form, die aus früherer Form hervorging, welche zur Wirkung hatte, daß sein Bild eines halb abstrakten Pferdekopfes sich sowohl durch die Zeit wie durch den Raum zu bewegen schien und darüber hinaus zugleich als Tier wie als Maschine funktionierte.«

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das er 1945 mit dem Statement auf den Punkt brachte: »Es gibt keine Lösung, weil es kein

Problem gibt.«127 Im Herbst 1911 allerdings, als sich Bergson von den Kubisten distanzierte,

war Duchamp seiner Rolle als jüngerer Bruder, der die Diskussionen der Puteaux-Kubisten

eher passiv verfolgte und eben erst begann, mit deren Formensprache zu experimentieren,

noch nicht ganz entwachsen – auch wenn er ahnen mochte, dass seine Sicht der Dinge

vielleicht bald eine andere wäre. Von September bis Dezember 1911 verfertigte er jedenfalls

mehrere Zeichnungen und Gemälde, die zwar grundsätzlich auf der Methode der multiplen

Perspektive basierten, die ihn »seiner eigenen, persönlichen kubistischen Sichtweise«, wie

Tomkins bemerkt, aber schon »sehr viel näher« brachten.128 Besonders deutlich wird diese

persönliche Sichtweise am Beispiel von Duchamps Portrait de joueurs d’échecs (Porträt von

Schachspielern) (Abb. 8), das er im Dezember 1911 vollendete und dem Tomkins eine völlig

neue Qualität attestiert. Obgleich das in gelblichen Erdtönen gehaltene Gemälde, das formal

an das Prinzip der multiplen Perspektive angelehnt ist, Tomkins zufolge »auf den ersten Blick

mehr in Übereinstimmung mit bewährten kubistischen Techniken zu stehen [scheint] als

Duchamps frühere Experimente«, war Duchamp mit diesem Bild »auf etwas aus, das kein

anderer Kubist [...] je versucht hatte«, so Tomkins:

Seine Schachspieler spielen nicht nur Schach, sie denken Schach. Eine gedankliche Intensität durchdringt das Gemälde und beansprucht Vorrang gegenüber dem bloß ›retinalen‹ Bild. Zum ersten Mal bekommen wir einen deutlichen Blick auf Duchamps rasch eskalierende Ambition, die darauf abzielte, die Malerei ›in den Dienst des Geistes‹ zu stellen.129

In formaler Hinsicht fällt auf, dass Duchamps Porträt von Schachspielern im Vergleich zu

anderen kubistischen Werken weniger konstruiert wirkt und auch kaum an geometrische

Formen denken lässt. Duchamp öffnet hier vielmehr einen organischen Bildraum, der im

Gegensatz zu den flächigen, weitgehend homogenen Bildräumen der Kubisten nicht nur

räumliche Tiefe, sondern auch ein dynamisches Moment suggeriert. Mit den Schachfiguren,

die im Zentrum des Gemäldes einen perspektivischen Fluchtpunkt markieren, entsteht der

Eindruck, als befänden sich die Spieler im Sog dieser Perspektive und als wären sie in die

Bewegung des Spiels – eines Denkspiels, und damit in eine Gedankenbewegung – vertieft.

Ferner ist hervorzuheben, dass Duchamp als Motiv nicht etwa ein Stillleben oder Porträt

wählt, das einer ›statischen‹ Darstellung zugänglich wäre, sondern zwei Personen, die sich in

127 Duchamp im Interview mit Harriet und Sidney Janis, März 1945, zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 30. 128 Tomkins: Marcel Duchamp, S. 78. 129 Ebd., S. 79–80.

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der dargestellten Situation über das gemeinsame Ganze des Schachspiels definieren und die

damit in einem Beziehungsgefüge stehen und ein Moment der Interaktion nahelegen. Wenn

Tomkins dem Gemälde eine gewisse »gedankliche Intensität« zuschreibt, so ist diese also

gewiss nicht nur auf formale Aspekte zurückzuführen, sondern insbesondere auch auf darauf,

dass Duchamp seiner »persönlichen kubistischen Sichtweise« gerade dadurch näher kam, dass

er parallel zur Formensprache des Kubismus auch andere Formen der Auseinandersetzung für

sich zu entdecken begann. Neben seiner Leidenschaft für Schach und seiner Begeisterung für

die zeitgenössische Literatur, die sich zu dieser Zeit vor allem auf die ironisch-nihilistischen

Wortspiele des symbolistischen Dichters Jules Laforgue konzentrierte,130 spielten dabei auch

der italienische Futurismus und die Techniken der Chronofotografie und der Kinematografie

eine zentrale Rolle, die mit dem Kunstbegriff der Puteaux-Kubisten alles andere als vereinbar

waren.

1.2.3. Futurismus, Chronofotografie und Kinematografie

Der italienische Futurismus, der 1909 mit dem von Filippo Tommaso Marinetti im Pariser

Figaro veröffentlichten »Manifeste du Futurisme« (»Manifest des Futurismus«) eingeläutet

wurde131 und zu dessen prominentesten Vertretern Umberto Boccioni, Giacomo Balla, Luigi

Russolo, Gino Severini und Carlo Carrà zählen, ist vom Bergsonismus ebenso wenig zu

trennen wie der Puteaux-Kubismus – auch wenn die Stoßrichtung der beiden Bewegungen

diametral entgegengesetzt ist. Anders als die Kubisten, die mit dem Prinzip der multiplen

Perspektive das konservative Ideal einer interesselosen Anschauung propagierten, lehnten

sich die Futuristen aktiv gegen herrschende Normen auf und suchten einen radikalen Bruch

mit der Tradition, indem sie die Errungenschaften der modernen Technik idealisierten und mit

den Prinzipien der Spontaneität, der Rücksichtslosigkeit, der Jugendlichkeit, der Aggressivität

und der Geschwindigkeit einem sensualistischen Dynamismus Vorschub leisten wollten.132

130 Vgl. ebd., S. 108ff. 131 Filippo Tommaso Marinetti: »Manifeste du Futurisme«, in: Le Figaro, Nr. 51 (20. Februar 1909), S. 1; dt.: »Gründung und Manifest des Futurismus«, in: Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler Verlag 2005, S. 3–7. Die Veröffentlichung dieses Manifests gilt im Allgemeinen als Geburtsstunde des so genannten historischen Avantgardismus, vgl. ebd., S. 1. 132 Zur Relevanz des Bergsonismus für die Entwicklung des Futurismus, vgl. Francesca Talpo: »Der Futurismus und Henri Bergsons Philosophie der Intuition«, in: Norbert Nobis (Hg.): Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1909–1918, Hannover/Mailand: Sprengel Museum Hannover 2001, S. 59–71. Wesentlichen Einfluss auf den Bergsonismus der Futuristen hatte der französische Sozialphilosoph Georges Sorel, dessen radikale Lesart des Marxismus ihre Wurzeln im intuitionistischen Denken Bergsons hatte, vgl. Francesca Talpo: »Zur Gewalt im Futurismus: Filippo Tommaso Marinetti und Georges Sorel«, in: Evelyn Benesch, Ingried Brugger (Hg.): Futurismus: Radikale Avantgarde, Mailand: Mazzotta 2003, S. 91–99, S. 92–93. Ein früher Verweis auf den ›Intellektualismus‹ der Kubisten im Gegensatz zum ›Sensualismus‹ der Futuristen findet sich bei Leon

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59

Tatsächlich hatte Marinetti, wie Azouvi hervorhebt, bis 1909 mehrfach Gelegenheit gehabt,

»auf den Bergsonismus zu treffen und von ihm als einer Philosophie reden zu hören, die den

gegenwärtigen Bedürfnissen entspricht«, weshalb es auch kaum überrasche, »dass man in den

zahlreichen Deklarationen des Futurismus bergsonsche Untertöne mitschwingen hört.«133 So

zielte der Futurismus darauf ab, die rigiden Bastionen der Vernunft nicht nur theoretisch in

Frage zu stellen, sondern buchstäblich zu sprengen. Marinettis »Manifest des Futurismus«

liest sich dementsprechend als eine euphorische Kampfschrift gegen die Vorherrschaft der

Vernunft, die er zugunsten einer Kunst des Werdens, des Übergangs und des Ephemeren

transzendieren wollte. »Verlassen wir der Weisheit schreckliches Gehäuse, und werfen wir

uns, wie mit Stolz gefärbte Früchte, in den riesigen und fletschenden Rachen des Windes!...

Werfen wir uns dem Unbekannten zum Fraß hin, nicht aus Verzweiflung, sondern nur, um die

tiefen Brunnen des Absurden zu füllen!«, schwingt sich Marinetti hoch, und weiter: »Warum

sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen

wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir

haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.«134 Im Namen dieser

ungezügelten Veränderungswut und dieser buchstäblichen Bodenlosigkeit beruft sich auch

das 1910 auf Initiative von Umberto Boccioni in Mailand verteilte Flugblatt »La Pittura

Futurista. Manifesto tecnico« (»Die Futuristische Malerei. Technisches Manifest«) auf den

radikalen Entwicklungsgedanken, dem Bergsons Philosophie ihren ungeheuren Erfolg zu

verdanken hatte:

Die Geste wird für uns nicht mehr ein fixierter Augenblick universellen Dynamismus, sondern sie wird die als solche festgehaltene dynamische Empfindung sein. Alles bewegt sich, alles fließt, alles vollzieht sich mit größter Geschwindigkeit. Eine Figur steht niemals unbeweglich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unaufhörlich. Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung befindlichen Dinge, ändern ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen im Raum. So hat ein galoppierendes Pferd nicht vier, sondern zwanzig Beine, und ihre Bewegungen sind dreieckig. In der Kunst ist alles Konvention, und die Wahrheiten von gestern sind für uns heute lauter Lügen. Stellen wir nochmal fest, daß ein Porträt, um ein Kunstwerk zu sein, seinem Modell weder ähneln kann noch darf; und der Maler trägt die Landschaften, die er wiedergeben will, in sich.135

Kochnitzky: »Marcel Duchamp and the Futurists«, in: View: The Modern Magazine V, Nr. 1: Marcel Duchamp (März 1945), S. 41/45, S. 45. 133 Azouvi: La gloire de Bergson, S. 221 (Übers. d. Verf.). 134 Marinetti: »Gründung und Manifest des Futurismus«, S. 4–5. 135 Umberto Boccioni, Giacomo Balla, Carlo Dalmazzo Carrà, Luigi Russolo, Gino Severini: »Die Futuristische Malerei. Technisches Manifest« (11. April 1910), in: Asholt/Fähnders: Die Manifeste der europäischen Avantgarde, S. 13–16, S. 14.

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60

Wie aus diesen Zeilen hervorgeht, waren die Futuristen nicht nur von Bergsons Philosophie,

sondern auch von der zeitgenössischen Chronofotografie inspiriert, die insbesondere in den

Werken Giacomo Ballas offensichtliche Spuren hinterlassen sollte.136 Im Gegensatz zu den

Kubisten, die sich mit ihren multiplen Perspektiven gegen das Prinzip der Zentralperspektive

wandten und damit einen flexiblen Betrachterstandpunkt suggerierten, ging es den Futuristen,

wie Leon Kochnitzky hervorhebt, dabei vor allem um eine bildnerische Darstellung jener

»Gleichzeitigkeit von Seelenzuständen«, die sie erstmals im Februar 1912, im Begleitkatalog

zur aufsehenerregenden Ausstellung Les peintres futuristes italiens in der Pariser Galerie

Bernheim-Jeune, zur Sprache brachten und mit der sie sich ausdrücklich auf Bergsons

Konzept der durée bezogen: »Die Gleichzeitigkeit von Seelenzuständen im Kunstwerk: Das

ist das berauschende Ziel unserer Kunst [...]. Um den Betrachter ins Zentrum des Bildes zu

versetzen [...], muss das Bild die Synthese dessen sein, was man erinnert und was man

sieht«.137 Eben dies, den Betrachter aktiv ins Bildgeschehen miteinzubeziehen, hatten die

Futuristen aber auch schon 1910, auf dem Flugblatt, das sie in Mailand verteilten, zu einem

ihrer zentralen Ziele erklärt: »[...] die Maler haben uns immer Dinge und Personen gezeigt,

die vor uns aufgestellt sind. Wir setzen den Beschauer mitten ins Bild.«138

Nachdem Duchamp die besagte Ausstellung in der Galerie Bernheim-Jeune gleich mehrere

Male besucht haben soll,139 kommt seine später entwickelte Maxime »Der Betrachter macht

das Bild« gewiss nicht von ungefähr. Im Februar 1912 war der Futurismus für Duchamp aber

vor allem insofern von Interesse, als er gerade dabei war, sich vom Kubismus zu distanzieren

und neue Quellen für sein künstlerisches Schaffen zu erschließen. Zu diesen gehörten unter

anderem auch die Methoden der zeitgenössischen Chronofotografie und Kinematografie, mit

denen er sich im Dezember 1911 und Januar 1912 bereits beschäftigt und die er damit nicht

dem Futurismus, sehr wohl aber seiner eigenen Experimentierfreude zu verdanken hatte.140

136 Evelyn Benesch zufolge machte Giacomo Balla 1912 die ersten futuristischen Bewegungsstudien, die einerseits von den fotodynamischen Experimenten der Brüder Carlo Ludovico und Anton Giulio Bragaglia in Rom und andererseits von den chronofotografischen Sequenzen von Edweard Muybridge und Étienne-Jules Marey angeregt waren, vgl. Evelyn Benesch: »Die futuristischen Maler – ihre Manifeste und Bilder«, in: dies./Brugger: Futurismus, S. 31–45, S. 43–44. 137 Zit.n. Jean Weisgerber (Hg.): Les avant-gardes littéraires au XXe siècle, Bd. 1, Budapest: Akadémiai Kiadó 1984, S. 969 (Übers. d. Verf.), Originalwortlaut: »La simultanéité des états d’âme dans l’œuvre d’art: voilà le but enivrant de notre art […]. Pour faire vivre le spectateur au centre du tableau […] il faut que le tableau soit la synthèse de ce dont on se souvient et de ce que l’on voit«. Kochnitzky schreibt dazu: »Making use of the discoveries of chrono-photography – as Marcel Duchamp has done – they applied this technical process to what they themselves styled ›la simultanéité des états d’âme.‹« Kochnitzky: »Marcel Duchamp and the Futurists«, S. 45. 138 Boccioni/Balla/Carrà/Russolo/Severini: »Die Futuristische Malerei«, S. 14. 139 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 107. 140 Vgl. Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 44: »Die Zerstückelung in meinen vorangegangenen

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Seit Ende der 1870er Jahre waren der Chronofotografie intensive Forschungen gewidmet

worden, die im beginnenden 20. Jahrhundert längst Eingang in die Populärkultur gefunden

hatten. Zu den Pionieren der Chronofotografie zählte neben Ottomar Anschütz (Deutschland),

Edweard Muybridge (England) und Albert Londe (Frankreich) vor allem auch der berühmte

französische Physiologe Étienne-Jules Marey, der von 1867 bis 1904 am Collège de France

lehrte (wo seit 1900 auch Bergson zu seinen Kollegen zählte) und der seit 1880 mit seriellen

Mehrfachbelichtungen fotografischer Platten experimentierte, um die wissenschaftliche

Analyse von Bewegungsabläufen voranzutreiben.141 Mit der Chronofotografie war auch der

Weg für die Kinematografie geebnet, zu deren Namenspaten die Brüder Auguste und Louis

Lumière mit ihrem im Dezember 1895 erstmals öffentlich präsentierten »Cinématographe«

(auch: »Réversible«) werden sollten, einem Apparat, der sowohl die Aufnahme als auch das

Kopieren und die Wiedergabe von Filmen ermöglichte und der ausgehend von Paris bald die

großen Städte der Welt erobern sollte.142

Im Hinblick auf den Bergsonismus der historischen Avantgarden ist dabei von besonderem

Interesse, dass auch Bergson selbst wiederholt auf die Verfahren der Chronofotografie und

der Kinematografie Bezug nahm, um seine Unterscheidung zwischen Intellekt und Intuition

zuzuspitzen und deren unterschiedliche Verfahrensweisen zu veranschaulichen.143 So widmet

Bergson der Kinematografie beispielsweise das gesamte Schlusskapitel seines vieldiskutierten

Werks Schöpferische Entwicklung (Abb. 9), indem er schon in der Kapitelüberschrift verrät,

worauf seine Analyse der divergierenden Manifestationsformen des Lebens hinausläuft: »Der

kinematographische Mechanismus des Denkens und die mechanistische Täuschung. Ein Blick

auf die Geschichte der Systeme. Das reale Werden und der falsche Evolutionismus« titelt das

besagte Kapitel,144 in dem Bergson das abstrakte, rationale und zielorientierte Denken mit

einem ausgeklügelten Mechanismus vergleicht, der wie die illusionistischen Effekte der

Kinematografie auf einem höchst effektiven Täuschungsmanöver basiere. Das Prinzip ist

einfach: Nehmen wir an, man wollte »ein lebhaftes Schauspiel, wie etwa den Aufmarsch Bildern hatte kaum eine gedankliche Grundlage und basierte auch nicht auf dem Futurismus, denn ich kannte die Futuristen ja gar nicht; Apollinaire hat allerdings trotzdem von meinem Traurigen Jüngling behauptet, er sei Ausdruck eines »futuristischen Seelenzustands«.« Zu Duchamps Auseinandersetzung mit der Chronofotografie, vgl. unten, Kap. 1.3.1 141 Vgl. Friedrich von Zglinicki: Der Weg des Films. Die Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer, Berlin: Rembrandt-Verlag 1956, S. 164ff. 142 Vgl. ebd., S. 215ff. 143 Vgl. Georges Didi-Huberman: »Das Auge öffnet sich, die Lampe erlischt. Bemerkungen über Bergson und die Kinematographie«, in: Helmar Schramm (Hg.): Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 462–479; ders.: »La danse de toute chose«, in: ders., Laurent Mannoni: Mouvements de l’air. Étienne-Jules Marey, Photographe des Fluides, Paris: Éditions Gallimard 2004, S. 173–316, S. 213–316. 144 Vgl. Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 275–357.

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eines Heeres, auf einem Leuchtschirm nachbilden«, erklärt Bergson, so ließe sich dies mehr

oder weniger zufriedenstellend bewerkstelligen, indem man Gelenkfiguren mit der ihr je

eigentümlichen Bewegung versehen und sie dabei auf den Schirm projizieren würde: »Für

dieses kleine Spielwerk müßte so eine Unsumme von Arbeit aufgewandt werden, während

überdies das erreichte Resultat mittelmäßig genug bliebe: denn wie die Geschmeidigkeit, die

Mannigfaltigkeit des Lebens wiedergeben?«145 Nun gibt es Bergson zufolge aber auch »ein

zweites, sehr viel bequemeres und sehr viel wirksameres Verfahren«:

Das nämlich: von dem vorüberziehenden Regiment eine Reihe von Momentaufnahmen zu machen und so auf den Schirm zu werfen, daß sie einander mit größter Schnelligkeit ablösen. [...] Derart, daß dies Verfahren in summa darin besteht, aus allen Eigenbewegungen aller Figuren eine unpersönliche, abstrakte und einfache Bewegung herauszulösen, die Bewegung überhaupt sozusagen; diese Bewegung im Apparat niederzulegen und dann die Individualität jeder Einzelbewegung durch Zusammensetzung dieser anonymen Bewegung und der persönlichen Stellungen zu rekonstruieren. Dies ist der Kunstgriff des Kinematographen. Dies auch der Kunstgriff unseres Erkennens. Statt uns dem innern Wesen der Dinge hinzugeben, stellen wir uns außerhalb ihrer, um dies Werden künstlich zu rekonstruieren. [...] Wahrnehmung, intellektuelle Auffassung, Sprache, sie alle pflegen so zu verfahren. Ob es sich nun darum handle, das Werden zu denken oder auszudrücken, ja es wahrzunehmen, wir tun nichts weiter, als einen inneren Kinematographen in Tätigkeit zu setzen. Derart also, daß alles Vorhergehende sich in den Worten zusammenfaßt: der Mechanismus unseres gewöhnlichen Denkens ist kinematographischen Wesens. [...] Die kinematographische Methode ist also die einzig praktische, denn sie besteht darin, die Gesamthaltung der Erkenntnis nach der Gesamthaltung des Handelns zu regeln; immer in der Erwartung, daß jeder Einzelakt seinerseits sich nach jeder Einzelerkenntnis richte. [...]

Diskontinuierlich wie jeder Pulsschlag des Lebens ist die Handlung; diskontinuierlich also wird das Erkennen sein.146

Um sich in einer in kontinuierlicher Veränderung begriffenen Lebenswirklichkeit behaupten

zu können, bedient sich der Intellekt Bergson zufolge einer bemerkenswerten List: Indem er

die Wahrnehmung einem Prinzip der Selektion unterstellt, extrahiert er aus dem Fluss des

Werdens klar voneinander unterschiedene Momentaufnahmen, Bilder, Vorstellungen und

Begriffe, durch deren sukzessive Überlagerung es ihm gelingt, »das Bewegte mit Hilfe des

Unbewegten zu denken.«147 Da die Komplexität wirklichen Werdens als solche nicht in den

Griff zu bekommen ist, legt der Intellekt seinen Fokus also auf einzelne Zustände, Objekte

oder Positionen, die er aus dem Fluss der Veränderung abstrahiert und vor dem Hintergrund

einer abstrakten Idee von Bewegung überlagert, sortiert und miteinander kombiniert. Damit

ist Intellekt Bergson zufolge keineswegs so unabhängig und frei, wie man meinen möchte,

145 Ebd., S. 302–303. 146 Ebd., S. 303–304. 147 Ebd., S. 297.

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kommt er in seiner Funktion als Handlungsinstrument doch nicht umhin, auf vorgefertigte

Bilder, Begriffe und Kategorien zurückzugreifen: »Jede Handlung zielt auf Erlangung eines

Gegenstandes, dessen Mangel man fühlt, oder auf Schaffung von etwas, was noch nicht

existiert.«148 Wenn sich das Verfahren der Vernunft nach kinematografischer Methode mit

Bergson gesprochen einerseits als äußerst zielführend und praktisch erweist, so wohnt ihm

andererseits auch der folgenschwere Trugschluss inne, dass der Intellekt auf die Wirklichkeit

zugreifen könnte, während er sich ihr genau genommen nur gegenüberstellen kann, indem er

das Wirkliche von ihr abzieht. Im Anschluss an Gilles Deleuzes ersten »Bergson-Kommentar«

ist Bergsons Metapher daher unter dem Schlagwort der »kinematographischen Illusion« in die

Literatur eingegangen.149

Es ist vielfach – und an erster Stelle von Bergson selbst – hervorgehoben worden, dass eine

derartige Auffassung des Denkens und Erkennens eine grundlegende Paradoxie impliziert.

Denn wenn das Denken per se auf einem Täuschungsmanöver und damit auf einer Illusion

basiert – wie sollte dann das Denken über das Denken, die Philosophie, diese Illusion nicht

nur hinter sich lassen, sondern ihr darüber hinaus auch eine Sicht der Dinge entgegensetzen

können, die der Wirklichkeit der Veränderung angemessen wäre? Um dieser Paradoxie Herr

zu werden, unterscheidet Bergson nun zwei verschiedenartige Formen von ›Intelligenz‹: eine

Intelligenz, die rein praktischer, mechanischer und sozusagen kinematografischer Natur ist,

indem sie sich als Handlungsinstrument versteht, und eine interesselose, unvoreingenommene

und rein intuitive Intelligenz, die vorgefertigte Vorstellungen, Bilder und Begriffe über Bord

wirft, indem sie sich auf die unüberschaubare Fülle wirklichen Werdens, auf die Kontinuität

des Lebens und Erlebens einlässt. Im Gegensatz zur praktischen Intelligenz, die auf einem

Prinzip der Willkür basiert, ist es Bergson zufolge nun gerade die intuitive Intelligenz, die –

entgegen der landläufigen Meinung – keineswegs beliebig oder instinktiv, sondern vielmehr

metareflexiv ist. Mit seiner philosophischen Methode der Intuition zielt Bergson also auf eine

Geisteshaltung ab, die sich selbst nicht absolut setzt, sondern sich ihre eigene Beschränktheit

bewusst macht und sich damit selbst reflektiert. Da sich die Philosophie mit dem Medium der

Sprache notwendig des kinematografischen Verfahrens bedient, indem sie die Intuition, die

ihr zugrunde liegt, in Momentaufnahmen – Wörter, Bilder und Metaphern – übersetzt, kann

die Philosophie, wie Bergson auch im Hinblick auf seine eigene Philosophie betont, ihrem

Namen nur gerecht werden, wenn sie stets aufs Neue hinterfragt und in ihren Beweggründen

wahrgenommen wird, um ohne Unterlass vervollständigt, adaptiert und weitergedacht zu 148 Ebd., S. 276. 149 Vgl. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 1.

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werden. Schließlich ist der »menschliche Geist«, wie Bergson erklärt, »so beschaffen, daß er

das Neue erst zu begreifen beginnt, nachdem er alles versucht hat, um es auf das schon

Bekannte zurückzuführen«:

In den Problemen, die der Philosoph sich gestellt hat, erkennen wir die Fragestellungen, die seine Zeit bewegten, in den Lösungen, die er bietet, glauben wir, in mehr oder weniger guter Anordnung, aber im Grunde unverändert, die Grundbestandteile der älteren oder zeitgenössischen Philosophie wiederzufinden. [...] Aber in demselben Maße, wie wir uns mehr in das Denken des Philosophen hineinversetzen, anstatt es nur von außen zu betrachten, sehen wir, wie seine Lehre eine neue Gestalt gewinnt. Zunächst vermindert sich ihre Kompliziertheit. Dann beginnen die Teile miteinander zu verschmelzen. Schließlich konzentriert sich das Ganze in einem Punkt, und wir fühlen, daß man sich ihm immer mehr annähern könnte, ohne ihn je zu erreichen. | In diesem Punkt liegt irgend etwas so Einfaches, so unendlich Einfaches, daß es dem Philosophen niemals gelungen ist, es auszudrücken. Und darum hat er sein ganzes Leben lang darüber gesprochen. [...] Die ganze Kompliziertheit seiner Lehre, die bis ins Unendliche gehen würde, bedeutet also nur die Inkommensurabilität zwischen seiner einfachen Grund-Intuition und den Ausdrucksmitteln, über die er verfügte. [...] Indem er die Kurve seines ihm eigentümlichen Denkens verließ und in der geradlinigen Richtung der Tangente weiterdachte, ist er gleichsam aus sich selbst herausgetreten. Er kehrt zu sich wieder zurück, wenn er zu seiner Intuition zurückkehrt. Aus diesem sich-selber-Verlieren und zu-sich-selber-Zurückkehren besteht die Zick-zacklinie einer Lehre, die, wie man sagt, ›sich entwickelt‹, d. h. die sich in Wirklichkeit verliert, wieder findet und sich endlos selber korrigiert.150

Georges Didi-Huberman vergleicht Bergsons Methode der Intuition mit der Methode eines

Kunsthistorikers, der, wenn er etwa zwei Grashalme miteinander vergleiche, im Gegensatz

zum Botaniker nicht deren »Identität« in den Blick nehme, sondern es vielmehr vorziehe,

»über ihre Singularitäten nachzudenken, über ihre Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten.«151

Damit erkennt Didi-Huberman in Bergsons Philosophie »das fruchtbare Paradoxon einer

Praktik des Denkens, die man als eine der Bewegung und der Dauer ›immanente Fähigkeit zu

sehen‹ bestimmen könnte, eine Praktik, wo der ›Verstand, indem er sich einer gewissen

Disziplin unterwirft, eine Philosophie vorbereiten könnte, die ihn überholt‹, das heißt eine

Philosophie, die fähig wäre, sich der Versteinerung des Systems, ja der Starrheit des Begriffs

zu entziehen.«152 So ist mit Didi-Huberman auch hervorzuheben, dass Bergsons Kritik des

kinematografischen Denkens zwar ästhetischen Ursprungs, aber keinesfalls, wie immer

wieder behauptet wurde, gegen die Kunst der Kinematografie gerichtet ist – überrascht es

doch im Gegenteil, dass Bergson in seinem Essay über Das Lachen, mit dem er 1900 ein

Plädoyer für das befreiende Potential des Humors vorlegte, nicht ein einziges Mal auf die

150 Bergson: »Die philosophische Intuition«, S. 127–129. 151 Didi-Huberman: »Das Auge öffnet sich, die Lampe erlischt«, S. 466. 152 Ebd., S. 466–467.

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komischen Szenen des zeitgenössischen Kinos verweist.153 Mit Didi-Huberman gesprochen

ist Bergsons Begriff der Kinematografie damit »im Kontext einer Philosophie der Erkenntnis

und der Sinnesempfindung« zu verorten, die auch Lucien Bull – der letzte Assistent und

»geistige Sohn« Mareys – in seinem Buch La Cinématographie von 1928 vertritt, indem er

die Kinematografie als »ein experimentelles Instrument der visuellen Erkenntnis« definiert,

»das auf der analytischen Zergliederung der Bewegung basiert und auf ihre theoretische

Synthese zielt.«154

Wenn Bergsons Begriff der Kinematografie Didi-Huberman zufolge weniger auf das

zeitgenössische Kino als vielmehr auf die Chronofotografie zurückgeht, so liegt dieser

Konnex vor allem auch insofern nahe, als Bergson seine Kritik des instrumentalisierten

Denkens bereits zu einem Zeitpunkt formulierte, als von Kinematografie noch keine Rede

sein konnte155 – so zum Beispiel im 1888 verfassten Vorwort zu seiner Dissertation, in dem er

auf das technische Dispositiv der Chronofotografie zu verweisen scheint, indem er die Frage

aufwirft, »ob nicht die unübersteiglichen Schwierigkeiten, die gewisse philosophische

Probleme bieten, daher kommen, daß man dabei beharrt, die Erscheinungen, die keinen Raum

einnehmen, im Raume nebeneinander zu ordnen, und ob sich der Streit nicht oft dadurch

beenden ließe, daß man von den allzu groben Bildern abstrahiert, um die er sich abspielt.«156

Wenn die aufsehenerregenden Bilder der Kinematographie längst die Aufmerksamkeit einer

breiten Öffentlichkeit geweckt hatten, so kam Bergson spätestens seit seiner Berufung ans

Collège de France im Jahr 1900 nicht mehr umhin, sich mit Marey auseinanderzusetzen, da

dieser bereits seit 1867 dort unterrichtete und nun sein Kollege wurde. So spielten Mareys

Studien im Hinblick auf Bergsons zentrale philosophische Thesen alles andere als eine

periphere Rolle, wie Didi-Huberman konstatiert:

Was Bergson unter Kinematographie verstand, muss man also im Kontext der Chronophotographie und Mareys selbst ansiedeln. [...] Man hat bisweilen den Eindruck, La Pensée et le mouvant sei geschrieben, um auf Mareys Le Mouvement zu antworten, dass L’Évolution créatrice alle Vorschläge aus La Machine animale ins Gegenteil verkehre, und dass Matière et mémoire La Méthode graphique – diese Mnemotechnik der Phänomene –, die der gelehrte Mechaniker fordert, bis ins Letzte zu widerlegen

153 Ebd., S. 471–472. 154 Ebd., S. 472. 155 Ein so genannter Cinématographe wurde erstmals 1892 unter dem Namen des französischen Erfinders Léon Guillaume Bouly patentiert. Seit 1894 wurde der Begriff Cinématographe (auch: Réversible) von den Brüdern Lumière für Apparate verwendet, die zur Filmaufnahme, zum Kopieren und zur Projektion dienten. Die erste geschlossene Vorführung mit dem Cinématographe fand am 22. März 1895 statt, die erste öffentliche am 28. Dezember 1895. Vgl. Zglinicki: Der Weg des Films, S. 215/217. 156 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 7.

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suche. [...] Marey wird in Bergsons Büchern nie zitiert, aber Anspielungen auf sein Werk finden sich dort ohne Zweifel. Wenn Bergson im Essai sur les données immédiates de la conscience behauptet, dass die Bewegung genauso wenig teilbar ist wie die Dauer messbar, so wird der Versuch Mareys – mit seiner visuellen Aufteilung der Gesten und seinem gleichzeitigen Willen, alles zu messen – philosophisch in Frage gestellt; wenn Bergson jene heftig kritisiert, ›denen es gefällt, die Zustände nebeneinanderzustellen [und] daraus eine Kette oder Linie zu bilden‹, scheint er die chronophotographischen Serien Mareys abzulehnen, wie auch die unzähligen Kurven, die dazu bestimmt waren, eine leserliche – zugleich zeichenhafte (indiciaire) und geometrische – Spur von Lebensphänomenen zu geben.157

Besonderes Augenmerk verdient dabei auch die Tatsache, dass Bergsons Philosophie, wie

Didi-Huberman an anderer Stelle hervorhebt, auf eine Kritik an zwei entgegengesetzten

Bildregimes hinausläuft, die beide auf einer impliziten »Negation von Bewegung« basieren

und denen Bergson seine bewegungsbejahende Konzeption des Lebens gegenüberstellt.158

Während die traditionelle Metaphysik à la Phidias »die Dauer in eine Fiktion von Ewigkeit«

und der moderne Szientismus à la Marey »die Dauer in eine Fiktion von Augenblicklichkeit«

auflöse, appelliere Bergson »an eine dritte Sichtweise, die man ›hypermodern‹ nennen«

könne, »also allein nach dynamischen und energetischen Gesichtspunkten organisiert«, so

Didi-Huberman:

Wenn die Bewegung unteilbar ist (erste These) und die Zeit intensiv (zweite These), dann (dritte These) wird man verstehen müssen, inwiefern Leben unteilbar und intensiv, beweglich und zeitigend ist, in einem Wort, erfinderisch. Leben, das nicht wie ein objektivierbares Ding erscheint, sondern wie eine unaufhörliche Explosion; das sich nicht wie eine messbare Linie entwickelt, sondern wie ein Wirbelsturm.159

Wie eine »unaufhörliche Explosion«, wie ein »Wirbelsturm«: Didi-Hubermans Metaphern

sind keineswegs weit hergeholt, greift Bergson in Schöpferische Entwicklung doch wieder

und wieder auf sie zurück, um sein Konzept eines omnipräsenten, entfesselnden élan vital

anschaulich zu machen. So zum Beispiel auch, wenn er die höher entwickelten Lebewesen

(und konkret das Tier im Vergleich zur Pflanze) durch eine Fähigkeit zur Konzentration von

potentieller Energie charakterisiert, die »durch Anwendung eines Auflösungsmechanismus in

›explosionsartige‹ Handlungen« entladen werden kann, weshalb man davon ausgehen könne,

dass »überall, wo ein nervöses System mitsamt den sensorischen Organen und motorischen

Apparaten, die ihm als Fortsätze dienen, vorhanden ist«, die »Wesensfunktion des gesamten

157 Didi-Huberman: »Das Auge öffnet sich, die Lampe erlischt«, S. 472–473. Eine detaillierte Gegenüberstellung der Werke Bergsons und Mareys findet sich in Didi-Huberman: »La danse de toute chose«, S. 216ff. 158 Didi-Huberman: »La danse de toute chose«, S. 225. 159 Ebd., S. 226–227 (Übers. d. Verf.).

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übrigen Körpers« nur darin besteht, »ihnen die Kraft zu bereiten und im gegebenen Moment

zu liefern, die sie durch eine Art Explosion in Freiheit setzen sollen.«160 So kommt Bergson

wenige Seiten später zu dem Schluss, dass jede noch so minutiöse Darstellung des Lebens

letztlich an dessen irreduzibler Vehemenz und Turbulenz scheitern müsse:

Das Leben als Ganzes ist Bewegtheit schlechthin; seine Einzeldarstellungen aber nehmen diese Bewegtheit nur widerwillig auf und bleiben stets hinter ihr zurück. Jenes schreitet dauernd vorwärts, diese möchten auf der Stelle marschieren. Die Entwicklung als Ganzes würde, so weit irgend möglich, geradlinig verlaufen; jede Einzelentwicklung aber ist ein in sich kreisender Prozeß. Wie vom Wind aufgejagte Staubwirbel drehen sich die Lebewesen um sich selbst, in der Schwebe gehalten vom großen Odem des Lebens.161

1.3. Duchamps Schöpferische Entwicklung162

Bergsons naturgewaltige Metaphern, Explosion und Wirbelsturm, sollten sich nicht nur im

Jargon des italienischen Futurismus niederschlagen, sondern lassen auch an jene Kommentare

denken, die in der US-amerikanischen Presse kursierten, als Duchamps Gemälde Akt, eine

Treppe herabsteigend, Nr. 2 von 1912 im Rahmen der legendären Armory Show von 1913

zunächst im New Yorker Zeughaus (Armory) und daraufhin im Art Institute of Chicago und

in der Copley Society of Art in Boston gezeigt wurde und einen landesweiten Skandalerfolg

feierte.163 Während sich die Rezensenten landauf landab mit abschätzigen Superlativen

überboten, ging Julian Street von der New York Times so weit, das Bild als »Explosion in

einer Schindelfabrik« zu beschreiben, was Peyton Boswell vom New York Herald aufgriff,

um seinerseits von einem »Wirbelsturm in einer Schindelfabrik« zu sprechen.164 Diese

harschen Reaktionen machen deutlich, wie radikal der Bruch mit herrschenden formalen

Konventionen war, den Duchamp im Sinne seiner »persönlichen Sichtweise des Kubismus«

vollzogen hatte und den er bald noch weiter treiben sollte, indem er das Medium der Malerei

zugunsten eines ganzen Spektrums neuer Medien, Techniken und Strategien hinter sich ließ.

160 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 147. 161 Ebd., S. 153. 162 Kap. 1.3. basiert in einzelnen Ausschnitten auf folgender Publikation: Sarah Kolb: »»Präzisionsmalerei, und Indifferenzschönheit«: Bergson, Duchamp und der Topos der Intuition«, in: S/T/AR, Nr. 15 (2007), S. 75–78. 163 Zur Erfolgsgeschichte von Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 (1912), vgl. u.a. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 562–563 sowie Tomkins: Marcel Duchamp, S. 140ff. 164 Julian Streets satirisches Resümee der Armory Show, dem das Zitat »explosion in a shingle factory« entstammt, trägt dem Titel »Why I Became a Cubist« und wurde im März 1913 in Everybody’s Magazine veröffentlicht; Peyton Boswells Kommentar zum »cyclone in a shingle factory« erschien kurz darauf im New York Herald. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Akt,_eine_Treppe_herabsteigend_Nr._2#cite_ref-15 (aufgerufen am 28.12.2015).

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Das Gemälde Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 markiert damit gleich in zweierlei

Hinsicht einen fundamentalen Wendepunkt in Duchamps künstlerischer Entwicklung:

einerseits, weil Duchamp durch die Bezugnahme auf die naturwissenschaftliche Methode der

Chronofotografie und die experimentellen Verfahren der zeitgenössischen Literatur ein neues

Methodenvokabular für sich zu entdecken begann, andererseits aber auch, weil die negativen

Reaktionen, die er damit auslöste, derart aus dem Ruder laufen sollten, dass er sie nur als

Bestätigung auffassen konnte. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ist Duchamps Akt

damit Ausgangspunkt jener radikalen Emanzipationsbewegung zu betrachten, die Duchamp

seit 1912 ins Werk setzen sollte und mit der sein Name seither unauflöslich verbunden ist.

Um die Tragweite von Duchamps Akt zu begreifen, gilt es daher zunächst einen Blick auf

dessen Entstehungsgeschichte zu werfen.

1.3.1. Duchamps emanzipatorischer Akt

Im Dezember 1911 und Januar 1912 beschäftigte sich Duchamp im Rahmen der vier Gemälde

Moulin à café (Kaffeemühle), Jeune homme triste dans un train (Trauriger Jüngling im Zug),

Nu descendant un escalier n° 1 (Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 1) und Nu descendant un

escalier n° 2 (Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2) erstmals malerisch mit dem Thema der

Bewegung. Da es sich bei den ersten drei um kleinere Studien handelt, die Duchamp eher im

Sinne einer Annäherung an das Thema betrachtete, soll im Rahmen der folgenden Seiten nur

das elaborierteste und berühmteste unter ihnen besprochen werden: das Gemälde Akt, eine

Treppe herabsteigend, Nr. 2 (im Folgenden kurz: Akt), das er im Januar 1912 vollendete

(Abb. 10). Auffällig ist am Akt zunächst, dass Duchamp von der multiplen Perspektive der

Kubisten abweicht, indem er der Vervielfachung räumlicher Blickwinkel eine Vervielfachung

zeitlicher ›Momentaufnahmen‹ entgegensetzt. Wie Duchamp durch den – damals nicht

gebräuchlichen und dementsprechend provokativen – Vermerk des Bildtitels am linken

unteren Bildrand unterstreicht, zeigt das Bild eine nackte, menschliche Figur in Bewegung.

Der hell vor dem Hintergrund sich abhebende, in Ocker- und Brauntönen gehaltene und auf

ein geometrisches Formenvokabular reduzierte Körper, der einen Großteil der Bildfläche

einnimmt, erscheint in eine Reihe statischer Positionen oder Momentaufnahmen aufgelöst,

durch deren Überlagerung Duchamp in Anlehnung an die Mehrfachbelichtungen Mareys

(Abb. 11) Bewegung suggeriert. Mehrere bogenförmig angelegte Pinselstriche im Bereich der

Arme und Beine unterstützen einen Eindruck der Bewegtheit. Duchamp kommentierte sein

Interesse am Thema der Bewegung in einer ganzen Reihe von Notizen und Statements, die

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Anne d’Harnoncourt und Kynaston McShine im Katalog zur Duchamp-Retrospektive im

Philadelphia Museum of Art 1973 zusammenfassend zitieren:

Vom Problem der Bewegung in der Malerei fasziniert, machte ich etliche Skizzen zu diesem Thema [...] indem ich mich der Methode der Demultiplikation der Bewegung bediente, die Anfang 1912 meine Hauptbeschäftigung werden sollte. [...] Beim Akt eine Treppe herabsteigend, vollendet im Januar 1912, hatte ich eine Zusammenführung unterschiedlicher Interessen im Sinn, unter ihnen das Kino, das noch in den Kinderschuhen steckte, und die Vereinzelung statischer Positionen in den Fotochronografien von Marey in Frankreich, Eakins und Muybridge in Amerika. [...] Der anatomische Akt existiert nicht, oder kann zumindest nicht gesehen werden, da ich die naturalistische Erscheinung eines Akts völlig verworfen habe, indem ich nur die abstrakten Linien von etwa zwanzig statischen Positionen aus dem sukzessiven Akt des Herabsteigens beibehielt. [...] Die Futuristen waren zu dieser Zeit ebenfalls am Problem der Bewegung interessiert, und als sie im Januar 1912 erstmals in Paris ausstellten, war es ziemlich aufregend für mich, Ballas Gemälde Hund an der Leine zu sehen [...]. Gleichwohl fühlte ich mich mit dieser Abstraktion mehr als Kubist denn als Futurist [...], auch wenn der Umgang mit der Bewegung einige futuristische Zwischentöne hat.165

Obschon Duchamp im Januar 1912 noch eng mit dem Kreis der Puteaux-Kubisten verbunden

war und sein Akt in formaler Hinsicht deutlich an den Kubismus angelehnt ist kündigt sich in

dem Gemälde eine völlig neue Entwicklung an. Anstatt in kubistischer Manier wohldefinierte,

in sich geschlossene Körper, Motive oder Situationen in ihre Umgebung einzuschachteln, ist

Duchamp nunmehr weniger am dargestellten Sujet als solchem interessiert, als vielmehr am

Problem der bildnerischen Darstellung von Bewegung. Inspiriert von der Chronofotografie

und den Bewegtbildern des Kinos, die eine Darstellung von Bewegung durch die sukzessive

Überlagerung statischer Momentaufnahmen erzielten, basiert das Gemälde Akt auf der Idee

Vervielfältigung (multiplication) zeitlicher Perspektiven, die Duchamp allerdings mit einer

»Vereinfältigung« oder »Demultiplikation der Bewegung« in Verbindung bringt, mit der er

keineswegs den Anspruch erhebt, eine realistische Darstellung eines wirklichen, bewegten

Körpers oder gar den Eindruck von Bewegtheit zu erzielen. »Nun, wenn ich den Abflug eines

Flugzeugs zeige oder ein Linienschiff, das durch das Meer stampft, dann versuche ich das zu

zeigen, was sie tun, nicht das, was sie sind«, erklärt Duchamp 1936 im Interview mit Daniel

165 Zit.n. Anne d’Harnoncourt, Kynaston McShine: »The Works of Marcel Duchamp: A Catalog (includes Duchamp’s notes »A propos of myself«)«, in: dies. (Hg.): MARCEL DUCHAMP, New York: Prestel 1989, S. 231–326, S. 256/258 (Übers. d. Verf.). Duchamps Erinnerung muss ihn hier getäuscht haben, denn Giacomo Balla war weder auf der großen Pariser Ausstellung der Futuristen im Februar (sic) 1912 vertreten, noch hätte sein Gemälde Dinamismo di un cane al guinzaglio (Bewegungsrhythmus eines Hundes an der Leine), das auf Mai 1912 datiert ist, zu diesem Zeitpunkt gezeigt werden können, vgl. Claudia Mörth: »Biographien«, in: Benesch/Brugger: Futurismus, S. 251–261, S. 251, sowie Max Kozloff: Cubism/Futurism, New York: Charterhouse 1973, S. 170.

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MacMorris: »Ich mache keine Stillebenbilder aus ihnen.«166 1960 hebt er im Interview mit

Georges Charbonnier daher auch hervor, die Bewegung habe ihn »als Instrument und nicht als

Idealvorstellung« interessiert und es sei ihm folglich nie darum gegangen, eine »Illusion von

Bewegung« zu erzeugen und bei einer »Nachahmung des Kinos zu landen«; er könne daher

nur bekräftigen, dass sein Akt »ganz und gar keine Illusion von Bewegung« erzeuge, sondern

– analog zur Chronofotografie – vielmehr nur »ein Schema, ein Diagramm der Bewegung«

liefere: »tatsächlich erzeugt es sie [die Illusion der Bewegung] nicht, aber es beschreibt sie.

Schlussendlich ist ein Bild ein Diagramm einer Idee.«167 Auf die Frage von Nicola Greely-

Smith, ob die dargestellte Figur eine Frau sei, antwortet Duchamp bereits 1916: »Um Ihnen

die Wahrheit zu sagen, ich habe nie darüber nachgedacht, was es ist. Wozu sollte ich darüber

nachdenken? Meine Bilder stellen keine Objekte dar, sondern Abstraktionen. Akt, die Treppe

herabsteigend ist eine Abstraktion der Bewegung.«168

Wenn Duchamp die Idee der »Abstraktion der Bewegung« einerseits im Gegensatz zu den

multiplen räumlichen Perspektiven der Kubisten entwickelte, so fühlte er sich den Kubisten

dennoch näher als den Futuristen, die sich zeitgleich mit dem Problem der Darstellung von

Bewegung auseinandersetzten und sich dabei ebenfalls auf die Methode der Chronofotografie

bezogen, wobei sie in Duchamps Augen allerdings ganz andere Ziele verfolgten. So erklärt

Duchamp 1960 im Interview mit Guy Viau auf dessen Frage, ob er das Gemälde Akt nicht

mehr dem Futurismus als dem Kubismus zuordnen würde:

Ja, eine Verwandtschaft gab es jedenfalls. Das lag damals in der Luft. Bei den Futuristen gab es etwas, was ein wenig anders war, das war das Anliegen, eine Bewegung wiederzugeben, die Bewegung wiederzugeben. Zu versuchen, wenn man die Bewegung wiedergibt, sie auf impressionistische, das heißt naturalistische Weise wiederzugeben, die Illusion der Bewegung hervorzubringen, was an sich ein Irrtum war, da man ja keine Sache wiedergibt, man gibt die Bewegung – auf realistische Weise –

166 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 28. 167 Georges Charbonnier: Entretiens avec Marcel Duchamp, Interviews vom 6. Dezember 1960 bis zum 2. Januar 1961, Marseille: André Dimanche 1964, S. 58–59 (Übers. d. Verf.), Originalwortlaut im Textzusammenhang: »Ça a été une idée intéressante parce que ça n’avait jamais existé, au sens d’employer le mouvement comme un instrument et non pas comme un idéal. […] en réalité, il n y avait pas eu de recherche afin de donner l’illusion cinématographique du mouvement. C’est à partir de 1910 qu’il y a eu cette recherche chez les futuristes et chez beaucoup d’autres que ça a tenté, que ça a intéressé. Et cela a continué. Sans arriver à une imitation du cinéma, on en arrivait quand même à vouloir exprimer d’une façon plus terre à terre, pour ainsi dire, plus tangible, le mouvement même que nous connaissons bien. Nous savons que nous nous déplaçons tous les jours et, dans ce déplacement, il y a quelque chose à exprimer, autre que le nu statique – qui a aussi son intérêt, puisque toute la tradition de l’art est basée là-dessus. […] l’idée d’un Nu descendant un escalier est venu du fait que j’avais vu […] des photographies appelées chronophotographies […] donnant le schéma, le diagramme du mouvement. On pourra me répondre que ça ne donne pas du tout l’illusion du mouvement; en effet ça ne la donne pas, mais ça le décrit. Après tout, un tableau est un diagramme d’une idée.« 168 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 18.

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nicht vermittels eines statischen Bildes wieder, nicht wahr? Das ist nicht möglich. Daher ging das daneben, weil es die Fortsetzung der impressionistischen Idee übertragen auf die Bewegung war. Während es in meinem Fall, beispielsweise, wo ich das gleiche mit dem Akt, eine Treppe herabsteigend machen wollte, etwas anders war. Ich war mir sehr wohl bewusst, dass ich die Illusion der Bewegung nicht in einem statischen Bild wiedergeben konnte. Ich habe mich daher damit begnügt, einen Stand der Dinge zu machen, einen Stand der Bewegung, wenn Sie so wollen, wie das Kino es macht, aber ohne das Abspielen des Kinos wie beim Film. Das eine mit dem anderen zu überlagern.169

Duchamps Zugang zur Chronofotografie war damit ausgesprochen reflektiert, betrachtete er

sie doch weniger als Instrument zur Darstellung von Bewegung denn als »experimentelles

Instrument der visuellen Erkenntnis«, womit er jenen Zugang antizipieren sollte, den Lucien

Bull Didi-Huberman zufolge später in Bezug auf die Kinematografie entwickelte.170 Indem er

sein Hauptaugenmerk auf die Tatsache legte, dass eine Darstellung von Bewegung vermittels

statischer Bilder prinzipiell mit einem Prozess der »Abstraktion« und folglich mit einer

»Demultiplikation« der Bewegung verbunden ist, situierte er seinen Akt aber gleichzeitig in

unmittelbarer Nähe zu jener Kritik des Bewegungsbegriffs, die Bergson 1889 formuliert hatte,

indem er die Vorstellung einer aus einzelnen räumlichen Positionen zusammengesetzten,

quantitativen Bewegung negierte und im Gegenzug auf die zeitliche Kontinuität und

qualitative Mannigfaltigkeit wirklicher Bewegung verwies:

Meistens sagt man, eine Bewegung finde im Raume statt, und wenn man die Bewegung für homogen und teilbar erklärt, denkt man eben an den durchlaufenen Raum, als ob man ihn der Bewegung selbst gleichsetzen könnte. Sieht man nun näher zu, so überzeugt man sich, daß die sukzessiven Lagen, die das Bewegte einnimmt, allerdings Raum beanspruchen, daß aber die Operation, durch die es von einer Lage in die andere gelangt, eine Operation, die Dauer in Anspruch nimmt und nur für einen bewußten Beobachter Wirklichkeit besitzt, sich dem Raum entzieht. Wir haben es hier mit keiner Sache, sondern mit einem Fortschritt zu tun: die Bewegung, insofern sie als Übergang von einem Punkt zum anderen angesehen wird, ist eine geistige Synthese, ein psychischer Prozeß und folglich unausgedehnt.171

Ebenso wie wir es Bergson zufolge bei der Bewegung »mit keiner Sache, sondern mit einem

Fortschritt zu tun« haben, ebenso versucht Duchamp mit seinen Skizzen bewegter Körper

oder Gegenstände »das zu zeigen, was sie tun, nicht das, was sie sind«, um die Vorstellung

einer Wirklichkeit, die es naturgetreu abzubilden gälte, endgültig hinter sich zu lassen.

169 Das Interview wurde am 17. Juli 1960 im kanadischen Radio Télévision ausgestrahlt, zit.n. Guy Viau: »Changer du Nom, simplement«, http://www.toutfait.com/issues/volume2/issue_4/interviews/md_guy/md_guy_f.html (aufgerufen am 28.12.2015, Übers. d. Verf.). 170 Vgl. Didi-Huberman: »Das Auge öffnet sich, die Lampe erlischt«, S. 472 sowie oben, Kap. 1.2.3. 171 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 84–85.

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Während die chronofotografischen Studien Mareys ausdrücklich im Sinne einer Analyse

wirklicher Bewegung intendiert waren und die bewegten Bilder der Kinematografie einen

überzeugenden Wirklichkeitseffekt erzielten, erhob Duchamp mit seinem Akt also keineswegs

den Anspruch, diese Leistungen in den Bereich der bildenden Kunst zu übertragen und damit

zu einer naturgetreuen Darstellung der Wirklichkeit zu gelangen. Die Chronofotografie als

wissenschaftliches Instrument und die Kinematografie als publikumswirksame Technik

interessierten ihn – ja. Was ihn aber viel mehr interessierte, war jene »geistige Synthese«, von

der Bergson spricht und die sich mit dem analytischen Charakter der Chronofotografie und

den illusorischen Effekten der Kinematografie als unvereinbar erweist. Die »Abstraktion der

Bewegung«, die Duchamp mit seinem Akt zur Darstellung bringt, erschließt sich dem

Betrachter sozusagen allein im ›kinematografischen Nachvollzug‹, das heißt mit Bergson

gesprochen, nur unter der Bedingung eines geistigen Fortschritts oder Prozesses, im Zuge

dessen der Betrachter die dargestellten Momentaufnahmen als solche wahrnimmt und

aneinanderreiht, um sie in einem weiteren Schritt nach dem Prinzip der Mehrfachbelichtung

simultan zu überlagern. Schließlich »existiert die Möglichkeit, Bewegung und durchlaufene

Linie sich decken zu lassen«, Bergson zufolge »ausschließlich für einen Beobachter, der,

außerhalb der Bewegung verbleibend und in jedem Moment nur die Möglichkeit eines

Stillstands ins Auge fassend, die reale Bewegung aus diesen möglichen Unbewegtheiten zu

rekonstruieren behauptet«.172 Der Prozess der Abstraktion seitens des Künstlers gewinnt seine

Bedeutung damit erst im Zusammenspiel mit jener Synthese seitens des Betrachters, durch

dessen Gedächtnisleistung der dargestellte Körper jenseits seiner aktuellen Erscheinung eine

virtuelle Dimension bekommt. Demgemäß ist Duchamps Akt als Aufforderung an den

Betrachter zu verstehen, Position zu beziehen und den kinematografischen Mechanismus

seines eigenen Denkens in Betrieb zu nehmen. Ebenso wie Bergson den instrumentellen

Charakter jeder abstrakten Konzeption von Bewegung betont, der zwar in pragmatischer

Hinsicht äußerst zielführend sei, deswegen aber keine metaphysischen Schlussfolgerungen

erlaube, ebenso geht es auch Duchamp darum, die Bewegung nicht als Ausdruck einer

metaphysischen Wirklichkeit, sondern als Mittel zum Zweck zu verstehen. »Mein Werk ist

ein Versuch gewesen zu zeigen, daß der Verstand weniger fruchtbar ist, als wir denken«,

bemerkt Duchamp dazu 1958, indem er den Einsatz mechanischer Elemente auf ein primär

poetisches Interesse zurückführt: »Für mich war es ein Weg, um die traditionellen Ansätze zu

vermeiden. Ich verwendete diese Formen mit einem Schuß Ironie, sie passten zu meinen

172 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 307.

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Absichten und sie berührten meine Empfindungen, aber ich glaubte nicht an sie in irgendeiner

zustimmenden Weise.«173

Im Hinblick auf Duchamps künstlerische Emanzipation, von der im Folgenden die Rede sein

soll, bedeutete sein Akt wohlgemerkt nicht mehr als einen ersten Schritt, der sich erst später

als bahnbrechend erweisen sollte. Denn zunächst einmal ging es Duchamp mit dem Gemälde

darum, die dogmatischen Vorstellungen seiner kubistischen Künstlerkollegen hinter sich zu

lassen, die mit ihrer Methode der multiplen Perspektive sehr wohl den Anspruch erhoben, zu

einer adäquaten Darstellung der Wirklichkeit zu gelangen.174 Während die Puteaux-Kubisten

durchaus einen erweiterten Realismus propagierten, unternahm Duchamp mit seinem Akt also

einen selbstbewussten Schritt weg von der Natur und hin zu einer reflektierten, kritischen

Perspektive, in anderen Worten, hin zu einer bewusst in Szene gesetzten Künstlichkeit.

Als Duchamp das Gemälde, nachdem er es im Januar vollendet hatte, am 17. März 1912 wie

geplant zur großen Ausstellung der Puteaux-Kubisten im Pariser Salon des Indépendants

einreichte, war ein Eklat vorprogrammiert. »Die Kubisten finden es ein bisschen daneben«,

informierten ihn seine Brüder im Auftrag von Gleizes und Metzinger am darauffolgenden

Tag, für den auch die Pressekonferenz anberaumt war: »Könntest Du nicht wenigstens den

Titel ändern?«175 Was von den Kubisten als Affront empfunden wurde, war dementsprechend

nicht nur die Tatsache, dass Duchamp das Motiv des Akts unter Bezugnahme auf Mareys

wissenschaftliche Methode – und eben nicht im Sinne einer unhinterfragten Würdigung von

Bergsons Konzept der durée – jenseits der traditionellen Pose zur Darstellung gebracht hatte.

Denn darüber hinaus stießen sie sich vor allem auch am literarischen Titel des Werks, den

Duchamp in Anlehnung an die Wortspiele Jules Laforgues als integralen Bestandteil des

Gemäldes angelegt hatte und den er folglich unter keinen Umständen zu ändern bereit war.176

»Als die Vision des Aktes in mir aufblitzte, wußte ich, dass er die versklavenden Ketten des

173 Duchamp 1958 im Interview mit Laurence S. Gold, zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 68–69. 174 Vgl. Gleizes/Metzinger: »Über den »Kubismus««, S. 155: »Da objektives Wissen als Trugbild erkannt und bewiesen ist, daß alles, was die Menge unter ›natürlicher Form‹ versteht, etwas Überkommenes darstellt, wird der Maler keinen anderen Gesetzen mehr gehorchen als denjenigen des Geschmacks. [...] Als Realist gestaltet er die Realität nach seiner geistigen Vorstellung; denn es gibt nur eine Wahrheit, nämlich die unsrige; sie wollen wir allen auferlegen. Und es ist der Glaube an die Schönheit, der die dazu notwendige Kraft verleiht.« 175 Zit. n. Jacques Caumont, Jennifer Gough-Cooper: »Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy, 1887–1968«, in: Pontus Hulten (Hg.): Marcel Duchamp: Work and Life, London: MIT Press 1993, nicht paginiert, Eintrag zum 18. März 1912 (Übers. d. Verf.). 176 Im November/Dezember 1911 hatte Duchamp eine Illustration zu Jules Laforgues Gedicht Encore à cet astre (1911) angefertigt, die eine Figur auf einer Treppe zeigt und als Vorstudie zu Nu descendant un escalier betrachtet werden kann; mit dem Motiv der Treppe scheint sich Duchamp überdies auf Charles Wilson Peales revolutionäres Trompe-l’œil-Gemälde The Staircase Group von 1795 zu beziehen, vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 555–556.

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Naturalismus für immer zerschlagen würde«,177 erinnert sich Duchamp 1936 an die Ereignisse

dieser Tage, um 1946 hinzuzufügen:

Reduzieren, reduzieren, reduzieren, das war mein Gedanke, – aber gleichzeitig richtete sich mein Ziel mehr nach innen als nach außen. Und später kam ich soweit, zu spüren, daß ein Künstler alles benützen kann – einen Punkt, eine Linie, das konventionellste oder unkonventionellste Symbol –, um das zu sagen, was er sagen will. [...] Ich war an Ideen interessiert, nicht bloß an visuellen Produkten. Ich wollte die Malerei einmal mehr in den Dienst des Geistes stellen.178

Wie Duchamp zeitlebens betont hat, nahm er den Eklat um seinen Akt zum Anlass einer

kompletten Revision seiner Werte.179 So zog er das Bild noch am selben Tag zurück und

zeigte sich deswegen keineswegs entmutigt, sondern im Gegenteil in seinem Entschluss

bestärkt, den dogmatischen Kunstbegriff der Puteaux-Gruppe hinter sich zu lassen und fortan

seiner eigenen Wege zu ziehen.180 Daran sollte sich auch nichts ändern, als sein Akt einen

Monat später, im April 1912, in einer Ausstellung der Kubisten in der Galerie Dalmau in

Barcelona gezeigt und in darauffolgenden Herbst sogar zu einer Gruppenausstellung der

Section d’Or zugelassen wurde.

Von März bis Mai 1912 arbeitete Duchamp noch an seinem Gemälde Le roi et la reine

entourés de nus vites (König und Königin, von schnellen Akten umgeben) (Abb. 12), dessen

Titel er ebenfalls auf der Bildfläche vermerkte und dessen Bildaufbau er von seinem Porträt

von Schachspielern übernahm, indem er die beiden Spieler, für die seine beiden Brüder

Modell gestanden hatten, in einem nicht eben subtilen Seitenhieb durch die Schachfiguren

König und Dame ersetzte. Die realen Personen, zu denen Duchamp bislang mit Bewunderung

aufgeschaut hatte, wurden nun also nicht nur von jenen abstrakten Figuren verdrängt, denen

Duchamp als leidenschaftlicher Schachspieler in den darauffolgenden Jahrzehnten noch viel

Zeit widmen sollte, sondern zu allem Überfluss auch noch »von schnellen Akten umgeben«,

177 Duchamp im Interview mit Daniel MacMorris, zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 28. 178 Duchamp im Interview mit James Johnson Sweeney, zit.n. ebd., S. 37. 179 Vgl. Dieter Daniels: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln: DuMont 1992, S. 28. 180 An seinen Bruch mit den Kubisten erinnert sich Duchamp 1966 im Interview mit Cabanne wie folgt: »In der Gruppe der damals fortschrittlichsten Leute hatten einige ganz komische Skrupel oder Ängste. Leute wie Gleizes, der doch außergewöhnlich intelligent war, meinten plötzlich, dieser Akt läge doch nicht ganz auf der von ihnen propagierten Linie. Der Kubismus bestand da schon seit zwei, drei Jahren, und seine Vertreter verfolgten eine ganz klare, geradlinige Richtung und sahen alles Kommende bereits deutlich voraus. Ich fand das unsinnig naiv. [...] Ich sagte mir: ›Na, wenn das so ist, dann kommt es nicht in Frage, einer Gruppe beizutreten, man kann nur mit sich selbst rechnen, man muß allein sein.‹« Zit.n. Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 13/38.

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die vor dem Hintergrund der Ablehnung, die Duchamp erfahren hatte, als reinste Provokation

zu betrachten sind.181

Nachdem Duchamp König und Königin im Mai 1912 vollendet und Anfang Juni anlässlich

einer Aufführung des skandalumwitterten Stücks Impressions d’Afrique im Pariser Théâtre

Antoine folgenschwere Bekanntschaft mit dem Werk Raymond Roussels gemachte hatte,182

sollte er schließlich auch räumlich auf Distanz zur Pariser Kunstszene gehen. Am 18. Juni

1912 bestieg er den Zug, um – nach jeweils kurzem Aufenthalt in Basel und Konstanz, wo er

die ortsansässigen Museen besuchte – den Rest des Sommers in München zu verbringen, wo

er ein kleines möbliertes Zimmer mietete und an einer neuen Werkserie zu arbeiten begann.183

Für Duchamp bedeutete sein Münchenaufenthalt nicht nur eine bewusste Auszeit, sondern

auch eine Öffnung zu neuen Denkhorizonten, wie er 1963 im Interview mit Jean-Marie Drot

erklärt: »1912 war es eine Entscheidung, allein zu sein und nicht zu wissen, wohin es mit mir

ging... Der Künstler sollte allein sein... Jeder für sich selbst, wie bei einem Schiffbruch.«184

Diese Entscheidung, allein zu sein und nicht zu wissen, wohin es mit ihm ging, dieses neue

Selbstbewusstsein im Nichtwissen sollte für Duchamps künstlerische Laufbahn von nun an

zentralen Stellenwert behalten. Aber was tun, ohne zu wissen, was die Zukunft bringen

würde? Als möglicher, vielleicht einzig möglicher Ausweg aus diesem Dilemma erschien

Duchamp zunächst einmal der Versuch, ausgehend vom Horizont der Gegenwart eine neue

Perspektive auf das vermeintlich Überholte der Vergangenheit und namentlich auf die reichen

Materialien der Kunstgeschichte zu gewinnen. Sein neu erwachtes Interesse an den Werken

der alten Meister führte ihn während seines Münchenaufenthalts fast täglich in die unweit

seiner Wohnung gelegene Alte Pinakothek (und im Anschluss an seinen Münchenaufenthalt

181 Vgl. d’Harnoncourt/McShine: »The Works of Marcel Duchamp«, S. 260: »The swift nudes are a flight of imagination introduced to satisfy my preoccupation [with] movement still present in this painting. […] It is a theme of motion in a frame of static entities.« 182 Zu seiner Begegnung mit Roussels Werk sagte Duchamp 1946: »Ich hatte das Gefühl, daß es für einen Maler sehr viel besser war, sich von einem Schriftsteller beeinflussen zu lassen als von einem anderen Maler. Und Roussel zeigte mir den Weg.« Zit.n. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 112. Zu Duchamps Begegnung mit Roussels Werk, vgl. auch unten, Kap. 2.3.1. 183 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 114. 184 Zit.n. ebd. Duchamps Metapher des Schiffbruchs, die er im Rückblick auf das Jahr 1912 verwendet, ist alles andere als weit hergeholt. In der Nacht von 14. auf 15. April 1912 war die Titanic – die größte, bewegliche Konstruktion, die jemals hergestellt worden war – nur zwölf Tage nach ihrer erstmaligen Inbetriebnahme innerhalb weniger Stunden mitsamt 1500 Passagieren im Meer versunken. Wie der Historiker Stephen Kern hervorhebt, bedeutete das Unglück nicht nur einen Meilenstein in der Geschichte der drahtlosen Telegrafie und damit der historisch neuartigen Möglichkeit eines raumübergreifenden, »simultanen« Erfahrungshorizonts (nie zuvor war eine Nachricht mit derartiger Geschwindigkeit um die Welt gegangen); es wurde auch zum unübertroffenen Symbol jener gefühlsmäßigen Ambivalenz, die mit der berauschenden Geschwindigkeit der überall voranschreitenden Modernisierungsprozesse einherging: »This generation had a strong, confident sense of the future, tempered by the concern that things were rushing much too fast. The Titanic symbolized it both.« Stephen Kern: The Culture of Time and Space 1880–1918, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1983, S. 107. Vgl. dazu auch ebd., S. 65ff.

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darüber hinaus auch in die Museen von Wien, Prag, Leipzig, Dresden und Berlin).185 So

unternahm Duchamp in München, wie Tomkins betont, auch »keinerlei Anstrengung,

irgendeinen von den Künstlern kennenzulernen, deren Anwesenheit in München diese

gemütliche Bürgerstadt zu dem nach Paris wichtigsten Zentrum avantgardistischer Kunst in

Europa gemacht hatte.«186 Bemerkenswert ist nicht nur Duchamps dezidiertes Desinteresse an

den Künstlern des Blauen Reiters, deren gesellschaftliche und persönliche Anliegen er nun

eben nicht gerade teilte. Auch für den ebenfalls in München lebenden, russischen Maler und

Theoretiker Wassily Kandinsky, der unlängst sein – im Stadtbild überaus präsentes – Buch

Über das Geistige in der Kunst veröffentlicht187 und darüber hinaus gerade den Schritt zu

völliger Abstraktion vollzogen hatte, schien sich Duchamp nicht besonders zu interessieren,

wie Tomkins mit seinem Verweis auf »Duchamps Indifferenz gegenüber der Frage ›reiner‹

Abstraktion‹« hervorhebt: »Duchamp sah keine Notwendigkeit, sich für oder gegen die

Abstraktion zu entscheiden; für ihn war sie einfach ein Mittel unter anderen, dessen er sich

bedienen konnte, und niemals ausschließlich.«188 Vor dem Hintergrund seiner Begeisterung

für die Meister der Vergangenheit, die er im Zuge seines Münchenaufenthalts für sich

entdeckte, konzentrierte sich Duchamp in München also in erster Linie auf seine ganz

persönliche, gleichzeitig in Auflösung und Entwicklung begriffene Gegenwart, in anderen

Worten, auf seine künstlerische Arbeit, die er nun unter ein neues, bezeichnendes Leitmotiv

stellte. Denn während seines gesamten Aufenthalts widmete sich Duchamp fast ausschließlich

dem kunsthistorisch überaus vorbelasteten, gleichzeitig aber auch exemplarisch mit einer Idee

von Unvoreingenommenheit assoziierten Thema der ›Jungfräulichkeit‹.

1.3.2. Die Entwicklung von der Jungfrau zur Braut

In Duchamps erster Münchner Arbeit, einer kleinen lavierten Bleistiftstudie mit dem Titel

Mécanisme de la pudeur/Pudeur mécanique (Mechanismus der Scham/Mechanische Scham)

(Abb. 13), klingt nicht nur die ›Schande‹ an, die von Seiten der Kubisten mit Duchamps Akt

185 Die Pinakothek verfügte unter anderem über eine bedeutende Sammlung von Hinterglasmalereien, die aufgrund ihrer Transparenz besonders lebhaft und leuchtend wirken und die aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlichen Einfluss auf Duchamps Idee zum Großen Glas hatten. Duchamps eigenen Angaben zufolge begeisterten ihn aber vor allem die Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren: »I love those Cranachs… I love them. Cranach the old man. The tall nudes. That nature and substance of his nudes inspired me for the flesh color.« Zit.n. Caumont/Gough-Cooper: »Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy«, Einträge zum 7. und 25. August sowie zum 26. September 1912. Zu Duchamps Rundreise durch die Kunstgeschichte, vgl. auch Tomkins: Marcel Duchamp, S. 124. 186 Tomkins: Marcel Duchamp, S. 114–115. 187 Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei, München: Piper Verlag 1912. Nach der Erstausgabe vom Januar erschien das Buch 1912 noch in zwei weiteren Auflagen. 188 Tomkins: Marcel Duchamp, S. 115.

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in Verbindung gebracht worden war, sondern auch sein dadurch erwachtes ›Ehrgefühl‹ und

die (gleichsam mechanisch) daraus resultierende ›Keuschheit‹, die er sich gegenüber den

Einflüssen der Gegenwart auferlegte.189 Die Zeichnung, deren zentralen Stellenwert für

Duchamps künstlerische Entwicklung die später hinzugefügte Beschriftung Première

recherche pour: La Mariée mise à nu par les célibataires (Erste Studie für: Die Braut von

den Junggesellen nackt entblößt) verdeutlicht, ist in ein horizontales Nebeneinander dreier

abstrakter, maschinell anmutender Figuren gegliedert, wobei die zwei äußeren Figuren

(Duchamps Brüder?) die dritte, zentrale Figur (Duchamp?) mit Seitenhieben (kubistischer

Provenienz?) zu traktieren scheinen. Die zentrale Figur, die durch den später ergänzten Titel

als ›Braut‹ zu identifizieren ist und mit der Duchamp den Topos der ›Jungfräulichkeit‹ ins

Spiel bringt, wird laut Bildlegende »von den Junggesellen nackt entblößt«, ebenso wie

Duchamp durch die Ablehnung seitens der Kubisten nicht nur bloßgestellt, sondern auch dazu

angeregt wurde, sich seiner ›Konfektionskleider‹ (des Vorgefertigten der zeitgenössischen

Kunst) zu entledigen.

Mit seinen zwei nächsten Münchner Zeichnungen, Vierge n° 1 (Jungfrau, Nr. 1) (Abb. 14)

und Vierge n° 2 (Jungfrau, Nr. 2) (Abb. 15), machte Duchamp einen Schritt zurück und nahm

sozusagen Abstand. Die dargestellten Figuren, die eindeutige formale Parallelen mit der Braut

aus der ersten Zeichnung aufweisen und gleichzeitig an das Motiv der Königin aus König und

Königin angelehnt sind,190 erscheinen auf beiden Blättern in sich geschlossen und isoliert,

statisch, »allein«; sie befinden sich sozusagen noch nicht im Sog jenes Übergangs, der sich

mit ihrem ›Braut-Werden‹ und konkret in Duchamps nächsten, elaborierteren Gemälden

ankündigen wird. Vom Bildaufbau her, aber auch aufgrund einiger treppenartiger Elemente

(Stufen und Knauf) erinnern beide Zeichnungen entfernt an den Akt, wobei sie inhaltlich

nichts mehr mit jener Vorstellung von abstrakter Bewegung zu tun zu haben scheinen, die in

letzterem vorherrschend war. Im Gegensatz zur Königin bzw. Braut bleibt von König und

schnellen Akten keine Spur. Während Jungfrau, Nr. 1 äußerst statisch, ja hermetisch wirkt

und eher an eine technische Skizze als an ein Lebewesen denken lässt, wirkt Jungfrau, Nr. 2

offensiver, lebendiger, und der Gedanke an ein Lebewesen drängt sich hier geradezu auf.

Namentlich legt das Bild die Assoziation einer Gottesanbeterin nahe, deren Charakteristikum

189 Der frz. Ausdruck pudeur »Scham, Schamhaftigkeit, Sittsamkeit, Feingefühl« geht zurück auf lat. pudor »Scham, Scheu; Ehrbarkeit, Ehrgefühl; Keuschheit, Züchtigkeit; Scham, Schande«. Meyers Konversations-Lexikon definierte »Schande« 1909 im Gegensatz zur »Ehre« als »Mißachtung, die denjenigen trifft, der durch sein Verhalten die Sittlichkeit, die gute Sitte oder die Forderungen der Standes-, Berufs- etc. Ehre verletzt«, vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 17, Leipzig 1909, S. 691. 190 Vgl. die Anm. v. Serge Stauffer in: Duchamp: Die Schriften, Bd. 1, S. 39.

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ist, dass sie sich über weite Strecken eben nicht bewegt, da ihre hinterlistige Strategie darin

besteht, sich zunächst einmal statisch zu verhalten. Damit taucht in Duchamps Werk erstmals

jenes Insektenhafte auf, das auch in seinen späteren Arbeiten zum Thema der Braut eine

zentrale Rolle spielen wird.191

INSEKTEN (von lat. insecare »einschneiden«: »eingeschnittene (Tiere)«) sind als weitaus größte und artenreichste

Tiergruppe (mit über einer Million bekannter Arten) für den Menschen allgegenwärtig.192 Aufgrund ihrer Vielfalt

besetzen Insekten ein breites Spektrum ÖKOLOGISCHER NISCHEN. Dabei spielt eine große Anzahl von Insekten eine

bedeutende Rolle bei der REMINERALISIERUNG ORGANISCHER STOFFE im Boden und in anderen organischen Strukturen.

Andere Arten ernähren sich von lebenden Pflanzenteilen oder spielen als Nektar- und Pollensammler eine

wichtige Rolle bei der PFLANZENBESTÄUBUNG. Eine große Gruppe ernährt sich räuberisch von anderen Insekten oder

kleineren Beutetieren. Eine letzte Gruppe von Insekten, unter ihnen die PARASITEN, ernährt sich von Teilen

größerer Tiere wie Haare oder Schuppen, saugt Blut oder entwickelt sich in lebendem Gewebe. Eine

Besonderheit innerhalb des Insektenreichs sind die staatenbildenden Insekten (Termiten, Ameisen, Bienen,

Wespen, u.a.), bei denen die Einzeltiere bestimmte Rollen innerhalb der Gesellschaft übernehmen. Häufig kommt

es dabei zur Bildung von KASTEN, deren Mitglieder sich morphologisch und in ihrem Verhalten gleichen. Die

Fortpflanzung übernehmen in diesen Fällen nur wenige Geschlechtstiere innerhalb des Insektenstaates,

manchmal nur eine einzige KÖNIGIN, die befruchtete und unbefruchtete Eier legt.

Allen Insekten gemeinsam ist die meist deutlich sichtbare GLIEDERUNG DES LEIBES IN DREI ABSCHNITTE (Kopf, Brust und

Hinterleib) sowie das AUßENSKELETT und das Vorhandensein von genau DREI BEINPAAREN. Alle Körperteile bestehen

aus einzelnen SEGMENTEN, die eine Rückenplatte, eine Bauchplatte sowie Seitenplatten aufweisen. Zwischen

diesen Segmenten befinden sich zumeist dehnbare HÄUTCHEN (Intersegmentalhäute), die eine Beweglichkeit der

Segmente gegeneinander sowie eine Volumenveränderung des Körpers zwecks Eiproduktion,

Nahrungsaufnahme oder Atmung ermöglichen. Durch die Einlagerung von Farbstoffen (PIGMENTFARBEN) oder

aufgrund spezieller lichtbrechender Oberflächen (INTERFERENZFARBEN oder STRUKTURFARBEN) können das

191 Als Duchamp an seinem Gemälde Braut (1912) arbeitete, erschien ihm die »Braut« eines Nachts in Gestalt eines Skarabäus, vgl. Lebel: Marcel Duchamp, S. 102. Im Großen Glas wird die »Braut« dargestellt in Gestalt eines »weiblichen Gehenkten«, der sich zusammensetzt aus »einer Art Zapfenloch«, das »von einem Becken festgehalten wird«, einem »von der Ventilation angetriebenen Schaft«, der die »Filamentenmaterie« (in der Botanik bezeichnet der Begriff Filament den Staubfaden der Blüte) trägt und dem das Becken größtmögliche Bewegungsfreiheit verleiht, und einer »Wespe« (guêpe), die Duchamp auch als »Wespe-Sex« (guêpe-sexe) oder »Zylinder-Sex« (cylindre-sexe) bezeichnet und deren Eigenschaften das »kinematische Erblühen« und damit die »elektrische Entkleidung« der Braut vorantreiben. Das »kinematische Erblühen« der Braut wird im Großen Glas wiederum dargestellt in Form einer »Aureole« oder »fleischfarbenen Milchstraße«, die Michel Carrouges in Gegenüberstellung mit dem »weiblichen Gehenkten«, der das »Braut-Skelett« darstellt, als »Haut oder Hülle der Braut« interpretiert, die auf eine »vollzogene Hinrichtung« verweise. Vgl. Michel Carrouges: »Mode d’emploi / Gebrauchsanweisung«, in: Jean Clair, Harald Szeemann (Hg.): Junggesellenmaschinen / Les Machines célibataires, Venedig: Alfieri 1975, S. 21–49, S. 24, sowie die Ausführungen zum Gemälde Braut (1912) in Kap. 1.3.2. Lebel zufolge verwies Carrouges in Les Machines célibataires (Paris: Arcane 1954) auch darauf, dass »Mariée« eine volkstümliche Bezeichnung für den Nachtfalter ist, vgl. Lebel: Marcel Duchamp, S. 102. 192 Vgl. hier und im Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Insekten (aufgerufen am 28.12.2015).

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Außenskelett des Insekts oder einzelne Körperteile entweder eindeutig gefärbt sein oder ihre Farbe je nach

Lichteinfall verändern, wie beispielsweise im Fall von schillernden Käfern oder Schmetterlingen.193 Als

Sinnesorgane dienen vor allem HAARSENSILEN, die über den Körper verteilt sind und nicht nur auf Erschütterungen

und Schwingungen reagieren, sondern mitunter auch auf Gerüche, Feuchtigkeit oder Temperaturen. Als optische

Sinnesorgane dienen FACETTENAUGEN, mit denen das Insekt ein (gleichsam pointilistisches) Bild seiner Umgebung

aus einzelnen Bildpunkten zusammensetzen kann, sowie die OCELLEN, punktförmige Lichtsinnesorgane (Haut-

oder Punktaugen), die der Hell-Dunkel-Wahrnehmung dienen.

Ein Großteil der Insekten ist GETRENNTGESCHLECHTLICH, wenige Arten sind ZWITTER oder pflanzen sich durch

JUNGFERNZEUGUNG (Parthogenese, von altgriech. parthenos »Jungfrau« und genesis »Geburt, Entstehung«) fort. Die

meisten Insekten legen nach der Begattung Eier ab, andere brüten die Eier noch im Körper zur Schlupfreife aus

oder bringen fertig entwickelte Larven und in seltenen Fällen sogar Puppen zur Welt. Aus den Eiern schlüpfen

dann LARVEN mit eigenen Larvalmerkmalen oder NYMPHEN, die äußerlich dem erwachsenen Stadium bereits sehr

ähneln und sich vor allem durch ihre Größe oder unvollständig entwickelte Flügel und/oder Genitalien

unterscheiden. Außerhalb des Eies folgt die Entwicklung zum IMAGO (adulte Form), nach der man hemimetabole

Insekten (ohne Puppenstadium) und holometabole Insekten (mit Puppenstadium) unterscheidet. Bei

hemimetabolen Insekten, beispielsweise bei der Gottesanbeterin (Abb. 16), kommt es über verschiedene

Larven- oder Nymphenstadien zur Ausbildung der adulten Form, wobei zwischen den einzelnen Stadien immer

eine HÄUTUNG stattfindet, bei der durch die Gewebsauflösung einzelner Strukturen und die AUSBILDUNG VON

IMAGINALANLAGEN oder das AUSSTÜLPEN SPEZIELLER IMAGINALSCHEIBEN einzelne Merkmale neu angelegt werden. Im

Gegensatz dazu durchlaufen holometabole Insekten, wie beispielsweise der Skarabäus, im Zuge der Entwicklung

von der Larve über die Puppe zum adulten Tier (Imago) eine vollständige METAMORPHOSE. Während der Phase

der VERPUPPUNG wird die Larve durch einen Prozess der SELBSTVERDAUUNG fast vollständig aufgelöst und stirbt,

während nur einige Ansammlungen spezieller Zellen (Imaginalschieben oder Histioblasten), die während des

Larvenstadiums keinerlei Funktion erfüllten, verschont bleiben und die Anlagen für die hormongesteuerte

Ausdifferenzierung der adulten Form oder IMAGO bilden.

Durch die bemerkenswerte Phänomenologie der Häutung und vielmehr noch der Metamorphose gelten Insekten,

wie Hanna Wolter hervorhebt, von alters her als SYMBOL DER WANDLUNG.194 Als Völker oder Schwärme haben sie

darüber hinaus auch symbolischen Bezug zum VEGETATIVEN NERVENSYSTEM, das nicht dem bewussten Willen des Ich

unterliegt. Grundsätzlich sind Insekten höchst ambivalente Symbolgestalten, wobei die unangenehmen (lästigen,

stechenden, parasitären, giftspritzenden, beißenden, anekelnden, verfolgenden, etc.) Aspekte zu überwiegen

scheinen. Durch ihre unüberschaubare Vielzahl, ihre kleine Körpergröße, ihre Missachtung von Körpergrenzen,

ihr oftmals monströses Erscheinungsbild und ihre Resistenz gegen Abwehrmaßnahmen vermitteln Insekten ein 193 Vgl. Ille C. Gebeshuber: »Strukturfarben in der Biologie«, in: Plus Lucis 1–2 (2008), S. 44–47, http://www.iap.tuwien.ac.at/~gebeshuber/Plus_Lucis_1_2_2008_44_47.pdf (aufgerufen am 28.12.2015). 194 Vgl. hier und im Folgenden Hanna Wolter: »Insekten« (2011), http://www.symbolonline.de/index.php?title=Insekten (aufgerufen am 28.12.2015).

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Gefühl von EIGENSINN, GRENZVERLETZUNG, UNBEHERRSCHBARKEIT. Im Volksglauben sind sie überwiegend Hölle, Teufel,

Hexen, Zauberern und Dämonen zugeordnet. Goethes Mephistopheles nennt sich der »Herr der Ratten und der

Mäuse, der Fliegen, Frösche, Wanzen und Läuse«, bei Sartre stehen Die Fliegen als Zeichen für Schuld. In Kafkas

Verwandlung erlebt Gregor in Gestalt eines Käfers das AUSGESCHLOSSEN- UND ABGESONDERTSEIN von seiner Familie

und stirbt schließlich an der ihm entgegengebrachten Lieblosigkeit und Aggression. Im Kontext des SURREALISMUS

hatte insbesondere die GOTTESANBETERIN einen besonderen Status, da sie infolge ihrer ANTHROPOMORPHEN ZÜGE und

ihres AUßERGEWÖHNLICHEN PAARUNGSRITUALS, bei dem das Weibchen das Männchen während oder nach dem Koitus

verspeist, als Emblem für die Abgründe der menschlichen Psyche galt.195 Dem gegenüber gibt es auch einige

positiv besetzte Insekten wie Bienen, Schmetterlinge und einige Käfer (Marienkäfer, Maikäfer, Skarabäus): Sie

liefern Honig, bestäuben Blüten, TANZEN, MUSIZIEREN, SCHILLERN, BRINGEN GLÜCK.

Infolge ihrer spezifischen Eigenschaften stellt die Gottesanbeterin eine reichhaltige Metapher

für Duchamps gerade in Angriff genommene Entwicklung dar. So verfügt die Gottesanbeterin

als Lauerjäger über eine ausgezeichnete Tarnung, die sie einerseits ihrer optischen Anpassung

an die Umgebung (vgl. die Kubisten als Erfinder der Camouflage196) und andererseits ihrer

Strategie der Reglosigkeit (vgl. die Momentaufnahmen der Chronofotografie) verdankt; sie

weist durch die Verlängerung des ersten Brustsegments und die Umwandlung des ersten

Beinpaares zu Fangbeinen oder ›erhobenen Armen‹ ein außergewöhnliches Erscheinungsbild

auf, dem sie nicht nur einen äußerst präzisen und blitzschnellen Fangapparat mit großem

Aktionsradius verdankt (vgl. die »schnellen Akte« von 1912, Duchamps Strategie der

»Präzisionsmalerei, und Indifferenzschönheit«), sondern auch den Namen Gottesanbeterin, in

dessen französischem Pendant die Bedeutung »religiöser Damenmantel« (mante religieuse)

mitschwingt (vgl. Duchamps Beschreibung der Braut als »Apotheose der Jungfräulichkeit«);

ferner ist ihr Erscheinungsbild geprägt durch den dreieckigen, extrem beweglichen Kopf mit

den großen, weit auseinander liegenden Facettenaugen, die ihr stereoskopisches Sehen

ermöglichen und zum Orten der Beute und der Geschlechtspartner dienen (vgl. die multiple

Perspektive der Kubisten sowie Duchamps spätere Bezugnahme auf die Technik der

Stereoskopie); und nicht zuletzt zeichnet sich die Gottesanbeterin durch ein ausgeprägtes

Balzverhalten aus, das den Männchen bei der Annäherung als Schutz vor den gefährlichen

Weibchen dient, welche die Männchen im Zuge der Paarung manchmal teilweise oder sogar

vollständig verspeisen (vgl. die Szenerie des Großen Glases, wo der zentrale »Horizont«, den

195 Vgl. Roger Caillois: »Die Gottesanbeterin«, in: ders.: Méduse & Cie, S. 7–23 (Originaltitel: »La mante religieuse«, in: Minotaure 5 (1934), S. 5–10); William L. Pressly: »The Praying Mantis in Surrealist Art«, in: The Art Bulletin 55, Nr. 4 (Dezember 1973), S. 600–615; Ruth Markus: »Surrealism's Praying Mantis and Castrating Women«, in: Woman’s Art Journal 21, Nr. 1 (Frühjahr/Sommer 2000), S. 33–39. 196 Vgl. Kern: The Culture of Time and Space, S. 302–304.

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Duchamp als »Kleid der Braut« bezeichnet, einen Schutzschirm für die »Junggesellen«

darstellt, wobei er gleichzeitig für die »Befehle der Braut« durchlässig ist).197

Sich bedeckt geben und aus dem Rahmen fallen, innehalten und plötzlich zuschlagen, sich das

Gegenüber im Zuge der Paarung buchstäblich einverleiben: Im Motiv der Gottesanbeterin

spiegeln sich jene Motive und Strategien wider, die Duchamp um 1912 gerade neu für sich

entdeckte und die ihn Tomkins zufolge weg von einem oberflächlichen Bild des Körpers als

Maschine und hin zu einer organischen oder sinnlichen, ja gleichsam erotischen Perspektive

führten:

Die Jungfrau-Zeichnungen führen uns ins Innere der Körper-Maschine. Suggerieren bei beiden auch gewisse Elemente weibliche Brüste, ein emporgezogenes Knie oder auch ein Gesicht, das von einem Schild herabfallender Haare verdeckt wird, so pressen sich die Formen doch in einer derart extremen Nahaufnahme an die Oberfläche des Papiers, daß man kaum umhin kann zu meinen, man blicke in ein mentales Bild von Jungfräulichkeit hinein. Dabei haben diese eher kargen Linien und Gebilde nichts sonderlich Sexuelles oder Sinnliches an sich. Duchamp empfand den tiefeingewurzelten Respekt eines wohlerzogenen Franzosen für den Zustand der Jungfräulichkeit – ein Respekt, der vielleicht sogar an Ehrfurcht grenzte. Bei diesen beiden Zeichnungen scheint er, vielleicht mit seinem eigenen Rest an pudeur, die entstehende Kraft weiblicher Erotik erforscht zu haben, eine Kraft, die sich auf den beiden Gemälden, die folgten, triumphierend entfalten sollte.198

Kommen wir also zu den zwei Gemälden, die Duchamp auf der Basis der beiden Jungfrau-

Zeichnungen in München entwickelte und mit denen er sein technisches Können, wie der

Kunsthistoriker Robert Lebel in seiner Duchamp-Monografie von 1959 hervorhebt, ein für

alle Mal unter Beweis gestellt hat,199 um sich in weiterer Folge vom Medium der Malerei

197 Die großen Facettenaugen der Tiere, die weit auseinander liegen und so ein stereoskopisches Sehen ermöglichen, werden zum Orten und Verfolgen der Beute sowie der Geschlechtspartner verwendet und stellen daher das wichtigste Sinnesorgan der Tiere dar. Fangschrecken sind zumeist Lauerjäger, das heißt sie verharren oft stundenlang unbeweglich, bis sich ihnen ein Opfer so weit nähert, dass sie es mit ihren Fangbeinen packen können. Dabei zeigen Fangschrecken oft Anpassungen an ihre Umgebung, die es ihrer Beute erschweren, sie zu erkennen. In Farben und Körperform ahmen sie Teile von Pflanzen nach (Mimese), durch die sie Insekten mitunter auch aktiv anlocken, so zum Beispiel indem sie Blüten oder Blumen imitieren. Die meisten Arten ernähren sich von Insekten und Spinnen. Es gibt jedoch auch größere Arten, die Skorpione und sogar kleine Wirbeltiere (junge Schlangen, Eidechsen, Kolibris und kleine Säugetiere) erbeuten können. Die Fangschrecken haben ein ausgeprägtes Balzverhalten, das vor allem dazu dient, dass sich das Männchen dem meist größeren Weibchen gefahrlos nähern kann. Trotzdem kommt es vor, dass das Männchen vor oder während der Paarung vom Weibchen teilweise oder sogar vollständig verspeist wird. Vgl. z.B. http://de.wikipedia.org/wiki/Fangschrecken (aufgerufen am 28.12.2015). Zu den Mimikry-Strategien der Gottesanbeterin, vgl. im Besonderen Caillois: »Die Gottesanbeterin«, S. 7–23. 198 Tomkins: Marcel Duchamp, S. 118/120. 199 Vgl. Lebel: Marcel Duchamp, S. 29: »Die beiden Bilder beweisen, daß die technischen Probleme der Malerei ihn für eine Weile fesselten und er sie ohne Zögern bewältigte. Ein genaues Studium der Farben und ihrer Eigenschaften ließen ihn die deutsche Marke Behrendt wählen, deren er sich ausschließlich bediente. Er verzichtete auf den Gebrauch des Pinsels und modellierte die Farbmasse mit seinen Fingern wie eine Skulptur, um ihr mehr Zusammenhalt zu geben. Sein malerischer Auftrag ist so dicht und glänzend, daß er an die alten Meister erinnert.« Zu Duchamps technischem Können, vgl. auch Tomkins: Marcel Duchamp, S. 120ff.

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abzuwenden. Das erste der beiden Gemälde trägt – ebenso wie die Gemälde Akt, eine Treppe

herabsteigend und König und Königin, von schnellen Akten umgeben – einen literarischen

Titel, der Bewegung suggeriert: Le Passage de la vierge à la mariée (Der Übergang von der

Jungfrau zur Braut) (Abb. 17). In diesem Fall handelt es sich allerdings nicht mehr, wie in

den früheren Gemälden, um eine translatorische Bewegung im Raum, sondern um eine

qualitative Bewegung in der Zeit, wie Tomkins betont: »Wenn auch das Wort passage

(Übergang) an Bewegung denken läßt, so ist es in diesem Fall keine Bewegung durch den

Raum, sondern innerhalb von Geist und Körper – ein Übergang von Jungfräulichkeit zu

Brautschaft.«200 Mit viel Fantasie und unabhängig von den Assoziationen, die Duchamps

späteren Notizen zu entnehmen sind, lässt das wiederum in Ocker-, Braun- und Gelbtönen

gehaltene Bild an ein Lebewesen, an eine menschliche Figur oder auch an ein Insekt denken.

Oben in der Mitte ist halbkreisförmig eine Art Kopf angedeutet, der sich aus mehreren

Kreissegmenten zusammensetzt und damit (vor dem Hintergrund der Chronofotografie) an

den dreieckigen Kopf einer Gottesanbeterin gemahnt. Nach unten folgt eine Art Speiseröhre,

die in einen trichterförmigen Behälter oder Magen mündet. Am rechten Bildrand sind zwei

unscharfe, geradewegs in Auflösung begriffene Formelemente zu sehen, die Bewegtheit

suggerieren und sich als angewinkelte Gliedmaßen interpretieren lassen. Die linke, obere

Bildpartie ist von fragmentarisch ineinander verschachtelten Formelementen dominiert,

während am linken unteren Bildrand eine Art Greifarm ins Bild kommt, der sich an jenem

torsoartigen Formelement zu schaffen macht, welches die untere Bildhälfte beherrscht und

aus dem sich die Braut wie aus einem Kleid oder einer Hautschicht herauszuschälen scheint.

Mit Ausnahme dieses Torsos, der einen relativ geschlossenen Körper bildet, sind die meisten

Formelemente, aus denen sich das Bild zusammensetzt, nicht eindeutig zuordenbar und gehen

tendenziell ineinander über.

Anders als beim Akt, der ein stroboskopartiges Nebeneinander von Positionen suggeriert,

zeigt das Gemälde Übergang von der Jungfrau zur Braut eine Form von Bewegung, die nicht

mehr als Fortbewegung, sondern vielmehr als Werdensbewegung zu verstehen ist. Für den

jungen chilenischen Architekten und späteren Bildhauer und Maler Roberto Matta kam das

Bild, als er es 1937 neben einem Artikel von Gabrielle Buffet-Picabia in den Cahiers d’art

sah,201 einer richtiggehenden Offenbarung gleich, wie er im Interview mit Tomkins zu

verstehen gibt:

200 Tomkins: Marcel Duchamp, S. 120. 201 Gabrielle Buffet-Picabia: »Cœurs volants«, in: Cahiers d'art, Nr. 1–2 (1936), S. 34–43.

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Ich sah sofort, daß Duchamp mit diesem Bild ein ganz neues Problem in der Kunst in Angriff genommen und gelöst hatte – den Moment des Wandels zu malen. Die Kubisten hatten sich mit dem Objekt im Raum befaßt, die Futuristen mit Objekten in Bewegung, doch Passage war völlig neu. Dieser Mann mit einem Friseurnamen wollte den Wandel selbst malen, und nichts ist komplexer als der Wandel, weil wir keinen Bezugspunkt haben, um ihn zu messen.202

Die Entwicklungsstadien ›Jungfrau‹ und ›Braut‹ sind im Übergang dementsprechend nicht

mehr voneinander zu unterscheiden und folglich auch nicht eindeutig zu identifizieren. Wie

Jonathan Crary bemerkt, würde jeder Versuch einer Stabilisierung der Figur sogar die

eigentliche Natur des Gemäldes stören, insofern dieses einer Form von Bewegung gewidmet

ist, die wesentlich offen ist und sich eben nicht in ein statisches Bild fassen lässt:

We can see The Passage as a doing, a becoming that has no subject, as in Nietzsche’s famous section in The Genealogy of Morals: »There is no ›being‹ behind the doing, acting, becoming; the doer has simply been added to the deed by the imagination – the doing is everything.« […] We must understand that words like virgin and bride denote discrete, whole, and delimited entities, while passage describes something open, in process, and dynamic. […] Probably the most important feature of The Passage is its openness. It has no subject and no center, only a sense of their absence. Instead, within a framed and limited space, we have an active field of potentially infinite relationships, of floating elements, which resist being inserted into a structural logic. It is a ›field of freeplay‹, where oppositions are not contradictions and where any form is free of any necessary relation to any other.203

Auch Lebel interpretiert den Übergang in seiner wegweisenden Analyse nicht als Darstellung

des »Verlustes der Jungfräulichkeit«, sondern als Ausdruck der »Verwandlung einer Form in

eine andere«, der »die Zukunftsidee der psychologisch-menschlichen Maschine, die

gleichsam durchsichtig ist«, versinnbildliche und damit »für die lebhaften, neuartigen

Gedanken Duchamps über Probleme der Psyche und des Organischen« symptomatisch sei,

202 Roberto Matta Echaurren, zit.n. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 422. Kurz nachdem er Duchamps Gemälde gesehen hatte, suchte Matta, der zuvor in Paris bei Le Corbusier Architektur studiert hatte, Duchamp persönlich auf und kaufte ihm bald darauf auch ein Exemplar seiner Grünen Schachtel ab. Tomkins zufolge brachte die Begegnung mit Duchamp Matta zu der Überzeugung, »daß der Schlüssel zu seiner Zukunft bei Duchamp und nicht bei Corbusier lag«: »Ohne einen Augenblick der Unentschiedenheit gab Matta die Architektur zugunsten der Malerei auf.« Ebd. Alain Jouffroy zufolge kann Matta, der 1944 einen bissigen Essay über das Große Glas schreiben sollte, als der erste Künstler betrachtet werden, der Duchamps Einsatz in vollem Umfang erfasste und – ohne Duchamp zu imitieren – die konzeptuellen Grenzen des Großen Glases mit seinem künstlerischen Werk transzendierte, vgl. Alain Jouffroy: »Matta Roberto Antonio Sebastian (1911–2002)«, in: Encyclopædia Universalis, http://www.universalis.fr/encyclopedie/roberto-antonio-sebastian-matta/ (aufgerufen am 28.12.2015). 203 Jonathan Crary: »Marcel Duchamp’s The Passage from Virgin to Bride«, in: Arts magazine 51 (Januar 1977), S. 96–99, S. 98–99.

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und das »zu einer Zeit als Freud in Frankreich noch unbekannt war und die Konsequenzen

seiner Untersuchungen noch nicht in die Künstlerkreise gedrungen waren.«204

Indem Crary und Lebel Duchamps Interesse am Phänomen des Übergangs – gewiss nicht zu

Unrecht – mit der Philosophie Nietzsches und den Theorien Freuds in Verbindung bringen,

vernachlässigen beide die zentrale Rolle, die die Probleme des Übergangs, des Psychischen

und des Organischen im Rahmen jener Entwicklungsphilosophie spielen, die Bergson mit

seiner Theorie eines unendlich mannigfaltigen und zutiefst heterogenen Werdens propagierte.

»Ich stimme bei, daß ich insofern, als sie das Primat der Veränderung im Leben anerkennen,

von Bergson und Nietzsche beeinflußt bin«, sollte Duchamp 1958 im Interview mit Laurence

S. Gold erklären: »Veränderung und Leben sind synonym. Wir müssen das einsehen und

akzeptieren. Veränderung ist das, was das Leben interessant macht. Es gibt keinen Fortschritt,

Veränderung ist alles, was wir kennen.«205 Im Sinne dieser Wirklichkeit der Veränderung206

schreibt Bergson in Schöpferische Entwicklung:

Das Werden ist unendlich vielfältig. Ein Werden, das vom Gelben zum Grünen geht, ähnelt nicht dem vom Grünen zum Blauen: hier haben wir qualitativ verschiedene Bewegungen. Ein Werden, das von der Blüte zur Frucht geht, hat keine Ähnlichkeit mit jenem von Larve zu Nymphe und fertigem Insekt: hier haben wir evolutiv verschiedene Bewegungen. Der Akt des Essens oder Trinkens hat keine Ähnlichkeit mit dem des Schlagens: hier haben wir extensiv verschiedene Bewegungen. Und diese drei Arten der Bewegung selbst, die qualitative, evolutive und extensive, sind voneinander tiefst geschieden. [...] Eine unendliche Mannigfaltigkeit verschiedenfarbigen Werdens gleichsam gleitet an unseren Augen vorüber: wir aber stellen uns darauf ein, bloße Unterschiede der Farbe, das heißt des Zustandes zu sehen, unterhalb deren ein überall gleiches, ein unwandelbar farbloses Werden abrollt.207

Wenn Bergson zwischen qualitativen, evolutiven und extensiven Formen der Bewegung

unterscheidet, erhebt er wohlgemerkt nicht den Anspruch, dem wirklichen, biologischen

Werden damit auf die Schliche zu kommen. Im Gegenteil gilt sein Augenmerk der Tatsache,

dass sich eine wirkliche Werdensbewegung niemals durch den Intellekt oder die Sprache wird

einholen lassen. Bergson veranschaulicht sein Argument anhand einer Metapher: Ebenso wie

Achill, dem Paradoxon des Zenon von Elea zufolge, seiner Schildkröte bis in alle Ewigkeit

wird nachhasten müssen, da er an einzelnen Punkten seines Weges verweilt, anstatt sich – wie

die Schildkröte – auf die Kontinuität seines Fortschreitens einzulassen, ebenso wird der 204 Lebel: Marcel Duchamp, S. 28–29. 205 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 67. 206 Vgl. Henri Bergson: »La perception du changement« (1911), in: ders.: La Pensée et le mouvant, S. 143–176; dt.: »Die Wahrnehmung der Veränderung«, in: ders.: Denken und schöpferisches Werden, S. 149–179. 207 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 302.

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Philosoph das wirkliche Werden einer Farbe, einer Form oder einer Bewegung nicht zu fassen

bekommen, solange er seine Aufmerksamkeit auf diskrete Qualitäten, Entwicklungszustände

oder Akte lenkt. Denn das konkrete, essentiell unteilbare und unberechenbare Werden – das

Werden einer Blüte, einer Gottesanbeterin oder eines Läufers – besteht Bergson zufolge in

einem kontinuierlichen Ineinander-Übergehen unterschiedlichster Farben, Formen und

Bewegungen und entgleitet dem Intellekt und der Sprache damit per definitionem zwischen

den Fingern. So auch das Werden des Menschen, anhand dessen Bergson sein Argument

beispielhaft erläutert:

Daß der Knabe zum Jüngling, zum reifen Manne, zum Greise werde, das begreift man, sobald man erwägt, daß die Lebensentwicklung hier die Realität selber ist: Kindheit, Jünglingsalter, Reife und Greisenalter sind bloße Gesichtspunkte des Geistes, von außen her ersonnene mögliche Stillstände in der Kontinuität eines Fortschritts. [...] Wie aus dem Fertiggewordenen das Werdende rekonstruieren? [...] Wenn wir sagen, ›das Kind wird zum Manne‹, so hüten wir uns wohl, uns in den wörtlichen Sinn dieses Ausdrucks allzutief zu versenken. Denn dann würden wir finden, daß im Moment, wo wir das Subjekt ›Kind‹ setzen, das Attribut ›Mann‹ ihm noch nicht zukommt, und daß wiederum im Moment, wo wir das Attribut ›Mann‹ aussprechen, dieses auf das Subjekt ›Kind‹ schon nicht mehr anwendbar ist. Die Wirklichkeit, sie, die das Übergehen vom Kinde zum Alter der Reife ist, entgleitet uns zwischen den Fingern. [...] Würde die Sprache sich nach der Wirklichkeit modeln, dann wahrlich würde sie nicht sagen, ›das Kind wird zum Manne‹, sondern vielmehr, ›zwischen Kind und Mann ist Werden‹. Im ersten Satz ist ›Werden‹ ein Verb, von unbestimmter Bedeutung, dazu ausersehen, die Sinnlosigkeit zu maskieren, der man verfällt, sobald man dem Subjekt ›Kind‹ den Zustand ›Mann‹ beilegt. [...] Im zweiten Satz aber ist ›Werden‹ Subjekt. Es rückt an erste Stelle.208

Nun kann sich die Sprache modifizieren so lange sie will, sie wird sich stets auf diskrete

Begriffe und Gesichtspunkte berufen müssen; und der Intellekt kann sich zwar spielen, aber

schwerlich wird er davon absehen können, mit vorgefertigten Kategorien zu operieren. Daher

spricht Bergson auch vom »kinematografischen Mechanismus des Denkens«, den Duchamp

mit seinem Akt in ein anschauliches Bild übersetzt und den er mit dem Übergang von der

Jungfrau zur Braut nun zu transzendieren scheint. Als wollte Duchamp den Übergang im

bergsonschen Sinne »nach der Wirklichkeit modeln«, setzt er im Bildtitel, der wiederum in

großen Lettern auf der Bildfläche vermerkt ist, weder die ›Jungfrau‹ noch die ›Braut‹, sondern

eben den ›Übergang‹ als Subjekt und an erste Stelle. Mit dem Gemälde postuliert Duchamp

sozusagen nicht: ›die Jungfrau wird zur Braut‹, sondern im Gegenteil: ›zwischen Jungfrau

und Braut ist Werden‹.

208 Ebd., S. 308–309.

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Im August 1912 vollendete Duchamp schließlich sein vorerst letztes Gemälde mit dem Titel

Mariée (Braut) (Abb. 18), mit dem nachvollziehbar wird, welche Bildelemente im Übergang

von der Jungfrau zur Braut bereits auf die Braut, das heißt, auf die ›adulte Form‹ verweisen.

In Gegenüberstellung der beiden Gemälde fällt auf, dass der halbkreisförmige ›Kopf‹ im

oberen Teil des Bildes leicht verändert wiederkehrt, ebenso wie ›Speiseröhre‹ und ›Magen‹,

die vom Kopf aus schief nach rechts unten verlaufen. (In seinen kryptischen Notizen zum

Großen Glas wird Duchamp diesen Kopf charakterisieren als »eine Art Zapfenloch«, das

»von einem Becken festgehalten wird«, während er Speiseröhre und Magen als »Schaft«

ausweisen wird, der »die Staubfadenmaterie trägt« und dem das Becken »größtmögliche

Bewegungsfreiheit« verleiht.)209 Auch in ihrer Gesamtstruktur weisen die beiden Gemälde

deutliche Parallelen auf, wobei das Gemälde Braut vom Format her stärker die Vertikale

betont und deutlicher einen Bogen erkennen lässt, der in Richtung rechten Bildrand gespannt

ist. Unterschiede sind vor allem in den unteren Bildhälften auszumachen: Während das

torsoartige Element links unten im Übergang an eine Art Kleid oder Panzer denken lässt, aus

dem sich die in Auflösung begriffene Jungfrau geradewegs herauszuschälen scheint, um sich

als Braut oder adulte Form zu entpuppen, legt die untere Bildhälfte im Gemälde Braut die

Assoziation eines Mechanismus nahe, den Duchamp später als »Wespe«, »Wespe-Sex« oder

»Zylinder-Sex« bezeichnen und dem er die vier Charakteristika »Absonderung von Liebes-

Essenz«, »Ungleichgewichtssinn«, »Vibration« und »Ventilation« zuordnen wird. Im

209 In der dem Großen Glas (1915–1923) beiseite gestellten Grünen Schachtel (1934) beschreibt Duchamp die Braut »in ihrer Grundlage« als »Motor« (moteur) und »Reservoir von Liebes-Benzin, (oder Schüchternheits-Kraft)« (réservoir à essence d’amour, (ou puissance timide)), welches »verteilt auf relativ schwache Zylinder in Reichweite der Funken ihres konstanten Lebens dem Erblühen dieser am Endpunkt ihres Verlangens angelangten Jungfrau dient« (qui, distribuée aux cylindres bien faibles, à la portée des étincelles de sa vie constante, sert à l’épanouissement de cette vierge arrivée au terme de son désir). Das »kinematische Erblühen« (épanouissement cinématique) ist Duchamp zufolge »der wichtigste Teil des Bildes (graphisch als Oberfläche)«, da er das Moment der »elektrischen Entkleidung« (mise à nu électrique) zum Ausdruck bringt. Im Großen Glas wird es am oberen Bildrand dargestellt in Form der »Aureole der Braut« (auréole de la mariée), die Duchamp auch als »fleischfarbene Milchstraße« (voie lactée couleur chair) bezeichnet und die von drei »Durchzugskolben« (pistons de courant d’air) perforiert ist, welche die leitende Materie für die »Befehle des weiblichen Gehenkten« (commandements du pendu femelle) darstellen. Der »weibliche Gehenkte« wiederum stellt das »Braut-Skelett« (mariée squelette) »in gewöhnlicher Perspektive« dar und erscheint links oben im Bild als Figur, die sich zusammensetzt aus »einer Art Zapfenloch« (une sorte de mortaise), das »von einem Becken festgehalten wird« (retenue par une cuvette), einem »von der Ventilation angetriebenen Schaft« (hampe agitée par la ventilation), der die »Filamentenmaterie« oder »Staubfadenmaterie« (matière à filaments) trägt und dem das Becken größtmögliche Bewegungsfreiheit verleiht, und einer »Wespe« (guêpe), die Duchamp auch »Wespe-Sex« (guêpe-sexe) oder »Zylinder-Sex« (cylindre-sexe) nennt und der er die folgenden vier »Eigenschaften« zuschreibt: 1. »Absonderung von Liebes-Benzin durch Osmose« (Sécrétion de l’essence d’amour par osmose), 2. »Gespür oder Sinn, der die Ungleichgewichtswellen der schwarzen Kugel empfängt« (Flair ou sens recevant les ondes de déséquilibre de la boule noire), 3. »Vibrationseigenschaft, welche die Pulsationen des Uhrzeigers bestimmt« (Propriété vibratoire déterminant les pulsations de l’aiguille), 4. »Ventilation, die das Schaukeln von vorne nach hinten des Gehenkten mit seinem Beiwerk bestimmt« (Ventilation déterminant le balancement d’avant en arrière du Pendu avec ses accessoires). Zu Duchamps Notizen aus der Grünen Schachtel, auf die aus Gründen der Zusammenschau der vielfältigen Querbezüge zum Teil ohne detailliertere Quellenangaben Bezug genommen wird, vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 55–72.

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Gegensatz zum Gemälde Übergang, das formal eher im Bodenlosen schwebt und dem

Betrachter keine klaren Anhaltspunkte bietet, nimmt die zentrale Figur im Gemälde Braut

damit schärfere Konturen an und wirkt gleichzeitig statischer. Durch die Verschränkung

mechanischer und organischer Elemente zu einer abstrakten Komposition, die mit ihren

Zahnrädern und offen gelegten Organen nicht im Entferntesten an das Klischee einer Braut

denken lässt,210 scheint Duchamp mit dem Gemälde Braut dabei weder auf die multiplen

räumlichen Gesichtspunkte der Kubisten noch auf die multiplen zeitlichen Gesichtspunkte der

Chronofotografie zu verweisen, sondern vielmehr jenen Prozess der künstlerischen Reifung

zu thematisieren, den er in den vorangegangen Monaten und Jahren durchlaufen hatte und den

es nun zugunsten eines neuen Lebensabschnitts hinter sich zu lassen galt. Demgemäß ist das

Gemälde Braut als Ausgangs- und Angelpunkt von Duchamps gerade in Angriff genommener

Entwicklung und als erste elaborierte Darstellung jenes buchstäblich bedeutungsschwangeren

Motivs zu betrachten, das von nun an im Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens stehen

und ihn noch in unterschiedlichsten Erscheinungsformen und medialen Transformationen

beschäftigen sollte.

Bezeichnenderweise steht die Braut in Duchamps gleichnamigem Gemälde auch noch auf

einer ganz anderen, nämlich auf einer unbewussten Ebene in direktem Zusammenhang mit

jenem Insektenhaften, das bereits in der Zeichnung Jungfrau, Nr. 2 vorherrschend war. Lebel

zufolge war das Bild gerade in Entstehung begriffen, als sich Duchamps Braut eines Nachts

in einen Alptraum verwandelte: »Aus einer Wirtschaft zurückgekehrt, in der er ziemlich viel

Bier getrunken hatte«, gibt Lebel die Erzählung seines Freundes wider, »träumte er in dem

Hotelzimmer, in dem er die Neuvermählte [andere Übersetzung für Mariée: Braut] zu Ende

malte, diese sei ein gewaltiges Insekt von der Gattung der Skarabäer geworden und bearbeite

ihn heftig mit den Flügeln.«211 Diese Anekdote ist nicht nur insofern von Bedeutung, als sie

Licht auf den emotionalen Prozess wirft, der mit Duchamps künstlerischer Emanzipation

einherging und vor dessen Hintergrund er beschloss, eine völlig neue und eigenständige

Bildsprache zu entwickeln, sondern insbesondere auch im Hinblick auf die symbolischen

Konnotationen, die mit dem Bild des Skarabäus verknüpft sind.

210 1955, im Interview mit Jean Schuster, erklärt Duchamp zum Konzept der »Junggesellenmaschine«: »Es ging einfach darum, eine direkte Opposition zum Thema der Braut einzurichten, welches mir, wie ich glaube, eingegeben wurde durch jene Jahrmarktsbuden, von denen es damals wimmelte, wo Gliederpuppen, die oft die Personen einer Hochzeit darstellten, sich anboten, um dank der Geschicklichkeit der Ballwerfer geköpft zu werden.« Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 52. 211 Lebel: Marcel Duchamp, S. 102.

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Der SKARABÄUS, auch Mistkäfer oder Pillendreher genannt (Abb. 19), ist ein Insekt aus der Familie der

Blatthornkäfer (Scarabaeidae) und gehört zur Gattung der Koprophagen, das heißt der »Kotfresser«.212 Da sich

Koprophagen vorwiegend von Exkrementen ernähren und diese die Eigenschaft haben, rasch auszutrocknen,

rollt der Skarabäus – tatsächlich arbeiten Männchen und Weibchen oft zusammen – den Dung KUNSTVOLL zu

Kugeln, die seine Körpermasse zumeist um ein Vielfaches übersteigen und die ihm einerseits als Nahrungsvorrat

(Futterpillen) und andererseits zur Brutfürsorge (Brutpillen) dienen. Die Kugeln werden mit den Hinterbeinen im

RÜCKWÄRTSGANG an eine geeignete Stelle transportiert und mithilfe von Kopf und Vorderbeinen im Boden

vergraben. In die Brutpillen legen die Weibchen ihre Eier ab, die sich unter der Erde zu Larven entwickeln, welche

die Pillen vom Zentrum her ausfressen, bis nur noch eine DÜNNE HÜLLE übrigbleibt, in der die Entwicklung über die

Puppe zur adulten Form stattfindet. Da die Hülle der Dungpille sehr hart sein kann und durch Nässe aufgeweicht

wird, schlüpfen die Jungkäfer besonders oft nach Regen aus der Erde.

Wegen seines AUFFÄLLIGEN VERHALTENS fand der Pillendreher bereits früh Eingang in die kosmogonischen Mythen

der Griechen, Inder, Chinesen und Japaner, galten seine Kugeln doch als SYMBOL DES WELTENEIS, aus dem das

Leben als organisierte Materie hervorgeht und aus dessen zwei Hälften einst Himmel und Erde entstanden.213

Vor allem im alten Ägypten wurde dem Skarabäus (altägypt. cheperer) große symbolische Bedeutung

beigemessen: So wurde er identifiziert mit der Gottheit Cheper, die die Morgensonne symbolisierte und oft in

Gestalt eines Skarabäus dargestellt wurde, der die Sonnenkugel vor sich her rollt. Verbreitet war auch der

Mythos, der Skarabäus hole die Sonne bei Sonnenuntergang im Westen ab und rolle sie bei Nacht durch die

UNTERWELT, um sie im Osten erneut aufgehen zu lassen. Sein hohes Ansehen im alten Ägypten verdankt der

Skarabäus unter anderem auch der Tatsache, dass ihm PROPHETISCHE FÄHIGKEITEN zugeschrieben wurden, da er bei

bevorstehendem Nilhochwasser frühzeitig weg vom Wasser in die Häuser wanderte und den Ägyptern damit die

ersehnte Flut ankündigte. Die schnelle Vermehrung des Käfers im Schlamm nach dem Rücktritt des Nils führte

auch zur Meinung, er bringe sich selbst aus der Erde hervor, weswegen er als SYMBOL DER SCHÖPFERKRAFT galt.

Dementsprechend war das Ideogramm für Skarabäus im alten Ägypten nicht nur mit jenem des Sonnengottes

identisch, sondern wurde gleichzeitig auch in Verbform mit der Bedeutung »WERDEN, SICH ENTWICKELN, (AUS SICH

SELBST) ENTSTEHEN« (cheper) verwendet.

Das symbolische Bedeutungsspektrum, das im Ideogramm zusammengefasst ist, nimmt die erst viel später

erforschte, physiologische Ontogenese des Skarabäus auf symbolischer Ebene vorweg. Wie wir heute wissen,

zählt der Skarabäus zu den holometabolen Insekten, das heißt, er macht in seiner Entwicklung zwischen Ei und

adulter Form eine VOLLSTÄNDIGE METAMORPHOSE durch. So schlüpft aus dem Ei, das in der Dungpille abgelegt

wurde, zunächst eine Larve, die sich von den Kotvorräten im Inneren der Pille ernährt und diese aufbraucht, um

sich daraufhin zu verpuppen. In der Phase der Verpuppung kommt es zu einer vollständigen Zersetzung der voll 212 Vgl. hier und im Folgenden u.a. Kurt Günther: Insekten, Leipzig/Jena/Berlin: Urania-Verlag 1968, S. 254–259; May R. Berenbaum: Blutsauger, Staatsgründer, Seidenfabrikanten. Die zwiespältige Beziehung von Mensch und Insekt, Heidelberg: Spektrum 1995, S. 344–347; https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Pillendreher (aufgerufen am 28.12.2015). 213 Vgl. hier und im Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Skarab%C3%A4us (aufgerufen am 28.12.2015).

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ausdifferenzierten Organe der Larve in eine Art Zellbrei, der als einzig klar definierte Strukturen die so

genannten IMAGINALSCHEIBEN enthält (Abb. 20), kleine Komplexe epidermaler Zellen, die aus Einstülpungen der

embryonalen Oberhaut entstehen und die bereits in der Larve angelegt sind, im larvalen Stadium allerdings noch

keine Funktion haben. Durch die hormongesteuerte Ausdifferenzierung der Imaginalscheiben werden im

Anschluss an die Zersetzung der larvalen Organe schließlich die neuen Organe ausgestülpt und entwickelt. Am

Endpunkt dieser vollständigen Metamorphose steht das adulte Tier oder IMAGO, das im konkreten Fall in Gestalt

eines Mistkäfers seine HEIMATLICHE SPHÄRE verlässt und zu NEUEN HORIZONTEN aufbricht.

Nicht nur auf symbolischer Ebene – auch im Hinblick auf seine reale, physiologische

Ontogenese verkörpert der Skarabäus geradezu exemplarisch jenen Begriff des Werdens und

der Transformation, der auch im Mittelpunkt von Bergsons Entwicklungsphilosophie steht.

Wenn sich Duchamps Braut im Dunkel jenes Traums, der ihn in der abgeschotteten Sphäre

seines Münchner Exils ereilt, als Skarabäus entpuppt, so erscheint diese Metamorphose damit

nicht nur als Folgeerscheinung seiner Tuchfühlung mit dem Bergsonismus, sondern auch als

Fingerzeig in Richtung jener ›Imaginalscheibe‹, die Duchamp ausgehend vom ›Imago‹ der

Braut entwickeln sollte, indem er das Motiv seines letzten Gemäldes in ein hochkomplexes

Modell des Werdens und der Entwicklung integrierte. Mit dem Großen Glas (1915–1923)

sollte Duchamp die Braut in ein Beziehungsgefüge einbetten, das die statische Ebene des

Bildes zugunsten eines transparenten Horizonts transzendiert und damit die Aspekte der

Prozessualität, der Kontingenz und des Transformismus ins Zentrum der Auseinandersetzung

rückt. Nichtsdestoweniger sollte – weiterhin, und nicht nur im Großen Glas, sondern auch

darüber hinaus – alles mit der Braut stehen oder fallen. Vor dem Hintergrund der zahlreichen

und sehr verschiedenartigen Arbeiten zum Topos der Braut, die auf das Gemälde von 1912

folgen sollten, stellt sich daher die Frage: Was hat diese rätselhafte, organisch-mechanische

Braut – Duchamps Auserwählte, die ihn bis in seine Träume verfolgt und die ihn noch bis an

sein Lebensende beschäftigen wird – einem beliebigen anderen Motiv voraus? Was sind ihre

Eigenschaften, wie könnte man sie zu fassen bekommen, wie sie verstehen? Derlei Fragen

nach den spezifischen Eigenheiten, nach dem metaphysischen Wesen oder der physischen

Natur der Braut führen unmittelbar ins Zentrum jener Problemstellung, um die es Duchamp

allem Anschein nach geht, wenn er sein letztes Gemälde im allerengsten Wortsinn einer

Schwellenfigur widmet. Denn ganz allgemein gesprochen kann von einem ›Braut-Sein‹ als

Zustand, der in irgendeiner Form andauern würde, keine Rede sein. Als prototypisches Objekt

der Begierde ist die Braut weder die Jungfrau, die sie gerade noch war, noch die Ehefrau, die

sie im nächsten Moment sein wird; sie ist weder die eine noch die andere oder sowohl die

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eine wie die andere, ja noch unfassbarer, sie ist nicht einmal Weder-noch oder Sowohl-als-

auch, da sie, die von ihrem Gegenüber (dem Rezipienten) über die Schwelle getragen wird,

eigentlich gar nicht ist, da sie nur für einen infinitesimalen Moment und auch da nur vor dem

Hintergrund eines an ihr sich vollziehenden Werdens existiert. Damit wird auch klar, worauf

Duchamp hinauswill, wenn er die Braut in seinen späteren Notizen214 als vierdimensionales

Wesen charakterisiert, dessen dreidimensionaler Körper – dessen Bild – nur im Sinne einer

Projektion zu verstehen ist, im Sinne einer momentanen Festschreibung, die einen Schnitt

durch die Kontinuität des zugrundeliegenden Werdens darstellt. Wie Sebastian Egenhofer

hervorhebt, zeigt das Gemälde Braut »die Braut, wie sie erscheint – in dem Moment, in dem

sie in den Raum projiziert wird, der sie zum Körper verzögert.«215 »Der Begriff ›Sein‹ ist

auch so eine menschliche Erfindung«, bringt Duchamp das eigentliche Problem, dem der

Topos der Braut gewidmet ist, im Interview mit Cabanne auf den Punkt: »Das ist nur ein

Begriff, für den es in Wirklichkeit keine Entsprechung gibt, und an den ich nicht glaube,

obwohl alle anderen felsenfest von seiner Richtigkeit überzeugt sind.«216 Im Gegensatz zum

Übergang zielt Duchamp mit seiner Braut sozusagen nicht einmal mehr darauf ab, eine

Werdensbewegung von einem Zustand zum anderen darzustellen. Vielmehr widmet er sein

letztes Gemälde einem Moment irreduziblen Werdens, angesichts dessen das Sein zurücktritt

zugunsten eines bedingungslosen Jaworts, eines schicksalsergebenen Es-gibt-kein-Zurück

und Es-wird-schon-werden, eines unwiderruflichen Zugeständnisses an die Prinzipien der

»Bejahungsironie« und der »Indifferenzschönheit«.

1.3.3. Ende der Erzählung, das Spiel kann beginnen

»Indem ich mich vom Kubismus löste und mein Interesse an der kinetischen Malerei

erschöpft hatte«, kommentierte Duchamp sein Gemälde Braut 1964 im Rahmen eines

Vortrags am City Art Museum Saint-Louis, »bemerkte ich, wie ich mich einer Form des

Ausdrucks zuwandte, der vom gewöhnlichen Realismus völlig losgelöst war. […] Ich ließ

mich auf ein Abenteuer ein, das nichts mehr mit bereits bestehenden Schulen zu tun hatte«, so

214 Vgl. Duchamp: Duchamp du signe; dt.: Die Schriften. 215 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 150. Vgl. dazu auch ebd.: »Hier [im Gemälde Braut] geht es nicht wie im Akt um die Bewegungsfolge eines konstituierten Körpers durch den Raum, eine Bewegung, deren Parameter die lineare Zeit wäre, sondern um die Genesis, die Konstitutionsbewegung des Körpers selbst durch die Projektion in oder auf den Raum, der – per Analogie – der flachen Projektionsebene der »gewöhnlichen Perspektive« entspricht.« Zur Topologie des Großen Glases, die auf der Idee der Projektion der vierdimensionalen Braut (mariée respektive durée) in den dreidimensionalen Bild-Raum (image respektive temps) basiert, vgl. den Abschnitt »Der Körper der Braut. Die Ready-mades und die Topologie des Großen Glases«, ebd., S. 149–171; ders.: »Guss und Projektion«, S. 207ff. sowie unten, Kap. 2.1.3. 216 Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 138.

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Duchamp weiter: »Mein Aufenthalt in München war die Szene meiner völligen Befreiung, als

ich den Generalplan zu einer großformatigen Arbeit entwickelte, die mich infolge aller

möglichen technischen Probleme, die es auszuarbeiten galt, noch lange beschäftigen

würde.«217 Duchamps Braut steht damit exemplarisch für seinen Entschluss, sich nicht nur

vom Realismus mit seinen genderspezifischen Konnotationen (männlicher Künstler/Genius

versus weibliches Modell/Natur) zu verabschieden, sondern auch mit jeglicher Form von

inhaltlichem oder formalem Absolutismus zu brechen, um in Zukunft intellektuelle,

technische und methodische Probleme ins Zentrum seiner künstlerischen Arbeit zu rücken,

mit denen er nicht zuletzt auch die Rezipienten seines Werks vor neue Herausforderungen

stellen sollte. Nachdem Duchamp im Oktober 1912 nach Paris zurückgekehrt war, beschloss

er daher, den »professionellen Malern« den Rücken zu kehren und sich einen Brotberuf zu

suchen, der ihn von der »manuellen Knechtschaft des Künstlers« befreien und ihm »eine Art

soziale Entschuldigung« liefern sollte, um sich »nicht mehr länger selber zur Schau stellen zu

müssen«.218 So schrieb er sich noch im November 1912 an der École Nationale des Chartes

für das Studium der Bibliothekswissenschaften ein und nahm im Mai 1913 eine Teilzeitstelle

als Hilfsbibliothekar an der Bibliothèque Sainte-Geneviève an, deren Ressourcen er in seiner

Freizeit nutzte, um sein Atelier – in dem nunmehr erste Skizzen und Notizen zum Großen

Glas und bald auch erste Ready-mades entstehen sollten – nach und nach in ein Labor zu

verwandeln, in dessen geschütztem Rahmen er sich nach Belieben mit künstlerischen,

pseudowissenschaftlichen oder philosophischen Experimenten die Zeit vertreiben konnte.219

Indem sich Duchamp vom Medium der Malerei abwandte und stattdessen mit einer Vielzahl

unterschiedlicher Medien und Techniken zu experimentieren begann, sollte er das Sujet seines

letzten Gemäldes aber keineswegs aus den Augen verlieren. Schließlich sollte sich das Motiv

der Braut (mariée) – analog zum Begriff der Dauer (durée), der als Grundlage und zentraler

Angelpunkt von Bergsons Philosophie zu betrachten ist – fortan wie ein roter Faden in den

unterschiedlichsten Metamorphosen durch Duchamps Leben und Werk ziehen. Jenseits der

enigmatischen Notizen zum Topos der Braut, die Duchamp von 1912 bis 1915 verfasste und

zu denen auch jene »Allgemeinen Notizen für ein Lachbild« zählen, in denen er seine neue

217 Zit.n. d’Harnoncourt/McShine: »The Works of Marcel Duchamp«, S. 263 (Übers. d. Verf.). 218 Zit.n. Caumont/Gough-Cooper: »Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy«, Einträge zum 4. November 1912 und 3. November 1913 (Übers. d. Verf.). 219 Im Interview mit James Johnson Sweeney erinnert sich Duchamp 1955 unter Bezugnahme auf sein Gemälde Broyeuse de chocolat (Schokoladenreibe) von 1913 an den Bruch, der sich damals in seinem Werk ankündigte: »Ja, es war tatsächlich ein sehr wichtiger Augenblick in meinem Leben. Ich mußte damals große Entscheidungen treffen. Und eine große Entscheidung traf ich, indem ich zu mir sagte: ›Keine Malerei mehr, such’ einen Job!‹ Und ich suchte einen Job, um genügend Zeit zu haben, für mich selbst zu malen, und ich fand einen Job als Bibliothekar in Paris an der Bibliothèque Ste. Geneviève. Und es war ein wunderbarer Job, weil man so viele Stunden am Tag frei hatte.« Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 56.

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Kunst auf die Prinzipien »Präzisionsmalerei, und Indifferenzschönheit« zurückführt und »die

Zahl 3 als Refrain in der Dauer« definiert, figuriert die Braut als zentrales Motiv im Großen

Glas (1915–23), an dem Duchamp acht Jahre lang laborierte, ehe er es für »unvollendet

vollendet« erklärte, um mit der Grünen Schachtel (1934) schließlich auch die dazugehörigen

Notizen in dreihundertzwanzigfacher Auflage (!) zu veröffentlichen. Die Braut schwingt als

›bereites Mädchen‹ (ready maid)220 mit im Konzept des Ready-made (seit 1915) und spiegelt

sich in Duchamps weiblichem Alter Ego Rrose Sélavy (1921) wider, mit dem er im Sinne der

Lesart »Eros, das ist das Leben« sein Prinzip des »Erotismus« bekräftigte und in dessen

Namen er eine Reihe von Ready-mades signierte. Die Braut steht in Zusammenhang mit

Duchamps Konzept des »Infra-mince« und damit im Mittelpunkt der Installation Lazy

Hardware (1945), einer Schaufensterarbeit, in deren Rahmen Duchamp sein Konzept des

»Infra-mince« erstmals öffentlich präsentierte, indem er ihm ein kopfloses Mannequin

gegenüberstellte. Und nicht zuletzt steht die Braut im Mittelpunkt der Rauminstallation

Gegeben sei: 1. der Wasserfall, 2. das Leuchtgas (1946–1966), mit der Duchamp dem

Großen Glas einen ›zeitgenössischen Anstrich‹ verlieh und mit der er seine Nachwelt ein

letztes Mal vor den Kopf stoßen sollte.

Der radikal neue Kunstbegriff, den Duchamp ausgehend vom Motiv der Braut entwickelte

und den er in seiner Maxime »Der Betrachter macht das Bild« zusammengefasst hat, ist damit

in Analogie zu jener radikal neuen Konzeption der Philosophie zu verstehen, die Bergson

ausgehend vom Begriff der Dauer auf den Weg brachte und die er mit seiner »Methode der

Intuition« auf ein Prinzip der Revision zurückgeführt hat. Eine Entwicklungsphilosophie, die

ihrem Namen gerecht werden soll, wird Bergson zufolge schließlich unter keinen Umständen

von einem einzigen Philosophen und sozusagen »in einem Tage geschaffen werden«, sondern

sich »erst durch die gemeinsame und fortgesetzte, einander ergänzende, berichtigende und

verbessernde Bemühung vieler Denker und Beobachter heranbilden können.«221 Wenn

Bergson überzeugt war, der Philosophie mangle es infolge ihres systematischen Charakters in

erster Linie an Präzision, und im Gegenzug auf die Notwendigkeit verwies, die Ebene der

abstrakten Begriffe hinter sich zu lassen und sich durch Intuition in das »Innere eines

Gegenstandes« zu versetzen, »um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen

Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren«,222 so hat Duchamp Bergsons Intuition mit

seinem zutiefst heterogenen Oeuvre eine Wendung ins Konkrete gegeben. Indem er mit der

220 Vgl. Thomas Zaunschirm: Bereites Mädchen Ready-made, Klagenfurt: Ritter 1983. 221 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 47. 222 Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 183.

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Braut auf so unterschiedliche Gegenstände und Bereiche wie Wissenschaft und Philosophie,

Kunstgeschichte und Technologie, Literatur und Populärkultur rekurrierte, wollte er sich nicht

länger als »Bilderhändler« degradieren,223 sondern einen Zugang zur Kunst entwickeln, der

weder einer eindimensionalen Traditionslinie noch einer bestimmten Ästhetik oder Logik

folgt und für den er weder Allgemeingültigkeit noch Haltbarkeit beanspruchen wollte.

Dementsprechend macht es im Hinblick auf Duchamps Werk keinen Sinn, substantielle

Lesarten erschließen zu wollen. Ob er sich nun als Bibliothekar, Französischlehrer,

Schachspieler, Kurator, Kunsthändler, Grafiker, Anartist, Atmer, Reisender, Lebenskünstler

oder Rrose Sélavy ausgab: Der Prozess, auf den sich Duchamp 1912 einließ, kreiste für ihn,

wie er 1957 im Rahmen seines Vortrags »Der schöpferische Prozeß« hervorheben sollte, um

die prinzipielle »Unmöglichkeit«, seine »Absicht vollständig auszudrücken«, und damit um

den signifikanten »Unterschied zwischen dem, was er sich zu verwirklichen vorgenommen

hatte, und dem, was er verwirklicht hat«.224

223 Vgl. Duchamp: Interviews und Statements, S. 238. 224 Duchamp: »Der schöpferische Prozeß«, S. 166–167.

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2. DAS DREIFALTIGE BILD: SPIELRÄUME DES IMAGINÄREN

The number 3 interested me because I used it as a kind of architecture for the Glass, it gave the

Glass some kind of unitary organization, at least as far as its technical elaboration was concerned. […] For me, it is a kind of magic number, but

not magic in the ordinary sense. As I said once, number 1 is the unity, number two is the couple,

and three is the crowd. In other words, twenty millions or three is the same for me.1

2.1. Unterwegs zum Ursprung des Bildes2

Im Sommer 1921 beschloss Duchamp seiner Identität eine neue Dimension zu verleihen.

Nachdem er in seiner Wahlheimat New York schon länger mit diesem Gedanken gespielt und

nicht nur in Erwägung gezogen hatte, die Religion zu wechseln und einen jüdischen Namen

anzunehmen, sondern auch bereits zwei seiner Ready-mades mit dem Pseudonym »Rose

Sélavy« signiert hatte,3 entschied er sich nun, da er gerade einige Monate in Paris verbrachte,

im Zuge einer »Art ready-made Aktion« dafür, eine weitere Lanze für das andere Geschlecht

zu brechen.4 Nachdem Francis Picabia eine Runde von Freunden eingeladen hatte, sein gerade

in Entstehung begriffenes Bild L’Œil cacodylate (Das kakodylsaure Auge) (Abb. 21) zu

signieren, nutzte Duchamp die Gelegenheit, um sein weibliches Alter Ego Rrose Sélavy

bildnerisch in Szene zu setzen. »Heute klingt das vielleicht ganz gut«, kommentierte er diese

Entscheidung 1966 im Interview mit Pierre Cabanne, »aber damals war Rose ein blöder

Name. Das Doppel-R hängt mit dem Bild von Picabia Das Kakodylsaure Auge (Œil

Cacodylate) zusammen [...]. Ich glaube, ich schrieb [...] Pi Qu’habilla Rrose Sélavy.«5

Der Titel des besagten Gemäldes bezieht sich nicht nur auf ein im Kontext der bildenden

Kunst essentielles Sinnesorgan – wohlgemerkt unter Zuordnung eines ungewöhnlichen

chemischen Attributs. Denn sinngemäß bedeutet L’Œil cacodylate auch ›der stinkende Blick‹

1 Duchamp im Interview mit Arturo Schwarz, zit.n. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 128. 2 Kap. 2.1. entspricht einer überarbeiteten und erweiterten Fassung folgender Publikation: Sarah Kolb: »Dem Werden auf die Pelle rücken. Bildtopologie bei Bergson, Duchamp und Lacan«, in: Ilka Becker, Michael Cuntz, Michael Wetzel (Hg.): Just not in time: Inframedialität und non-lineare Zeitlichkeiten in Kunst, Film, Literatur und Philosophie, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 135–157. 3 Es handelt sich dabei um das Ready-made Fresh Widow von 1920 und um das Semi-Ready-made Why Not Sneeze Rose Sélavy von 1921, vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 678–679 (Kat.-Nr. 376) sowie ebd., S. 690–691 (Kat.-Nr. 391). 4 Duchamp im Interview mit Calvin Tomkins: »Profiles: Not Seen and/or Less Seen – Marcel Duchamp«, in: The New Yorker (6. Februar 1965), S. 37–93, S. 68, zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 184. Vgl. auch Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 96. 5 Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 96.

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und lässt damit nicht zuletzt an jene Form der »olfaktorischen Masturbation« denken, die

Duchamp später mit einem gewissen Wiederholungszwang seitens des bildenden Künstlers

und namentlich mit einer sinnlichen Dimension der Malerei – dem Geruch von Terpentin – in

Verbindung sollte.6 Der Satz »Pi Qu’habilla Rrose Sélavy« wiederum, mit dem Duchamp das

Gemälde signierte, heißt »Pi[cabia], der Rrose Sélavy eingekleidet hat«. Phonetisch kann man

aber auch lesen »Picabia arrose, c’est la vie«, das heißt, »Picabia begießt, so ist das Leben«.7

Und nicht zuletzt liegt es angesichts der Affinität des Lebenskünstlers zum Prinzip des Eros

nahe, entsprechend Duchamps bevorzugter Interpretation mitzulesen: »Picabia – Eros, das ist

das Leben«.

Kurz darauf ließ Duchamp seine künstlerische Geschlechtsumwandlung von seinem Freund

Man Ray in Paris mit einer Serie von Fotografien dokumentieren. Auf einem der Abzüge, den

er als Beleg seiner neuen Identität mit dem Schriftzug »lovingly Rrose Sélavy alias Marcel

Duchamp« versah, posiert Duchamp alias Rrose als geheimnisvolle Dame im üppigen Pelz,

die dem Betrachter im Schatten ihres Huts verführerisch und geradezu fordernd entgegen

blickt, deren prätentiöse Gestik jedoch eine gewisse Zurückhaltung, Unantastbarkeit oder

auch Schamhaftigkeit suggeriert (Abb. 22).8 Diese Diskrepanz zwischen der gezierten Geste

der Hände und dem eindringlichen Blick, die dem Bild einen zutiefst ambivalenten Charakter

verleiht, erklärt sich nicht nur aus Duchamps Selbstinszenierung als Frau, sondern auch aus

dem tatsächlichen Zustandekommen des Porträts. Denn wie bei genauerem Hinsehen (etwa

auf das Haarbüschel über dem linken Ohr) zu erkennen ist, handelt es sich bei der Fotografie

in Wirklichkeit um eine Fotomontage, und Hut und Hände sind nicht Duchamps eigene,

sondern diejenigen von Germaine Everling, der damaligen Lebensgefährtin seines Freundes

Picabia.9 Der androgyne Charakter der Rrose, den Duchamp durch seine Signatur bekräftigt

und der auch im Doppel-R des Eigennamens (Rose/Eros) mitschwingt, verdankt sich also

nicht nur dem postulierten Bildinhalt, sondern ist bereits im Entstehungsprozess des Bildes

6 Duchamp verwendet diesen Ausdruck 1961 im Interview mit Georges Charbonnier: »L’idée de répéter, pour moi, est – chez un artiste – une forme de masturbation. C’est d'ailleurs très naturel. C’est la masturbation olfactive, si j’ose dire. C’est-à-dire que, chaque matin, un peintre qui se réveille a besoin, en dehors de son petit-déjeuner, d’un peu d’odeur de térébenthine. Et il va à son atelier parce qu’il a besoin de cette odeur de térébenthine. Si ce n’est pas de la térébenthine, c’est de l’huile mais c’est olfactif, nettement. C’est le besoin de recommencer la journée, c’est-à-dire une forme de grand plaisir seul, onanique* presque, vous comprenez.« Zit.n. Charbonnier: Entretiens avec Marcel Duchamp, S. 18 (*néologisme pour onaniste). 7 Vgl. die Anm. d. Übers. Ursula Dreysse in Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 96. 8 Wie Francis M. Naumann bemerkt, geht Rroses Styling mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine berühmte Szene aus Charlie Chaplins Film A Woman (1915) zurück, in der sich Chaplin aus einem ähnlichen Blickwinkel und ebenfalls mit Hut und Pelzkragen als Frau präsentiert, Francis M. Naumann: »Marcel Duchamp: A Reconciliation of Opposites«, in: Kuenzli/Naumann: Marcel Duchamp. Artist of the Century, S. 20–40, S. 21–22. 9 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 692 (Kat.-Nr. 393).

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angelegt. Denn was es auf dem Bild unter Berücksichtigung von Duchamps Interventionen

jenseits des Fotografischen zu sehen gibt, ist eben nicht nur ein Mann, der sein eigenes

Frauwerden inszeniert, sondern auch ein mediales Mischwesen, das die Attribute beider

Geschlechter in sich vereinigt. Zielstrebig und geheimnisvoll, fordernd und verführerisch,

wortgewandt und sinnlich zugleich, verkörpert Rrose Sélavy damit geradezu idealtypisch die

mythologische Figur des Hermaphroditos, der dem Mythos zufolge durch einen Liebeszauber

der Quellnymphe Salmakis mit dieser verschmolz und sich in ein zweigeschlechtliches Wesen

verwandelte.10

Der HERMAPHRODITOS ist eine Gestalt der griechischen Mythologie, die männliche und weibliche körperliche

Merkmale in sich vereinigt.11 Unter dem Namen APHRODITOS war er ursprünglich (vor allem in Zypern) eine als

Gottheit verehrte männliche Form der Aphrodite, die oft als Herme (das heißt als Pfeilerschaft mit aufgesetztem

Kopf und Schultern) dargestellt wurde. In der Literatur ist die Namensform Hermaphroditos mit der Bedeutung

»Herme des Aphroditos« erstmals bei Theophrastos (371–287 v. Chr.) belegt. In der weiteren mythologischen

Ausdeutung, wie sie sich in der Überlieferung von Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.) findet, wurde der Hermaphroditos

zur Figur des schönen Jünglings weiterentwickelt, der aus der Vereinigung der Aphrodite mit dem Götterboten

Hermes hervorgegangen war und dessen Körper durch den Einfluss der Götter schließlich mit dem der

QUELLNYMPHE Salmakis verschmolz, wodurch er zum ZWITTER (mit weiblichen Brüsten und männlichen Genitalien)

wurde. Als Sohn der Aphrodite und des Hermes versinnbildlicht der Hermaphroditos die Prinzipien des

Männlichen und des Weiblichen in Personalunion. APHRODITE, die GÖTTIN DER LIEBE, DER SCHÖNHEIT UND DER

SINNLICHKEIT, war ursprünglich für alles WACHSEN, WERDEN und ENTSTEHEN verantwortlich. Als Tochter des Uranos

(Himmel), den dessen Mutter Gaia (Erde) bereits ohne Mitwirkung eines Mannes AUS SICH SELBST HERVORGEBRACHT

hatte,12 geht die Aphrodite aus einem KASTRATIONSAKT hervor und entspringt sozusagen in zweifacher Hinsicht

dem männlichen Geschlecht. Namentlich verdankt sie ihre Existenz einem SCHNITT DES CHRONOS (Zeit), der seinen

Vater Uranos entmannt und dessen Glied ins Meer geworfen hatte, worauf Aphrodite mit dem Beinamen »die

SCHAUMGEBORENE« den aufschäumenden Wellen entstieg. Der GEFLÜGELTE GÖTTERBOTE HERMES wiederum, Sohn des

GÖTTERVATERS Zeus und der WOLKENGÖTTIN Maia (Mutter), ist der griechischen Mythologie zufolge auch der

SCHUTZGOTT DER WANDERER UND WEGE, DER DIEBE, DER KUNSTHÄNDLER, DER REDEKUNST UND DER MAGIE. Da er die

Botschaften der Götter für die Menschen ÜBERSETZT, sind diese nicht als bloße Mitteilungen, sondern vielmehr nur

10 Zum Konzept des Androgynen bei Duchamp vgl. u.a.: Lanier Graham: Duchamp & Androgyny. Art, Gender, and Metaphysics, Berkeley: No-Thing Press 2003; Elisabeth Bronfen: »Infra-kleine Begegnungen erotischer Art: Duchamps Spiel mit dem Unterschied der Geschlechter«, in: Museum Jean Tinguely (Hg.): Duchamp, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002, S. 145–153. 11 Vgl. hier und im Folgenden Michael Grant, John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999 sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Hermaphroditos (aufgerufen am 28.12.2015). 12 Man beachte die Parallele zu den altägyptischen Mythen um den Skarabäus und den Zusammenhang mit Duchamps Motiv der Braut, vgl. oben, Kap. 1.3.2.

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mit EINSICHT zu verstehen. Im Hinblick auf Duchamps Großes Glas, auf das im Folgenden näher einzugehen ist,

soll hier auf die auffälligen Parallelen zwischen Himmelsgott und »Domäne der Braut«, Erdgöttin und »Domäne

der Junggesellen«, Zeitgott und »Schere« sowie Wolkengöttin und »Milchstraße« hingewiesen sein. Aber auch ganz

allgemein lässt der Verantwortungsbereich der Aphrodite an Duchamps Braut (Bild) und jener des Hermes an

Duchamps Junggesellen (Betrachter) sowie an seine Leidenschaft für Wortspiele und Reisen denken.

2.1.1. Horizont/Haut: Was ist ein Bild?

Rrose Sélavy ist damit als Allegorie auf Duchamps grundsätzliche Auffassung von Kunst zu

betrachten. Denn in Analogie zum Hermaphroditos, der als Sohn der Aphrodite und des

Hermes die Prinzipien des Sinnlichen und der Intelligenz in sich vereinigt, setzt Duchamp mit

seinem paradoxalen Methodenvokabular »Präzisionsmalerei, und Indifferenzschönheit«13 auf

ein Zusammenwirken von minutiöser Inszenierung und wortgewandtem Intellektualismus.

Duchamp beruft sich also einerseits auf ein hermeneutisches Prinzip der Auslegung oder des

»pikturalen Nominalismus«14, indem er den Betrachter zur interpretativen (Wort-)Spielerei

mit seinen Werken anregt, und andererseits auf ein aphrodisierendes Prinzip der Verführung,

in dessen Namen er stets auch eine gewisse sinnlich-erotische Komponente mit ins Spiel

bringt. Dementsprechend besteht die Aufgabe der Kunst Duchamp zufolge darin, den

Betrachter nicht nur als unabhängiges Subjekt jenseits der Bildoberfläche zu adressieren,

sondern ihn gleichzeitig auch als das eigentliche Zentrum ihres Wirkens zu begreifen und ihn

damit unmittelbar zu berühren. Kein Zufall daher, dass Duchamp sein androgynes Alter Ego

gerade mit Eros und damit auch mit jenem Prinzip des »Erotismus« in Verbindung bringt, das

er 1966 gegenüber Cabanne als eines seiner zentralen Instrumente ausweist,15 indem er sich –

wenn auch nur implizit – auf jene Definition zu beziehen scheint, die Georges Bataille in

seinem Werk L’Érotisme (Der heilige Eros) von 1957 liefert.16 In Analogie zu Bergsons

Gegenüberstellung von »Intellekt« und »Intuition« deklariert Bataille, im Gegensatz zur

bloßen »Fortpflanzung«, die mit »diskontinuierlichen Wesen« arbeite, bedeute die Erotik

(érotisme) eine »Zustimmung zum Leben bis in den Tod hinein«, insofern sie in ihrem

Streben nach Verschmelzung auf eine tiefe »Kontinuität des Seins«17 hinauslaufe:

13 Duchamp: Die Schriften, S. 95. 14 Vgl. Thierry de Duve: Pikturaler Nominalismus. Marcel Duchamp, die Malerei und die Moderne, aus dem Franz. v. Urs-Beat Frei, München: Verlag Silke Schreiber 1987. 15 Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 136. 16 Georges Bataille: Der heilige Eros: mit einem Entwurf zu einem Schlusskapitel, aus dem Franz. v. Max Hölzer, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1986 (Originaltitel: L’Érotisme, Paris: Les Éditions de Minuit 1957). 17 Ebd., S. 10/12.

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Im Übergang von der Diskontinuität zur Kontinuität steht nämlich das elementare Sein als Ganzes auf dem Spiel. Nur die Gewalttätigkeit kann auf solche Weise alles aufs Spiel setzen, die Gewalttätigkeit und die namenlose Erregung, die mir ihr verbunden ist! Ohne die Vergewaltigung des einmal konstituierten Seins [...] können wir uns den Übergang von einem Zustand in einen anderen, der wesentlich verschieden ist, nicht vorstellen. [...] Der ganze Aufwand der Erotik ist im Grunde nur darauf ausgerichtet, die Struktur jenes abgeschlossenen Wesens zu zerstören, das die Partner des Spieles im Normalzustand sind. | Die entscheidende Handlung ist die Entblößung. Nacktheit ist das Gegenteil eines abgeschlossenen Zustandes, das heißt der diskontinuierlichen Existenz. Sie ist ein Zustand der Kommunikation, der die Suche nach einer möglichen Kontinuität des Seins und den Wunsch offenbart, von der Ichbezogenheit loszukommen. [...] In der Erotik geht es immer um die Auflösung schon gebildeter Formen. Ich wiederhole es: jener Formen des sozialen, geregelten Lebens, welche die diskontinuierliche Ordnung der genau bestimmten Individualitäten ausmachen, die wir sind.18

Wenn Duchamp – vielleicht nicht ohne Hintergedanken in Richtung Bergson/Bataille – im

Interview mit Cabanne konstatiert, er »glaube an die Bedeutung des ›Erotismus‹, weil es

Erotik auf der ganzen Welt gibt, und alle Menschen sie verstehen«, und weil er »das einzige

Mittel« ist, »um Verborgenes ans Licht zu bringen, um gewisse Dinge – nicht unbedingt

erotischer Natur – die auf Grund der katholischen Religion und der gesellschaftlichen Regeln

verheimlicht werden, aufzudecken und sie allen zugänglich zu machen«,19 so stellt er sich

damit aber nicht nur gegen die Regeln der Gesellschaft, sondern vor allem auch gegen die

Regeln der Kunst. Seit er sich 1912 anlässlich des Eklats um sein Gemälde Akt, eine Treppe

herabsteigend Nr. 2 von der zeitgenössischen Kunstwelt distanziert hatte, glaubte er nicht

mehr an eine Form der Bildschöpfung, die dem Betrachter einen bestimmten Ideenkosmos

mechanisch und gleichsam objektiv vor Augen führen könnte. Vor allem den dogmatischen

Auffassungen der Kubisten und Futuristen, die sich unmittelbar auf das Modephänomen des

Bergsonismus bezogen, begegnete Duchamp nicht nur mit Skepsis, er nahm sie schließlich

auch zum Anlass, aus Bergsons Philosophie des Werdens seine Konsequenzen zu ziehen,

anstatt sich wie seine Kollegen darauf zu beschränken, sie in statische Bilder zu übersetzen.20

Mit dem Motiv der Braut, das 1912 im Rahmen der Gemälde Übergang von der Jungfrau zur

Braut und Braut auf seiner Bildfläche erschien und das seither nicht mehr aus seiner Kunst

wegzudenken ist, rückten für Duchamp die Prinzipien der Prozessualität, der Kontingenz und

des Transformismus in den Vordergrund, in anderen Worten, der schöpferische Prozess, die

Dimension des Zufalls und das Instanz des Betrachters. Dabei zielte Duchamp mit seinem

18 Ebd., S. 16–18. Heike Delitz zufolge setzte sich Bataille seit etwa 1920 mit Bergsons Philosophie auseinander und entwickelte insbesondere seine Theorie der intensiven Affekte (der Religion, der Kunst und des Erotismus) ausgehend von einer Kritik von Bergsons Werk Le Rire, vgl. Heike Delitz: Bergson-Effekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015, S. 424–425. 19 Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 136. 20 Vgl. oben, Kap. 1.3.

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Erotismus, mit seiner Kunst der Auslegung und Verführung, stets auf eine Vereinigung von

Kunst und Leben ab, auf ein Primat der Lebenskunst, das im Gegensatz zu gesellschaftlichen

Regelwerken oder Konventionen stehen sollte. So scheint es nur konsequent, wenn Duchamp

seine Identität als Künstler auf die Formel bringt: Rrose Sélavy – Eros, das ist das Leben, mit

dem Decknamen Marcel Duchamp.

Einige Monate vor seinem Outing alias Rrose, im April 1921, hatte sich Duchamp in New

York im Übrigen schon einmal von Man Ray als Frau ablichten lassen, um das Foto auf dem

Label eines Parfümflakons zu platzieren, das er mit dem Markennamen »BELLE HALEINE |

Eau de Voilette | RS | New York | Paris« versah. Damit schuf Duchamp nicht nur eines jener

»assistierten Ready-mades«, die er seit 1916 machte, sondern auch seinen ersten potentiellen

Markenartikel (Abb. 23). Ebenso wie mit Rroses Pelz und Hut verweist Duchamp mit der

Produktspezifizierung Eau de Voilette (Schleierwasser) in Anlehnung an den Zweck eines

herkömmlichen Eau de Toilette auf eine subtile Verhüllungsstrategie. Der klingende Name

Belle Haleine (schöner Atem) wiederum, der dem Objekt seinen Titel gibt, ist ein weiteres

Indiz für Duchamps Primat der Lebenskunst, das er einmal mit der Aussage bekundet hat:

»Ich glaube, man könnte sagen, ich verbringe meine Zeit mit Atmen [...]. Ich bin ein

respirateur – ein Atmer. Ich genieße das ungeheuerlich.«21

Indem Duchamp seinem metaphorischen Frauwerden mit Belle Haleine ein erstes Denkmal

setzt, bringt er den Erotismus nicht nur auf einer konzeptuellen und visuellen, sondern auch

auf einer anderen sinnlichen Ebene ins Spiel. Parfüm zeichnet sich schließlich nicht nur

prinzipiell durch eine gewisse erotische Note aus, sondern entfaltet seinen Duft, der die

subtilste und erinnerungsintensivste aller Sinnesempfindungen betrifft, im Idealfall auch

genau in jenem hauchfeinen und unfassbaren Übergangsbereich, den die olfaktorische

Wahrnehmungsschwelle markiert und dem Walter Benjamin das Phänomen der Aura

zuordnet.22 Damit korrespondiert Belle Haleine auch aufs Engste mit Duchamps späterem

Konzept des »Infra-mince«, das er 1945 im Rahmen seiner Covergestaltung der Zeitschrift

View erstmals erwähnt (Abb. 24), indem er es nicht nur mit der Atembewegung, sondern auch

mit einem olfaktorischen Phänomen assoziiert: »QUANd / lA FuMÉe de tABAC / seNT aussi

21 [Unsigniert:] »Art Was a Dream«, in: Newsweek, New York, LIV/19 (9. November 1959), S. 118–119, zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 85. 22 Benjamin zufolge ist der Geruch übrigens auch jenes »unzugängliche Refugium der mémoire involontaire« (d.h. der Bilder der unwillkürlichen Erinnerung), die sich dadurch auszeichnen, dass sie eine Aura haben, Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire« (1939), in: ders.: Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 32–63, S. 53/57. Zu Benjamins Konzept der »Schwelle«, vgl. ders.: Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983 sowie Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.

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/ de La bouche / qui L’EXHALE, / leS DEUx ODEURS / S’ÉpOUSeNt par / INFRA-mINce«

– »Wenn der Tabakrauch auch nach dem Mund riecht, der ihn ausatmet, vermählen sich die

beiden Gerüche durch Infra-mince«.23 Diese Assoziation zum Olfaktorischen taucht auch in

Duchamps Notizen zum Infra-mince auf, wo er beispielsweise schreibt: »Gerüche infradünner

als die Farben«.24 Und nicht zuletzt scheint eine von Duchamps Konsequenzen zu sein, dass

er die zu Belle Haleine gehörige Kartonschachtel nach 1945 – vor dem Hintergrund seines

Konzepts des Infra-mince – noch ergänzend mit der Signatur Rrose Sélavy versah,25 um sie

ein weiteres Mal mit jener Schwellenerfahrung Verbindung zu bringen, die das Prinzip der

Travestie und das Spiel mit den Geschlechtergrenzen mit sich bringt und die sich bereits in

der Fotografie widerspiegelt, die den Parfümflakon ziert.

Der Bezug zu Benjamins Konzept der Aura, der in Belle Haleine zum Tragen kommt, ist aber

nicht nur metaphorischer, sondern auch produktionsästhetischer Natur. Duchamp macht jenen

»Verlust der Aura«, den Benjamin diagnostiziert und der mit Boris Groys gesprochen darauf

zurückzuführen ist, dass »ein neuer ästhetischer Geschmack [...] die Reproduktion dem

Original vorzieht«,26 durch das Verfahren des Ready-made buchstäblich rückgängig. Im Fall

von Belle Haleine – und beim Ready-made im Allgemeinen – wird die Reproduktion zum

Original, das heißt, sie bekommt jene Aura, über die Groys zufolge nur »die Topologie des

Kontextes – und nicht die materielle Veränderung des Werks – entscheidet«27 und »die das

Ready-made-Verfahren theoretisch adäquat zu reflektieren vermag«28:

Das Original hat einen bestimmten Ort [eine Signatur] – und durch diesen besonderen Ort ist das Original als dieser einzigartige Gegenstand in die Geschichte eingeschrieben. Die Kopie ist dagegen virtuell, ortlos, ungeschichtlich: Sie erscheint von Anfang an als potentielle Multiplizität. Die Reproduktion ist Entortung, Deterritorialisierung – sie befördert das Kunstwerk in die Netze der topologisch unbestimmten Zirkulation.29

23 Zit.n. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 779 (Übers. d. Verf.). 24 Marcel Duchamp: Notes (1980), hg. u. mit einem Vorw. v. Paul Matisse, mit einem Geleitw. v. Pontus Hulten, Paris: Flammarion 1999, S. 19–36, S. 34. 25 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 688. 26 Boris Groys: Topologie der Kunst, München: Carl Hanser Verlag 2003, S. 37. 27 Ebd., S. 36. Groys, dessen Begriff der Topologie sehr unscharf bleibt, insofern er sich weitgehend auf eine ortsspezifische Bewegung beschränkt, verortet die »Topologie des Kontextes« im Anschluss an Benjamin namentlich im Zugang des Betrachters: »Wenn der Unterschied zwischen Original und Kopie ein topologischer ist, dann entscheidet also allein die topologisch definierte Bewegung des Betrachters über diese Unterscheidung. Wenn man sich zu einem Kunstwerk begibt, ist es ein Original. Wenn man das Kunstwerk zwingt, zu einem zu kommen – ist es eine Kopie.« Ebd., S. 37. 28 Ebd., S. 39. 29 Ebd., S. 36. Dass die Reproduktion als solche notwendig »Entortung, Deterritorialisierung« ist, wäre vor dem Hintergrund von Duchamps exzessiver Beschäftigung mit dem Verfahren der Reproduktion, die sich insbesondere in seinen Schachteln und Ready-made-Editionen niedergeschlagen hat, wiederum in Frage zu stellen. Entortung, Deterritorialisierung ist die Reproduktion nur dann, wenn sie dem Charakter des Einzigartigen, der ›Handschrift des Künstlers‹ entrissen ist – was man in Bezug auf Duchamps Schachteln in

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Im Umkehrschluss bedeutet das, dass das Verfahren des Ready-made den Massenartikel in die

Netze der topologisch bestimmten Zirkulation zurückbefördert, indem es ihn, wie Egenhofer

hervorhebt, dem »Körper der Serie« entreißt und ihn in den Zustand jenes »Sich-Darstellens«

versetzt, »der zur Seinsweise von Kunstwerken zu gehören scheint«.30

Die TOPOLOGIE (von griechisch tópos »Ort«, »Platz«) ist ursprünglich ein Teilgebiet der Mathematik, das sich unter

dem 1847 von Johann Benedict Listing eingeführten Begriff Ende des 19. Jahrhunderts entsprechend Listings

Definition als die Lehre »modaler [die Art und Weise betreffender] Verhältnisse räumlicher Gebilde« etabliert

hat.31 Die Topologie beschäftigt sich im Allgemeinen mit denjenigen Eigenschaften mathematischer Strukturen,

die unter STETIGEN TRANSFORMATIONEN erhalten bleiben, wodurch der Begriff der Stetigkeit in sehr allgemeiner Form

als Abwesenheit von »Sprüngen« definiert wird.32 Als »topologisch äquivalent« werden dementsprechend Objekte

mit invarianten Eigenschaften bezeichnet, die durch einen so genannten HOMÖOMORPHISMUS, das heißt eine stetige

Transformation oder TOPOLOGISCHE ABBILDUNG, ineinander überführt werden können.33 Konkret kann man sich

unter einem Homöomorphismus beispielsweise das Dehnen, Stauchen, Verbiegen, Verzerren, Verdrillen,

Verknoten oder Umstülpen eines Objekts vorstellen, oder das Zerschneiden unter der Bedingung, dass die

beiden resultierenden Teile später exakt an der Schnittstelle wieder zusammengefügt werden.34 Grundsätzlich

beschäftigt sich die Topologie mit ÄQUIVALENZEN IM ZWEI-, DREI- ODER N-DIMENSIONALEN RAUM und kann folglich Ebenen

und Netze, räumliche Gebilde, Objekte und Körper oder mehrdimensionale Mannigfaltigkeiten zum Gegenstand

haben, indem sie mit Stephan Günzel gesprochen danach fragt, »was gleich bleibt, wenn ein Betrachter meint,

etwas habe sich verändert.«35

Die HISTORISCHEN WURZELN der Topologie liegen in der Zeit der Algebraisierung der Geometrie, deren zentrales

Problem darin bestand, anschauliche Darstellungen räumlicher Gebilde in die abstrakte Sprache der Mathematik

zu übertragen und dadurch in weiterer Konsequenz auch räumliche Mannigfaltigkeiten erschließen zu können,

die sich einer anschaulichen Darstellung entziehen. Einen ersten wesentlichen Schritt setzte GOTTFRIED WILHELM

LEIBNIZ mit seiner Theorie der ANALYSIS SITUS, mit der er beweisen wollte, dass eine Beschreibung des Raumes

auch unabhängig vom Kräftespiel der Materie und damit allein auf Basis einer Analyse der Lagebeziehungen

gewisser Hinsicht behaupten könnte, insofern sie – anders als die Ready-mades – explizit dem Gelderwerb dienen sollten. 30 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 220. Vgl. dazu auch unten, Kap. 2.2.2. 31 Johann Benedict Listing: »Vorstudien zur Topologie«, in: Göttinger Studien 2 (1847), S. 811–875, S. 814, zit.n. Stephan Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, in: ders. (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 13–29, S. 22. 32 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Topologie_%28Mathematik%29, https://de.wiktionary.org/wiki/stetig (aufgerufen am 28.12.2015). 33 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6omorphismus (aufgerufen am 28.12.2015). 34 Vgl. ebd. 35 Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, S. 21.

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räumlicher Gebilde oder Punkte erfolgen könne.36 Dabei intendierte Leibniz, wie Marie-Luise Heuser betont,

»eine Mathematik der Gestalt, um die qualitativen Wahrnehmungsgehalte, das heißt die rein räumlichen

Eigenschaften von Figuren, ihren Lagebeziehungen, Winkeln und ihren mechanischen Bewegungen zur

Darstellung bringen zu können«, wobei er nicht zuletzt auch darauf abzielte, spezifische Verfahren zur

Beschreibung von Lebewesen oder von Materialeigenschaften zu entwickeln.37

Eine erste konkrete Anwendung fand Leibniz’ unvollständig zurückgelassener topologischer Ansatz mit LEONHARD

EULERS GRAPHENTHEORIE,38 mit der es Euler 1736 gelang, das berühmte zeitgenössische RÄTSEL DER KÖNIGSBERGER

BRÜCKEN zu lösen, das darin bestand, alle sieben Brücken der Stadt Königsberg genau einmal zu überschreiten

und am Ende wieder am Ausgangspunkt anzugelangen. Eulers Kunstgriff bestand dabei in einer ABSTRAKTION DER

RELATIONEN VOM PHYSISCHEN RAUM, dessen reale Topografie für das Problem der Brücken, wie Euler zeigen konnte,

keine Relevanz hatte, da sich der zu beschreitende Weg in Bezug auf dessen Ausdehnung invariant verhielt.39

Wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der mathematischen Topologie hatten auch die Erkenntnisse der so

genannten NICHTEUKLIDISCHEN GEOMETRIE, die auf einer Infragestellung des euklidischen Parallelenaxioms40 basierte

und zu deren Vordenkern neben Listings Lehrer Carl Friedrich Gauß (ab 1793) auch János Bolyai (ab 1820),

Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski (ab 1826) und Bernhard Riemann (ab 1854) zählten. Die zentrale Neuerung

der nichteuklidischen Geometrie bestand darin, dass sie die Flächengeometrie Euklids nur noch als Spezialfall

der Geometrie erachtete und damit auch GEKRÜMMTE, ELLIPTISCHE UND HYPERBOLISCHE RÄUME erschloss, indem sie

analog zur Analysis situs auf die Annahme einer festen Eigenschaft des Raumes verzichtete.41 So entwickelte

GAUß im Zuge der Landvermessung des Königreichs Hannover (1818–1826) eine THEORIE ZUR KRÜMMUNG VON

FLÄCHEN, die bis heute zu den Grundlagen der Differentialgeometrie zählt. BOLYAI und LOBATSCHEWSKI wiederum

formulierten Anfang der 1820er Jahre unabhängig voneinander erstmals eine GEOMETRIE, IN DER DAS EUKLIDISCHE

PARALLELENAXIOM NICHT GILT, während RIEMANNS DIFFERENTIALGEOMETRIE GEKRÜMMTER RÄUME, die er 1854 im Rahmen

seines Habilitationsvortrags »Über die Hypothesen, die der Geometrie zugrunde liegen« verteidigte und deren

physikalische Relevanz damals noch vehement in Zweifel gezogen wurde, sich schließlich als bahnbrechende

Erkenntnis erweisen und nicht zuletzt eine der wesentlichen Voraussetzungen für Albert EINSTEINS ALLGEMEINE

36 Vgl. ebd., S. 21–22. Leibniz’ Theorie der »Analysis situs«, die er auch als »Geometria situs«, »Calculus situs«, »nouvelle characteristique« oder »analyse géométrique« bezeichnete, findet sich erstmals in seinem Brief an Christian Huygens vom 8. September 1679 skizziert. Leibniz’ Schrift De analysi situs von 1693 wurde erstmals 1858 von Carl I. Gerhadt aus dem Nachlass von Leibniz herausgegeben und konnte von Listing im Rahmen seiner Vorstudien zur Topologie von 1847 daher noch nicht herangezogen werden. Vgl. Marie-Luise Heuser: »Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie«, in: Günzel: Topologie, S. 183–200, S. 183–184. 37 Heuser: »Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie«, S. 186. 38 Ein Graph (von griechisch graphe »Schrift«) ist in der Graphentheorie eine abstrakte Struktur, die (wie im Falle eines U-Bahn-Netzes) eine Menge von Objekten (Stationen) zusammen mit den zwischen diesen Objekten bestehenden Verbindungen repräsentiert, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Graph_%28Graphentheorie%29 (aufgerufen am 28.12.2015). 39 Vgl. Wladimir Velminski: »Zwischen Gedankenbrücken und Erfindungsufern: Leonhard Eulers Poetologie des Raums«, in: Günzel: Topologie, S. 171–182, S. 172ff. 40 Ausgehend von der Annahme eines ›flachen‹ Raums besagt das euklidische Parallelenaxiom, dass es in einer Ebene zu jeder Geraden g durch jeden Punkt S außerhalb dieser Geraden genau eine Gerade gibt, die durch den Punkt S geht und parallel zu g verläuft. 41 Vgl. Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, S. 22.

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RELATIVITÄTSTHEORIE von 1915 darstellen sollte.42

Indem Listing die Topologie 1847 vor dem Hintergrund von Leibniz’ Analysis situs und von den Erkenntnissen

der nichteuklidischen Geometrie als »Lehre [...] von den GESETZEN DES ZUSAMMENHANGS, DER GEGENSEITIGEN LAGE UND

DER AUFEINANDERFOLGE von Punkten, Linien, Flächen, Körpern und ihren Teilen oder ihren Aggregaten im Raume,

abgesehen von den Maß- und Größenverhältnissen« definierte,43 grenzte er sich gleichzeitig klar von Leibniz’

Theorie ab, insofern diese auf eine Analyse der Bewegungsmöglichkeiten variabler Punkte abzielte und damit

auch quantitative Aspekte mitberücksichtigte.44 Im Gegensatz zu Leibniz, für dessen zentrales Konzept der

Kongruenz der Abstandsbegriff noch zentral war, ging es LISTING um eine REIN QUALITATIVE BETRACHTUNG VON

ORTSVERHÄLTNISSEN im Sinne einer morphologischen (und teils auch morphogenetischen) Mathematik, in deren

Zentrum, so Heuser, »der Ordnungs- und Zusammenhangsgrad des Raumes aller »Complexionen«, stehen

sollte.45 Im Hinblick auf eine MÖGLICHE ANWENDUNG seiner Theorie zog Listing, wie Heuser hervorhebt, folglich die

unterschiedlichsten Phänomene in Betracht, bevorzugt aber solche aus den Bereichen der BIOLOGIE, der TECHNIK

und der KRISTALLOGRAFIE: So reichen seine Beispiele von SCHNECKEN bis zu den SCHNECKEN DES INNEREN OHRES

höherer Lebewesen, von gewundenen HÖRNERN bis zu ZÄHNEN, von der WIMPERNBEWEGUNG VON RÄDERTIERCHEN und

den WINDUNGEN VON SCHLINGPFLANZEN UND RANKEN über SCHNECKEN IN UHRWERKEN, WINDMÜHLENFLÜGEL, WENDELTREPPEN

oder STRICKE bis hin zu den SYMMETRIEEIGENSCHAFTEN VON KRISTALLEN.46 Gleichzeitig mit AUGUST FERDINAND MÖBIUS

gelang Listing 1858 nicht zuletzt auch erstmals eine Beschreibung des so genannten MÖBIUSBANDES, das als

NICHT ORIENTIERBARE OBERFLÄCHE mit nur einer Kante und mit nur einer Seite, die keine Unterscheidung zwischen

oben und unten oder vorne und hinten erlaubt, bis zum heutigen Tag eine der anschaulichsten topologischen

Strukturen darstellt (Abb. 25).47 Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Entwicklung der mathematischen

Topologie stellte die seit 1874 von GEORG CANTOR entwickelte MENGENLEHRE dar, wobei Cantor den Begriff der

Menge, den er ursprünglich analog zum Begriff der MANNIGFALTIGKEIT verwendete, 1895 als »Zusammenfassung M

von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die

»Elemente« von M genannt werden) zu einem Ganzen« definierte.48 Nachdem sich mit der Topologie ein erster

Zweig der Mathematik etablierte, der konsequent mengentheoretisch formuliert werden konnte und umgekehrt

auch Anstöße zur Weiterentwicklung der Mengentheorie gab, stellen die Axiome der Mengenlehre seit der

Überwindung der Grundlagenkrise der Mathematik im beginnenden 20. Jahrhundert eine der zentralen

Voraussetzungen der Mathematik dar.49

42 Mangels einschlägiger Publikationen basieren diese Ausführungen auf einer Internetrecherche via Wikipedia u.a. 43 Johann Benedict Listing: »Vorstudien zur Topologie«, in: Göttinger Studien 2 (1847), S. 811–875, S. 814, zit.n. Heuser: »Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie«, S. 190–191. 44 Heuser: »Die Anfänge der Topologie in Mathematik und Naturphilosophie«, S. 191. 45 Ebd., S. 190–191. 46 Ebd., S. 195–196. 47 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%B6biusband (aufgerufen am 28.12.2015). 48 Georg Cantor: »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre«, in: Mathematische Annalen 46 (1895), S. 481–512, S. 481, zit.n. http://de.wikipedia.org/wiki/Mengentheorie (aufgerufen am 28.12.2015). 49 Vgl. ebd.

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Den entscheidenden Schritt zur Entwicklung der Topologie in Richtung einer MATHEMATISCHEN DISZIPLIN machte

schließlich der französische Mathematiker, Physiker, Astronom und Philosoph HENRI POINCARÉ, der sich seit den

1870er Jahren mit der nichteuklidischen Geometrie und der Mengenlehre beschäftigt hatte und der 1892 im

Rahmen eines kurzen Artikels »Über die Analysis situs« (noch ohne den Terminus Topologie zu verwenden)

erstmals einen neuen Teilbereich der Mathematik in Aussicht stellte, um 1895 mit einem weiteren Artikel zur

»Analysis situs« auch schon eine detaillierte Einführung in dessen zentrale Problemstellungen vorzulegen.50

Nachdem die Topologie kompakter zweidimensionaler Mannigfaltigkeiten – insbesondere durch Riemanns

Theorie orientierbarer Oberflächen und Möbius’ Theorie nichtorientierbarer Oberflächen – seit den 1880er

Jahren bereits recht weit entwickelt war, gelang Poincaré 1895 erstmals eine Klassifikation zweidimensionaler

Mannigfaltigkeiten, in deren Zusammenhang er den bis heute grundlegenden Begriff der FUNDAMENTALGRUPPE

einführte und auf deren Basis er die ALGEBRAISCHE TOPOLOGIE entwickelte, die sich mit Mannigfaltigkeiten auch im

MEHRDIMENSIONALEN befasst und die seither eine kontinuierliche Weiterentwicklung erfahren hat.51 Im Unterschied

zur mengentheoretischen Topologie, in deren Zentrum die Konzepte der Stetigkeit und der Konvergenz stehen,

und zur geometrischen Topologie, die sich ausschließlich zwei-, drei- und vierdimensionale Mannigfaltigkeiten

untersucht, beschäftigt sich die algebraische Topologie im N-Dimensionalen mit Fragestellungen in Bezug auf

TOPOLOGISCHE RÄUME ODER LAGEBEZIEHUNGEN (wie beispielsweise bei Knoten, Kugeln, Tori oder deren Oberflächen),

die sie mit Hilfe von algebraischen Strukturen (wie Gruppen oder Vektorräumen) vereinfacht darstellt und einer

Analyse zugänglich macht.52 So ist in seinem Werk La valeur de la science (Der Wert der Wissenschaft) von 1905

bezeichnenderweise ein ganzer Abschnitt dem »Sehraum« gewidmet,53 der Poincaré zufolge ein Raum mit »n + 1

Dimensionen« ist, in dem die Gesamtheit der Netzhauteindrücke eine Art »Schnitt S« bildet, der »n Dimensionen«

hat,54 was für einen dreidimensionalen Sehraum (mit 2 + 1 Dimensionen) und einen Schnitt mit 2 Dimensionen

(die Bildfläche) keiner weiteren Erklärung zu bedürfen scheint, jedoch gleichzeitig auch Schlüsse auf mögliche

höherdimensionale Räume zulässt, wie etwa auf einen hypothetischen vierdimensionalen Sehraum (mit 3 + 1

Dimensionen), in dem der Schnitt 3 Dimensionen hätte und dementsprechend mit einem dreidimensionalen

Bildraum gleichzusetzen wäre, der sich in Bezug auf den vierdimensionalen Sehraum wie ein Gussstück zur

Gussform verhielte.55

50 Vgl. Henri Poincaré: »Sur l’Analysis Situs«, in: Comptes rendus hebdomadaires de l'Académie des Sciences 115 (1892), S. 633–636; ders.: »Analysis Situs«, in: Journal de l'École polytechnique 2/1 (1895), S. 1–123. 51 Vgl. Dirk Siersma: »Poincaré and Analysis Situs, the beginning of algebraic topology«, in: Nieuw Archief voor Wiskunde 5/13, Nr. 3 (September 2012), S. 196–200, S. 196ff; Jeremy Gray: Henri Poincaré. A Scientific Biography, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2013, S. 427ff.; u.a. Zur Entwicklungsgeschichte der algebraischen Topologie, vgl. Jean-Claude Pont: La topologie algébrique des origines à Poincaré, Paris: Presses Universitaires de France 1974. Zur Weiterentwicklung der algebraischen Topologie seit Poincaré, die den Rahmen der vorliegenden Arbeit infolge ihrer Komplexität und Dimension sprengen würde, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Algebraische_Topologie (aufgerufen am 28.12.2015) 52 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Topologie_%28Mathematik%29 (aufgerufen am 28.12.2015). 53 Henri Poincaré: Der Wert der Wissenschaft (1905), § 6: »Der Sehraum«, aus dem Franz. v. Emilie Weber, mit Anm. u. Zusätzen von Heinrich Weber, Berlin: Xenomos Verlag 2003, S. 51–54. 54 Ebd., S. 52. 55 Zu Duchamps Auseinandersetzung mit Poincaré, vgl. u.a. Adcock: »Conventionalism in Henri Poincaré and Marcel Duchamp«; Cipra: »Duchamp and Poincaré Renew an Old Acquaintance«; Holton: »Henri Poincaré, Marcel Duchamp and Innovation in Science and Art«;

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Nachdem die topologische Theoriebildung seit jeher eng mit außermathematischen Interessen wie beispielsweise

Fragen der Biologie, Physik, Chemie oder Kristallografie verflochten war, sollte die mathematische Topologie, die

sich im Gefolge Poincarés, wie Wolfram Pichler hervorhebt, zu einer reich verzweigten und institutionell gut

verankerten Disziplin entwickelte, bald auch im Bereich der GEISTES- UND HUMANWISSENSCHAFTEN eine starke Wirkung

entfalten.56 Eine Schlüsselrolle für die Rezeption topologischer Konzepte im Kontext kulturtheoretischer

Fragestellungen spielte vor allem ERNST CASSIRER, der mit Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen

(1902)57 eine erste und umfassende Monografie zu Leibniz vorlegte, in deren Zentrum er das mathematische

Motiv der SYSTEMBILDUNG stellte und die Günzel zufolge nicht nur seine eigenen Arbeiten zur Raumtheorie,58

sondern auch die zeitgenössische Psychologie und Philosophie entscheidend prägen sollte.59

Insbesondere im Feld der Psychologie sollte die Konjunktur topologischer Raumkonzepte zu wegweisenden

Entwicklungen führen. So orientierte sich KURT LEWIN, der Begründer der EXPERIMENTELLEN SOZIALPSYCHOLOGIE und

einer der großen Pioniere der GESTALTPSYCHOLOGIE, der bereits 1917 erste Ansätze einer phänomenologischen

Raumbeschreibung entwickelt hatte, als einer der ersten Psychologen an topologischen Begriffen wie jenen des

Gebiets, des Zusammenhangs, des Weges und der Dimension, auf deren Basis er in den 1930er Jahren seine

Begriffe des »hodologischen Raums« (von griechisch hodos »Weg«) und des »Lebensraums« und mit ihnen die

Grundlagen einer TOPOLOGISCHEN PSYCHOLOGIE entwickelte.60 Etwa zur selben Zeit kam der Entwicklungspsychologe

JEAN PIAGET im Rahmen seines groß angelegten Projekts einer GENETISCHEN EPISTEMOLOGIE ausgehend von seiner

Auseinandersetzung mit den Relationsbegriffen der Topologie zu dem Ergebnis, dass die Raumwahrnehmung

von Kleinkindern, insofern sie wesentlich auf Beziehungen der Nachbarschaft, der Trennung, der Umhüllung, der

Reihenfolge und der Kontinuität basiert, mit »jenen verformbaren und elastischen Strukturen vergleichbar [ist],

Henderson: Duchamp in Context (vgl. die entsprechenden Einträge im Index, ebd., S. 349–374). Zur Metapher der »Gussform« im Zusammenhang mit dem Modell des Poincaréschen Schnitts, vgl. Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 153ff. 56 Wolfram Pichler: »Topologische Konfigurationen des Denkens und der Kunst«, in: ders./Ubl: Topologie, S. 18. 57 Vgl. Ernst Cassirer: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, hg. v. Birgit Recki, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1998. Das ursprünglich als Habilitationsschrift konzipierte Werk wurde zwar preisgekrönt, aber von mehreren Universitäten nicht als solche angenommen. Schlussendlich habilitierte sich Cassirer 1906 mit einer Studie über Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 58 Cassirers Arbeiten zur Raumtheorie umfassen u.a. die Schriften Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910), Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (1921), Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) sowie im Speziellen den Artikel »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« (1931), in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 485–500, S. 500. 59 Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, S. 23. 60 Lewin definiert den Wegeraum, der sich aus den Bewegungen und Handlungen von Einzelnen oder Gruppen ergibt, als eine Art Kanalsystem, in dem Entscheidungsmöglichkeiten raumlogisch wirksam sind, vgl. ebd., S. 23–24 sowie Kurt Lewin: »Der Richtungsbegriff in der Psychologie. Der spezielle und allgemeine hodologische Raum«, in: Psychologische Forschung 19 (1934), S. 249–299. Zu Lewins Konzept des »Lebensraums«, vgl. Kurt Lewin: Principles of topological psychology, New York: McGraw-Hill 1936; ders.: Field Theory in Social Science: Selected Theoretical Papers, New York: Harper & Row 1961. Genau genommen verfolgte Lewin, wie Günzel betont, bereits in seinem frühen phänomenologischen Artikel zur »Kriegslandschaft« (1917) ein topologisches Konzept, indem er »die Struktur dieses ›Feldes‹ durch eine Bestimmung von Gefahrenzonen und Schwellenbereichen zu beschreiben [versuchte], welche die leibliche Erfahrung der Kriegssituation auszeichnen.« Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, S. 23.

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mit denen die Topologie sich befaßt«, wohingegen die sich Vorstellung der DINGKONSTANZ, die mit einem

euklidischen Raummodell in Verbindung steht, erst in späteren Entwicklungsphasen herausbildet.61

Parallel dazu gewann die Topologie, wie Günzel hervorhebt, durch den Einfluss Lewins und Piagets auch

zunehmend Bedeutung für die philosophischen Strömungen der PHÄNOMENOLOGIE und des STRUKTURALISMUS, durch

die sie im Rückgriff auf Cassirer in Richtung einer ONTOLOGIE DES RAUMES weiterentwickelt wurde.62 So bezog sich

JEAN-PAUL SARTRE in Das Sein und das Nichts (1943) als einer der ersten auf Lewins Konzept des hodologischen

Raums, indem er die Existenz des Menschen und der ihn umgebenden Dinge in Abhängigkeit von einem Prinzip

der Relation definierte und seine THEORIE DER INTERSUBJEKTIVITÄT dementsprechend auf ein Prinzip der

gegenseitigen »Anerkennung« und »Nichtung« zurückführte, durch das Räumlichkeit überhaupt erst strukturiert

werde.63 MAURICE MERLEAU-PONTY wiederum, dessen topologische Kenntnisse aller Wahrscheinlichkeit nach auf

Piaget zurückgingen und der Wolfram Pichler zufolge neben Piaget »zu den wichtigsten Mittlerfiguren in der

Kulturgeschichte der Topologie zählt«,64 gab Piagets teleologischem Entwicklungsmodell (topologische

Raumwahrnehmung des Kleinkinds versus euklidische Raumvorstellung des Erwachsenen) im Rahmen seines

posthum veröffentlichten Werks Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964) eine URSPRUNGSPHILOSOPHISCHE

WENDUNG, indem er den topologischen Raum als »das Bild eines Seins« bestimmte, »das – wie die Farbflecken von

Klee – das allerälteste und das Sein »am ersten Tag« (Hegel) ist«.65 Während Piaget das euklidische Raummodell

als eine »Voraussetzung reifen Denkens« erachtete, so Pichler, »erschien [es] Merleau-Ponty als eine Art

Sündenfall, der in eine mechanizistische Ontologie führen musste.«66 Unabhängig von Merleau-Ponty gab auch

MARTIN HEIDEGGER seiner »Fundamentalontologie«, die er 1927 im Rahmen von Sein und Zeit entwickelte und in

der er die Zeit als Horizont des Seinsverständnisses fasste,67 im Rahmen seines Spätwerks (explizit seit 1947)

eine Wendung hin zu einer »TOPOLOGIE DES SEINS«, deren Bedeutung Kathrin Busch zufolge darin liegt, dass sie

»Zeit und Raum in gleichen Maßen« berücksichtigt und es damit »erlaubt, epochale Umbrüche im Raumdenken

61 Jean Piaget, Bärbel Inhelder u.a.: Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde (1948), aus dem Franz. v. Rosemarie Heipcke, mit einer Einl. v. Hans Aebli, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1975, S. 28, zit.n. Barbara Wittmann: »Linkische und rechte Spiegelungen. Das Kind, die Zeichnung und die Geometrie«, in: Pichler/Ubl: Topologie, S. 149–192, S. 151. Vgl. auch dies.: Die natürliche Geometrie des Kindes, aus dem Franz. v. Rosemarie Heipcke, mit einer Einl. v. Hans Aebli, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1974. Vgl. ferner Pichler: »Topologische Konfigurationen des Denkens und der Kunst«, S. 19 sowie Wittmann: »Linkische und rechte Spiegelungen«, S. 150ff. 62 Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, S. 23. 63 Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, aus dem Franz. u. hg. v. Traugott König, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, S. 547: »Der Mensch und die Welt sind relative Wesen [êtres], und das Prinzip ihres Seins ist die Relation. Daraus folgt, daß die erste Relation von der menschlichen-Realität [sic] zur Welt kommt: Auftauchen ist für mich meine Distanzen zu den Dingen entfalten und eben dadurch machen, daß es Dinge gibt. Aber infolgedessen sind die Dinge genau ›Dinge-die-auf-Distanz-zu-mir-existieren‹. [...] Das heißt daß Erkenntnis und Handeln nur zwei abstrakte Seiten einer ursprünglichen und konkreten Beziehung sind. Der reale Raum der Welt ist der Raum, den Lewin »hodologisch« nennt.« Vgl. dazu auch Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, S. 24, Anm. 40. 64 Pichler: »Topologische Konfigurationen des Denkens und der Kunst«, S. 27. 65 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen (1964), aus dem Franz. v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels, München: Wilhelm Fink Verlag 1994, S. 269. 66 Pichler: »Topologische Konfigurationen des Denkens und der Kunst«, S. 27. 67 Ebd., S. 28.

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nachzuvollziehen und für die Geschichtlichkeit von Räumen sowie Raumordnungen zu argumentieren.«68

Gleichzeitig brachte Heidegger seine Topologie des Seins, wie Busch hervorhebt, auf Seiten des Menschen mit

einer »Offenheit für das Sein« in Verbindung, wodurch seine Raumtheorie »für die gegenwärtige Diskussion um

Raum und Atmosphäre fruchtbar gemacht werden kann.«69

Während Heidegger seine Analyse der räumlich-strukturellen Voraussetzungen des Seins ausgehend von der

aristotelischen Toposlehre entwickelte, derzufolge ein Ort, so Günzel, »eine Art Hohlform der Gegenstände oder

das Gegenstück zu deren Oberfläche« ist,70 waren die topologischen Ansätze französischer Theoretiker, wie

Günzel hervorhebt, grundsätzlich stärker an der Mathematik orientiert.71 Nachdem die Phänomenologie vor

allem die Räumlichkeit der Erfahrung ins Zentrum ihres Interesses gestellt hatte, rückte mit dem STRUKTURALISMUS

dementsprechend ein von der Erfahrung abstrahierter Raum des Relationalen in den Vordergrund, mit dem sich

die Aufmerksamkeit des philosophischen Diskurses in Richtung mathematischer Denkmodelle wie dem der

KYBERNETIK verschob, die sich mit Fragen der Steuerung, mit Schaltungen und deren Relationen befasst.72 Im Feld

der Psychoanalyse war es vor allem JACQUES LACAN, der im Anschluss an Sigmund Freuds Begriff der TOPIK (mit

dem er die Instanzen »Ich«, »Über-Ich« und »Es« auf unterschiedlichen »Bewusstseinsniveaus« verortet) auf die

Relevanz topologischer Konzepte für die psychoanalytische Forschung aufmerksam gemacht hat.73 Nachdem

Lacan bereits mit seiner THEORIE DES SPIEGELSTADIUMS (1936) ein topologisches Modell des Selbstbewusstseins

entwickelt hatte, mit dem er sich unter anderem auf ROGER CAILLOIS’ Forschungen zur Raumwahrnehmung (1935)

bezog,74 ging Lacan seit den 1950er Jahren dazu über, psychische Instanzen, Relationen und Prozesse im Sinne

68 Kathrin Busch: »Raum – Kunst – Pathos: Topologie bei Heidegger«, in: Günzel: Topologie, S. 115–131, S. 115. Busch zufolge spricht Heidegger erstmalig in einer 1947 verfassten Sammlung von Aphorismen von einer »Topologie des Seins«, um den Begriff der Topologie 1955 im seinem Text »Zur Seinsfrage« wieder aufzugreifen und schließlich 1969 in seinen Seminaren in Le Thor nochmals auf die Formulierung »Topologie des Seins« zurückzukommen, Busch: »Raum – Kunst – Pathos«, S. 116–117. Auch wenn Heidegger »den Ausdruck »Topologie« vergleichsweise selten« benutze, lasse sich seine Spätphilosophie der Argumentation von Otto Pöggeler folgend »doch berechtigterweise in einer ›Topologie des Seins‹ bündeln.« Ebd., S. 117–118. Vgl. Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens (1954), Stuttgart: Neske 1996, S. 23; ders.: »Zur Seinsfrage« (1955), in: ders.: Wegmarken, Frankfurt am Main: Klostermann 1996, S. 379–419, S. 406; ders.: »Seminar in Le Thor 1969«, in: ders.: Seminare, Frankfurt am Main: Klostermann 2003, S. 326–371, S. 335 sowie Otto Pöggeler: »Heideggers Topologie des Seins«, in: ders.: Philosophie und Politik bei Heidegger, Freiburg/München: Alber 1974, S. 71–104, S. 71. 69 Busch: »Raum – Kunst – Pathos«, S. 115. 70 Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, S. 24. 71 Ebd., S. 24–25. 72 Ebd., S. 25. 73 Vgl. ebd.; Pichler: »Topologische Konfigurationen des Denkens und der Kunst«, S. 19. 74 Lacan stellte seine Theorie des Spiegelstadiums 1936 auf dem 14. Internationalen Kongress für Psychoanalyse in Marienbad vor, dann noch einmal, in überarbeiteter Form, 1949 auf dem 16. Kongress in Zürich. Schriftlich wurde der Aufsatz nur in der Fassung von 1949 veröffentlicht, vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«, in: ders.: Schriften, Bd. 1, ausgew. u. hg. v. Norbert Haas, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 61–70. Zu Lacans Bezugnahme auf Caillois, vgl. ebd., S. 66, sowie Peter Geble: »Der Mimese-Komplex«, in: Eva Johach, Jasmin Mersmann, Evke Rulffes (Hg.): ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, Bd. 2: Mimesen, Hamburg: Philo Fine Arts 2011, S. 185–195, S. 190. Zu Caillois’ Artikel, dessen Bedeutung für Lacans psychoanalytische Topologie meines Erachtens weit unterschätzt ist, vgl. Roger Caillois: »Mimese und legendäre Psychasthenie« (1935), in: ders.: Méduse & Cie, S. 25–43. Caillois verweist im Zusammenhang mit dem Phänomen der Mimese, von dem aus er im Rahmen des Artikels Rückschlüsse auf das Phänomen der Psychasthenie zieht, zunächst auf die grundsätzliche Problematik der »Unterscheidung [...] zwischen Organismus und Umgebung« (S. 27), um schließlich zu präzisieren: »Zweifellos ist die räumliche Wahrnehmung ein komplexes Phänomen. Der Raum wird simultan wahrgenommen und vorgestellt und ist insofern ein doppelter Diëder [Zweiflächner], dessen Größe und Lage sich ständig verändert: ein Diëder der Handlung, dessen horizontale Ebene der Boden und dessen vertikale Ebene der Mensch selbst ist, der sich bewegt und dadurch den

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eines strukturalistischen Ansatzes mit Hilfe topologischer Figuren und Operationen zu analysieren,75 deren

Kenntnis er seinem engen Kontakt mit Mathematikern und Topologen verdankte76 und die er, wie Pichler

hervorhebt, keineswegs nur im Sinne von Gleichnissen, Analogien oder Abstraktionen verwendete, da er sie

vielmehr als real existierende Strukturen betrachtete.77 Wie Maximilian Kleiner hervorhebt, ist dementsprechend

nicht nur Lacans »SCHEMA R« mit den drei Kategorien »Reales« (R) »Symbolisches« (S) und »Imaginäres« (I)

(1957/58) (Abb. 26),78 sondern auch seine THEORIE DES BLICKS (1964) (Abb. 27)79 im Sinne einer

Möbiusstruktur zu verstehen, deren Nicht-Orientierbarkeit eine Unterscheidung von BETRACHTER UND BETRACHTETEM

letzten Endes verunmöglicht: »Wenn das Reale gesehen wird als der Schnitt, der die psychische Realität in das

symbolische und das imaginäre Feld aufspaltet, ohne diese doch auseinander fallen zu lassen, dann lässt sich

dieses Reale darstellen als ein Möbiusband, an das sich nach ›oben‹ und nach ›unten‹ jeweils das Feld des

Symbolischen und des Imaginären anschließt.«80

Kommen wir ausgehend von diesen Überlegungen zur Nicht-Orientierbarkeit mathematischer

Mannigfaltigkeiten zurück zu Duchamps Spiel mit den Geschlechtergrenzen und zur Frage,

wie ein konkretes Phänomen in den Horizont unserer Wahrnehmung tritt und sozusagen in

den Zustand jenes »Sich-Darstellens« gelangt, der »zur Seinsweise von Kunstwerken zu

Diëder mit sich trägt; sowie ein Diëder der Vorstellung, der bestimmt wird durch dieselbe horizontale Ebene wie zuvor (aber vorgestellt und nicht wahrgenommen), und der in der Entfernung, in der der Gegenstand erscheint, vertikal durchschnitten wird. Gerade beim vorgestellten Raum tritt das Drama besonders hervor, denn das Lebewesen, der Organismus, ist nicht mehr der Ursprung der Koordinaten, sondern ein Punkt unter vielen, es ist seines Privilegs beraubt und weiß nicht mehr (im starken Wortsinn), wohin mit sich. Man kann schon die charakteristische wissenschaftliche Haltung erkennen und es ist höchst bemerkenswert, daß es gerade vorgestellte Räume sind, die die moderne Wissenschaft in wachsender Zahl hervorbringt: Finsler-Raum, Fermats Raum, Riemann-Christoffels Hyperraum, abstrakte, verallgemeinerte, offene und geschlossene Räume, dichte und ausgedünnte, usw. Das Gefühl von Persönlichkeit als einem Gefühl des Organismus, sich von seiner Umgebung abzuheben, die Verbindung zwischen dem Bewußtsein und einem bestimmten Punkt im Raum, muß unter diesen Bedingungen ernsthaft Schaden nehmen; man tritt dann in die Psychologie der Psychasthenie ein, genauer in die Psychologie der legendären Psychasthenie, wenn wir die Störung in den oben definierten Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Raum so bezeichnen wollen.« Ebd., S. 36. 75 Vgl. Maximilian Kleiner: »Im Zeichen des Knotens. Die verschlungenen Beziehungen der Psychoanalyse zur Topologie«, in: Pichler/Ubl: Topologie, S. 91–116, S. 94ff. 76 Wie Mai Wegener hervorhebt, arbeitete Lacan seit 1951 über viele Jahre hinweg mit dem Mathematiker Georges-Théodule Gilbaud zusammen, dem er (neben den Topologen Pierre Soury und Michel Thomé, mit denen er ebenfalls in engem Austausch stand,) viele der mathematischen Kenntnisse verdankte, die in sein Werk einflossen, angefangen von der Kybernetik (seit 1954) über topologische Flächen (seit 1962) bis zu den borromäischen Knoten (seit 1972), vgl. Mai Wegener: »Psychoanalyse und Topologie – in vier Anläufen«, in: Günzel, Topologie, S. 235–249, S. 248. 77 Pichler: »Topologische Konfigurationen des Denkens und der Kunst«, S. 54. So schreibt Lacan in seinem Artikel »Of Structure as an Inmixing of an Otherness Prerequisite to Any Subject Whatever« von 1970: »It is really in some part of the realities, this sort of torus. This torus really exists and it is exactly the structure of the neurotic. It is not an analogon; it is not even an abstraction, because an abstraction is some sort of diminution of reality, and I think it is reality itself.« Zit.n. ebd., Anm. 20. 78 Vgl. Jacques Lacan: »D’une question préliminaire à tout traitement possible de la psychose«, in: La psychanalyse Nr. 4: »Les Psychoses« (1958), S. 1–50; Wiederabdruck in: ders.: Écrits, hg. v. François Wahl, Paris: Éditions du Seuil 1966, S. 531–583. Lacans »Schema R«, in dem sich die Kategorien Reales, Symbolisches und Imaginäres auf die Figur des Vaters beziehen (auf den realen Vater, der zwischen dem symbolischen Vater und dem imaginären Vater verortet ist), findet sich ebd., S. 553. Vgl dazu auch http://lacan-entziffern.de/vater/der-symbolische-vater-der-name-des-vaters/ (aufgerufen am 28.12.2015). 79 Vgl. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 73–126. 80 Kleiner: »Im Zeichen des Knotens«, S. 100. Der Exkurs zur Topologie, der aufgrund seiner Relevanz für das Konzept der Bildtopologie besonders ausführlich ausgefallen ist, reißt an dieser Stelle unvermittelt ab, um in einem nächsten Schritt wieder in medias res zu gehen. Zu den (bereits genannten und weiteren) Autoren, deren topologische Konzepte unmittelbar mit den Werken Bergsons und Duchamps in Verbindung stehen, vgl. unten, Kap. 3.

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gehören scheint«.81 Wie wird eine einfache optische Fläche zu einer visuellen Macht? Dieses

Phänomen, das Duchamp mit seinen Ready-mades auf die Spitze getrieben hat und das mit

dem Topos der Braut buchstäblich als Angelpunkt seines Gesamtwerks zu betrachten ist, führt

Didi-Huberman in seiner Metapsychologie des Bildes auf einen aphrodisierenden Effekt

zurück, wenn er in Anlehnung an die mythologische Figur der Anadyomene von einem

Sichtbarwerden nach dem Prinzip des Anadyomenischen spricht.82 Anadyomene ist einer der

Beinamen der Aphrodite und bedeutet »die (aus dem Meer) Auftauchende« (zwei weitere, die

in diesem Zusammenhang ebenfalls von Interesse sind, sind Urania »die Himmlische« und

Porné »die Kitzlerin«).83 Didi-Huberman zufolge entfaltet ein Bild seine Macht also genau in

dem Maße, wie in ihm »das anadyomenische rhythmische Spiel zwischen Oberfläche und

Grund, Ebbe und Flut, Zug und Entzug, Erscheinen und Verschwinden wirksam ist«.84 Diese

zutiefst bildhafte »Modalität des Sichtbaren«, die sich im selben Atemzug zeigt und entzieht,

die gleichzeitig gibt und vorgibt, die uns im Sinne einer aphrodisierenden Macht buchstäblich

anblickt und die unausweichlich ist, da sie uns unweigerlich berührt oder wie eine Krankheit

befällt, besteht nach Didi-Huberman namentlich in einer Art »Symptom-Arbeit, bei der das,

was wir sehen, von einem Werk des Verlusts getragen (und auf es verwiesen) ist«.85 Folglich

bringt Didi-Huberman die Macht des Bildes nicht zuletzt mit jenem »sonderbaren Gespinst

von Raum und Zeit« in Verbindung, als das Benjamin das Phänomen der Aura definiert:

»Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit«, das heißt genau genommen, ein gewirkter Abstand oder Zwischenraum [espacement œuvré] – man könnte sogar sagen, ein bis ins Feinste durchgearbeiteter Abstand oder Zwischenraum, gesponnen wie ein feines Gewebe oder wie ein einmaliges, sonderbares Ereignis, das uns mit seinem Netz umgibt, uns ergreift und in ihm fängt. Das im Zuge dieser Arbeit oder dieses Eingriffs in die Sichtbarkeit schließlich so etwas wie eine spezifische visuelle Metamorphose bewirkt, die aus ebendiesem Gewebe, diesem Kokon – eine weitere Bedeutung jenes Wortes ›Gespinst‹ – aus Raum und Zeit hervorgeht. Die Aura wäre also so etwas wie eine gewirkte und ursprüngliche Distanzierung [espacement] von Blickendem und Angeblicktem, des Blickenden durch das Angeblickte.86

81 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 220. 82 Vgl. Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, S. 15ff. 83 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Aphrodite (aufgerufen am 28.12.2015). 84 Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, S. 16 (Anmerkungen im Text wurden entfernt). 85 Ebd., S. 16. Didi-Huberman definiert den Begriff der Symptomarbeit analog zu Sigmund Freuds Begriff der »Traumarbeit«. Zum Spiel zwischen Erscheinen und Verschwinden, vgl. auch Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips« (1920), in: ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt am Main: Fischer 1998, S. 191–249. 86 Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, S. 135 (Anmerkungen im Text wurden entfernt). In ihrer Funktion als »bis ins Feinste durchgearbeiteter Abstand« oder »Zwischenraum« korrespondiert Benjamins Konzept der Aura eng mit Duchamps Prinzip des Infra-mince. Zu Benjamins »sonderbarem Gespinst von Raum und Zeit«, vgl. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie« (1931), in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 45–64, S. 57.

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Dabei handelt es sich nach Didi-Huberman um eine »doppelte Distanz«, die im Bild wirkt,

verdankt dieses seine Macht doch gleichzeitig der Distanz unserer Sinne und der Distanz

unseres Gedächtnisses.87 Folglich kann die auratische oder anadyomenische Erscheinung

Didi-Huberman zufolge auch unmöglich zu einem »Objekt des Habens« werden, und zwar

weder im Sinne von avoir (haben) noch im Sinne von à voir (zu sehen).88 Vielmehr verleihe

sie dem Bild die Qualität eines »Quasi-Subjekts, eines Quasi-Seins«, imstande zu erscheinen,

sich zu nähern, zu entfernen oder zu verwandeln, aber jedenfalls auf die eine oder andere

Weise die Stabilität seiner Erscheinung in Unruhe zu bringen.89 Dementsprechend spricht

Benjamin in Bezug auf die Aura auch von einem »Quellpunkt der Poesie«, indem er betont,

man könne die Aura einer Erscheinung nur erfahren, indem man sie mit dem Vermögen

belehnt, »den Blick aufzuschlagen«.90 So bringt Benjamin das Phänomen der Aura nicht nur

mit der ästhetischen, sondern auch mit der erotischen Erfahrung in Verbindung, bei der, wie

Didi-Huberman hervorhebt, »Distanz und faszinierter Reiz so gut zusammenpassen«.91 Wenn

das auratische Bild nach Benjamin folglich auf einer ursprünglichen »Dialektik im Stillstand«

beruht,92 so meint er mit »Ursprung« allerdings kein historisches Werden, sondern etwas dem

gegenwärtigen Werden und Vergehen Entspringendes:

Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen. Sie will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein.93

Als Strudel im Fluss des Werdens, der alles Entstehungsmaterial mitreißt, lässt Benjamins

Konzept des Ursprungs nicht nur an jenen kritischen – entscheidenden und vernichtenden –

Blick des Anderen denken, den Jean-Paul Sartre in Das Sein und das Nichts in Analogie zu

einem Aderlass beschreibt, durch den die Souveränität des erblickten Subjekts unweigerlich

entrinnt.94 Es führt auch ins Zentrum der Frage »Was ist ein Bild/tableau?«, die Lacan 1964

87 Ebd., S. 135 ff. 88 Ebd., S. 138/141. Didi-Huberman weist auch darauf hin, dass der Begriff aura im Französischen nicht nur die Aura bezeichnet, sondern auch mit der Zukunftsform von avoir (haben) ident ist und damit, so Didi-Huberman, der perfekte verbale Ausdruck ist für das, »was wir noch nicht haben, ein futuristisches Verb, das wie in seiner Erwartung, seiner Protention erstarrt scheint«, ebd., S. 138. 89 Ebd. 90 Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, S. 58. 91 Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, S. 139. 92 Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 577. 93 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 28. 94 »So bin ich mein Ego für den andern inmitten einer Welt, die zum andern hin abfließt. Aber vorhin hatten wir das Abfließen meiner Welt zum Objekt-Andern eine innere Hämorrhagie nennen können: der Aderlass wurde nämlich durch die Tatsache aufgefangen und lokalisiert, daß ich diesen Andern, auf den hin diese Welt ausblutete, zum Objekt meiner Welt erstarren ließ; so war nicht ein Tropfen Blut verloren [...]. Jetzt aber hat im

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anhand der Überlagerung zweier Kegel analysiert, indem er die Instanz des Bildes auf eine

Überlagerung zweier entgegengesetzter Modi der Sichtbarkeit zurückführt.95

Lacans Modell des Bildes basiert einerseits auf einem zentralperspektivischen System, in dem ein punktförmig

gedachtes Subjekt ein Objekt seines Interesses auf ein Bild (image) herunterbricht. Andererseits setzt es einen

auratischen Immersionsraum voraus, in dem das Subjekt von einem unabhängigen Lichtpunkt aus gesehen

selbst Bild (tableau) ist und sozusagen zu einem Teil des Gemäldes der Welt verschwimmt, auf dessen Schirm

(écran) die Lichtpunkte ihr buntes Spiel treiben, ohne dass es von Seiten des Subjekts eine aktive Beteiligung

gibt. Diese beiden Systeme existieren jedoch, wie Lacan betont, im Feld des realen Sehens nie voneinander

getrennt. Erst wenn man die beiden Systeme überlagert, entspricht das resultierende Schema Lacan zufolge

dem »Register des tatsächlichen Sehens« (Abb. 27), mit dem die tatsächliche Modalität des Sichtbaren wie

folgt zusammenzufassen ist: Einerseits sehe ich mich als Subjekt der Vorstellung dem Blick des Anderen

ausgeliefert und unterliege daher von jeher einem partiellen Kontrollverlust. Bis zu einem gewissen Grad bilde

ich also immer einen blinden Fleck im Bild, insofern mich dieser Blick mit der partiellen Unzulänglichkeit meines

eigenen, perspektivischen Begehrens konfrontiert.96 Andererseits aber erblicke ich als Subjekt der Vorstellung

auch überhaupt erst durch diesen Blick des Anderen, durch diese Außenperspektive, das Licht der Welt. Lacan

zufolge ist der Blick des Anderen daher jenes Instrument, mit dessen Hilfe das Licht sich erst verkörpert,

weshalb ich als Subjekt auch immer schon von Licht gezeichnet, oder in Lacans Worten, photo-graphiert bin.97

Lacans Modell des Bildes basiert damit auf einer »Dialektik von Oberfläche und Jenseits der Oberfläche«,98 in der

sich Bild/Optisches und Grund/Opazität einerseits wechselseitig bedingen, die andererseits aber immer auch ein

fundamentales Ungleichgewicht ins Feld des Sehens einführt, eine Spaltung des Seins, eine Spaltung in

souveränes Auge und übermächtigen Blick. Gerade diese Spaltung ist es auch, die nach Lacan den Platz jenes

Gegenteil die Flucht kein Ende, sie verliert sich nach außen, die Welt fließt aus der Welt ab, und ich fließe aus mir ab; der Blick des Andern macht mich jenseits meines Seins in dieser Welt sein, inmitten einer Welt, die diese hier und zugleich jenseits dieser Welt ist.« Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 471–472. 95 Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 97ff. Im Zusammenhang seiner Theorie des Bildes verweist Lacan auch mehrfach auf Caillois’ Konzept der Mimikry, vgl. ebd., S. 79/106/116. 96 Den Gipfel seiner Flüchtigkeit und Unzugänglichkeit erreicht der Blick Lacan zufolge dadurch, dass er an der Oberfläche des Sichtbaren eine zentrale Abwesenheit und damit ein Objekt des Begehrens (ein Objekt a) markiert: »Das Objekt a im Feld des Sichtbaren ist der Blick.« Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 112. 97 Ebd., S. 113. Ebenso wie Didi-Hubermans Symptom-Arbeit korrespondiert Lacans Modell des Bildes auch eng mit Roland Barthes’ Konzept des punctum, aus dem er für die Fotografie folgert: »sie ist das absolute BESONDERE, die unbeschränkte, blinde und gleichsam unbedarfte KONTINGENZ, sie ist das BESTIMMTE (eine bestimmte Photographie, nicht die Photographie), kurz, die TYCHE, der ZUFALL, das ZUSAMMENTREFFEN, das WIRKLICHE in seinem unerschöpflichen Ausdruck. [...] Man sagt: ›ein Photo entwickeln‹; doch was beim chemischen Vorgang entwickelt wird, ist das, was nicht entwickelt werden kann, ist das Wesen (einer Verwundung), ist das, was sich nicht verwandeln, sondern sich nur in Form von Beharrlichkeit (des beharrlichen Blicks) wiederholen kann.« Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, aus dem Franz. v. Dietrich Leube, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 12/59. Zum Aspekt des »Photo-graphiert-Seins« im Hinblick auf Duchamps Werk vgl. auch Rosalind E. Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, aus dem Franz. v. Henning Schmidgen, mit einem Vorw. v. Hubert Damisch, München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 73–89. 98 Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 113.

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zentralen Schirms, jenen Ort der Projektion markiert, angesichts dessen das Subjekt, wie er präzisiert, sich nur in

dem Maße auszeichnen kann, »wie es die Funktion des Schirms herauslöst und mit ihr spielt«.99 Als Metapher für

einen derart spielerischen Umgang mit dem Faktum der Spaltung, für jene geradezu offensive Spaltung und

Auseinanderfaltung von Sein und Schein, beruft sich Lacan auf die Mimikry, die ihre Täuschungsmanöver ja

bekanntlich in Oberflächeneffekten entfaltet und die er mit Verweis auf die Forschungen von Caillois unter die

Tatsachen der »Blickzähmung« und der »Augentäuschung«100 fasst:

Hier tritt das Sein auf großartige Weise auseinander in Wesen und Schein, in es selbst und in diesen Papiertiger, den es zur Schau stellt. Handele es sich nun um die Parade, bei den Männchen meistens, oder um jenes grimassierende Aufplustern, mit dem das Kampfspiel zur Einschüchterung wird, das Wesen gibt von sich oder erhält vom anderen etwas, das Maske, Doppel, Hülle, abgelöste Haut, losgelöst zur Bedeckung eines Schildrahmens, ist.101

Mit den Tatschen der Blickzähmung und der Augentäuschung bringt Lacan eine Reihe von Bedeutungsebenen

ins Spiel, die im Begriff des Schirms bereits auf etymologischer Ebene angelegt sind. Französisch écran mit der

Bedeutung »Schirm, Bildschirm, Leinwand« leitet sich ab von der Bedeutung »Schutzschirm«, ebenso wie das

deutsche Wort Schirm ursprünglich den Schild des Kämpfers und genauer noch dessen Fellüberzug bezeichnete.

Der Begriff geht damit einerseits auf die indogermanische Wurzel *[s]ker »abschneiden, abhäuten, verstümmeln,

trennen« zurück, die (ebenso wie das Kritische im Blick) zur Sippe von »scheren« gehört, und steht andererseits

im Zusammenhang mit den Begriffen Pelz und Pelle (von lat. pellis »Fell, Pelz, Haut«), die in Redensarten wie

»jemandem auf die Pelle rücken« nicht zuletzt auch auf die »menschliche Haut« übertragen werden.

Lacans Konzept des Schirms korrespondiert damit nicht nur mit der Phänomenologie von

Schutzschild und Projektionsfläche im Sinne von Fell, Pelz oder Haut, sondern auch mit

jenem Fetisch, dessen zentrale Funktion nach Freud darin besteht, das Subjekt vor seiner

Kastrationsangst abzuschirmen. Die Kunsthistorikerin Nicola Suthor charakterisiert den

Fetisch dementsprechend als eine Art Schutzkleid, das »etwas Verlorenes vor dem Untergang

bewahrt«, und damit als ein »Instrument, das den fundamentalen Grund der Angst, welcher

den Weltbezug bestimmt, maskiert, ausschmückt«.102 Zwischen Präsenz und Absenz

vermittelnd, lässt der Fetisch das Subjekt nach dem Modell des Anadyomenischen unterwegs

zum »Ursprung« oder »Strudel« des Bildes stehen bleiben, und zwar bezeichnenderweise

99 Ebd., S. 114. 100 Ebd., S. 112ff. 101 Ebd., S. 113–114. 102 Nicola Suthor: »Triumph, über das Auge, des Blicks. Zu Jacques Lacans Bildbegriff als Theorie des Schleiers«, in: Johannes Endres (Hg.): Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher, München: Wilhelm Fink Verlag 2005, S. 35–58, S. 53–54.

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genau an jener Schnittstelle, wo die Enthüllung des traumatischen Kerns sich verführerisch

ankündigt, ohne aber tatsächlich vollzogen zu werden.

Was Duchamp mit einer derartigen »Arretierung der Enthüllung« in Bezug auf sein Motiv der

Braut im Schilde geführt hat, darauf wird noch zurückzukommen sein. Mit Didi-Huberman,

Lacan und Benjamin ist die Topologie des Bildes jedenfalls im Sinne einer Art Osmose an der

Oberfläche eines Schirms zu denken, und damit analog zu einer Möbiusstruktur, in der Innen

und Außen, Subjekt und Blick, Wahrnehmen und Photo-graphiert-Sein im anadyomenischen

Feld eines Sowohl-als-auch ineinander verschränkt sind. Einer derartigen Möbiusstruktur

entspricht unter anderem auch die so genannte Kleinsche Flasche, die als n+1-dimensionales

Pendant der Möbiusschleife eine torusförmige, nicht-orientierbare Oberfläche darstellt, die so

in sich verdreht ist, dass sie kein Innen und Außen hat (Abb. 28). Während eine Kleinsche

Flasche im Dreidimensionalen nur durch ein Moment der Selbstdurchdringung abgebildet

werden kann, wäre sie im Vierdimensionalen – analog zur dreidimensionalen Struktur der

Möbiusschleife – als in sich selbst verdrehter Körper ohne Innen und Außen auch ohne

Selbstdurchdringung darstellbar.

Nimmt man nun an, dass sich dieser auf sich selbst zurückgeworfene Körper nach dem Bild

einer »Dialektik im Stillstand« gleichzeitig ein- und ausstülpt, dann wird nachvollziehbar, wie

das Subjekt der Vorstellung (man stelle sich vor es stünde, wie in Lacans Modell, rechts)

zugleich ins Innere der Welt blickt und vom Äußeren der Welt heraus angeblickt wird. Im

dreidimensionalen Raum, in dem sich das Subjekt der Welt gegenübersieht, wäre das Moment

der Selbstdurchdringung, die Schnittstelle zwischen Subjekt und Welt, folglich mit dem

»Schirm« zu identifizieren. Mit dem Philosophen Dieter Hombach, der in einem Text Zur

Topologie des Entzugs auf die zentrale Rolle des Randes für jede Gestaltbildung verweist,

könnte man den Schirm folglich auch als eine Art Rand oder Horizont der Wahrnehmung

bezeichnen, der gerade deswegen stets als jähes Aufhören und als Abgrund in Erscheinung

tritt, weil sich in ihm zwei Mengen berühren, die völlig voneinander verschieden sind. Nach

Hombach ist es genau dieser Rand oder Horizont, der ein Objekt der Wahrnehmung als

solches umreißt und damit auch der Idee eines wahrnehmenden Subjekts zugrunde liegt:

»Hier die Vermischung des Rands, aus der ein Körper entsteht, den man sieht, den es gibt.

Außen und Innen ineinandergepreßt, der reine Unterschied als messerscharfer Strich, eine

hauchdünne, doppelte Belegung des Raums. [...] Der wirklich gewordene unmögliche

Körper.«103

103 Dieter Hombach: »Katastrophentheorie und Psychoanalyse. Zur Topologie des Entzugs«, in: Georg Christoph Tholen (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim: Wiley-VCH Verlag 1990, S. 137–156, S. 154–155 (Herv. d. Verf.).

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2.1.2. Topos/Utopos: Bild-Werden bei Bergson

Mit Bergson müsste man hier betonen: »Der wirklich gewordene unmögliche Körper«, sieht

Bergson in der Welt der wirklichen Körper doch einen kontinuierlichen Prozess des Werdens,

der Metamorphose und der dauernden Ein- und Ausstülpung am Werk.104 Jede Vorstellung

von in sich geschlossenen Körpern oder statischen Zuständen ist nach Bergson nicht mehr als

das Konstrukt eines zentralperspektivischen Subjekts, das die irreduzible Mannigfaltigkeit der

Welt vermittels selektiver Wahrnehmungsprozesse in klar voneinander geschiedene Entitäten,

in ein Nebeneinander von Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten strukturiert, um vor dem

Hintergrund einer fundamentalen Kontinuität bestimmte Gegenstände seines Interesses

fokussieren zu können. In Übereinstimmung mit Lacans Theorie des Spiegelstadiums zieht

das Subjekt als Subjekt Bergson zufolge also von vornherein künstliche Ränder im Hinblick

auf seine eigene Identität sowie auf diejenige der Außenwelt, wobei es einerseits von sich

selbst das Bild einer unabhängigen physischen und psychischen Entität entwickelt, während

es andererseits auch sein Umfeld in voneinander unabhängige, klar definierte Objekte und

Zustände gliedert, die in ihrer Gesamtheit den Rahmen seiner Handlung bilden. Alles, wonach

dem Subjekt der Sinn gerade nicht steht, wird dabei kurzerhand ausgeblendet. Indem das

Subjekt sein Interesse auf bestimmte Bilder und Eigenschaften lenkt, verleiht es seinen

Bewegungen nicht nur eine konkrete Richtung und damit einen Sinn (frz. sens), sondern

entzieht sich gleichzeitig auch der latenten Übermächtigkeit eines unbestimmten, aber

allgegenwärtigen Anderen, im Sinne aller ungekannten Möglichkeiten, eines Blicks von

außen und einer fundamentalen Infragestellung, die es jeden Moment in seinem Tun erstarren

lassen könnten.105

Die Zentralperspektive, in der sich das Subjekt als souveränen Mittelpunkt der Welt erlebt,

impliziert daher nach Bergson notwendig einen Akt der Subtraktion, der Ausblendung oder

der »Verdunkelung« gewisser Anteile des eingehenden Reizes, »so daß der Rest, statt wie ein

Ding in die Umgebung eingeschachtelt zu sein, sich wie ein Gemälde davon abhebt.«106 Nur

indem sich das Subjekt für einen Großteil aller möglichen Wahrnehmungsinhalte durchlässig

macht, kann es tatsächlich Bilder realisieren, in anderen Worten, Projektionen auf die

Materie, auf Objekte, auf Körper oder auf die eigene Haut. In seiner Eigenschaft als »Zentrum

104 Die folgenden Ausführungen berufen sich vorwiegend auf Bergson: Zeit und Freiheit, S. 60ff.; ders.: Materie und Gedächtnis, S. 1ff.; ders.: Schöpferische Entwicklung, S. 275ff. 105 Zum Zusammenhang zwischen Bergsons Theorie der Wahrnehmung und Lacans Schema des Blicks, vgl. auch unten, Kap. 3.2.1. und Kap. 3.3.1. 106 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 21.

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wirklicher Tätigkeit« ist das Subjekt nach Bergson dementsprechend ein »Zentrum der

Indeterminiertheit«,107 für das sich alles so vollzieht, als würde es das Licht, das von den

Oberflächen ausgeht, in Form von Bildern auf diese zurückspiegeln – wobei dieses Licht

»niemals sichtbar geworden wäre, wenn es sich ungestört fortgepflanzt hätte«.108 Und das

Gehirn, jene so fein ausdifferenzierte innere Haut oder Rinde, die dabei das eigentliche

Zentrum der Indeterminiertheit bildet, wäre nach Bergson mit einer Art Schaltstelle zu

vergleichen, insofern seine Funktion darin besteht, Verbindungen herzustellen – oder eben

aufzuschieben:

Das Gehirn ist also nach unserer Ansicht nichts anderes als eine Art Telephonzentrale: seine Aufgabe ist, ›die Verbindungen herzustellen‹ – oder aufzuschieben. Es fügt dem, was es empfängt, nichts hinzu; aber da alle Wahrnehmungsorgane mit ihren letzten Enden in ihm münden und alle motorischen Mechanismen des Rückenmarks und des verlängerten Marks ihre befugte Vertretung in ihm haben, so ist es in Wahrheit eine Zentralstelle, wo der peripherische Reiz Anschluß an diesen oder jenen motorischen Mechanismus gewinnt, den er sich jetzt wählt und nicht mehr aufdrängen läßt.109

Während die Wirklichkeit der Materie Bergson zufolge »in der Totalität ihrer Elemente und

in deren mannigfaltigen Wirkungen« besteht, liegt in der »notwendigen Armut« unserer

Wahrnehmung der Materie, die »nur gewisse Teile und nur gewisse Seiten dieser Teile«

erfasst, etwas zutiefst »Positives, etwas, das bereits den Geist ankündigt: das Vermögen zu

unterscheiden.«110 Das Bild, das wir uns als intentionales Subjekt von der Welt machen, ist

damit Ausdruck einer höchst elaborierten Bewältigungs- und Verdrängungsmaschinerie, das

heißt mit Didi-Huberman gesprochen, einer richtiggehenden Symptom-Arbeit.

Tatsächlich aber ist das intentionale, wahrnehmende und handelnde Subjekt, wie Bergson

weiter argumentiert, nicht nur ein Zentrum der Indeterminiertheit, sondern auch ein Bild unter

Bildern. Sein Argument gleicht hier jenem des Studenten Lacan, der sich einst auf einem

Fischerboot von einer Sardinenbüchse photo-graphiert sah und im Bewusstsein seines

Erblickt-Seins konstatierte: »Ich bin nicht einfach jenes punktförmige Wesen, das man an

jenem geometralen Punkt festmachen könnte, von dem aus die Perspektive verlaufen soll. [...]

Das Bild ist sicher in meinem Auge. Aber ich, ich bin im Tableau.«111 So sieht auch Bergson

das Subjekt in die Welt der Objekte gebettet, wenn er sagt: »Nicht die materielle Welt bildet

107 Ebd., S. 16ff. 108 Ebd., S. 25. 109 Ebd., S. 14–15. 110 Ebd., S. 23. 111 Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 102.

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einen Teil des Gehirns, sondern das Gehirn bildet einen Teil der materiellen Welt.«112 Mit der

Vorstellung eines zentralperspektivischen Subjekts kommen wir demnach weder an unser

eigenes Im-Bilde-Sein noch an dasjenige der Anderen heran. Im Gegenteil lässt sich ein wie

auch immer geartetes Subjekt oder Objekt nach Bergson – wie nach Lacan – nur vor dem

Hintergrund einer fundamentalen Kontinuität denken:

Gewiß ist unser psychologisches Leben voll von Unvorhergesehenem. Tausend Zwischenfälle brechen herein [...]. Aber diese Diskontinuität ihres Auftauchens hebt sich von der Kontinuität eines Grundes ab, dem sie eingezeichnet sind. Jeder von ihnen ist nur der bestbeleuchtete Punkt einer wogenden Zone, die alles umfasst, was wir fühlen, denken, wollen, kurz alles, was wir in einem gegebenen Augenblick sind.113

Die Vorstellung, wir könnten als Subjekt über zeitunabhängige und objektive Bilder der Welt

verfügen, in anderen Worten, über eine »Art photographischer Ansicht der Dinge«, die »von

einem bestimmten Punkte mit einem besonderen Apparat – unserem Wahrnehmungsorgan –

aufgenommen wird, um alsdann in der Gehirnsubstanz durch einen unbekannten chemischen

und psychischen Vorgang entwickelt zu werden«,114 ist nach Bergson dementsprechend auf

einen grundlegenden Irrtum zurückzuführen. Vielmehr verhält es sich Bergson zufolge so,

dass ein beliebiger Punkt P, die Strahlen, die er aussendet und unser Nervensystem, mit dem

wir diesen Punkt wahrnehmen, ein solidarisches Ganzes bilden, und »daß im Punkte P, und

nirgends anders, das Bild von P gebildet und wahrgenommen wird.«115 Sollte es tatsächlich

ein Bild im Sinne einer Fotografie der Dinge geben, so wäre dieses nach Bergson »von allen

Punkten des Raumes aus im Innern der Dinge schon aufgenommen und schon entwickelt«.116

Ein objektives Bild der Welt wäre folglich nur einer Wahrnehmung zugänglich, die sich

uneingeschränkt einließe auf den Fluss des kontinuierlichen Werdens, in anderen Worten, auf

jenes »Rieseln einer Fläche«, in dem Lacan die Tiefe des Sichtbaren verortet, und zwar »in

ihrer ganzen Doppeldeutigkeit, Variabilität, auch Unbeherrschbarkeit«.117

Eine derart objektive, gleichsam mechanische Wahrnehmung existiert aber nach Bergson nur

de jure, da sich ja die Wahrnehmung de facto immer bis zu einem gewissen Grad mit

Erinnerungsbildern vermischt: »Die beiden Vorgänge, Wahrnehmung und Erinnerung,

durchdringen sich fortwährend und tauschen fortwährend durch eine Art Endosmose etwas

112 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 3. 113 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 50. 114 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 23. 115 Ebd., S. 28. 116 Ebd., S. 23. 117 Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 102.

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von ihren Substanzen aus.«118 Analog zu Lacans »Register des tatsächlichen Sehens« fasst

Bergson seinen Begriff des Bildes dementsprechend in einem dreigliedrigen Modell

zusammen (Abb. 29):

Wir unterscheiden drei Termini: die reine Erinnerung, das Erinnerungsbild und die Wahrnehmung, deren keiner in der Wirklichkeit vereinzelt entsteht. Die Wahrnehmung ist niemals bloß ein Kontakt des Geistes mit dem gegebenen Gegenstand; sie ist immer von Erinnerungsbildern durchsetzt, welche sie vervollständigen, indem sie sie erklären. Das Erinnerungsbild wiederum partizipiert an der ›reinen Erinnerung‹, welche es zu materialisieren beginnt, und an der Wahrnehmung, in welche es sich inkarnieren will: unter diesem letzten Gesichtspunkte könnte man es als eine beginnende Wahrnehmung bezeichnen. Und endlich manifestiert sich die von Rechts wegen zweifellos unabhängige reine Erinnerung in der Regel nur in dem farbigen und lebendigen Bilde, durch welches sie zur Offenbarung kommt. Wenn wir diese drei Termini durch aufeinander folgende Abschnitte AB, BC, CD einer geraden Linie AD darstellen, können wir sagen, daß unser Denken in einer kontinuierlichen Bewegung von A zu D diese Linie durchläuft und daß es unmöglich ist, mit Bestimmtheit zu sagen, wo der eine Terminus aufhört und der andere anfängt.119

Indem er postuliert, dass Bilder, Erinnerungen und Wahrnehmungen kontinuierlich ineinander

übergehen und notwendig ineinander verschränkt sind, entwickelt Bergson ein weiteres

dreigliedriges Modell, das ebenfalls in Analogie zu Lacans »Register des tatsächlichen

Sehens« zu verstehen ist (Abb. 30). Bergson argumentiert nun, dass »jenes ganz besondere

Bild, welches mitten unter den anderen fortbesteht und welches ich meinen Körper nenne«, in

jedem Augenblick einen »Querschnitt des allgemeinen Werdens« (E) darstellt, in anderen

Worten, ein tableau, das durch den Prozess der Wahrnehmung zum »Durchgangsort der

empfangenen und zurückgegebenen Bewegungen« wird, zum »Bindestrich zwischen den

Dingen, welche auf mich wirken, und den Dingen, auf welche ich wirke«.120 Demgemäß

begreift Bergson das Subjekt der Wahrnehmung, in dem sich das »Bild des Körpers«

konzentriert (S), als Spitze eines Kegels (SAB), dessen Basis (AB) mit der Gesamtheit der im

Gedächtnis angehäuften Erinnerungen gleichsam unbewegt in der Vergangenheit liegt,

»während die Spitze S, welche in jedem Moment meine Gegenwart bezeichnet, unaufhörlich

vorwärts geht und zugleich unaufhörlich die bewegliche Ebene E meiner gegenwärtigen

Vorstellung des Universums berührt.«121

Als Subjekt der Wahrnehmung bin ich sozusagen unweigerlich eine Art Mischwesen:

Einerseits verfüge ich in Bezug auf meine Wahrnehmungen zwar über eine gewisse

118 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 55; vgl. auch S. 66ff. 119 Ebd., S. 127. 120 Ebd., S. 147. 121 Ebd., S. 147.

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Wahlfreiheit, andererseits aber bin ich meiner Teilhabe an einem kontinuierlichen Fluss der

Veränderung auch derart ausgeliefert, dass das Gegenüber der Welt mich unweigerlich etwas

angeht, »Appellationen«122 an mich richtet und mich im lacanschen Sinn von cela me regarde

gleichzeitig betrifft und anblickt. Im Feld der Wahrnehmung sind Innen und Außen Bergson

zufolge also notwendig ineinander verschränkt: »Jedes Bild ist für gewisse Bilder innen und

für andere außen, aber von der Gesamtheit der Bilder kann man nicht sagen, daß sie in uns,

und ebenso wenig, daß sie außer uns sei, da ja Innen und Außen nur Beziehungen zwischen

Bildern sind.«123

Der »einzige Teil der ausgedehnten Welt, der zugleich wahrgenommen und empfunden«

werden kann, insofern er die »gemeinsame Grenze des Äußern und des Innern« darstellt, ist

nun aber nach Bergson nichts anderes als die Oberfläche des wahrnehmenden Körpers: die

Haut.124 Als ursprünglicher Rand und Horizont unserer Sinnes-Wahrnehmungen, Schutz-

Schirm unserer Empfindungen, Projektionsfläche unseres Begehrens und Schnittstelle aller

ein- und ausgehenden Reize verkörpert die Haut nicht nur den Ausgangspunkt und Ursprung

aller Bilder, sondern im übertragenen/übertragenden Sinne auch den eigentlichen Motor allen

Handelns. Wie Michel Serres in seiner Philosophie der Gemische und Gemenge ausführt, sind

folglich auch alle unsere Sinne auf Hautfunktionen zurückzuführen, und unser lebendiger

Körper, diese drei- bis vierdimensionale Entität, mit der wir sehen, hören, riechen, schmecken

und spüren, konstituiert eine Landschaft von Netzhäuten, Trommelfellen, Schleimhäuten, ja

von Haut, überhaupt:

So komplex und ein wenig beängstigend bietet sich die Karte unserer Haut dar, buchstäblich als Karte unserer Identität, als carte d’identité, wie ein Personalausweis. [...] Die Haut mit ihren eintätowierten Geschichten trägt und zeigt die eigene Geschichte. [...] Auf der Haut kommen Seele und Objekt zusammen, stoßen vor, gewinnen oder verlieren Terrain – ein anhaltendes, unscharfes Gemisch aus dem ›ich‹ und dem schwarzen Körper, aus dem zu einem bestimmten Zeitpunkt das Farbengemisch der Pfauenfedern hervorgeht. [...] So findet sich der Körper als Mischkörper in der Mitte, zwischen Himmel und Hölle: im Alltagsraum. [...] Gewiß ist noch nie etwas Grundsätzlicheres über Veränderung und Transformation gesagt worden, das nicht dort, in unmittelbarer Nähe unserer Kontingenz, stattfände.125

122 Ebd., S. 32. 123 Ebd., S. 9–10. 124 Ebd., S. 44. Vgl. auch Bergson: »Einleitung (Zweiter Teil)«, S. 53. 125 Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 20–23, S. 27.

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In Anlehnung an George Berkeley beschreibt Bergson nun aber auch die Materie, wie sie sich

unseren Sinnen präsentiert, als eine Art »dünnes transparentes Häutchen«, das transparent

bleibt, solange wir uns nicht damit beschäftigen, das aber, sobald wir unseren Fokus darauf

richten, matt wird und sich zu einem undurchsichtigen »Vorhang« verdichtet, »weil Wörter

wie Substanz, Kraft, abstrakte Ausdehnung usw. sich dahinter schieben und sich in ihm wie

eine Staubschicht ablagern« (Abb. 31).126 Ausgehend von dieser Analogie zwischen der

Oberfläche des lebendigen, wahrnehmenden, erinnernden und fabulierenden Körpers und der

scheinbar objektiven Haut der Dinge soll daher im Folgenden versucht werden, Materie und

Gedächtnis, Bild und Einbildung, Blick und Subjekt unter einen – zugegeben zweideutigen –

Hut zu bringen. Nehmen wir Bergsons dünnes, transparentes Häutchen zum Ausgangspunkt

einer Infra-mince-Passage und werfen wir einen Blick auf Duchamps Vexiere – Bilder, Spiele

und Spiegel mit Haut, Haar, Glas.127

2.1.3. Eros/Rrose: Braut-Werden bei Duchamp

Was hat Kunst mit einem Spiel, einem Spiegel, mit Erotismus, mit Haut, mit Berührung zu

tun? Wodurch sehen wir uns veranlasst, in der einen oder anderen Weise auf ein Kunstwerk

zu reagieren, und was genau passiert im Zuge einer derartigen Reaktion? Im Rahmen einer

Tagung zum Schöpferischen Akt kommentiert Duchamp seine Auffassung des schöpferischen

Prozesses 1957 wie folgt:

Es findet da eine Art ›Übertragung‹ des Künstlers auf den Betrachter in Gestalt einer ästhetischen Osmose durch die leblose Materie hindurch statt: Farbe, Klavier, Marmor usw. [...] In der Tat fehlt ein Glied in der Kette der Reaktionen, die den schöpferischen Akt begleiten. Dieser Bruch, der für den Künstler in der Unmöglichkeit besteht, seine Absicht vollständig auszudrücken, der Unterschied zwischen dem, was er sich zu verwirklichen vorgenommen hatte, und dem, was er verwirklicht hat, ist der persönliche ›Kunst-Koeffizient‹, der in dem Werke enthalten ist. [...] Der künstlerische Prozeß nimmt einen ganz anderen Aspekt an, wenn der Betrachter sich dem Phänomen der Verwandlung gegenüber sieht: mit der Veränderung der leblosen Materie in ein Kunstwerk hat eine wahre Transsubstantiation stattgefunden, und die wichtige Rolle des Betrachters ist, das Gewicht des Kunstwerks auf der ästhetischen Waage zu bestimmen. In summa ist der Künstler nicht der einzige, der den Schöpfungsakt vollzieht; denn der Betrachter stellt den Kontakt des Werkes mit der Umwelt her, indem er seine tieferen Eigenschaften entziffert und dadurch seinen Beitrag zum schöpferischen Akt liefert.128

126 Bergson: »Die philosophische Intuition«, S. 138. 127 Zum Zusammenhang zwischen Haut, Spiegel, Rand, Innen-Außen, »dem Geheimnis der Ereignisse und des Unbegrenzt-Werdens, das sie beinhalten«, vgl. auch das Kapitel »Von den Oberflächenwirkungen« in: Deleuze: Logik des Sinns, S. 19–28. 128 Duchamp: »Der schöpferische Prozeß«, S. 166–167.

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Nach Duchamp ist es also nicht nur der Künstler, der im Feld der Kunst einen Schöpfungsakt

vollzieht. Im Gegenteil verweist er auf das Gegenüber des Betrachters, der das Bild zum Bild

und die Kunst zur Kunst macht: »Ce sont les REGARDEURS qui font les tableaux.«129 Vor

dem Hintergrund dieser Überlegung und der soeben besprochenen Bildkonzepte könnte man

nun mit Jean-François Lyotard auch annehmen, mit dem Betrachter (Subjekt der Vorstellung)

und dem Bild (Blick) treffen sich zwei Kreise, die wie Zahnräder ineinander greifen und die

damit einen Berührungspunkt teilen (Abb. 32).130 Geht von einem der beiden Kreise ein

Bewegungsimpuls aus (mit Duchamp müsste man hier betonen: eine Rotation),131 so wird

diese Bewegung, wie Lyotard hervorhebt, nicht nur unmittelbar auf den anderen Kreis

übertragen, sondern es findet durch die Übertragung auch immer eine Umkehrung der

Bewegungsrichtung statt, durch die der Berührungspunkt umschlägt in einen Grenzpunkt

(limes): »Der Körper der Falle [sprich: das Kunstwerk] trägt diesen limes in sich: Es liegt in

seiner Macht, sich umzukehren, sein Inneres und Äußeres zu vertauschen.«132 In dieser

spezifischen »Fähigkeit zur Umkehrung von Energie«, in der schon Aristoteles das zentrale

»Prinzip aller mèchanè« erkannt habe,133 besteht nun Lyotard zufolge die eigentliche »List«

der Junggesellenmaschinen:

Immer wenn sich zwei Körper in Bewegung berühren wie die beiden Kreise, die Jäger und das Wild, die Freier und ihre schönen Objekte, immer wenn auf der einen Seite der Wunsch nach Vereinigung entsteht, der Wille, zu einem einzigen, von ein und derselben Bewegung getragenen Körper zu verschmelzen, wenn also die Absicht auftaucht, die Kräfte zu paaren oder sie zu addieren, dann greift die List der Umkehrung ein, um diese Absicht zu vereiteln und errichtet zwischen den Partnern eine dissimilierende Wand.134

Diese »List der Umkehrung«, die Hermes als Gott der schlauen Umkehrungen wie kein

anderer personifiziert, spiegelt sich nicht nur im Feld der Kunst- und Kulturgeschichte, in den

»Machenschaften der Menschen« und den »Gegenmachenschaften der Götter« und sozusagen

auch in der Maschinerie der Kunstwelt wider.135 Lyotard zufolge steckt das Unbewusste an

List, das im Zuge des modernen Projekts der Naturbeherrschung mit gutem Grund zum

Schweigen gebracht werden sollte, genau genommen »in der Erfindung aller Mechanismen«,

129 Duchamp: Duchamp du signe, S. 247. 130 Jean-François Lyotard: Die TRANSformatoren Duchamp, Stuttgart: Edition Schwarz 1987, S. 37. 131 Das Prinzip der Rotation, das die Prinzipien Bewegung und Stillstand exemplarisch in sich vereinigt, spielt in Duchamps Werk seit seinen ersten Bewegungsstudien eine zentrale Rolle, vgl. Kaffeemühle (1911), Fahrrad-Rad (1913), Schokoladenreibe, Nr. 1 und Nr. 2 (1913 und 1914), Rotierende Glasplatten (Präzisionsoptik) (1920), Rotierende Halbkugel (Präzisionsoptik) (1925), Anémic Cinéma (1925–1926), Rotoreliefs (Optische Scheiben) (1935), u.a. 132 Lyotard: Die TRANSformatoren Duchamp, S. 37. 133 Ebd., S. 37–38. 134 Ebd., S. 38. 135 Ebd., S. 38–39.

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um sich schließlich idealtypisch im Konzept der Junggesellenmaschine zu manifestieren, dem

Duchamp mit seinem Großen Glas ein berühmtes Denkmal gesetzt hat.136

Nun weist Lyotard mit Nachdruck darauf hin, dass Duchamps Großes Glas die Idee der

Junggesellenmaschine nicht nur abbildet, sondern gleichsam exemplarisch in Szene setzt.

Schließlich ist die Junggesellenmaschine nach Lyotard nichts anderes als der Spezialfall einer

»Spiegelmaschine«, als deren bewährtestes Beispiel er »die mimetische und reproduzierende

Maschine schlechthin« ins Treffen führt: »die spiegelnde oder rezeptive Glaswand«, »die von

den Objekten gespeist wird, die man ihr präsentiert, und die andere Objekte herstellt, die

Bilder nämlich, die sie zurückwirft«.137 Nach dem Prinzip der Zahnräder, die in ihrem

Ineinandergreifen einen Umkehrpunkt teilen, stellt die Spiegelmaschine identische Bilder her

und hat dementsprechend eine assimilierende oder spiegelnde Funktion, wenn sie verdoppelt

wird, sobald sie aber allein oder an ungerader Stelle in einer Serie gleicher Maschinen steht,

wird sie, wie Lyotard hervorhebt, unweigerlich zur dissimilierenden oder spieglerischen

(miroirique) Wand.138 Dabei ist hinzuzufügen, dass ein spiegelnder Effekt an gerader oder

spieglerischer Effekt an ungerader Stelle nur in dieser Weise erfolgt, wenn der Betrachter

gegenüber der Glaswand ebenfalls als Teil der Spiegelmaschine in Betracht gezogen wird und

sozusagen eine Umkehrung der Bewegungsrichtung verursacht. Lyotards Metapher bezieht

sich unter anderem auch auf eine Notiz Duchamps, der in seinem Beispielkatalog zum Infra-

mince die »Reflexion eines Spiegels – oder Glases« anführt, die eine »hauchdünne Trennung«

(séparation inframince) markiere, und wie Duchamp betont, eben eine Trennung, mit den »2

Bedeutungen männlich und weiblich«, und nicht eine Scheidewand (cloison): »hauchdünne

Trennung – besser als Scheidewand, weil Verweis auf Intervall (im einen Sinn) und

Scheidewand (in einem anderen Sinn)«.139

Auf der Idee einer derartigen Trennung (mit den zwei Bedeutungen männlich und weiblich,

Berührungspunkt und Grenzpunkt) basiert nun also auch das vielschichtige Opus magnum,

mit dessen Konzeption Duchamp im Rahmen seines Münchenaufenthalts im Sommer 1912

begann, dem er in Paris in den darauffolgenden Jahren eine Vielzahl von Notizen und Skizzen

widmete und dessen Ausführung er 1915 kurz nach seiner Übersiedlung nach New York in

Angriff nahm, um über Jahre hinweg intensiv daran zu arbeiten und das Werk 1923 letzten

136 Ebd., S. 36. Zum Konzept der Junggesellenmaschine, vgl. u.a. auch Michel Carrouges: Les Machines célibataires, Paris: Arcanes 1954; Clair/Szeemann: Junggesellenmaschinen / Les Machines célibataires. 137 Lyotard: Die TRANSformatoren Duchamp, S. 42–43. 138 Ebd., S. 44. 139 Duchamp: Notes, S. 22 (Übers. d. Verf.), Originalwortlaut: »Réflexion de miroir – ou de verre – plan convexe – séparation inframince – mieux que cloison, parce que indique intervalle (pris dans un sens) et cloison (pris dans un autre sens) – séparation a les 2 sens mâle et femelle«.

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Endes für »definitiv unvollendet« zu erklären: das so genannte Große Glas mit dem

eigentlichen Titel La mariée mise à nu par ses célibataires, même (Die Braut von ihren

Junggesellen nackt entblößt, sogar) (Abb. 33).140 Das Werk besteht aus zwei senkrecht

übereinander angeordneten, in einem Metallrahmen gefassten Glaspaneelen und ist etwa zwei

Meter achtzig hoch, einen Meter achtzig breit und zehn Zentimeter tief. An der Schnittstelle

der beiden Paneele sind horizontal drei Glasplatten eingesetzt, die die dichotome Struktur des

Werkes betonen. Die ›Zeichnung‹ ist auf der Rückseite angebracht und wird vorwiegend aus

Bleidraht, Farbe und unterschiedlichen metallischen Legierungen gebildet. Teilweise kommen

auch andere Materialien zur Verwendung, zum Beispiel eine »Staubzucht« (Abb. 31), die

Duchamp durch monatelanges Liegenlassen des Glases zustande gebracht und anschließend

mit Firnis fixiert hat. Infolge der aufwändigen technischen Prozeduren weisen die Vorder-

und die Rückseite des Großen Glases beträchtliche Unterschiede auf. Gleichzeitig ist das

Große Glas ein zutiefst konzeptuelles Werk, das sich als Gefüge aus einer Vielzahl von

Figuren und Begriffen ausschließlich über die dazugehörigen Notizen aus der erst 1934

veröffentlichten so genannten Grünen Schachtel erschließt, deren Titel La mariée mise à nu

par ses célibataires, même (Abb. 43) mit dem des Großen Glases identisch ist.141 Als

großformatiger, je nach Lichtverhältnissen transparenter und/oder reflektierender Paravent

aus Glas stellt das Werk schon als solches eine Spiegelmaschine dar, in die Duchamp mit dem

zentralen »Horizont« aus drei horizontal übereinander geschichteten Glasleisten ein weiteres

Instrument der »spieglerischen Zurückwerfung« (renvoi miroirique) eingeschrieben hat.142

Dieser Horizont, der das »Kleid der Braut« darstellt und der sich wie das Große Glas als

Ganzes als Schnitt durch den Bildraum versteht,143 hat im Wesentlichen die Funktion eines

140 Der Entstehungszeitraum des Großen Glases, der im Allgemeinen mit dem Zeitraum gleichgesetzt wird, in dem Duchamp das Werk ausgeführt hat (1915–1923), müsste angesichts von Duchamps konzeptueller Auffassung des Werks wenigstens auf 1912–1923 korrigiert, wenn nicht überhaupt im Sinne von frz. aura »Aura/wird haben« (Didi-Huberman) zur Zukunft hin offen gelassen werden als etwas, »was wir noch nicht haben, ein futuristisches Verb, das wie in seiner Erwartung, seiner Protention erstarrt scheint«, Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, S. 138, vgl. oben, Kap. 2.1.1. Duchamps Bemerkung, das Große Glas sei »definitiv unvollendet«, geht einerseits auf den Vermerk »inachevé« zurück, den er neben dem Titel auf der Rückseite des Werks anbrachte, und andererseits auf ein unveröffentlichtes Interview mit Calvin Tomkins, vgl. Tomkins, Marcel Duchamp, S. 293. Die Bezeichnungen der Elemente des Großen Glases (im Folgenden bei Ersterwähnung unter Anführungszeichen) sind im Wesentlichen den Notizen zu entnehmen, die Duchamp 1934 in der Grünen Schachtel veröffentlicht hat, vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 39–102, dt.: Die Schriften, S. 25–120. Zur Ikonografie des Großen Glases, vgl. u.a. auch Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 123ff. 141 Vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 39–102. 142 Den Vermerk »Renvoi mirorique« aus der Grünen Schachtel (Duchamp: Duchamp du signe, S. 93) übernahm Duchamp 1964 in den Titel seines Kupferstichs Un robinet original revolutionnaire / »renvoi miroirique« (Ein originaler revolutionärer Wasserhahn / »spieglerische Zurückwerfung«), vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 840 (Kat.-Nr. 606). 143 Vgl. Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 199–200 (Anmerkungen im Text wurden entfernt): »Der Raum der perspektivischen Anschauung ist der Stoff, aus dem dieses Kleid gemacht ist, und die geometrale Perspektive ist die Wissenschaft seiner Nähte... | Das Große Glas versetzt diese Grenze und ihre Öffnung in eine

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»Scharniers«, insofern er die obere »Domäne der Braut« (die Wirklichkeit hinter dem Bild)

von der unteren »Domäne der Junggesellen« (der Perspektive der Betrachter) durch eine

Infra-mince-Scheidewand trennt, indem er die beiden Bildhälften gleichzeitig durch einen

Infra-mince-Intervall verbindet.

Entsprechend der Scharnierfunktion des Horizonts beschreibt das Große Glas einen Kreislauf

des Begehrens, der Projektion und der Vorspiegelung, in dem sich Braut und Junggesellen

gleichsam unverwandt gegenüberstehen. Die vierdimensionale Braut, die ihrem Wesen nach

ein »Motor« mit »Schüchternheits-Kraft« ist und deren »Zylinder-Sex« oder »Sex-Wespe«

vermittels »Osmose« eine »Sekretion von Liebesbenzin [essence d’amour]« hervorbringt,144

tritt in der oberen Bildhälfte in Gestalt eines »weiblichen Gehenkten« in Erscheinung, der die

Braut »in gewöhnlicher Perspektive« zeigt, das heißt, aus einer »bestimmten Distanz« und

aus einem »bestimmten Blickwinkel«, wohingegen man ihre »wirkliche Form vielleicht zu

ermitteln versuchen könnte«, indem man berücksichtigt, dass ihre »Hauptformen mehr oder

weniger groß oder klein sind« und »keine Abmessung mehr haben«.145 Die buchstäbliche

›Maßlosigkeit‹ der Braut, die ihrem »kinematischen Erblühen« (épanouissement cinématique)

im »Moment der Entkleidung« zugrunde liegt, spiegelt sich nicht nur in der amorphen Figur

der »fleischfarbenen Milchstraße« oder »Aureole der Braut« wider, sondern auch in der darin

enthaltenen »Inschrift«, die aus den Zufallsformen von drei »Durchzugskolben« besteht und

ein »Ensemble alphabetischer Einheiten« darstellt, »die keine strenge Ordnung mehr haben«,

da sie in Analogie zur Braut wesentlich »unbeständig« (mouvante) sind und die »Gesamtheit

ihrer strahlenden Vibrationen« sichtbar werden lassen.146

Gegenüber den Zufallsformen der Braut sind die »Hauptformen der Junggesellenmaschine«

in der unteren Bildhälfte »unvollkommen: Rechteck, Kreis, Parallelepiped, symmetrischer

Henkel, Halbkugel = das heißt, sie sind abgemessen«.147 Die »männischen Gussformen« der

neun »Junggesellen«, die in der linken unteren Bildhälfte den »Friedhof der Uniformen und

Vielzahl von Elementen. Es ist die Grenze zwischen der vierdimensionalen Braut und dem Junggesellenbewusstsein, in der Substanzmetaphorik des Glases die Grenze und maschinisch-vermittelte Beziehung zwischen dem Wasserfall, dem »principe moteur«, und dem Leuchtgas, das die männischen Gussformen füllt, zwischen Nervensystem und Bewusstsein, wenn man rasch interpretieren will. Es ist auf einer anderen Ebene die Grenze zwischen der Sprache im Zustand der Virtualität, der Sprache der Braut, die »eine Art Lettern-Kasten« ist, reines Potential von Sinn und Unsinn, und der in Wörtern und Phrasen artikulierten Sprache, die die Kommunikation der konstituierten Subjekte reguliert, eine Grenze, die vor allem die Sprachspiele von Rrose Sélavy, Duchamps weiblichem alter ego, durchlässig machen [sic]. Und es ist vor allem die Porosität des jetzt, für die Anschauer, gegenwärtigen Bildphänomens auf die materielle Rückseite des Glasträgers, die nach Auskunft der Grünen Schachtel tief und in nicht-beliebiger Weise in die Vergangenheit zurückragt.« 144 Duchamp: Duchamp du signe, S. 62/67. 145 Ebd., S. 66/69. 146 Ebd., S. 56–57/62–63. 147 Ebd., S. 66.

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Livreen« bilden, sind dazu bestimmt, »Gussstücke« von einem »Leuchtgas« unbestimmten

Ursprungs zu erzeugen, welche den »Litaneien« eines »Leiterwagens« oder »Gleiters« aus

»emanzipiertem Metall« lauschen, während sie im Inneren der Gussformen »wie von einem

Spiegel eingewickelt« sind, der ihnen entsprechend dem Gesetz der Reflexion »ihre eigene

Komplexität widerspiegelt«, die sie »ziemlich onanistisch halluzinieren«, »ohne dass sie die

Maske jemals überschreiten könnten«.148 Um »Schnelligkeit zu gewinnen«, vollzieht der

Leiterwagen in seinem Hin- und Hergleiten eine »innere Multiplikation der Bewegung des

Wasserrades«, dem er seinen Antrieb verdankt und das wiederum von einem »Wasserfall«

angetrieben wird, der sich »aus der Ferne« in einem »Halbkreis« über die neun männischen

Gussformen ergießt.149 Der Leiterwagen öffnet und schließt durch sein Hin- und Hergleiten

eine »große Schere« und treibt gleichzeitig die »Schokoladenreibe« an, mit der er über eine

»Achse« und eine »Klammer« von »oszillierender Dichte« verbunden ist und die nach dem

»Prinzip der Spontaneität« jene »kreisende Bewegung ohne Ausgang« ausführt, die bedeutet,

dass sich »der Junggeselle seine Schokolade selber reibt«.150

Unter dem Blick der Braut, die durch die Inschrift im Bereich der Aureole »Befehle« und

»Befugnisse« (commandements, ordres, autorisations) an die Junggesellen »telegrafiert«,

durchläuft das Leuchtgas, das an deren Scheitelpunkten aus den Hohlkörpern der männischen

Gussformen austritt, einen komplexen Parcours. In den neun »Kapillarröhrchen«, deren Form

dem »konservierten Zufall« von drei mal »3 Maßnorm-Stoppagen« entlehnt ist und die das

»Netzwerk der Stoppagen« bilden (Abb. 80), verfestigt es sich zunächst zu »Stäbchen«, die

beim Austritt aus den Röhrchen zu »Pailletten« zerschnitten und zu einem Halbkreis aus

»Haarsieben« oder »Sonnenschirmen« weitergeleitet werden, die das Leuchtgas als »eine Art

Labyrinth der 3 Richtungen« in zahlreichen »Transformationen« durchläuft, um daraufhin

den Weg über ein (im Bild nicht ausgeführtes) »Abfluss-Gefälle in Form eines Toboggans«

zu nehmen und sich schließlich in Form einer (ebenfalls nicht ausgeführten) »Verspritzung«

in der rechten unteren Bildecke zu sammeln.151 Durch drei kreisförmige »Okulisten-Zeugen«,

die perspektivisch genau so ins Bild gesetzt sind, dass sie wie Zahnräder ineinander zu greifen

scheinen, wird die Verspritzung, die das »Motor-Begehren« der Junggesellen zum Ausdruck

bringt, unter Mitwirkung einer »Lupe« und eines »System Wilson-Lincoln« in die Domäne

148 Ebd., S. 76–77/81–83. Wie Egenhofer betont, verkörpern die männischen Gussformen »die Hülle des perspektivisch gesehenen Raums«, dessen Inneres »von einer Spiegelschicht beschlagen« ist, »deren Funktion das Vergessen ist«. Das Leuchtgas ist mit Egenhofer dementsprechend als »Gussstück« und »Substanz des Gegenwartsbewusstseins« zu charakterisieren. Vgl. Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 211–212. 149 Duchamp: Duchamp du signe, S. 83/89. 150 Ebd., S. 86–87/96–97. 151 Ebd., S. 72–76/91.

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der Braut transferiert und durch »spieglerische Zurückwerfung« in eine »Tropfenskulptur«152

transformiert, um sich im Bereich der Milchstraße der Zufallsform von neun »Einschüssen«

niederzuschlagen153 – allerdings erst, nachdem es im Bereich der Spiegelung am rechten

unteren Saum des Brautkleids einen (nicht ausgeführten) »Boxkampf« ausgelöst und dabei

zahlreiche »Schläge« erlitten hat (Abb. 34).154 Dieser Boxkampf beruht im Wesentlichen auf

dem »System der Uhrmacherei«, das durch das Zusammenspiel mehrerer »Zahnräder« die

»elektrische Entkleidung« vorantriebt, die wiederum zum kinematischen Erblühen der Braut

führt und damit jenes »Uhrwerk« (pendule) in Schwung bringt, das der weibliche Gehenkte

(Pendu femelle) verkörpert.155 Bei alledem sind die Junggesellen in ihrem Begehren, mit dem

das Horizont-Kleid der Braut seine Funktion als »Kühler« bekommt, von der Braut gleichsam

abgeschnitten, insofern es »keine Lösung zur Kontinuität zwischen der Junggesellenmaschine

und der Braut« gibt, sondern nur eine gewisse »elektrische Verbundenheit«, die »im Notfall

durch Kurzschluss« zur Entkleidung führt, während ein dreibeiniger »Schwerpunktjongleur«

auf dem Kleid der Braut tanzt.156

Als exemplarische Spiegel- und Vorspiegelungsmaschine wirft Duchamps Großes Glas ein

neues Licht auf jenes spezifische Verhältnis von Subjekt (Reflexion) und Blick (Intuition),

das im Anschluss an die Bildkonzepte Bergsons und Lacans in Analogie zu einer Kleinschen

Flasche zu verstehen ist, durch deren Nicht-Orientierbarkeit Innen und Außen, Positiv und

Negativ, Wahrnehmen und Photo-graphiert-Sein immer schon ineinander verschränkt sind.157

Diese Interpretation ist insbesondere auch vor dem Hintergrund von Duchamps ausgeprägtem

Interesse für die Topologie naheliegend, das ihn seit seinen frühen Studien zum Großen Glas

152 Auf Duchamps Wunsch hin wurde das Große Glas im Philadelphia Museum of Art vor einem – eigens von ihm in Auftrag gegebenen – Fenster installiert, durch das ein Springbrunnen zu sehen ist. Von der Vorderseite des Großen Glases aus ist damit im Bereich der unteren Bildhälfte tatsächlich eine ›Tropfenskulptur‹ zu sehen. Vgl. Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 195–196 sowie unten, Kap. 3.1.1. 153 Egenhofer zufolge sind die neun Einschüsse, deren Position Duchamp durch das Abschießen von in Farbe getauchten Streichhölzern auf ein Ziel im Bereich der Milchstraße festlegte und die er anschließend durch Bohrlöcher fixierte, als »einzige volle Vergegenwärtigung« des Leuchtgases zu betrachten, insofern sie »die Tropfenskulptur nicht darstellen, sondern sie sind«: »Die Flugbahnen, vom Widerstand des Zufalls in eine Abweichung vom Ziel gezwungen, [...] können als Realisierungen der Bewegung des Leuchtgases nicht im szenischen Raum, sondern im Zeitraum der Produktion gelten.« Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 213. 154 Duchamp: Duchamp du signe, S. 93–96. 155 Ebd., S. 94–96. 156 Ebd., S. 55/58–59. 157 Anfang der 1960er Jahre anlässlich einer Begegnung mit dem französischen Wissenschaftsjournalisten und Verleger François Le Lionnais, der unter anderem populärwissenschaftliche Bücher über Mathematik und Schach veröffentlichte, bezogen sich Duchamps erste Fragen Le Lionnais zufolge auf die Möbiusschleife und die Kleinsche Flasche, vgl. Jean Clair: »Moules femâlics«, in: ders.: Sur Marcel Duchamp et la fin de l'art, Paris: Éditions Gallimard 2000, S. 159–168, S. 167. Einen Zusammenhang zwischen Duchamps Großem Glas respektive Étant donnés und Lacans Theorie des Blicks stellt im Anschluss an Clair (ebd., S. 168) auch Egenhofer her, vgl. Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 198–199.

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nicht mehr loslassen sollte158 und das in den Notizen aus der so genannten Weißen Schachtel

von 1967 (Abb. 63) exemplarisch zum Ausdruck kommt.159 Die perspektivisch organisierte

Domäne der Junggesellen wäre demnach mit dem intentionalen Subjekt in Verbindung zu

bringen, das nicht nur im »sensomotorischen Komplex« der Junggesellenmaschine, sondern

auch in den drei »Okulisten-Zeugen« unterhalb des Boxkampfs zum Ausdruck kommt. In der

aperspektivisch organisierten Domäne der Braut wäre im Gegenzug jener Blick und jene

unberechenbare Wirklichkeit jenseits des Bildes zu lokalisieren, die den Wahrnehmungs-

Horizont der Junggesellen übersteigt und angesichts derer sie sich abgeschnitten und

gleichsam photo-graphiert160 sehen, da sie ihr Begehren als Projektion enthüllt. Durch das

Kleid der Braut, das Duchamp als »zweidimensionales Oberflächenscharnier« definiert, wird

die »Apparition« (apparition) oder »Gussform« der Braut also herunter gebrochen auf das,

was Duchamp ihre »Apparenz« (apparence), ihr »Erscheinungsbild« oder ihre »sensorische

Gegebenheit« im »Raum3« nennt.161 Wie Egenhofer mit Verweis auf die »topologische

Ordnung« des Großen Glases hervorhebt, ist der »Raum3« dabei »als Jetzt-Raum, als Schnitt

durch das vierdimensionale zeiträumliche Kontinuum oder durch die Ungleichzeitigkeit

aufeinander folgender Räume und Raumzustände bestimmt«:

Auf der genetisch-ontologischen wie auf der erkenntnistheoretischen Ebene der Reflexion ist die »intuitive Kenntnis«* jener vierten Richtung der Ausdehnung mit einer Kenntnis und Erfahrung von Zeit verknüpft. [...] Das exakt konstruierte perspektivische Bild ist jenes flache Objekt, das das Gesetz seiner Genesis – das Verfahren der Projektion, dem es entstammt – gegenwärtig hält, indem es den Raumpunkt, von dem aus es sich zum Schein des Dreidimensionalen entstellt**, fixiert. Dieser Punkt, der Augenpunkt oder die Spitze der Sehpyramide liegt aber außerhalb der Ebene des Bildes. Für die höherdimensionale Projektion der vierten Dimension in die Schnittfigur der per Analogie gesuchten dreidimensionalen Objekte müsste der zugemessene Gesichts- oder Augenpunkt somit als Außerhalb [sic] des Raums liegend vorgestellt werden. [...] Dieser Punkt kann nur ein Zeitpunkt, eine Zeitbestimmung sein. Er kann nicht außerhalb des Raums, aber außerhalb des gegenwärtigen Raums liegen. Es wird

158 Wie Jean Clair betont, hat Duchamp seit seiner frühen Beschäftigung mit dem Werk Henri Poincarés und der riemannschen Geometrie »nie aufgehört, sich für die Topologie zu begeistern«, Clair: »Moules femâlics«, S. 167. 159 Vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 105–141. 160 Ebd., S. 43. Die Notiz Duchamps lautet: »On déterminera les conditions de (la) meilleure exposition du Repos extra-rapide (de la pose extra-rapide) (= apparence allégorique) d’un ensemble.« Wie Serge Stauffer in einer Anmerkung zu seiner Übersetzung des Originaltexts hervorhebt, bezeichnen die Begriffe »exposition« und »pose« im Französischen eine fotografische Belichtung, ebenso wie auch der Begriff »extra-rapide« der Fachsprache der Fotografie angehört, vgl. Duchamp: Die Schriften, S. 37. 161 Zur Unterscheidung zwischen apparition und apparence, vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 120–122. Egenhofer führt die Beziehung zwischen apparition und apparence im Anschluss an Jean Clair unter anderem auf »die zeitliche Artikulation zwischen der früheren ›weiblichen‹ Gussform und ihren späteren ›männlichen‹ Gussstücken« zurück, Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 200–201. Zum Begriff der »nackten Erscheinung«, vgl. auch Octavio Paz: Nackte Erscheinung: das Werk von Marcel Duchamp, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991.

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kein Punkt sein, den wir als Wahrnehmende einnehmen können, sofern das Wahrnehmungsbewusstsein des Subjekts an die Aktualität der Affektionen seines Körpers gebunden ist, die ihm den Anblick seiner Objektwelt geben. Der gesuchte Gesichtspunkt wird asynchron, in die Zukunft verlegt werden müssen.162

Egenhofer zufolge ist das »Werden, das zu dieser Bild- oder Projektionsebene (die man Raum

nennen könnte) ›senkrecht‹ steht«, kein »Wechsel innerhalb des Bildes«, keine »phänomenale

Bewegung, die schon die Konstanz eines Rahmens voraussetzt«, sondern »die Bewegung der

Produktion des Bildes und seiner Projektionsebene selbst: Gott als Projektor des Films der

Welt – oder der intuitus originarius [der schöpferische Blick (Gottes)], der das Bild in jedem

Augenblick zerstört und erzeugt«163 – oder eben die Gussform, der Blick der Braut. Der »jetzt

und je gegenwärtige (dreidimensionale) Raum« dagegen muss mit Egenhofer gesprochen »als

Schnitt zwischen einem Vorher und einem Nachher begriffen werden«,164 das heißt – um es

mit Bergson auszudrücken – als jene Domäne, in der »unser Intellekt« nach der »Gußform der

Tat [...] gemodelt worden« ist.165 Demnach kann die Braut im Dreidimensionalen – analog

zum Erscheinungsbild der Kleinschen Flasche – nur durch jenen zentralen Schirm und jenen

Schnitt in der Zeit in Erscheinung treten, der die Junggesellen/Betrachter dazu verdammt,

»sich ihre Schokolade selber zu reiben«.166 Die wirkliche, transzendentale Erscheinung der

Braut hingegen kann für den intentionalen Junggesellen/Betrachter unmöglich zu einem

Objekt des avoir/à voir werden, sie ist also weder zu sehen noch zu haben und verbleibt in

jenem Bereich »außerhalb des gegenwärtigen Raums«, der sich nur einem Bewusstsein

erschließen könnte, das von der »Aktualität der Affektionen seines Körpers« befreit und

sozusagen – um es mit Bergson auszudrücken – der »Intuition der Dauer« fähig wäre.167 Als

»Uhrwerk«, dessen Innerstes im »konstanten Leben« der Braut besteht, zeigt die Braut

162 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 197–198/202–203. *Duchamp erwähnt die »intuitive Kenntnis« in Duchamp: Die Schriften, S. 157. **Den »Schein [apparence] des 3-dimens. Kontinuums« erwähnt Duchamp ebd., S. 167. 163 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 209. 164 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 160. 165 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 84: »Ursprünglich denken wir nur um zu handeln. In der Gußform der Tat ist unser Intellekt gemodelt worden. Spekulation ist Luxus, Handeln Notwendigkeit.« 166 Duchamp: Duchamp du signe, S. 97. 167 In welcher Form sich die Braut einem Bewusstsein erschließen könnte, das einer Wahrnehmung »außerhalb des gegenwärtigen Raums« fähig wäre, umschreibt Egenhofer wie folgt: »Ein vom standpunktlosen Raum als dem Behältnis möglicher Blickpunkte umflossener Körper – der Körper der verzögerten, aber noch nicht ›perspektivierten‹ Braut – ist visuell umrisslos, ist noch in keinen bestimmten Kontur geschlagen. Er bewahrt nur jene grundlegendsten räumlichen Eigenschaften, die jede stetige quantitative Transformation (Verzerrung) überstehen und die die Analysis situs zum Gegenstand hat.« Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 204–205. Der zentrale Stellenwert, den Bergson der »Intuition der Dauer« beimisst, wird deutlich in seinem Brief an Harald Höffding vom 15. Februar 1915, zit.n. Bergson: Mélanges, S. 1148: »A mon avis, tout résumé de mes vues les déformera dans leur ensemble et les exposera, par là même, à une foule d’objections, s’il ne se place pas de prime abord et s’il ne revient pas sans cesse à ce que je considère comme le centre même de la doctrine: l’intuition de la durée.«

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Egenhofer zufolge also nicht etwa die »Uhrzeit« an, sondern vielmehr die »Zeit der

exposition oder Verzögerung«, das heißt, jene Zeit des Werdens und der durée, die Bergson

als Gefälle zwischen Vergangenheit und Zukunft konzipiert und die, wie Egenhofer

hervorhebt, »eine zentrale Quelle der Duchamp’schen Inspiration zu sein [scheint]«.168

Mit Egenhofer gesprochen bezieht sich Duchamp mit der Zeitgestalt der Braut also auf »die

Bergson’sche Differenz zwischen der durée und der im Raum der phänomenalen Bewegung

ausgelegten Zeit«:

Die Zeit der Braut ist jenes Anschwellen oder Anwachsen der Vergangenheit, die »an der Zukunft nagt«*, der Appetit der Vergangenheit auf die Zukunft, des Schon-Determinierten aufs noch-nicht-Determinierte. Diese aktive Differenz ist das Gefälle des Wasserfalls, in dessen Schleier sich Gegenwart und phänomenale Welt konstituieren. Erst im Spiegel des Nervensystems wird dieses vertikale Gefälle – die Wirkungsaktualität der Kräfte – zu einer gegenwärtigen Szene mit ihrem Vergangenheits- und Zukunftshorizont umgeklappt: zur Wirklichkeit, wie sie dem Bewusstsein erscheint. Wenn die Substanz der Junggesellen also das selbstreflexive Leuchtgas ist [die »Substanz des Gegenwartsbewusstseins«], ist die Substanz der Braut das reine Vorwärtsdrängen, der ›Appetit‹ der Zeit [die reine durée]. Deshalb hat die Braut »ein Zentrum Leben [und] die Jungges. haben keines«, sie müssen ihre Energie aus »der Kohle oder anderem Rohstoff«** gewinnen. Die bewegend-bewegte Substanz der Braut ist als »Magneto-Verlangen«, »konstantes Leben«** und vor allem als »Automobilin«** bestimmt. Ihre Bewegungsart ist das Werden der Welt, das sich erst im Kino der leiblichen Wahrnehmung als Raumbewegung zeigt, als »stechender Ruck des Zeigers«**, wenn dieser Antrieb der Welt in das Räderwerk einer Uhr hineinfließt, als lange Perioden statistischer Verteilungen, wenn er eine Roulettekugel vor sich her stößt, als »umgekehrtes Bild der Porosität«**, wenn er den Staub in seinem Sinken begleitet. Die vierdimensionale Braut ist nichts anderes als der reine Fortgang der Zeit – durch den Schleier hindurch, in dem sich, zwischen Vergangenheit und Zukunft, die allegorischen Kleider und »Motorhauben«*** der für uns Raumwesen phänomenalen Wirklichkeit konstituieren.169

Im Gegensatz zur Unberechenbarkeit und »Gewalt des natürlichen Scheins« (der apparition),

die »in seiner Geschmeidigkeit, im Fließen der Bilder« liegt, ruft die »Kristallisation des

168 Vgl. Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 166–167: »Die Zeit der exposition oder Verzögerung wird also nicht die Uhrzeit sein. [...] Wenn die Braut – Pendu femelle – daher eine pendule oder ein Uhrwerk ist (ein vielfältig durchgespieltes Motiv), dann ist sie vor allem das Innere und Innerste dieses Uhrwerks, »Magneto-Verlangen« oder »konstantes Leben«. [...] Die Zeit ist in der Tat ›in‹ der Uhr, sie ist tätig in der Uhr. Allerdings ist sie nicht ›in‹ der sichtbaren Bewegung – weder der Zeiger noch sonstiger phänomenaler Zahnräder. Das sichtbare Uhrwerk ist ein in den Strom der Entropie gebauter Übersetzungsapparat, der den Schwung des Wasserfalls in die Bewegung phänomenaler Körper (Zahnräder und Zeiger) übersetzt. Das Wesen dieses Schwungs besteht [...] im ›Appetit‹ der Vergangenheit auf die Zukunft, des Determinierten aufs noch nicht Determinierte. Als dieses Gefälle, als diese Differenz, als diesen Appetit denkt Bergson das Werden, das jeder phänomenalen Bewegung zugrundeliegt. Genau darin scheint sein Denken der Zeit eine zentrale Quelle der Duchamp’schen Inspiration zu sein.« 169 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 214; *ist ein Zitat aus Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 52; **sind Zitate aus Duchamp: Die Schriften, S. 48/40/43/40/46/85; ***ist ein Zitat aus Duchamp: Interviews und Statements, S. 127.

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Bildaspekts in der Fläche, die Unterbrechung des Bilderflusses« (die apparence) im Großen

Glas Egenhofer zufolge jene »Krise des Imaginären hervor, in der sich das Bildbewusstsein in

der Endlichkeit seiner Wahrheit begreift« und »sein Vertrauen ins Element der natürlichen

Wahrnehmung« verliert: »In diesem Krisenpunkt der Reflexion kehrt sich die Fiktion des

Bildes um und wendet sich zurück in den realen Raum.«170 Ursula Panhans-Bühler zufolge,

die in ihrem Essay zum Topos der Haut zahlreiche Bezüge zu Duchamps Werk herstellt,

reflektiert das Große Glas sozusagen das »katastrophische Ergebnis der Spaltung«, indem es

ihm gleichzeitig »mit ironischem Spott zu Leibe« rückt: »Wenn sich ein vierdimensionaler

Körper spaltet, entsteht im Zwischenraum der sich symmetrisch entsprechenden Hälften ein

dreidimensionaler Raum [...]. Wie in einer Blickbeziehung stehen sich die zwei Hälften

gegenüber.«171

Die Braut steht damit für jene Wirklichkeit jenseits der sichtbaren Oberfläche, die im Bild als

Blick, in anderen Worten, als irreduzible Singularität ihre Wirkmacht entfaltet. So ist ihre

Aureole perforiert von drei Durchzugskolben, welche die leitende Materie für die Befehle

oder Appellationen der Braut darstellen und diese in das Begehren der Junggesellen münden

lassen. In produktionsästhetischer Hinsicht beruhen die Durchzugskolben bezeichnenderweise

auf dem fotografischen Dispositiv der »blitzschnellen Belichtung« (exposition ultra-rapide),

das Duchamp mit einer potentiellen Entblößung der Braut in Verbindung bringt: Duchamp

verwendet drei quadratische Stücke Gazestoff, die er einem Durchzug aussetzt und dabei

abfotografiert; die Durchzugskolben sind also ursprünglich transparente, bewegte Schleier aus

Gaze (frz. gaze), die wiederum als Blick (engl. gaze) interpretiert werden können (Abb. 81).

Auf diese Lesart zielt auch Panhans-Bühler ab, wenn sie betont: »Durch die Durchzugskolben

als Leerstellen der Milchstraßenhaut fällt der begehrliche Blick des Betrachters hindurch.«172

Mit dem Blick der Braut bekommt der Horizont auch seine doppelte Funktion als Bildschirm

und Schutzdichtung, da er einerseits den Junggesellen ermöglicht, ihre Kastrationsangst

auszublenden und ihr Begehren zu projizieren, und andererseits der Braut dazu dient, sich

ihrer Entblößung zu entziehen. So beruft sich Elisabeth Bronfen mit gutem Grund auf eine

170 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 207. Vgl. dazu ebd., S. 207 (Anmerkungen im Text wurden entfernt): »Das Glas ist keine Multiplikation mehr von Augenblicken perspektivisch lokalisierten Sehens wie das kubistische und futuristische Bild, sondern ein genetischer Schnitt durch einen solchen Augenblick. Der Raum des natürlichen Blicks – in der Substanzmetaphorik des Großen Glases, der Raum, den das Leuchtgas illuminiert – ist in diesem Schnitt in die Gussformen und Kanalsysteme eingeschlossen, deren Wege zum ›Objekt‹ alles andere als geradlinig sind. Das Glas erzählt die Torturen seiner Reise bis – nun, ob es die Braut erreicht und in welchem Sinn, ist eine andere, umstrittene Frage.« 171 Ursula Panhans-Bühler: »Haut, zwischen Kruste und abgezogenem Lappen«, in: Christoph Geissmar-Brandi, Irmela Hijiya-Kirschnereit, Naoki Satō (Hg.): Gesichter der Haut, Frankfurt am Main: Stroemfeld 2002, S. 147–180, S. 162–163. 172 Ebd., S. 158ff.

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zentrale Denkfigur Sigmund Freuds, wenn sie Duchamps Spiel mit dem Unterschied der

Geschlechter auf die Formel bringt: »Erotismus – Eine Schutzdichtung«.173

Aber auch ganz prinzipiell fällt der Blick des Betrachters angesichts des Großen Glases im

wahrsten Sinne des Wortes durch (Abb. 35). In Anbetracht des durchsichtigen Bildes und der

umso undurchsichtigeren Grünen Schachtel (Abb. 43), die es ihm überhaupt erst ermöglicht,

das Bild in Betrieb zu nehmen, sieht sich der Betrachter schließlich nicht nur mit einer

potentiellen Reflexion seiner selbst, sondern auch mit der fundamentalen Kontinuität eines

Grundes jenseits der spieglerischen Oberfläche konfrontiert, in anderen Worten, mit jener

schier überbordenden Lebens- und Gedankenwelt, in der das Werk seinen eigentlichen

Kontext und Ursprung hat. Mit einer ganzen Reihe von Werken sollte Duchamp seit 1912

folglich immer wieder auf jene Scharnier- oder Umkehrfunktion zurückkommen, die er im

Großen Glas mit dem Horizont zwischen Junggesellen und Braut plakativ in Szene gesetzt

hat. Nur in aller Kürze sei an dieser Stelle bemerkt, dass er mit seinen Ready-mades seit 1913

eine solche Umkehrfunktion in Bezug auf die Gegebenheiten des alltäglichen Lebens zur

Anwendung brachte174 und dass insbesondere auch sein Konzept des Infra-mince jene

katastrophische Spaltung zwischen Werk und Betrachter reflektiert. So wohnt auch jener

Schaufensterarbeit eine Scharnierfunktion inne, die Duchamp im April 1945 anlässlich der

Präsentation von André Bretons Arcane 17 in der Auslage der New Yorker Buchhandlung

Gotham Book Mart entwickelte und in der das Fenster – analog zum Großen Glas – einen

zentralen Horizont markiert, durch den die Konsumenten als lüsterne Junggesellen auf das

Objekt ihres Begehrens blicken, das ihnen unter dem Titel Lazy Hardware in Gestalt einer

leicht bekleideten, kopflosen Schaufensterpuppe gegenübersteht, deren linkes Bein mit dem

phallischen Symbol eines Wasserhahns bestückt ist und die sich damit als androgyne ready

maid zu erkennen gibt (Abb. 36).175 Rechts vorne ist zudem ein aufgeschlagenes Exemplar

der Zeitschrift View positioniert, die im Vormonat erschienen war und auf deren Rückseite

Duchamp erstmals sein Konzept des Infra-mince in Anschlag gebracht hatte (Abb. 24), das er

173 Bronfen: »Infra-kleine Begegnungen erotischer Art«, S. 145. 174 Egenhofer weist darauf hin, dass die Ready-mades, die »außerhalb der spezialisierten Duchampliteratur bis heute unter ganz anderen Aspekten thematisiert wurden«, auch auf vielfältige Weise »ins semantische Geflecht des Großen Glases zurückgebunden« und dementsprechend eng »mit dem Sinngetriebe des Großen Glases verzahnt sind«, Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 216. Vgl. dazu auch Zaunschirm: Bereites Mädchen Ready-made sowie unten, Kap. 2.3. 175 Arturo Schwarz bemerkt, dass der Wasserhahn die kopflose (und damit im übertragenen Sinne kastrierte) Schaufensterpuppe als Hermaphroditen kennzeichnet, Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 227. Auf das Wortspiel Ready-made/ready maid verweist Thomas Zaunschirm mit seiner Publikation Bereites Mädchen Ready-made. Zu Duchamps Schaufensterarbeiten vgl. auch Nina Schleif: Die Frage der Schaufenster: Marcel Duchamps Arbeiten in den Schaufenstern (2003), http://www.toutfait.com/duchamp.jsp?postid=1750&keyword=schleif (aufgerufen am 28.12.2015).

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in seinen Notizen unter anderem mit der Reflexion eines Spiegels oder Glases in Verbindung

brachte, welche die Bedeutungen Intervall und Scheidewand in sich vereinige.176 Wie Hans

Belting hervorhebt, spiegelt die Installation damit nicht nur die zentralen Komponenten des

Großen Glases wider, sondern auch jene eines weiteren Werks, das Duchamp nicht zufällig

im Folgejahr in Angriff nehmen sollte.177

Die Assemblage Étant donnés: 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairage (Gegeben sei: 1. der

Wasserfall, 2. das Leuchtgas), an der Duchamp von 1946 bis 1966 im Geheimen gearbeitet

hat und die er ausdrücklich erst posthum veröffentlicht wissen wollte, ist Duchamps eigenen

Angaben zufolge nichts anderes als eine weitere Spielart der Braut von ihren Junggesellen

nackt entblößt, sogar, deren einzelne Komponenten jedoch, wie bereits bei Lazy Hardware,

eine neue Erscheinungsform angenommen haben. Mit Jean Clair gesprochen verhält sich

Gegeben sei zum Großen Glas wie ein Handschuh, dessen Inneres nach außen gestülpt

wurde:

Die Braut ist wohl da, nunmehr umgeben von sichtbar gewordenen, schlussendlich in Erscheinung getretenen Mechanismen, die im Glas nicht in Erscheinung getreten sind: der Wasserfall und das Leuchtgas. Sie selbst hat im Übrigen eine seltsame Umkehrung der Erscheinung durchgemacht, etwas wie ein Handschuhfinger, den man umgestülpt hätte. Im Glas bot sie sich dem Auge wie eine Art Gehäutete dar, eine Anhäufung unbeschreiblicher Organe, ein Inneres ohne Äußeres, Eingeweide ohne Haut – analog zu dem, was die Theoretiker der Vierten Dimension – von Poincaré bis Pawlowski – sich im Hinblick auf die Art und Weise vorstellten, in der unser Organismus von vierdimensionalen Beobachtern gesehen würde. In Gegeben sei hingegen erscheint sie wie eine Hülle ohne Inneres, ein leeres Gehäuse [carcasse], eine indirekte Gussform, ein Rumpf ohne Fleisch, eine Hülse [pellicule], eine Attrappe. | Heißt das, dass sie der Eingeweide [entrailles] entbehrt? Nein, die sind da. Sie besitzt Organe, ja sogar Organe, die sie als geschlechtlich differenzierten Organismus ausweisen: Es sind die vier erotischen Skulpturen, von Not a Shoe bis zum Keuschheitskeil, die ihrer Ausarbeitung vorausgingen und die buchstäblich Formgüsse ihres Gehäuses sind: die ›Füllungen‹, die ihrer ›Höhlung‹ entsprechen.178

176 Vgl. oben, Kap. 2.1.3. 177 Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München: Beck 1998, S. 372. 178 Clair: »Moules femâlics«, S. 164 (Übers. d. Verf.). Frz. carcasse »Gehäuse« bedeutet auch »Tierleiche, Grippe, Skelett, Rumpf«; frz. pellicule »Hülse« bedeutet auch »Häutchen, Schale, Schicht, Film«; frz. entrailles »Eingeweide, Gedärme« bedeutet im übertragenen Sinn auch »Schoß«. Nur ein »vierdimensionaler Eingeborener«, zitiert Clair nach einer von Duchamps Notizen aus der so genannten Weißen Schachtel (1967), könne mit seinen Sinnen jene Verzerrung erfassen, die ein Volumen schafft, das weder Außen noch Innen hat und in dem sich Oberfläche und Tiefe aufheben oder austauschen, vgl. ebd., S. 166. Bei den erotischen Skulpturen, die Clair erwähnt, handelt es sich um Not a Shoe von 1950, Feuille de vigne femelle (Weibliches Feigenblatt) von 1950, Objet-Dart (Dart-Objekt) von 1951 und Coin de chasteté (Keuschheitskeil) von 1954. Wie Clair hervorhebt, weist Duchamps Objet-Dart (mit dem Beiklang objet d’art/Kunstobjekt) zudem erstaunliche Ähnlichkeiten mit einer Kleinschen Flasche auf, insofern es an eine »pseudo-phallische Röhre« denken lasse, »die sich auf eigentümliche Weise krümmt« und deren Krümmung man in der Vorstellung nur bis in ihre Wurzel hinein verlängern müsse, um zu einer Struktur analog zu jener der Kleinschen Flasche zu

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Aber nicht nur die Braut, der Wasserfall und das Leuchtgas haben in Gegeben sei eine völlig

neue Erscheinungsform angenommen. Letztere betrifft vielmehr das Werk als Ganzes, zu dem

neben der Domäne der Braut auch die Domäne der Junggesellen und das zentrale Kleid der

Braut zählen, die ebenfalls eine fundamentale Transformation durchlaufen haben. Anstelle

des transparenten Horizonts aus Glas sieht sich der unvoreingenommene Betrachter, der in

einer vermeintlichen Sackgasse des Philadelphia Museum of Art gelandet ist, erst auf den

zweiten Blick konfrontiert mit einer hölzernen Tür, die Duchamp auf Augenhöhe mit zwei

Gucklöchern versehen hat (Abb. 37). Um die Installation in vollem Umfang zu Gesicht zu

bekommen, sieht er sich genötigt, seinen Gesichtsabdruck und damit eine Infra-mince-Spur

auf der Tür zu hinterlassen. Im dem Moment, in dem der Betrachter die Spur mit seinen

Gesichtssinnen, also eben nicht auf retinale, sondern vielmehr auf taktile Art und Weise spürt,

entlarvt er sie Panhans-Bühler zufolge aber auch schon als »Maske des Begehrens«.179 Denn

was er zu sehen bekommt, stößt ihn aller Wahrscheinlichkeit nach vor den Kopf. Während

sich der unbedarfte Betrachter in seiner Betrachtung unweigerlich dem potentiellen Blick

anderer potentieller Betrachter ausgesetzt weiß, sieht er sich einerseits in seinem eigenen

Junggesellentum und seiner Neugierde ertappt und andererseits der Apparenz eines nackten

weiblichen Körpers gegenüber, der ihn noch dazu in aller Aufdringlichkeit mit seiner Blöße

konfrontiert. Was der Betrachter nach Duchamp weder zu sehen noch zu haben (à voir/avoir)

bekommt, ist die nackte Erscheinung im Sinne einer vor seinen Augen sich vollziehenden

Apparition oder Entkleidung der Braut. Was er dagegen zu spüren bekommt, ist, dass seine

eigene Anwesenheit in dieser Konstellation nicht nur einen Teil des Bildes, sondern auch

einen blinden Fleck darstellt, kann er die Braut, wie Egenhofer betont, doch einzig und allein

unter der Bedingung schauen, dass er seinen eigenen Körper aus dem Bild ausblendet: »Der

Körper und der Körperraum des Betrachters sind abgeschnitten von diesem szenischen

Sichtraum, dem imaginären Raum, und in ein strukturelles Dunkel gestellt, in dem er, als

Träger des Blicks, nur für den Anderen, Dritten sichtbar ist.«180 So sieht er, da er den

verheißungsvollen Akt der Entblößung offenbar verpasst hat, wie die Braut in Gestalt einer

niedergestreckten Freiheitsstatue ihm nicht nur die Blöße, sondern auch das Leuchtgas (le gaz

d’éclairage), in anderen Worten, jenen beunruhigenden Blick (gaze) vor Augen führt, der mit

gelangen; das Objekt lege daher auch die Interpretation nahe, dass »das Geschlecht, als Schnitt betrachtet, als Abspaltung des Seins von sich selbst, als Mangel, nur ein Effekt des dreidimensionalen Raumes« sei und dass »Vagina und Penis, dem Beispiel einer anamorphotischen Illusion folgend, jeden unterscheidenden Charakter verlieren würden«, ebd., S. 166–167. 179 Panhans-Bühler: »Haut, zwischen Kruste und abgezogenem Lappen«, S. 163. 180 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 152.

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Egenhofer gesprochen direkt aus der »Dunkelheit des eigenen Körpers« resultiert,181 während

ein elektronisch animierter Wasserfall im Hintergrund jenes »Rieseln einer Fläche« aufblitzen

lässt, in dem Lacan die ganze »Doppeldeutigkeit, Variabilität, auch Unbeherrschbarkeit« des

Sichtbaren verortet (Abb. 38).182

Mit diesem Wechselspiel von Verhüllung und Blöße, mit dem Ineinander-Umschlagen von

Innen und Außen, steht Gegeben sei nun aber auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der

rätselhaften Dame im Pelz, die Duchamp zu seiner zweiten Identität verholfen hat. Für diesen

Zusammenhang spricht nicht nur die Tatsache, dass Duchamps Interesse am Phänomen des

Hermaphroditismus, das einerseits am Beispiel von Rrose Sélavy, andererseits aber auch am

Beispiel der Umstülpungsmechanismen von Duchamps Couple de tabliers de blanchisseuse

(Paar Schürzen einer Wäscherin) (1959)183 deutlich wird, Clair zufolge von »einer Art naiver

ontologischer Erfahrung einer mathematischen Idealität« zeugt, die auf die nicht-euklidischen

Geometrien der Topologie um 1900 zurückgeht und in der jegliche »sexuelle Differenzierung

aufgehoben ist«.184 Der Zusammenhang zwischen der nackten Erscheinung der Braut in Étant

donnés und Duchamps Spiel mit den Geschlechtergrenzen wird auch anhand der Verfahren

deutlich, mit denen Duchamp sein androgynes Alter Ego und seine Gegenstücke einer Reihe

von Transformationen unterzogen hat. Duchamp hat das Bild L’Œil Cacodylate, indem er

seinem Pseudonym »Rose Sélavy« mit dem Doppel-R eine erotische Konnotation verlieh,

schließlich nicht nur signiert, sondern es auch mit zwei Fotoausschnitten versehen. Beide

datieren aus dem Jahr 1919 und zeigen ihn selbst, einmal von schräg vorne mit kahlrasiertem

Kopf, das andere Mal im Gegenschuss (und in Anbetracht der Haarlänge offenbar kurz später)

von schräg hinten mit einem ausrasierten Kometen im Haar (Abb. 39).185 1919 ist auch das

Jahr, in dem Duchamp der Mona Lisa, jener Ikone mit dem legendären Blick, anlässlich von

181 Vgl. ebd.: »Diese Dunkelheit des eigenen Körpers, der neuronalen Maschine, die das Leuchtgas des Blicks produziert, entspricht der Gussform der Junggesellen, dem verspiegelten Material, aus dem die Form der Sichtbarkeit selbst besteht. [...] In Étant donnés steckt der Anschauer, wie immer, in seiner eigenen Gussform, und diese ist für ihn selbst so unsichtbar, wie im Glas für die Junggesellen. Das Leuchtgas, das aus den Gucklöcher, die die Augen sind, strömt, erleuchtet nur die verspiegelte Innenseite der Welt.« 182 Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 102. 183 Beim rektifizierten Ready-made Couple de tabliers de blanchisseuse, das Duchamp 1959 für die Deluxe-Ausgabe des Katalogs der Exposition Internationale du Surréalisme in einer Edition von 20 Stück produzieren ließ, handelt es sich um ein Paar von Topflappen, einen ›männlichen‹ (mit Glied, das durch einen Schlitz nach innen oder außen gestülpt werden kann) und einen ›weiblichen‹ (mit Schambehaarung, die durch eine Klappe verdeckt oder offengelegt werden kann), vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 822–823 (Kat.-Nr. 574). Clair vergleicht die Objekte mit »Stutzen, die sich wie Handschuhfinger umstülpen können«, Clair: »Moules femâlics«, S. 168. 184 Clair: »Moules femâlics«, S. 168. 185 Vgl. Caumont/Gough-Cooper: »Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy«, Eintrag zum 1. November 1921. Nähere Informationen zu den beiden Fotografien finden sich in Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 672ff. (Kat.-Nr. 370 und 372).

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Leonardos 400. Todestag unter Verwendung einer billigen Postkartenreproduktion nach Art

eines »Graffiti« einen Bart aufgemalt und dem assistierten Ready-made den Titel L.H.O.O.Q.

verliehen hat (Abb. 40).186 Nach Tomkins lag seine Motivation in einer »Reihe offenkundiger

Parallelen in den geistigen Hauptanliegen von Leonardo und Duchamp«, zu denen etwa die

Überzeugung zählte, »daß Kunst nicht einfach nur eine visuelle oder ›retinale‹ Erfahrung sein

solle, sondern eher »una cosa mentale«, um Leonardos berühmte Formulierung zu

gebrauchen: eine geistige Sache«.187 Andererseits war die Mona Lisa, wie Duchamp im

Interview mit Tomkins zu bedenken gibt, damals aber überhaupt »dermaßen universell

bekannt und bewundert, daß die Versuchung sehr groß war, sie für einen Skandal zu

verwenden.«188 So liest sich die Buchstabenfolge L.H.O.O.Q. im Französischen mit der

Bedeutung »sie hat einen heißen Arsch« (elle a chaud au cul) und verweist damit nicht nur

auf das Prinzip des Erotismus, sondern auch auf das Konzept des Infra-mince, zu dem

Duchamp unter anderem die Assoziation hatte: »Die Wärme eines Sitzes (der gerade

verlassen wurde) ist infra-mince.«189

Im Zusammenhang mit Duchamps Kopfrasuren ist seine Fotomontage Rrose Sélavy aus dem

Jahr 1921 nicht nur als weibliches Pendant seiner bärtigen Mona Lisa von 1919 zu verstehen,

die in seinen Augen durch den Bart tatsächlich »zu einem Mann« wurde,190 sondern auch als

Antizipation jener »rasierten« Mona Lisa (L.H.O.O.Q. rasée), mit der Duchamp seiner Mona

Lisa mit dem »heißen Arsch« 1965 – vermittels einer Infra-mince-Geste – ihr ursprüngliches

Erscheinungsbild zurückgegeben hat.191 In Analogie zur rasierten Mona Lisa entbehrt nun

aber auch die Braut aus Gegeben sei, die Duchamp kurz nach L.H.O.O.Q. rasée vollendete,

jeglicher Schambehaarung. Bezeichnenderweise datiert Duchamp die Fertigstellung seiner

186 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 260–261. 187 Ebd. 188 Zit.n. ebd., S. 261. Seit die Mona Lisa 1911 aus dem Pariser Louvre entwendet worden war, war das Gemälde in aller Munde, bis es 1913 schließlich wieder aufgefunden und zurückerstattet wurde. Der Diebstahl der Mona Lisa wurde zunächst Guillaume Apollinaire (den Duchamp kurz darauf kennenlernen sollte) angelastet, wobei auch Picasso einer möglichen Mittäterschaft bezichtigt wurde. Nachdem Apollinaire für sechs Tage festgehalten worden war und Picasso auf Kosten ihrer Freundschaft behauptet hatte, »diesen Mann niemals gesehen« zu haben, wurden die beiden letzten Endes aber entlastet. Vgl. ebd., S. 128–129. 189 Duchamp: Notes, S. 21 (Übers. d. Verf.), Originalwortlaut: »La chaleur d’un siège (qui vient d’être quitté) est infra-mince.« 190 1961 bemerkte Duchamp in einem Radio-Interview mit Herbert Crehan: »Das Seltsame an dem Schnurrbart und dem Kinnbart ist, wenn du die Mona Lisa anschaust, dann wird sie zu einem Mann. Es ist keine als Mann verkleidete Frau; es ist ein wirklicher Mann, und das war meine Entdeckung, ohne daß ich das damals realisiert habe.« Zit.n. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 262. Auszüge des Interviews wurden erstveröffentlicht in Herbert Crehan: »Dada«, in: Evidence, Nr. 3 (Herbst 1961), S. 36–38: »The curious thing about that moustache and goatee is that when you look at it the Mona Lisa becomes a man. It is not a woman disguised as a man; it is a real man, and that was my discovery, without realizing it at the time.« 191 Anlässlich der Preview zu seiner Ausstellung Not Seen and/or Less Seen of/by Marcel Duchamp/Rrose Sélavy: The Mary Sisler Collection am 13. Januar 1965 gestaltete Duchamp etwa hundert Einladungskarten, auf die er jeweils eine Spielkarte mit dem Motiv der Mona Lisa klebte, der er handschriftlich den Titel hinzufügte, vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 849 (Kat.-Nr. 615).

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Assemblage mit dem Jahr 1966 zudem exakt auf den hundertsten Geburtstag eines anderen

Gemäldes, das ihm damals mehr als geheimnisvoll und auratisch erscheinen musste, sollte es

doch erst 22 Jahre später, und damit 122 Jahre nach seiner Vollendung, erstmals das Licht der

Öffentlichkeit erblicken – wohlgemerkt, nachdem es sich zuletzt über Jahrzehnte hinweg (seit

1955), hinter einem anderen Gemälde versteckt, im Privatbesitz von Lacan befunden hatte.192

Gustave Courbet, der Autor dieses Gemäldes, war in Duchamps Augen ein »retinaler Maler«

par excellence, und so scheint Duchamp dessen berüchtigtes Gemälde als dezidierter Gegner

der retinalen Malerei mit Gegeben sei spieglerisch zu verdoppeln.193 In Gegenüberstellung

mit Duchamps rasierter Braut erscheint Courbets Frau im üppigen Pelz als exemplarische

Junggesellen- oder Spiegelmaschine, das heißt mit Lyotard gesprochen, als reproduzierende

Maschine schlechthin (Abb. 41). Duchamps Braut hingegen enthüllt sich damit buchstäblich

als Parodie dieser reproduzierenden Maschine. Mit ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen,

angefangen beim Gemälde Braut (1912) über L.H.O.O.Q (1919) und Rrose Sélavy (1921) bis

hin zum Großen Glas (1915–1923), zu Ready-mades (seit 1913) und Schachteln (seit 1914),

zu Lazy Hardware (1945), L.H.O.O.Q rasée (1965) und Gegeben sei (1946–1966), ist sie im

Gegenteil vielmehr auf jenes Prinzip des Unmittelbaren und Unvermittelten zurückzuführen,

das Bergson als Eingetauchtsein in die Tiefen der Dauer charakterisiert und in dem Benjamin

jenen eigentlichen »Quellpunkt der Poesie« verortet, der als »Strudel im Fluss des Werdens«

alles Entstehungsmaterial in sich hineinreißt. Nicht nur mit dem unmittelbar Gegebenen –

Wasserfall und Leuchtgas, Rieseln und Blick, Voyeur und Peep-Show – spielt Duchamp in

unverschämter Weise auf die Abgründe der Wahrnehmung an. Schließlich bezieht er sich mit

Courbets Bildnis – im Hinblick auf die feinen Unterschiede der Wahrnehmung – auch auf ein

Werk mit einem mehr als bezeichnenden Titel. Gegeben sei, nach Courbet und bei Duchamp

spieglerisch verdoppelt, Der Ursprung der Welt. Und nachdem es bei Duchamp ja sowieso

immer die anderen sind, die sterben, ist es am Ende auch sein Alter Ego, dem er mit seiner

posthumen Installation nach dem Motto »Eros, das ist das Leben« ein letztes Denk- und

Grabmal gesetzt hat.

192 Vgl. Jean-Paul Fargier: »L’Origine du monde«, http://www.cineclubdecaen.com/peinture/peintres/courbet/originedumonde.htm (aufgerufen am 28.12.2015). 193 Jean Clair verweist neben dem Zusammenhang zwischen Étant donnés und Courbets Gemälde L’Origine du monde auch auf Duchamps gleichzeitige Auseinandersetzung mit den Werken Cranachs, Ingres’ und Rodins, die in seinen späten Radierungen zum Ausdruck kommt, vgl. Clair: »Moules femâlics«, S. 159ff. Courbets »Fetischismus für Federn, Körperhaare, Kopfhaare und Felle« habe Duchamp nicht nur mit der Perücke in »schmutzigem Blond«, sondern auch mit dem »unbehaarten Geschlecht« der Braut aus Étant donnés »verhöhnt«, ebd., S. 161.

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2.2. Perspektiven zur Kunst der Verschleierung

Mit Gegeben sei landete Duchamp einen finalen Coup gegen die Erwartungen der

zeitgenössischen Kunstwelt, mit dem er den Mythos um seine Person und sein Erbe ein für

alle Mal besiegeln sollte. Wie er es von langer Hand geplant hatte, wurde sein zweites Opus

magnum erst nach seinem Tod im Philadelphia Museum of Art installiert und im Sommer

1969 enthüllt,194 um seither kaum etwas von seinem provokativen Charakter verloren zu

haben. Mit Herbert Molderings gesprochen bekommt man es bei Gegeben sei mit einem Bild

zu tun, »das man wahrscheinlich nie mehr vergessen wird«,195 und so wundert es auch nicht,

dass es inzwischen halbe Bibliotheken gefüllt und die halsbrecherischsten Spekulationen nach

sich gezogen hat.196 Insofern man nicht über das notwendige Vorwissen verfügt, vermeint

man sich als Besucher/in des Philadelphia Museum jedoch zunächst einmal verlaufen zu

haben, wenn man aus dem zentralen Duchamp-Saal kommend die Sackgasse eines weiß

getünchten, fensterlosen leeren Raumes betritt und dort nichts als eine unscheinbare alte

Holztür vorfindet, die auf immer verschlossen scheint. Zum regelmäßigen Amüsement der

Aufseher/innen machen viele Besucher/innen denn auch auf dem Absatz kehrt und lassen sich

damit eine der großen Ikonen der Gegenwartskunst entgehen. Die anderen, vorgewarnten oder

aufmerksameren, entdecken früher oder später zwei Löcher auf Augenhöhe und vielleicht den

Hauch eines Abdrucks, den frühere Besucher/innen im Laufe der Jahrzehnte auf der Tür

hinterlassen haben, indem sie im Schweiße ihres Angesichts auf der Suche nach dem wahren

Kunsterlebnis waren oder auch nur ihre Neugierde befriedigt wissen wollten (Abb. 42).

Der Blick durch diese beiden Löcher fördert nun buchstäblich Unsägliches zutage. Der

konsternierte Betrachter findet sich inmitten eines Perspektivraums, als dessen Fluchtpunkt er

selbst zum blinden Fleck gerinnt, mit dem dreidimensionalen, naturalistischen Körper einer

auf Reisig dahingestreckten, leblosen nackten Frau konfrontiert, auf deren unbehaarte Scham

sein Blick als erstes fällt, um sich ferner im Szenario eines beinahe unheimlich idyllischen

Landschaftsbildes zu verlaufen, in dem endlich auch die beiden titelgebenden Elemente ihre

visuelle Entsprechung finden: Ein elektronisch animierter »Wasserfall« rieselt geräuschlos im

Hintergrund, während das »Leuchtgas« offenbar jener Lampe entströmt, welche die Frau wie

einen abgeschnittenen Phallus in die Höhe hält, indem sie zugleich an eine niedergestreckte

194 Duchamp starb am 2. Oktober 1968. Nach dreimonatigen Aufbauarbeiten wurde das hochkomplexe Werk am 7. Juli 1969 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. 195 Herbert Molderings: »Gegeben sei: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtgas. Marcel Duchamp und die ›Nackte Wahrheit‹«, in: ders.: Die nackte Wahrheit, S. 35. 196 So wurde das Werk beispielsweise mit dem Mordfall der »Black Dahlia« in Verbindung gebracht, vgl. Jean-Michel Rabaté: Given: 1° Art 2° Crime: Modernity, Murder and Mass Culture, Brighton: Sussex Academic Press 2007.

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Freiheitsstatue gemahnt, die in Anbetracht ihrer schwindenden Kräfte gleich alles in Flammen

aufgehen lassen wird.

In dem Moment, in dem sich der Betrachter auf die Peep-Show einlässt, wird er aber auch

schon gewahr, dass sein erwartungsvolles Innehalten vor den Löchern so vergebens wie

lachhaft ist: Längst entbehrt die Szene jener Lebendigkeit, Spannung oder Erotik, die er sich

vielleicht erhofft hat und auf die das Phallussymbol in der Hand der Frau in einem letzten

Aufbegehren zu verweisen scheint. Längst gibt es hier nichts mehr zu entdecken, was als

ästhetische Wonne zu betrachten oder wenigstens mit einem Gefühl des Schauderns

verbunden wäre, und längst weiß sich der Betrachter, zu allem Überfluss, selbst im Visier

jener anderen Voyeure, die es hinter seinem Rücken kaum erwarten können, das

vielversprechende Bild zu schauen. Zu spät: Zu seiner Erkenntnis kommt der Betrachter – und

das ist der springende Punkt, auf den Duchamp mit seiner Installation ein letztes Mal pocht –

erst mit einer gewissen »Verzögerung«.197 Gegeben sei damit nichts als ein makabrer

Tatbestand und ein undurchsichtiges Drumherum, dessen Hintergründe Duchamp nicht eben

zum Besten gibt. Von Transparenz oder Transzendenz, zumindest vordergründig, keine Spur.

Vielmehr handelt es sich hier, so Molderings, um ein »illusionistisches Bühnenbild, das nach

den Regeln der klassischen zentralperspektivischen Projektionsmethode für einen festen

Betrachterstandpunkt konstruiert wurde« und das sozusagen »noch einmal die abendländische

Tradition des auf Sinnestäuschung angelegten, illusionistischen Bildes« zusammenfasst.198

2.2.1. Perspektivische Multiplikationen: Die Erscheinung der Braut

Schließlich offenbart Gegeben sei, wie Duchamp in zahlreichen kryptischen Bemerkungen

hat durchscheinen lassen, aber auch nur eine einzige, ganz bestimmte Perspektive auf ein viel

komplexeres Gefüge als jenes still und heimlich in Szene gesetzte, mit dem er die Rezipienten

seines Werks ein letztes Mal vor den Kopf stoßen sollte. Genau genommen liegen der

Assemblage langjährige Vorarbeiten und unzählige Notizen und Bilder zugrunde, die ihre

Initialzündung bereits im Rahmen von Duchamps legendärem München-Aufenthalt im

Sommer 1912 erfahren hatten.199 Auf der Basis seiner ersten Skizzen und Gemälde zum

Themenkreis der Braut hatte Duchamp in München unter anderem die Idee entwickelt, mit

dem Großen Glas eine Art Gemälde zu schaffen, das seine Zeit in einem einzigen Bild

197 Zu Duchamps Begriff der »Verzögerung« (retard), vgl. unten, Kap. 2.2.1. 198 Molderings: »Gegeben sei: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtgas«, S. 39/41. 199 Vgl. Helmut Friedel, Thomas Girst, Matthias Mühling, Felicia Rappe (Hg.): Marcel Duchamp in München 1912, München 2012 (Publikation anlässlich der Jubiläumsausstellung im Münchner Lenbachhaus, 31. März bis 15. Juli 2012).

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zusammenfasst. Es handelt sich bei diesem Werk, wie bereits deutlich gemacht wurde, um ein

höchst vielschichtiges Konstrukt, an dem Duchamp über ein Jahrzehnt hinweg laborierte, um

es schließlich für »definitiv unvollendet« (definitely unfinished)200 zu erklären und sich Jahre

später noch darüber zu amüsieren, dass der Zahn der Zeit sowieso weiterhin das Seinige

dazutun würde.201

Duchamp hatte aber überhaupt und von allem Anfang an eine Unmenge von Assoziationen

und Komplikationen zum Großen Glas parat, die er in Form von kryptischen Notizen und

Skizzen festhielt und in Form von mehreren Schachteleditionen veröffentlichte. Nach der

ersten, recht überschaubaren Schachtel von 1914, bei der er sich noch mit 17 Blättern und

einer fünffachen Auflage begnügte,202 versammelte Duchamp einen Großteil seiner Notizen

zum Großen Glas in der Grünen Schachtel, die Reproduktionen von einer Farbtafel und 93

Notizen, Zeichnungen, Fotografien und Faksimiles enthält und die er 1934 in der ungeheuren

Auflage von 320 nahezu identischen, handgefertigten Exemplaren produzierte (Abb. 43).203

Die Grüne Schachtel teilt mit dem Großen Glas nicht nur den Titel La mariée mise à nu par

ses célibataires, même – Duchamp definierte sie auch ausdrücklich als integralen Bestandteil

des Werks, insofern sie dafür sorgen sollte, dass das Werk keine definitive Gestalt annehmen

würde und dass sich jeder seinen eigenen Reim darauf machen müsste.204 So titelt eine der

enthaltenen Notizen aus der Grünen Schachtel »Vorwort«, um gleich darauf einen weiteren

Zusammenhang preiszugeben, der wie »in seiner Erwartung, seiner Protention erstarrt«205

erscheint:

200 Nachdem Duchamp das Große Glas 1936 repariert hatte, fügte er im Bereich der »Schokoladenreibe« auf der Rückseite des Glases die Inschrift hinzu: »LA MARIÉE MISE À NU PAR | SES CÉLIBATAIRES, MÊME | MARCEL DUCHAMP | 1915–1923 | – inachevé | – cassé 1931 | – reparé 1936«, vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 700–701 (Kat.-Nr. 404). 201 Nachdem das Werk nur ein einziges Mal öffentlich ausgestellt worden war (1926–1927 im Brooklyn Museum), zerbrach es bei einem der darauffolgenden Transporte, woraufhin Duchamp es 1936 in aufwändiger Kleinarbeit wieder zusammenklebte und so in sein heutiges Erscheinungsbild überführte. 202 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 598–603 (Kat.-Nr. 285). 203 Bei der »Grünen Schachtel« mit dem eigentlichen Titel La mariée mis à nu par ses célibataires, même (1934) handelt es sich um eine Edition von 300 grünen Kartonschachteln, die detailgetreue Reproduktionen von jenen Notizen und Skizzen enthalten, welche Duchamp größtenteils von 1912 bis 1915, teilweise aber auch später angefertigt hat (Außenmaße: 33,2 x 28 x 2,5 cm), vgl. ebd., S. 723ff. 204 Am 25. Dezember 1949 schrieb Duchamp in einem Brief an Jean Suquet: »Ein weiterer wichtiger Punkt, den sie sehr feinfühlig wahrgenommen haben, betrifft die Idee, dass das Glas letztendlich nicht dazu da ist, betrachtet zu werden (mit ›ästhetischen‹ Augen); es sollte von einem Stück ›Literatur‹ begleitet werden, das so amorph wie möglich wäre und niemals Gestalt annehmen würde; und die beiden Elemente, Glas für die Augen, Text für das Ohr und das Verständnis, sollten sich ergänzen und sich vor allem gegenseitig davon abhalten, eine ästhetisch-plastische oder literarische Gestalt anzunehmen.« Zit.n. Jean Suquet: Miroir de la Mariée, Paris: Flammarion 1974, S. 247 (Übers. d. Verf.). 205 Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, S. 138, vgl. oben, Kap. 2.1.1. Edmund Husserl meint mit »Protention« eine Intention des Bewusstseins, die in einem Erlebnisfluss zeitlicher Objekte (z.B. einer Melodie) eine Erwartung von Zukünftigem beinhaltet. Sie bildet eine Einheit mit der aktuellen Wahrnehmung, die Husserl als »Urimpression« bezeichnet, und mit Wahrnehmungen unmittelbar vorangegangener Ereignisse, die er als »Retention« bezeichnet. Im Gegensatz zur Urimpression und zur Retention ist die Protention als Inhalt noch

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Gegeben sei: 1. der Wasserfall | 2. das Leuchtgas | man bestimme | wir bestimmen die Bedingungen der momentanen Ruhe (oder allegorischen Erscheinung) einer Aufeinanderfolge {einer Gesamtheit} unterschiedlicher Tatsachen, die sich gegenseitig durch Gesetze zu bedingen scheinen, um das Zeichen der Übereinstimmung herauszuarbeiten zwischen – einerseits – dieser Ruhe (die aller ungezählten Exzentrizitäten fähig ist) und – andererseits – einer Auswahl von Möglichkeiten, die durch diese Gesetze legitimiert sind und sie gleichzeitig verursachen.206

Der Zusammenhang zwischen dem Großen Glas und Gegeben sei ist somit im Sinne einer

Aufeinanderfolge respektive einer Gesamtheit unterschiedlicher Tatsachen zu verstehen,

zwischen denen es insofern eine gewisse Übereinstimmung gibt, als sie jeweils einen

Ruhezustand (ein statisches Bild) und eine Reihe von Möglichkeiten (von unterschiedlichen

Lesarten) repräsentieren, durch die sich der Betrachter eben keineswegs vor vollendete

Tatsachen gestellt sieht. Entsprechend diesen Möglichkeiten versteht sich auch eine weitere,

aufschlussreiche Notiz, in der Duchamp das »Erblühen« (épanouissement) respektive die

»allegorische Erscheinung« (apparence allégorique)207 der Braut – analog zur Bergsonschen

»Telephonzentrale«208 – mit einer ganz spezifischen zeitlichen Perspektive assoziiert:

Eine Art Untertitel | Verzögerung in Glas | ›Verzögerung‹ verwenden anstelle von Bild oder Gemälde; Bild auf Glas wird zu Verzögerung in Glas – aber Verzögerung in Glas will nicht heißen Bild auf Glas. – | Es ist nur ein Mittel, um den fraglichen Gegenstand nicht länger als Bild zu betrachten – daraus eine Verzögerung machen so allgemein wie möglich, nicht so sehr in den verschiedenen Bedeutungen, in denen man Verzögerung verstehen kann, sondern eher in ihrer unentschiedenen Vereinigung. ›Verzögerung‹ – eine Verzögerung in Glas, so wie man sagen würde ein Gedicht in Prosa oder ein Spucknapf in Silber.209

unbestimmt und nur mitbewusst. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Protention_%28Philosophie%29 (aufgerufen am 28.12.2015). 206 Duchamp: Duchamp du signe, S. 43 (Übers. d. Verf.), Originalwortlaut: »Préface | Étant donnés: 1° la chute d’eau | 2° le gaz d’éclairage, | on déterminera | nous déterminerons les conditions | du Repos instantané (ou apparence allégorique) | d’une succession [d’un ensemble] de faits divers | semblant se nécessiter l’un l’autre | par des lois, pour isoler le signe | de la concordance entre, d’une part, | ce Repos (capable de toutes les excentricités innombrables) | et, d’autre part, un choix de Possibilités | légitimées par ces lois et aussi les | occasionnant.« 207 Genau genommen differenziert Duchamp hier noch weiter zwischen »sinnlicher Erscheinung« oder »Apparenz« (apparence) und »formaler Gussform« oder »Apparition« (apparition), vgl. ebd., S. 120–122. 208 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 14. Vgl. oben, Kap. 2.1.2. 209 Duchamp: Duchamp du signe, S. 41 (Übers. d. Verf.), Originalwortlaut: »Sorte de sous-titre | Retard en verre | Employer ›retard‹ au lieu de tableau ou peinture; tableau sur verre devient retard en verre – mais retard en verre ne veut pas dire tableau sur verre. – | C’est simplement un moyen d’arriver à ne plus considérer que la chose en question est un tableau – en faire un retard dans tout le général possible, pas tant dans les différents sens dans lesquels retard peut être pris, mais plutôt dans leur réunion indécise. ›Retard‹ – un retard en verre, comme on dirait un poème en prose ou un crachoir en argent.«

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Wie Egenhofer hervorhebt, bezieht sich der Begriff der »Verzögerung« oder »Verspätung«

(retard), den Duchamp als eine Art Untertitel einführt, »um das Wort Bild zu vermeiden«,

jenseits der »innerbildlichen Narration« auch auf »die materielle Struktur des Glasbilds« und

namentlich auf die »Stoppung des Produktionsprozesses, der von hinten an die Glasscheibe

(pan) schlägt und ein Inkrusto heterogener Materialien bildet«, indem er gleichzeitig auf die

»Verspätung der Junggesellen-Anschauer« verweist, »die von vorne durch die Glasscheibe

und durch den wachsenden Abstand von 30, 50, 90 Jahren hindurch die belichtete Oberfläche

dieses Materials erblicken«.210 In Anbetracht von Duchamps Leidenschaft für Wortspiele

wäre dem hinzuzufügen, dass sich »Verzögerung in Glas« (retard en verre) im Französischen

liest wie »[für] Verzögerung [siehe] Rückseite« (retard envers) – eine Lesart, die Duchamp

auch mit dem Titel seines so genannten Kleinen Glases von 1918 unterstützt, der da lautet: À

regarder (l’autre côté du Verre) d’un œil, de près, pendant presque une heure (Mit einem

Auge aus der Nähe zu betrachten (die andere Seite des Glases) während fast einer Stunde).211

Glas als Trägermaterial zu verwenden, dieser Kunstgriff war für Duchamp aber nicht nur von

entscheidender Bedeutung, um die Ebene der sinnlichen oder »allegorischen Erscheinung«,

das heißt, die »Bedingungen der momentanen Ruhe« zu transzendieren und das statische Bild

um die Dimension der Bewegung von Betrachter und Hintergrund zu erweitern. Jenseits der

plakativen Ansprüche kubistischer Theoriebildung, die ihn in seiner künstlerischen

Entwicklung bis 1912 maßgeblich beeinflusst hatten,212 ging es ihm nunmehr darum, das

Prinzip der multiplen Perspektive nicht nur auf formaler Ebene, sondern auch im Hinblick auf

das Bild als solches weiterzuentwickeln. Mit dem Großen Glas zielt Duchamp sozusagen

nicht länger auf eine Vervielfältigung statischer Gesichtspunkte ab, sondern verfolgt vielmehr

die Strategie, den zeitlichen Horizont von Geschichte, Gegenwart und Zukunft mit

einzubeziehen und damit auf die (bedingte) Komplexität, auf die (reale) Banalität und auf die

(potentielle) Popularität von Bildern im Allgemeinen zu verweisen: »Reduzieren, reduzieren,

reduzieren, das war mein Gedanke, – aber gleichzeitig richtete sich mein Ziel mehr nach

innen als nach außen. Und später kam ich soweit, zu spüren, daß ein Künstler alles benützen

kann – einen Punkt, eine Linie, das konventionellste oder unkonventionellste Symbol –, um

das zu sagen, was er sagen will.«213

210 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 195. 211 1966, im Interview mit Pierre Cabanne, bestätigt Duchamp diese Lesart: »Die Wortspiele, ja; Assonanzen und ähnliches, wie z.B. die »Verspätung in Glas« (retard en verre); das gefällt mir ungemein. Umgekehrt gelesen, bedeutet es sogar etwas.« Zit.n. Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 138–139. 212 Vgl. oben, Kapitel 1.2.2. 213 Duchamp 1946 im Interview mit James Johnson Sweeney, zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 37.

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Mit seiner Taktik der Verzögerung respektive seinem Motiv der Braut verfügte Duchamp

sozusagen über ein hervorragendes Instrument, sich als Künstler nicht nur auf sein überaus

geschätztes Handwerk, sondern vor allem auch auf eine Form der intellektuellen Entwicklung

zu konzentrieren, die ihn von den Fesseln des Kunstmarkts befreien sollte. Anstatt weiterhin

stur und steif ein Bild nach dem anderen zu malen, beschloss er also, unterschiedlichen

Formen der Beschäftigung nachzugehen, im Zuge derer er nicht nur neue formale und

ästhetische Kriterien entwickeln, sondern seit 1912 nach und nach auch theoretische,

methodische, historische und philosophische Probleme ins Zentrum seiner künstlerischen

Auseinandersetzung rücken sollte. Anders als im Kontext des historischen Avantgardismus

üblich, fragte Duchamp im Sinne einer kritischen Bezugnahme auf die zeitgenössische Kunst

und ihre historische Bedingtheit, wie Molderings betont, eben »nicht metaphysisch nach dem

›Wesen‹ der Malerei, sondern nach ihrer Konstruktion, ihrer Erfindung, das heißt nach den

Voraussetzungen und Paradigmen, die ihre Gestalt in den vergangenen Jahrhunderten

bestimmt hatten«, indem er auf der Suche nach einer Antwort »den gesamten Bestand an

historischen Malerei- und Perspektivtraktaten in der Pariser Bibliothèque Sainte-Geneviève«

studierte, an der er sich seit 1913 als Bibliothekar verdingte.214

Vor dem Hintergrund dieser Recherchen und seiner Tour de Force durch eine ganze Reihe

europäischer Museen im Sommer 1912215 musste es Duchamp in mehrfacher Hinsicht

naheliegend erscheinen, für sein erstes Opus magnum Glas als Trägermedium zu verwenden.

Schließlich ermöglichte ihm das Material wie kein anderes, die drei Dimensionen der

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sein Bild zu integrieren, indem es ihm nicht nur

den Rückgriff auf klassische Formen der Bildkomposition erlaubte, sondern gleichzeitig auch

den Blick auf den aktuellen, lebensweltlichen Kontext freigab und überdies dazu beitrug, das

vermeintlich Statische des Bildes gleichsam zu verflüssigen und zerbrechlich zu machen und

es somit dem Lauf der Dinge und dem Horizont des Unvorhersehbaren zu überantworten.

Analog zu den drei Ebenen des Großen Glases – Domäne der Junggesellen, Horizont und

Domäne der Braut – ist das Werk sozusagen wahlweise oder simultan vor dreierlei

Hintergründen zu betrachten: Erstens, vor dem Hintergrund der Vergangenheit, sprich der

214 Herbert Molderings: »Relativismus und historischer Sinn. Duchamp und die Postmoderne«, in: ders.: Die nackte Wahrheit, S. 7–25, S. 13–14. Zu Duchamps Auseinandersetzung mit der klassischen Perspektivtheorie, vgl. auch Clair: »Duchamp and the Classical Perspectivists«; Hans Belting: »Das Kleid der Braut«, in: Hans Matthäus Bachmayer, Dietmar Kamper, Florian Rötzer (Hg.): Nach der Destruktion des ästhetischen Scheins. Van Gogh – Malewitsch – Duchamp, München: Boer 1992, S. 70–90, S. 80ff.; ders.: Der Blick hinter Duchamps Tür, S. 17–76; Adcock: Duchamp's Perspective. 215 Vgl. oben, Kap. 1.3.2.

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älteren Kunstgeschichte und Kunsttheorie sowie des zeithistorischen Phänomens des

Avantgardismus, zweitens, vor dem Hintergrund der Gegenwart, sprich des aktuellen

Kontexts, der momentanen Lichtverhältnisse und der Perspektive des Betrachters, und

drittens, vor dem Hintergrund der Zukunft, sprich der Unvorhersehbarkeit allfälliger

weiterführender Interpretationen, Kontextualisierungen und Spekulationen. So knüpft das

Große Glas in produktionsästhetischer Hinsicht (Dimension der Vergangenheit) nicht nur an

die Kunst und Literatur des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten

Jahrhunderts an, sondern auch an christliche Dreifaltigkeitsdarstellungen,216 an die

neuzeitliche Hinterglasmalerei217 sowie vor allem auch an die Methode der

Perspektivkonstruktion, deren kulturhistorische Implikationen Albrecht Dürer mit seinem

Holzschnitt Der Zeichner des liegendes Weibes (Abb. 44) auf ein eindringliches Bild

gebracht hat und die sich in der zentralperspektivisch konstruierten Domäne der Junggesellen

beispielhaft widerspiegelt.218 In werkästhetischer Hinsicht (Dimension der Gegenwart), als

transparenter und reflektierender Horizont mit rätselhaften Inhalten, erscheint das Große Glas

einerseits als komplexes Gefüge organischer und mechanischer Elemente, andererseits aber

auch als Fenster, das sich nicht in dem von Leon Battista Alberti propagierten Bildbegriff als

216 Ein Zusammenhang mit den Dreifaltigkeitsdarstellungen der christlichen Kunst ist nicht nur in Anbetracht der Größe, des Hochformats und der dreigliedrigen Struktur des Großen Glases naheliegend, bezieht sich Duchamp doch auch auf inhaltlicher Ebene auf den Topos der Dreifaltigkeit, indem er einerseits auf den Gekreuzigten und andererseits auf dessen Jünger bzw. die Gemeinschaft der Heiligen verweist. So tritt die vierdimensionale Braut im Dreidimensionalen als Dreifaltigkeit, das heißt in Gestalt eines »weiblichen Gehenkten«, einer »Wespe« und einer »Milchstraße« oder »Aureole«, gegenüber den Junggesellen in Erscheinung. Als zentrale Referenzen für sein Großes Glas nennt Duchamp unter anderem die Werke Lucas Cranachs des Älteren und Albrecht Dürers. Eine der berühmten Dreifaltigkeitsdarstellungen, die Duchamp 1912 im Zuge seines Besuchs im Kunsthistorischen Museum Wien aller Wahrscheinlichkeit nach gesehen hat, ist Dürers Landauer Altar (auch Dreifaltigkeitsaltar oder Allerheiligenbild, 1509–1516), der eine Vision des Gottesstaates nach dem Jüngsten Gericht zum Inhalt hat. Der Altar zeigt die Anbetung der Heiligen Dreifaltigkeit durch die Gemeinschaft der Heiligen mit allen Christen. In der Bildmitte thront Gottvater auf Wolken und hält den gekreuzigten Christus, über ihm schwebt der Heilige Geist, mit einer Aureole umgeben, in Gestalt einer Taube. Die Dreieinigkeit wird von geistlichen und weltlichen Verehrenden umgeben. In der rechten unteren Bildecke hat sich Dürer als Autor des Bildes hinter einer antikisierenden Tafel selbst dargestellt. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Landauer_Altar (aufgerufen am 28.12.2015). 217 Zu Duchamps Bezugnahme auf die Tradition der Hinterglasmalerei, die einen Schwerpunkt der Sammlung der Alten Pinakothek in München bildet, vgl. Caumont/Gough-Cooper: »Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy«, Einträge zum 7. und 25. August und zum 26. September 1912 sowie oben, Kap. 1.3.2. Zur Geschichte der Hinterglasmalerei, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Hinterglasmalerei (aufgerufen am 28.12.2015). 218 Im Zusammenhang mit Duchamps zentralperspektivisch organisierter Installation Gegeben sei (1946–1966), die er als Variante zum Großen Glas betrachtete, verweist Linda Hentschel auf Dürers Holzschnitt Der Zeichner des liegenden Weibes (1512–1525), einer Illustration aus seinem Traktat Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen und gantzen corporen (auch: Emotivität des Weibes, Nürnberg 1925), vgl. Linda Hentschel: Pornotopische Techniken des Betrachtens: Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg: Jonas Verlag 2001, S. 29. Zum Zusammenhang zwischen Dürers zentralperspektivischer Apparatur mit Duchamps Installation, vgl. auch Sotirios Bahtsetzis: »Die Lust am Sehen. Marcel Duchamps ›Étant donnés‹: zwischen der Skopisierung des Begehrens und der Feminisierung des Bildraumes« (1. April 2005), http://toutfait.com/die-lust-am-sehenmarcel-duchamps-aezatant-donnasaeoe-zwischen-der-skopisierungs-des-begehrens-und-der-feminisierung-des-bildraumes/ (aufgerufen am 28.12.2015).

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in sich geschlossene Einheit präsentiert,219 sondern die Aufmerksamkeit des Betrachters – je

nach Lichtsituation und Betrachterstandpunkt – auf den aktuellen Kontext lenkt oder sich als

reflektierende Oberfläche und damit als Spiegel präsentiert. Und in rezeptionsästhetischer

Hinsicht (Dimension der Zukunft) erweist sich das Große Glas analog zur vierdimensionalen

Singularität der Braut nicht zuletzt als Orakel, das aller Transparenz zum Trotz mehr als

undurchsichtig bleibt, so man es als konzeptuelles Werk begreift, dessen sinnliche

Erscheinung oder Apparenz Duchamp konterkariert, indem er auf die enigmatischen Notizen

aus der Grünen Schachtel verweist. So läuft die Möglichkeit eines Durchblickens – im

visuellen wie im übertragenen Sinn – letzten Endes darauf hinaus, dass es eine eindeutige,

verlässliche Perspektive auf das Werk angesichts einer Vielzahl möglicher Interpretationen

und Hintergründe weder gibt noch geben kann. »Der innerbildlichen Perspektive, in der die

Junggesellen und die Braut unverwandt aufeinander fixiert sind, antwortet eine außerbildliche

Perspektive, die uns als Betrachter narrt«, bemerkt Hans Belting dazu treffend: »Das Glas

macht in dieser Hinsicht als Material eine höhnische Einladung, denn Perspektive heißt ja als

Begriff eigentlich ›Durchschauen‹, was Duchamp ganz wörtlich nimmt.«220 Wo Duchamp

Transparenz und Kohärenz suggeriert, schwingt sozusagen stets das Unabsehbare jener

sowohl räumlichen als auch zeitlichen Perspektive mit, das zu erschließen er seiner Nachwelt

mit seiner posthumen Installation – im Sinne seiner Taktik der Verzögerung – ein letztes Mal

in Hoffnung gestellt hat.

2.2.2. Spieglerische Assimilationen: Das Prinzip der Auserwählten

Duchamp zufolge handelt es sich bei seiner in Glas gefassten Braut, von ihren Junggesellen

nackt entblößt, sogar und dem darnieder gestreckten Frauenkörper im Guckkastensystem von

Gegeben sei: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtgas um ein und dasselbe Bild, wenn auch zu

einem anderen Zeitpunkt, aus einer anderen Perspektive, in einer anderen Dimension. Mit

dem Großen Glas und der posthumen Installation öffnet und schließt sich damit eine große

Klammer um jenes bahnbrechende Oeuvre, mit dem Duchamp die Kunst des letzten

Jahrhunderts wie kein anderer revolutioniert hat. So wird Duchamp aus heutiger Perspektive

als Urheber der unterschiedlichsten künstlerischen Strategien gefeiert, mit denen er mitunter

219 Zu Albertis Bildbegriff, den er in seinem Traktat Della pittura von 1436 mit der Illusion eines Ausblickes durch eine »finestra aperta« in Verbindung brachte, vgl. u.a. Gerd Blum: »Epikureische Aufmerksamkeit und euklidische Abstraktion. Alberti, Lukrez und das Fenster als Bild gebendes Dispositiv«, in: Horst Bredekamp, Christiane Kruse, Pablo Schneider (Hg.): Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären der frühen Neuzeit, München/Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2010, S. 79–118, S. 83ff. 220 Belting: »Das Kleid der Braut«, S. 80.

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über Jahre und Jahrzehnte hinweg experimentiert hatte, ehe sie Eingang in die Annalen der

Kunstgeschichte finden sollten, wie Molderings hervorhebt:

In den aktuellen Handbüchern zur Kunst der Moderne figuriert Duchamp als Erfinder fast sämtlicher, die Malerei transzendierenden Innovationen in der Kunst des vergangenen Jahrhunderts: der Assemblage und der Objektkunst, der Kinetik und der Installation, der Aktions- und der Prozesskunst, der konzeptuellen Fotografie, der Gender Performance, der Body Art und der Appropriation Art. War sein Einfluss zu Zeiten von Dada und Surrealismus bereits groß und sein Werk nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wichtigsten Bezugspunkte so konträrer Bewegungen wie der Pop und der Minimal, der Op und der Concept Art, so machte ihn die Theorie der Postmoderne in den 1970er Jahren endgültig zum wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts.221

Bei alledem zeichnet sich Duchamps Oeuvre nicht nur durch eine ungeheure Bandbreite aus,

sondern auch durch die bemerkenswerte Konsequenz, mit der Duchamp an bestimmten

Motiven, Strategien und Überzeugungen festzuhalten wusste. Das buchstäblich übermächtige

Motiv der Braut, das seit 1912 und bis an sein Lebensende im Mittelpunkt seines Interesses

stand, stellt hier einen ebenso konstanten Bezugspunkt dar wie seine Maxime »Der Betrachter

macht das Bild«,222 die immer wiederkehrenden Fenster und Türen223 und nicht zuletzt das

Konzept des Ready-made, das nicht nur für Duchamps Werk, sondern auch für die Kunst des

zwanzigsten Jahrhunderts emblematisch geworden ist. Jenseits der großen Klammer soll an

dieser Stelle allerdings vorerst nur ein einziges der zahlreichen, zwischenzeitlich entstandenen

Werke detaillierte Erwähnung finden, welches im Hinblick auf Duchamps ausgesprochene

Experimentierfreudigkeit und Konsequenz gleich in mehrfacher Hinsicht exemplarischen

Charakter hat. Bemerkenswert ist nicht nur der Genderaspekt, den Duchamp hier einführt,

indem er erstmals ein Werk im Namen seines weiblichen Alter Ego signiert, sondern auch die

neuartige Perspektive auf sein Konzept des Ready-made, das den Themen der Braut, der

Transparenz und Duchamps jahrzehntelangem Laborieren an einem einzigen Werk auf den

ersten Blick so ganz und gar unverwandt zu sein scheint. Nur auf den ersten Blick, wie

hervorzuheben ist: Denn obwohl heute kaum mehr der Erwähnung bedarf, dass Duchamp in

den frühen 1910er Jahren, als junger, damals noch unbedeutender Künstler, so leichtfüßig

realisierte wie folgenschwere Innovationen ins Werk setzte wie ein Fahrrad-Rad auf einen

Schemel zu montieren oder einen Flaschentrockner ohne weiteres Zutun in seinem Atelier zu

221 Molderings: »Relativismus und historischer Sinn«, S. 7. 222 »Ce sont les REGARDEURS qui font les tableaux.« Duchamp: Duchamp du signe, S. 247. 223 Von Duchamps Arbeiten zum Themenkomplex des Fensters respektive der Tür möchte ich an dieser Stelle nur einige der wichtigsten nennen: das so genannte Kleine Glas (1918), das Ready-made Fresh Widow (1920), die Rauminstallation Porte, 11 Rue Larrey (1927) und die Schaufensterarbeit Lazy Hardware (1945), wobei letztere gleichsam als ›Scharnier‹ zwischen Großem Glas und Gegeben sei betrachtet werden kann.

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platzieren, ist bis zum heutigen Tag kaum bekannt, dass sich die Sache mit den Ready-mades

kurz darauf schon komplizierter oder zumindest nicht mehr ganz so einfach gestalten sollte.

Denn tatsächlich ist es so, dass die größtenteils sehr unspektakulären Objekte, mit denen

Duchamp 1913 zu experimentieren begann, die er seit 1915 als »fertig vorgefundene

Skulpturen« oder »Ready-mades« bezeichnete,224 die er mitunter mit Attributen wie assisted

(unterstützt), rectified (berichtigt) oder provoked (hervorgerufen) versah,225 die Mitte der

1930er Jahre erstmals ins Licht der Öffentlichkeit treten sollten226 und deren revolutionäres

Potential für die Kunst bis heute unübertroffen scheint,227 dass diese Objekte in vielen Fällen

also ganz und gar nicht fertig vorgefunden, sondern von Duchamp mal manipuliert, mal mit

kryptischen Inschriften versehen und in manchen Fällen sogar erst auf seine Anweisung hin

produziert worden waren.

So auch das 1920 entstandene Ready-made Fresh Widow (Abb. 45), eine Fensterminiatur in

türkisfarbigem Lack, die Duchamp eigens von einem Schreiner hat anfertigen lassen, um die

Scheiben mit schwarzem Leder zu bekleben, das Werk mit dem Pseudonym »Rose Sélavy«

zu signieren und damit auch sein weibliches Alter Ego aus der Taufe zu heben.228 Der Titel

224 Den Ausdruck »sculpture toute faite« verwendet Duchamp in einem Brief, den er am 15. Januar 1916 aus New York an seine Schwester Suzanne in Paris richtet. Indem er ihr vorschlägt, sein Atelier zu übernehmen, schreibt Duchamp: »Wenn du also zu meiner Wohnung gegangen bist, so hast du in meinem Atelier ein Fahrrad-Rad und einen Flaschentrockner gesehen. Ich habe das als eine sculpture toute faite [...] gekauft.« Zit.n. Herbert Molderings: »Fahrrad-Rad und Flaschentrockner. Marcel Duchamp als Bildhauer«, in: Kornelia von Berswordt-Wallrabe (Hg.): Marcel Duchamp Respirateur, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1999, S. 119–145, S. 124, Originalwortlaut im Textzusammenhang: »Maintenant si tu es montée chez moi tu as vu dans l’atelier une roue de bicyclette et un porte bouteilles. – J’avais acheté cela comme une sculpture toute faite. Et j’ai une intention à propos de ce dit porte bouteilles: Écoute. | Ici, à N.Y., j’ai acheté des objets dans le même goût et je les traite comme des ›readymade‹ tu sais assez de l’anglais pour comprendre le sens de ›tout fait‹ que je donne à ces objets – Je les signe et je leur donne une inscription en anglais.« Zit.n. Francis M. Naumann, Hector Obalk (Hg.): Affectt Marcel. The Selected Correspondence of Marcel Duchamp, London: Thames & Hudson 2000, S. 43. 225 Vgl. den »Critical Catalogue Raisonné«, in: Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 588ff. 226 Im April 1916 wurden zwei Ready-mades in einer Ausstellung der New Yorker Bourgeois Gallery gezeigt, allerdings nicht als solche kenntlich gemacht, weshalb sie offenbar von niemandem entdeckt wurden, vgl. Hector Obalk: »The Unfindable Readymade« (Mai 2000), http://www.toutfait.com/issues/issue_2/Articles/obalk.html (aufgerufen am 28.12.2015). Nachdem das Ready-made Fountain, das Duchamp 1917 unter dem Pseudonym Richard Mutt zur ersten Ausstellung der New Yorker Society of Independent Artists eingereicht hatte, vom Hängungskomitee für nicht ausstellungswürdig befunden wurde (obwohl zuvor vereinbart worden war, auf jegliche Form von Zensur oder Vorauswahl zu verzichten und sämtliche eingereichten Werke auch tatsächlich auszustellen), sollten tatsächlich noch annähernd zwanzig Jahre vergehen, bis 1936 im Rahmen der Exposition Surréaliste d’Objets in der Pariser Galerie Ratton erstmals ein Ready-made ausgestellt wurde: der so genannte Flaschentrockner Porte-bouteilles. 227 Spätestens seit den 1960er Jahren gilt Duchamp als unumgänglicher Bezugspunkt für die Kunst der Gegenwart, vgl. Molderings: »Relativismus und historischer Sinn«, S. 7ff.; Thierry de Duve (Hg.): The Definitively Unfinished Marcel Duchamp, Halifax, N.S.: Nova Scotia College of Art and Design 1991; Amelia Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, Cambridge: University Press 1994, u.a. 228 Später ging Duchamp dazu über, sein Pseudonym mit einem Doppel-R zu schreiben: »Rrose Sélavy«, was phonetisch gelesen soviel heißt wie »Eros, c’est la vie« oder »Eros, das ist das Leben«. Für weitere Details zu Duchamps weiblichem Alter Ego, vgl. u.a. auch Kolb: »Dem Werden auf die Pelle rücken«.

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Fresh Widow, der neben dem epochemachenden Vermerk »Copyright«, der ebenso

epochemachenden, genderspezifischen Signatur und der Jahresangabe in großen schwarzen

Lettern am Fuß des Werks vermerkt ist, spielt nicht nur auf eine ehemalige Braut und

inzwischen frisch verwitwete (je nach Lesart durchaus auch junggebliebene Frau) an, die

ihres identitätsstiftenden Gegenübers mit ungewisser Verzögerung, aber jedenfalls ein für alle

Male verlustig gegangen ist. Denn in Anbetracht des Objekts, dem er zugeordnet ist, liest er

sich gleichzeitig als Anspielung auf ein französisches Fenster (french window), das analog zur

Witwe Trauer zu tragen scheint und damit jeglichen Durchblick verunmöglicht.229 Duchamp

macht hier sozusagen nicht nur jede Hoffnung auf Erkenntnis – durchaus auch im biblischen

Sinne – zunichte, sondern unterläuft, ganz bildlich gesprochen, überhaupt jede potentielle

Perspektive oder Vision.230

Damit gibt Fresh Widow nicht nur ein höchst aufschlussreiches Gegenstück zum zeitgleich

entstandenen Großen Glas ab,231 in dessen zentralperspektivischem Kontext die Braut noch

als ›Auserwählte‹ und ›Zukünftige‹ figuriert, deren wesentliche Funktion darin besteht, das

perspektivische Begehren der Junggesellen zu schüren. Denn gleichzeitig lässt sich auch

Duchamps posthumer Coup auf das Bild der Frischen Witwe rückbeziehen, insofern die

Gegeben sei das Licht der Welt erst in dem Moment erblickt, da ihr identitätsstiftendes

Gegenüber – Marcel Duchamp alias Rrose Sélavy – nach dem Motto ›so ist das Leben‹ bereits

das Zeitliche gesegnet hat.232 Ebenso wie der Horizont im Glas Duchamp zufolge eine Art

Scharnier darstellt, welches Braut und Junggesellen gleichzeitig trennt und verbindet, und

ebenso wie sich Glas durch die Eigenschaft auszeichnet, dass es je nach Lichtsituation

entweder transparent ist oder sich als reflektierende Oberfläche darstellt, ebenso erfüllen also

auch die Ready-mades eine »dissimilierende« oder »spieglerische« Funktion, wie Lebel

verdeutlicht, wenn er seinen Eindruck angesichts des Großen Glases beschreibt:

229 Gerhard Graulich verweist auf weitere Assoziationen zum Titel Fresh Widow, wie etwa auf das Bedeutungsspektrum ›heiter, lustig, frech‹, das im Begriff fresh mitschwingt, auf Franz Lehárs Operettte Die Lustige Witwe (1905 in Wien uraufgeführt), auf eine giftige Spinne namens Schwarze Witwe, die (wie die Gottesanbeterin) nach dem Liebesakt ihren Partner verspeist, sowie auf die Nebenbedeutung ›Guillotine‹, die der Begriff Witwe (veuve) im Französischen hat, vgl. Gerhard Graulich: »Fresh Widow als Paradigma. Zu Duchamps Transformation des Bildbegriffs«, in: Antonia Napp, Kornelia Röder (Hg.): Impuls Marcel Duchamp // Where do we go from here?, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2011, S. 60–82, S. 70. 230 Vgl. lat. perspicere ›durchblicken‹, lat. videre ›sehen‹. 231 Graulich bemerkt dazu: »Quasi analog und parallel, jedoch antipodisch, was wichtig zu erwähnen ist, zu Fresh Widow entsteht Duchamps Großes Glas [...], ein Werk, das sich durch Transparenz sowie eine komplexe Gestaltung und zeitintensive Herstellung auszeichnet.« Graulich: »Fresh Widow als Paradigma«, S. 78. 232 Nur am Rande soll hier auch auf den Zusammenhang mit Gustave Courbets Gemälde L’Origine du monde (1866) verwiesen sein, den ich an anderer Stelle eingehender behandelt habe. Vgl. Kolb: »Dem Werden auf die Pelle rücken«, S. 156–157.

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Bei der Betrachtung des Glases fällt zunächst auf, daß Duchamp alles getan hat, es unauffällig zu machen; in vollem Tageslichte ist es nicht deutlicher zu erfassen als das reklamegeschmückte Fenster eines Cafés, durch das wir im Inneren Schatten sich bewegen sehen. Die Zeichnung des Glases darf deshalb niemals für sich betrachtet werden, sie zeichnet sich vielmehr als gesteigerter Eindruck in einem doppelten Bilde ab, das ohne Unterlaß durch Spiegelungen umgebildet wird, denen diejenige des Beschauers sich hinzufügt. Dieser Effekt der Durchsichtigkeit spielt eine Hauptrolle in der Vorstellung Duchamps, der aus dem Hintergrund ein ständig in Bewegung befindliches Ready-made machte. So aus ihrem statischen Umriß herausgehoben, wird die fiktive Maschine zu einer wirklichen, zufällig belebt von dem, was sie umgibt, dauernd in einer Bewegung, die derjenigen der Sonnenuhr gleicht.233

Dieser Zusammenhang zwischen Großem Glas und Ready-mades, der einen der zentralen

Einsatzpunkte der wegweisenden Forschungen Ulf Lindes darstellt234 und den auch Thomas

Zaunschirm mit seiner vielschichtigen Interpretation der Braut als »bereites Mädchen« (ready

maid) unterstützt,235 ist dabei keineswegs nur ephemerer Natur, sondern liegt der Konzeption

der beiden Werkkomplexe vielmehr von Anfang an zugrunde, wie Duchamp in einer seiner

Notizen aus der Grünen Schachtel verrät: »Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt,

sogar: um das Fixfertige, Serienmäßige [tout fait, en série] vom Fixgefundenen [tout trouvé]

zu trennen. – Die Trennung ist eine Operation.«236 Wie Egenhofer hervorhebt, geht es beim

Ready-made dementsprechend weniger um eine »Kontextverschiebung, die ein Alltagsding

[...] in einen anderen Rahmen versetzt (wie viel eher das objet trouvé)«, sondern vielmehr

darum, ein Objekt durch den Akt der Wahl »vom Körper der Serie, des Warenkapitals« zu

trennen und es durch diese Operation, »in der das Gussstück das Früher der sedimentierten

Zeit berührt oder berührt hat«, in den Zustand jenes »Sich-Darstellens« zu versetzen, durch

den es zum Kunstwerk wird.237 Egenhofer zufolge entwickelt Duchamp mit dem Konzept des

Ready-made – wie auch mit dem Großen Glas – also ein »Gegenmodell zur Zeitstruktur des

Bildes, das in einer Gegenwart einen aspekthaften Rückblick auf eine Vergangenheit öffnet«

und das damit »immer und notwendig auch ein Zeitkanal«238 ist:

Im Schaufenster wird das Ready-made durch die déclaration vom Körper der Serie gelöst und so singularisiert. Von diesem Moment, der Datierung ist, ist es exponiert. Die Zeit der exposition, die Zeit der Belichtung oder Be-zufallung* der Anfangs [sic]

233 Lebel: Marcel Duchamp, S. 97. 234 Ulf Linde: »MARiée CELibataires«, in: Walter Hopps, Ulf Linde, Arturo Schwarz (Hg.): Marcel Duchamp: Ready-mades, etc. (1913–1964), Paris: Le Terrain Vague 1964, S. 39–68; ders.: Marcel Duchamp. 235 Zaunschirm: Bereites Mädchen Ready-made. 236 Duchamp: Duchamp du signe, S. 41 (Übers. d. Verf. Anlehnung an Duchamp: Die Schriften, S. 100), Originalwortlaut: »LA MARIÉE MISE À NU PAR SES CÉLIBATAIRES, MÊME: pour écarter le tout fait, en série du tout trouvé. – L’écart est une opération.« 237 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 220. 238 Ebd., S. 219.

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neutralen, leeren Platte des ästhetisch indifferenten Objekts ist in dieser n+1-dimensionalen Fotografie auf unendlich gestellt. Der Werkprozess, den der Name Ready-made bezeichnet, ist definitely unfinished wie das Große Glas. Der Zeitpunkt der déclaration entspricht der Öffnung der Blende einer Camera Obscura, durch die das Materiebild des Ready-made auf die Projektionsebene fällt, die die zukünftige Gegenwart der Nachwelt [...] ist. Die exposition ist die ganze Zeitdauer der Existenz des Ready-made als Werk, die Distanz zwischen dem Datum der déclaration und der sich entfernenden Projektionsebene, dem Blick der gegenwärtigen Anschauer, während die vergangenen Interpretationen wie Rauch in der Luft dieses Kinos der Geschichte den Weg anzeigen, den der Lichtkegel schon passiert hat.239

Als »Gegenbegriff zum Sehen der Vergangenheit und der Transparenz, die es voraussetzt«,

fasst das Konzept des Ready-made, wie Egenhofer hervorhebt, »eine Gegenwart als Wirkung

einer Vergangenheit« und basiert damit – im Gegensatz zur »Zeitstruktur des Bildes«, die in

dessen »Repräsentationsfunktion« begründet liegt, – auf der »Zeitstruktur der Spur, die als

Resultat oder Effekt einer Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt und in ihr resistiert.«240

So gesehen ist die »Zeitgestalt des Ready-made« – analog zur Zeitgestalt der Braut – weniger

extensiver (linearer, perspektivischer) als vielmehr intensiver (transitiver, aperspektivischer)

Natur: »Wir blicken jetzt auf seinen gegenwärtigen Körper und können den Kontur seines

Werdens historisch abtasten und narrativ auslegen als Erzählung der Rezeption, Fehl- und

Nichtrezeption«, schreibt Egenhofer in Bezug aus das Ready-made,241 ebenso wie er die

Erscheinung der Braut weniger im Raum – im ortsspezifischen Kontext – als vielmehr im

Fluss der Zeit und damit im Produktionsprozess selbst verortet:

Der Raum ist nicht Behälter oder Szene ihres Auftritts, ihres Schreitens, sondern das Milieu ihrer Exposition, das Element der Gegenwart, das ihren höherdimensionalen ›Körper‹ schneidet. [...] Erst im Großen Glas wird sich die materielle und temporale Struktur des Werks im Einklang mit seinem Thema, dem retard, der Verzögerung der Braut, ihrer Körper- und Bildwerdung befinden. Dort schlägt der Produktionsprozess von hinten ans Glas und exponiert sich [...] zum reinen Anblick eines gewichtslosen Scheins. Die Produktion hat nicht einen gegenwärtigen Schirm hergestellt, den der Blick durchqueren muss, um zum Bildphänomen zu gelangen, sondern der Schnitt, den das Glas durch den Produktionsprozess legt, ist oder wird, von der anderen Seite der Scheibe her, zum Phänomen. Deshalb muss nun der Rückraum des Bildes [...] explizit in ihrer temporalen Struktur offengehalten werden – was die Grüne Schachtel leistet, indem sie die Produktionsverfahren benennt, die die Glasscheibe schneiden.242

239 Ebd., S. 218; *zum Aspekt der »Be-zufallung«, vgl. Duchamp: Interviews und Statements, S. 124. 240 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 219–220. 241 Ebd., S. 218–219. 242 Ebd., S. 223–224.

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2.2.3. Transgressive Subversionen: Der Künstler als Medium

Duchamp sieht sich in seiner Funktion als Künstler, der die Trennung zwischen tout fait und

tout trouvé vollzieht, also auch selbst auf jene zwei Ebenen zurückgeworfen, die in den zwei

Domänen des Großen Glases zum Ausdruck kommen. Die zentralperspektivisch organisierte

Domäne der Junggesellen mit den neun männischen Gussformen der Junggesellenmaschine,

der dazugehörigen Schere, den Litaneien des Leiterwagens und den Okulisten-Zeugen, die

allesamt auf das Prinzip des Ready-made verweisen, steht sozusagen für das »Fixfertige,

Serienmäßige« und damit für ein Prinzip der Serie und eine Vorgeschichte, auf die der

Künstler unweigerlich zurückgreift, um seine Ideen, so neuartig sie auch sein mögen, ins

Werk setzen zu können.243 Die aperspektivische Domäne der Braut dagegen symbolisiert mit

dem weiblichen Gehenkten, mit Milchstraße, Durchzugskolben, Aureole, kinematischem

Erblühen und Liebes-Benzin das Einzigartige und Unvorhersehbare einer in kontinuierlicher

Veränderung begriffenen Wirklichkeit, welche die Grenzen der sinnlichen Erfahrung sprengt

und vor deren vierdimensionalem Grund sich die dreidimensionale Erscheinung der Braut als

ready maid überhaupt erst abheben kann.244

Der zentrale Horizont im Großen Glas macht aber gleichzeitig auch deutlich, dass Duchamp

diese beiden Domänen keineswegs unabhängig voneinander konzipiert, sondern im Gegenteil

davon ausgeht, dass die klare, wenn auch »hauchdünne Trennung« (séparation inframince)245

eine intime Verbindung überhaupt erst ermöglicht. Mit dem Motiv des Horizonts, das seit

1912 in zahlreichen Abwandlungen in Duchamps Werk erscheint, bringt er folglich auch sein

Selbstverständnis als Künstler auf den Punkt, insofern er nicht den Anspruch erhebt, die Welt

von Grund auf neu zu erfinden, sondern bewusst auf eine ›Vermählung‹ von individueller

Perspektive und ganzheitlicher Betrachtung abzielt und sich in seiner Funktion als Künstler

dementsprechend als »Medium« begreift, »das auf dem Weg durch Raum und Zeit seinen

Weg zur Lichtung sucht.«246 Damit verdeutlicht Duchamp, worum es ihm mit dem

Themenkomplex des Großen Glases von Anfang an ging: um eine ganz besondere Form von

Anziehung oder Spannung nämlich, die er im Interview mit Cabanne auf eine anschauliche

Metapher bringt, wenn auf sein Prinzip des »Erotismus« verweist, welches in seinen Augen

243 Vgl. ebd., S. 228: »Die Gussform ist die exemplarische Gestaltung des Früher, der Schnitt durch das Sediment des Gewesenen, von dem sich das Werden des Ready-made bis heute entfernt.« 244 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass Duchamp die Gestalt des weiblichen Gehenkten in einer Fotografie mit dem Titel Ombres portées (1918) durch die Projektion der Schlagschatten einer Reihe von Ready-mades rekonstruierte, vgl. ebd., S. 225–226. 245 Duchamp: Notes, S. 22 (Übers. d. Verf.), Originalwortlaut: »Réflexion de miroir – ou de verre – plan convexe – séparation inframince – mieux que cloison, parce que indique intervalle (pris dans un sens) et cloison (pris dans un autre sens) – séparation a les 2 sens mâle et femelle«. 246 Duchamp: »Der schöpferische Prozeß«, S. 165.

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nicht nur ein, sondern »das einzige Mittel« ist, »um Verborgenes ans Licht zu bringen, um

gewisse Dinge – nicht unbedingt erotischer Natur – die aufgrund der katholischen Religion

und der gesellschaftlichen Regeln verheimlicht werden, aufzudecken und sie allen zugänglich

zu machen«: »Ich glaube an die Bedeutung des ›Erotismus‹, weil es Erotik auf der ganzen

Welt gibt, und alle Menschen sie verstehen.«247 Mit Erotismus meint Duchamp also nicht

notwendig erotische Motive, die in seinem Werk, was die sinnliche Ebene anbelangt,

prinzipiell kaum auszumachen sind. In Duchamps Werk figuriert das Sinnliche nicht als

Selbstzweck, vielmehr zielt er mit seinem Erotismus auf die geistige Spannung und

intellektuelle Bewegung ab, die es hervorzurufen vermag und vor deren Hintergrund

Duchamp behauptet, das Kunstwerk bringe »etwas zum Entstehen – wie Elektrizität«.248

Damit erklärt sich auch die Funktion von Duchamps zweiter Identität, in deren Namen er

nach dem Motto »Eros, das ist das Leben« zunächst eine von fremder Hand gefertigte

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46).251 Dementsprechend bringt Duchamp die »Frage nach der Grenze zwischen Kunst und

Nicht-Kunst«, wie Vogt betont, in seiner Rolle als »als Rezipient von Waren« direkt mit der

»Frage der Schaufenstervitrinen« in Verbindung, um sich in seiner Rolle als »Produzent von

Werken« gleichzeitig in jene »anonymen Dekorateure im Inneren« (hinter den verhangenen

Fenstern) zu versetzen,252 deren Berufsbild im Hinblick auf Entstehung des Ready-made

bislang keine Berücksichtigung fand, so Vogt:

Dem neuen Berufsstand des Dekorateurs kommt die besondere Bedeutung zu, den Blick der Kunden auf die Waren gelenkt zu haben. Durch die Art und Weise der Ausstellung ermöglichten sie erst Duchamps Rezipientenstatus. Die Dekorateure gehören als Zwischenhändler zum kollektiven Verbund, der durch Handel und Handeln zur Erzeugung eines Kunstwerks führte. Es war ihre Entscheidung, die den Gegenständen den Weg um Kunstwerk bereitete, indem die Dekorateure sie als Ware auf besondere Weise erstmalig ausstellten. So hatten die Dekorateure eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen wie die späteren Kuratoren, die im institutionellen Ausstellungskontext von bildender Kunst Werke auswählen, anordnen und vermitteln.253

Wenn Duchamp die Betrachter zu den eigentlichen Machern von Bildern erklärt, spielt er mit

Schaufensterarbeiten wie Lazy Hardware (Abb. 36) auch ausdrücklich auf die Rolle des

Konsumenten an, der einer feilgebotenen Ware durch seine Aufmerksamkeit und Kaufkraft

erst ihren eigentlichen Marktwert verleiht. Eben diesem Marktwert aber suchte er mit seinem

Konzept des Ready-made nun entschieden zu unterwandern, wie er 1965 gegenüber Tomkins

bemerkt: »Wissen Sie, ich liebe es, all diese Dinge zu signieren – es entwertet sie nämlich.«254

Anstatt sich in die Rolle des passiven Bewunderers und Konsumenten zu fügen und sich

damit von den Prinzipien des Markts vereinnahmen zu lassen, nimmt Duchamp sozusagen

eine aktive Gegenposition ein, indem er käufliche Waren nicht als Wert an sich begreift,

sondern zum Anlass einer subversiven Interaktion nimmt. Gleichzeitig stellt er sich damit

auch gegen die Prinzipien des Kunstmarkts, denen er sich in seiner Funktion als Künstler

ausdrücklich nicht unterordnen will. Bereits 1912 hatte Duchamp beschlossen, sich einen

Brotberuf zu suchen, der ihn von den materiellen Verpflichtungen des gesellschaftlich

251 Indem er sich auf die von Linda Dalrymple Henderson angeregte Diskussion über einen möglichen Rekurs Duchamps auf Bergsons Konzept des tout fait beruft, verweist Vogt auf die Tatsache, »dass sich die Wendung »Ready-made« buchstäblich zunächst als grammatikalische Form des Passivs, gebildet mit dem Partizip Perfekt, auf bereits von anderen Personen in der Vergangenheit Gemachtes bezieht. »Ready-made« geht dabei, übrigens auch bei Bergson, zurück auf »ready-made clothes«*, mittels fußbetriebener Nähmaschinen gefertigte Bekleidung aus industriell gewebten Stoffen.« Tobias Vogt: »The Making of the Ready-made«, in: Texte zur Kunst, Nr. 85: Art History Revisited (März 2012), S. 38–57, S. 41/43; *zit.n. André Gervais: »Note sur le terme readymade (ou ready-made)«, in: Étant donné Marcel Duchamp, Nr. 1 (1999), S. 118–121, S. 120. 252 Vgl. Vogt: »The Making of the Ready-made«, S. 43. 253 Ebd., S. 45. 254 Calvin Tomkins: »Profiles: Not Seen and/or Less Seen – Marcel Duchamp«, in: The New Yorker (6. Februar 1965), S. 37–93, S. 68, zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 187.

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integrierten Künstlers befreien und ihm eine »soziale Entschuldigung« liefern sollte, um sich

»nicht mehr länger selber zur Schau stellen zu müssen« und im Gegensatz zur »manuellen

Knechtschaft des Künstlers« eine intellektuelle Haltung einnehmen zu können.255 So verglich

er seine Haltung gegenüber der Kunst auch mit derjenigen eines Atheisten gegenüber der

Religion256 und definierte sich selbst nicht als Künstler oder Anti-Künstler, sondern als »A-

Künstler« und »Atmer«, dessen zentrales Anliegen es im Zeichen der ironischen Gesetze des

Anarchismus sein und bleiben sollte, seinem Leben als Lebenskünstler in jedweder Form

auch immer Sinn zu verleihen: »Wieder einmal sage ich, der Mensch ist nicht vollkommen,

aber wenigstens habe ich versucht, möglichst frei zu bleiben, und glauben sie ja keine Minute

lang, das sei nicht eine schwierige Aufgabe gewesen.«257

2.3. Malerei im Dienste der Metaphysik258

Seit Duchamps Ankunft in New York im Sommer 1915, wo er seit dem Skandal der Armory

Show von 1913259 bereits auf einen gewissen Marktwert hätte zählen können, gewann sein

Entschluss, sich dem »dem Leben eines Künstlers im Streben nach Ruhm und Geld« zu

widersetzen, bezeichnenderweise immer schärfere Konturen.260 So war und blieb es über viele

Jahre hinweg (und jedenfalls während der drei darauffolgenden Jahre, die er in New York

verbringen sollte) klar, dass er es bevorzugen würde, sich seinen Lebensunterhalt mit

regelmäßigen Französischstunden zu verdienen, um in seiner Freizeit nach Belieben über

seine künstlerischen Ideen verfügen und seine Werke weiterhin an seine Freunde und

Sammler verschenken zu können.261 Nachdem er in den vorangegangenen Jahren eine Menge

von Notizen verfasst hatte, die mit dem Großen Glas nun endlich eine konkrete Übersetzung

255 Vgl. Caumont/Gough-Cooper: »Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy«, Einträge zum 4. November 1912 und 3. November 1913. Im Interview mit James Johnson Sweeney erinnert sich Duchamp 1955 in Bezug auf die Schokoladenreibe an den Bruch, der sich damals in seinem Werk ankündigte: »Ja, es war tatsächlich ein sehr wichtiger Augenblick in meinem Leben. Ich mußte damals große Entscheidungen treffen. Und eine große Entscheidung traf ich, indem ich zu mir sagte: ›Keine Malerei mehr, such’ einen Job!‹ Und ich suchte einen Job, um genügend Zeit zu haben, für mich selbst zu malen, und ich fand einen Job als Bibliothekar in Paris an der Bibliothèque Ste. Geneviève. Und es war ein wunderbarer Job, weil man so viele Stunden am Tag frei hatte.« Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 56. 256 Duchamp: Interviews und Statements, S. 29. 257 Zit.n. Duchamp: Marcel Duchamp Ready Made!, S. 51–52. 258 Kap. 2.3. entspricht einer überarbeiteten und erweiterten Fassung folgender Publikation: Sarah Kolb: Malerei im Dienste der Metaphysik. Marcel Duchamp und das Echo des Bergsonismus / Painting at the Service of Metaphysics. Marcel Duchamp and the Echo of Bergsonism, hg. v. Gerhard Graulich u. Kornelia Röder, Schwerin: Staatliches Museum Schwerin 2015. 259 Zum Skandal um Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2, vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 562–563; Tomkins: Marcel Duchamp, S. 140ff. sowie oben, Kap. 1.3. 260 Duchamp im Interview mit Tomkins, zit.n. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 183. 261 Vgl. ebd., S. 183ff.

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finden sollten, machte er sich im Herbst 1915 zunächst einmal daran, mit den Möglichkeiten

und Grenzen der Sprache zu experimentieren – was ihm umso reizvoller erscheinen musste,

als er des Englischen kaum mächtig und in Bezug auf die Konventionen dieser Sprache damit

gänzlich unbedarft war. So machte sich Duchamp an den Versuch, Worte und Sätze aus ihrem

gewohnten Kontext zu reißen und sie damit jeglicher Funktion zu berauben.262 Auf der Basis

seiner rudimentären Englischkenntnisse und unter Verzicht auf den bestimmten Artikel the,

den er jeweils durch einen Stern ersetzte, verfasste er im Oktober 1915 einen experimentellen

Text mit dem Titel The (Abb. 47), indem er handschriftlich Sätze formulierte, die zwar

grammatikalisch korrekt, aber ohne jede konkrete Bedeutung oder Aussage sein sollten. »Es

war nur eine Art Amüsement«, erinnert er sich ein halbes Jahrhundert später im Interview mit

Arturo Schwarz, um nicht zuletzt auf die erstaunliche Schwierigkeit zu verweisen, die sein

Vorhaben mit sich bringen sollte:

[...] es sollte ein Verb, ein Subjekt, eine Ergänzung, Adverbien geben, und alle völlig perfekt, als solche, als Worte, aber Bedeutung war in diesen Sätzen etwas, was ich vermeiden mußte [...]. Die Konstruktion war irgendwie sehr mühsam, denn sobald mir tatsächlich ein Verb einfiel, das ich mit dem Subjekt hätte verbinden können, sah ich sehr oft eine Bedeutung, und sofort wenn ich eine Bedeutung sah, strich ich das Verb wieder und veränderte es, bis sich der Text schließlich, nach recht vielen Stunden Arbeit, ohne jegliches Echo aus der physikalischen Welt las [...].263

Nur eine Art Amüsement, das mag schon sein. Aber ohne Bedeutung, ohne Echo aus der

physikalischen Welt? Ohne Duchamps Ambition in Frage stellen zu wollen, darf man wohl

bezweifeln, dass er diesem Anspruch mit seinem Schreibexperiment auch nur annähernd

gerecht werden konnte. Denn selbst wenn der Text als solcher vordergründig keinen Sinn

macht, wecken die einzelnen Worte und Wortkombinationen doch unweigerlich konkrete

Assoziationen und damit jenes »Echo«, das Duchamp angeblich so unbedingt vermeiden

wollte. Und damit nicht genug, scheinen die Worte, die auf einen ersten Blick jeglichen

Kontexts zu entbehren scheinen, bei genauerer Betrachtung doch durchaus mit Bedacht

gewählt zu sein und auf einen ganz konkreten Kontext zu verweisen. Bereits im ersten Satz

von The bringt Duchamp bezeichnenderweise nicht nur das Medium der Malerei (linen) und

seine gegenwärtige Experimentierfreude (your time is thirsty) ins Spiel, sondern auch das

262 Zu Duchamps »Projekt einer möglichst abstrakten Sprache«, vgl. Sandro Zanetti: »Techniken des Einfalls und der Niederschrift. Schreibkonzepte und Schreibpraktiken im Dadaismus und im Surrealismus«, in: Davide Giuriato, Sandro Zanetti, Martin Stingelin (Hg.): »SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München: Wilhelm Fink Verlag 2005, S. 205–234, S. 205–217. 263 Zit.n. ebd., S. 207. Es handelt sich um ein unveröffentlichtes Interview, das zwischen 1959 und 1968 stattfand, Originalwortlaut in Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 638/642.

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Schreiben selbst (ink), das er mit der Intelligenz von einer seiner Schwestern im Geiste

(Beatrice Wood) assoziiert, der es seine »Leichtfertigkeit« oder »Unbesonnenheit«

(giddiness) verdanke, wobei seine Anspielung (wood) noch dazu an eine weit verbreitete

Schreibmaschinenmarke (Underwood) gemahnt, und so weiter und so fort:

If you come into * linen, your time is thirsty because * ink saw some wood intelligent enough to get giddiness from a sister. However, even it should be smilable to shut * hair whose * water writes always in * plural, they have avoided * frequency, meaning mother in law; * powder will take a chance; and * road could try. But after somebody brought any multiplication as soon as * stamp was out, a great many cords refused to go through. Around * wire's people, who will be able to sweeten * rug, that is to say, why must every patents look for a wife? Pushing four dangers near * listening-place, * vacation had not dug absolutely nor this likeness has eaten.264

Mit The thematisierte Duchamp nicht nur jene radikale Abwendung von der herkömmlichen

Malerei, für die er sich 1912 entschieden hatte, sondern auch seinen neuen Zugang zur Kunst,

der von einer Integration unterschiedlichster Medien und Techniken gekennzeichnet war und

den er in den darauffolgenden Jahrzehnten nach dem Prinzip der »Präzisionsmalerei, und

Indifferenzschönheit«265 weiterentwickeln sollte. Das Methodenvokabular, das Duchamp mit

dieser Formel aus der Grünen Schachtel umreißt und das von Zufallsexperimenten über

Notizen und Ready-mades bis hin zu diversen Schachteleditionen und einer Staubzucht reicht,

wird in The nicht nur mit Begriffen wie »Staub« und »Zufall« herbeizitiert (* powder will

take a chance), sondern mit einer ganzen Reihe von Begriffen und nicht zuletzt mit dem

Prinzip der »Vervielfältigung«, das Duchamp namentlich mit dem Fehlen einer »Briefmarke«

in Verbindung bringt (somebody brought any multiplication as soon as * stamp was out).

Mit der Briefmarke spielt Duchamp im Übrigen auf einen weiteren experimentellen Text an,

den er im Herbst 1915 auf Französisch verfasste und den er am 6. Februar 1916 mit einer

Schreibmaschine der Marke Underwood266 seitenfüllend auf vier der damals handelsüblichen

vorfrankierten Postkarten267 übertrug, indem er Worte und Sätze willkürlich trennte oder

264 Marcel Duchamp: The (1915), vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 638 (Kat.-Nr. 334). Im Oktober 1916 veröffentlichte Duchamp den Text in The Rogue unter dem bezeichnenden Titel »THE, Eye Test, Not a ›Nude Descending a Staircase‹«, vgl. ebd. 265 Duchamp: Duchamp du signe, S. 46. 266 Die Schreibmaschine, die Duchamp verwendete, gehörte Walter Arensberg, vgl. Molly Nesbit, Naomi Sawelson-Gorse: »Concept of Nothing: New Notes by Marcel Duchamp and Walter Arensberg«, in: Martha Buskirk, Mignon Nixon (Hg.): The Duchamp Effect. Essays, Interviews, Round Table, Cambridge, Mass.: MIT Press 1996, S. 131–175, S. 155. 267 So genannte pre-stamped postcards, auch penny postcards genannt, waren in den USA seit 1873 handelsüblich. Die grün bedruckten 1-Cent-Karten von 1914–1916 zeigten neben der Aufschrift »THIS SIDE OF CARD IS FOR ADDRESS« eine Marke mit dem Porträt des amerikanischen Gründervaters und Präsidenten Thomas Jefferson, der nicht zuletzt als Autor der Unabhängigkeitserklärung von 1776 gilt. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Postcard, http://www.vintage-ephemera.com/cmstore/images/product_images/389099482a.jpg (aufgerufen am 28.12.2015).

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plötzlich abreißen ließ. Nachdem er die Karten zusammengeklebt hatte, versah er sein

Schreibexperiment auf der Rückseite in schwarzer Tinte mit dem Titel Rendez vous du

dimanche 6 février 1916 à 1h 3/4 après midi (Rendezvous vom Sonntag den 6. Februar 1916

um 1h 3/4 Nachmittag),268 um es schließlich – ebenfalls auf der Rückseite und in schwarzer

Tinte – an seine Mäzene »Mr. and Mrs. Walter C. Arensberg | 33 W. 67th St. | New York

City« zu adressieren, wobei er darauf verzichtete, seine Karten mit den vorgedruckten Marken

mit einem Poststempel zu versehen (Abb. 48). Die Tatsache, dass Duchamp mit dem Titel

seines Präsents Auskunft über den exakten Zeitpunkt von dessen Anfertigung gibt, der

angesichts des tatsächlichen Entstehungszeitraums natürlich nur bedingt aussagekräftig ist,

öffnet dabei eine interessante Perspektive auf den konzeptuellen Rahmen seines Experiments,

das er auf ersten der vier Karten mit folgenden Zeilen eröffnet (Abb. 49):

-shaus. Es wird einem, auf einmal, an weniger als vor fünf Wahlen mangeln, und auch an irgendeiner Verbindung mit vier kleinen Tieren; man muss dieses Hochgefühl besetzen, um jede Verantwortung dafür abzulehnen. Nach zwölf Fotos war unser Zögern vor zwanzig Fasern verständlich; selbst die schlechteste Hängung erfordert glückbringende Ecken, ohne den Linnen Tabuisierung zu berechnen: Wie nicht seinen geringsten Optiker heiraten, anstatt deren Zündschnüre zu unterstützen? Nein, also wirklich, hinter deinem Spazierstock verstecken sich Marmorierungen, dann

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Skulpturen« so äußerst treffend erschien, schließlich gerade im Sinne seines Konzepts des

Ready-made weiterzuentwickeln.271

Nur elf Tage nach Fertigstellung seines literarischen Rendezvous, am 17. Februar 1916 um 11

Uhr vormittags, kaufte Duchamp beispielsweise einen Hundekamm, um ihn nicht nur mit

seiner Signatur und dem exakten Datum und Zeitpunkt, sondern auch mit einer rätselhaften

Inschrift zu versehen. »3 ou 4 gouttes de hauteur n’ont rien à faire avec la sauvagerie« (3 oder

4 Tropfen Höhe haben nichts zu tun mit der Wildheit) steht auf dem Objekt mit dem Titel

Kamm (Abb. 50),272 das Duchamp im Rendezvous ausdrücklich erwähnt (peigne) und mit

dem er nicht nur die »wilden Tiere« (bêtes) herbeizitiert, sondern auch das »Hochgefühl«, das

er im Rahmen seines Rendezvous für sich in Anspruch nahm, um gleichzeitig »jede

Verantwortung dafür abzulehnen« (il faut occuper ce délice afin d’en décliner toute

responsabilité) und sozusagen ein Verbot des »Dreifachen« (défense donc au triple) zu

erwirken. Noch dazu ist der Kamm das erste von genau fünf Ready-mades, die er 1916 in

Anlehnung an die im Rendezvous erwähnten »fünf Wahlen« (cinq élections) auswählte,

signierte und teilweise auch datierte, manipulierte oder mit scheinbar sinnlosen Wortgebilden

versah, um sie ihrem gewohnten Kontext zu entreißen.273 Während er die Inschrift »wie eine

andere Farbe« einsetzte, die das Ready-made »ein kleinwenig abhob von diesen anderen

Ready-mades, seinen Kumpeln«, erläutert Duchamp 1960 im Interview mit Charbonnier,

habe es also »auch amüsante Dinge gegeben mit den Ready-mades«, wie etwa »über eine

bestimmte Stunde, einen bestimmten Tag zu entscheiden, um ein Ready-made auszuwählen«,

wie er es mit einem »kleinen Kamm aus Eisen für Hunde« getan habe: »Dann ist das ein

Rendezvous mit dem Schicksal, wenn Sie so wollen. Und man notiert das Datum und die

genaue Stunde, zu der das Ready-made ausgewählt wurde.«274

Wie Duchamp 1961 im Rahmen einer Rede im New Yorker Museum of Modern Art betonte,

war das Moment der »Wahl« (choice) für seine Ready-mades also von zentraler Bedeutung,

wobei er sein Auswahlverfahren oder »Rendezvous mit dem Schicksal« auf eine »Reaktion

visueller Indifferenz« zurückführte, die keineswegs jener politischen Geste (élection)

271 Den Zusammenhang zwischen seinen Pariser Objekten und der Idee der »sculpture toute faite« bzw. des »ready-made« stellt Duchamp erstmals in einem Brief her, den er am 15. Januar 1916 an seine Schwester Suzanne in Paris adressiert, vgl. oben, Kap. 2.2.2. 272 Vgl. Kornelia von Berswordt-Wallrabe (Hg.): Marcel Duchamp. Die Schweriner Sammlung, Schwerin: Staatliches Museum Schwerin 2003, S. 65ff. (Kat.-Nr. 12); Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 643 (Kat.-Nr. 339). 273 Es handelt sich um die fünf 1916 entstandenen Ready-mades Peigne (Kat.-Nr. 339), À bruit secret (Kat.-Nr. 340), The Battle Scene (Kat.-Nr. 341), Pliant de Voyage (Kat.-Nr. 342) und Apolinère Enameled (Kat.-Nr. 344), vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 643ff. 274 Zit.n. Charbonnier: Entretiens avec Marcel Duchamp, S. 68 (Übers. d. Verf.).

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widersprechen sollte, die er im Rendezvous erwähnt – zielte er mit der Inschrift doch sehr

wohl darauf ab, »den Geist des Betrachters in andere, mehr verbale Regionen zu lenken.«275

So legt auch eines von Duchamps ersten Ready-mades eine politische Assoziation und damit

ein konkretes Echo aus der physikalischen Welt nahe. Mit der titelgebenden Inschrift In

Advance of the Broken Arm, die er im November 1915 neben dem Vermerk »(from) Marcel

Duchamp 1915« auf eine Schneeschaufel notierte, die er gemeinsam mit Jean Crotti in einer

Eisenwarenhandlung erstanden hatte und die er kurz darauf an der Decke ihres gemeinsamen

Ateliers aufhängen sollte (Abb. 51),276 formulierte er nicht nur den bedeutungslosen Satz »In

Vorwegnahme des gebrochenen Arms«, sondern auch seine dezidierte Aversion gegen den

Krieg, die ihn »In Vorwegnahme der gebrochenen Waffe« gerade erst veranlasst hatte, sein

Glück auf dem Neuen Kontinent zu versuchen. Kurz vor dem Erwerb der Schaufel sprach er

sich in einem Interview mit der New York Tribune dementsprechend auch für eine alternative

Form des Widerstands aus, indem er bemerkte: »Personally I must say I admire the attitude of

combatting invasion with folded arms«, und damit nicht nur zu verstehen gab, er »bewundere

die Haltung, die Invasion mit verschränkten Armen zu bekämpfen«, sondern mitunter eben

auch auf jene Strategie anspielte, die er selbst verfolgte, nämlich der Absurdität des Krieges

»mit verschränkten Waffen« zu begegnen.277

2.3.1. »Plastische Dauer«: Das Bild als Idee

Im Sinne der sprachlichen Raffinesse und Doppelbödigkeit, für die Duchamp von Haus aus

eine Leidenschaft hegte und die er mit seinen Schreibexperimenten auf die Spitze trieb,

erschließt sich also eine ganze Reihe von Bezügen zwischen seinem literarischen Rendezvous

und seinen Ready-mades. Jenseits der Tatsache, dass Duchamp dem Zeitpunkt der Wahl und

dem kontingenten Charakter der »Hängung« (accrochage) zentrale Bedeutung beimisst,

reichen auch die inhaltlichen Querverbindungen weit über den Kamm für die Tiere und das

besagte Hochgefühl hinaus. Wenn Duchamp im Rendezvous »zwölf Fotos« (douze photos)

275 In seiner Rede »Apropos of ›Ready-mades‹« bemerkte Duchamp am 19. Oktober 1961: »A point which I want very much to establish is that the choice of these ›readymades‹ was never dictated by esthetic delectation. | This choice was based on a reaction of visual indifference with at the same time a total absence of good or bad taste ... in fact a complete anesthesia. | One important characteristic was the short sentence which I occasionally inscribed on the ›readymade‹. | That sentence instead of describing the object like a title was meant to carry the mind of the spectator towards other regions more verbal.« Marcel Duchamp: »Apropos of ›Ready-mades‹«, in: Art and Artists 1, Nr. 4 (Juli 1966), S. 47. 276 Vgl. Berswordt-Wallrabe: Die Schweriner Sammlung, S. 60ff. (Kat.-Nr. 11); Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 636–637 (Kat.-Nr. 332); Tomkins: Marcel Duchamp, S. 186. 277 Zit.n. [Anonym]: »French Artists Spur on an American Art«, in: New York Tribune (24. Oktober 1915), Rubrik IV, S. 2–3, S. 2; digitalisiert: http://chroniclingamerica.loc.gov/lccn/sn83030214/1915-10-24/ed-1/seq-30/ (aufgerufen am 28.12.2015).

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und das resultierende »Zögern« (hésitation) zur Sprache bringt, hat er wohl nicht zuletzt auch

sein Interesse an der Chronofotografie im Hinterkopf, die ihn mit einer gewissen Verzögerung

veranlasst hatte, der traditionellen Malerei zugunsten anderer Ausdrucksmittel den Rücken zu

kehren. Daher erklärt sich auch, dass er seinen Akt, eine Treppe herabsteigend von 1912, der

ihn in den USA mit einem Schlag zur Berühmtheit gemacht hatte,278 im Herbst 1915 auf einer

fotografischen Reproduktion von Hand kolorierte, um seine Signatur anschließend mit dem

Zusatz »12« zu versehen.279

Die Liste der mehr oder weniger subtilen Anspielungen in Richtung Malerei mit anderen

Mitteln könnte hier fortgesetzt werden: Anstelle des Flaschentrockners (porte-bouteilles) ist

im Rendezvous von »glückbringenden Ecken« (coins porte-bonheur) die Rede, während die

»Flaschen« (bouteilles) später im Text Erwähnung finden, ebenso wie ein »Korkenzieher«

(tire-bouchon), dessen Schlagschatten Duchamp 1918 im Rahmen seines Gemäldes Tu m’

neben demjenigen einer Reihe weiterer Ready-mades wieder aufgreifen sollte, und so weiter

und so fort. Aber auch auf produktionsästhetischer Ebene liegt Duchamps Bezugnahme auf

das Prinzip des Ready-made auf der Hand. So bediente er sich nicht nur der handelsüblichen

vorfrankierten Karten (pre-stamped postcards), sondern auch der vorgefertigten Lettern

(ready-made types) seiner Underwood, um seinem handschriftlichen Experiment den letzten

Schliff zu verleihen und kurz darauf, im Zuge einer der fünf angekündigten Wahlen von

1916, schließlich auch noch die Schutzhülle seiner Schreibmaschine in den Status eines

Reisefaltobjekts (Abb. 52) zu erheben.280 Und nicht zuletzt führte Duchamp mit der Passage

»man muss dieses Hochgefühl besetzen, um jede Verantwortung dafür abzulehnen« auch das

ausgesprochene Vergnügen ins Treffen, das es ihm bereitete, im Hinblick auf die Auswahl

seiner Objekte jegliche Form von persönlichem Interesse oder Geschmack zu unterwandern,

indem er allein den Zeitpunkt der Wahl für deren Erscheinungsform verantwortlich machte.

Dies wird unter anderem anhand einer Notiz aus der Grünen Schachtel deutlich, die kurz nach

Duchamps Ankunft in New York entstanden sein dürfte, da sie die Idee von Rendezvous

vorwegnimmt und gleichzeitig erstmals Duchamps Rückgriff auf den englischen Ausdruck

ready-made dokumentiert:

Die »Ready-mades« präzisieren. | indem man für einen Moment der nahen Zukunft (diesen Tag, dieses Datum, diese Minute) plant, »ein Ready-made zu notieren.« — Das

278 Zum Skandal um Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2, vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 562–563; Tomkins: Marcel Duchamp, S. 140ff. sowie oben, Kap. 1.3. 279 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 640 (Kat.-Nr. 335). Duchamps Inschrift lautet: »NU DESCENDANT UN ESCALIER | MARCEL DUCHAMP 12«. 280 Vgl. Berswordt-Wallrabe: Die Schweriner Sammlung, S. 68–69 (Kat.-Nr. 13); Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 645 (Kat.-Nr. 342).

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Ready-made kann xxxxxxxxx daraufhin (mit allen Verzögerungen) gesucht werden. — | Das Wichtige ist dann also dieser diese Taktung, diese Momentaufnahme, wie eine Rede, die bei irgendeiner Gelegenheit gehalten wird aber zu der und der Stunde. Es ist eine Art Rendezvous. | – Dieses Datum, Stunde, Minute, natürlich als Informationen auf dem Ready-made eintragen. | auch die exemplarische Seite des Ready-made281

Indem Duchamp das Prinzip des Ready-made mit eventuellen Verzögerungen (avec tous

délais), einer zeitlichen Taktung (horlogisme), einer fotografischen Momentaufnahme

(instantané), einer situationsbezogenen Rede (un discours prononcé à l’occasion de

n’importe quoi) und »einer Art Rendezvous« (une sorte de rendezvous) in Verbindung bringt,

definiert er den konstitutiven Akt der Wahl in Analogie zu einem Stelldichein mit offenem

Ausgang. Wie mit seinen Schreibexperimenten zielt er mit seinen Ready-mades sozusagen

darauf ab, seine eigenen Intentionen hintanzustellen und betreffend die Erscheinungsform

seiner vorgefertigten Skulpturen allein auf die Gunst der Stunde zu setzen, um fertig

vorgefundenen Ideen, Begriffen und Gegenständen möglichst unvoreingenommen begegnen

und sie dadurch aus ihrem praktischen Zusammenhang befreien zu können.

Wenn Duchamp mit seinen Ready-mades dementsprechend den Plan verfolgte, etwas zu

machen, was selbst seine eigenen Erwartungen übertreffen sollte und von dem er sich folglich

nur überraschen lassen konnte, so handelte es sich dabei jedoch um ein so paradoxes wie

unrealistisches Vorhaben – liegt es doch in der Natur der Sache, dass ihm eine bestimmte

Intention und damit eine bestimmte Vorgeschichte zugrunde lag. Diese klingt nicht zuletzt in

Begriffen wie »Taktung« und »Momentaufnahme« an, die Duchamp schon länger im Visier

hatte, wie Molderings zusammenfasst, indem er betont, Duchamp habe zwischen »1911 bis

1913 ungefähr ein Dutzend Bilder gemalt, auf denen der Konflikt zwischen den statischen

Bildmitteln und dem Wunsch, den Bildgegenstand in Bewegung darzustellen, bis zum

äußersten Widerspruch getrieben ist«:

Tatsächlich finden sich in Duchamps publizierten beziehungsweise hinterlassenen Schriften mehrere Notizen, die von einer neuartigen, nämlich skulpturalen Nutzung kinematografischer Effekte handeln. So heißt es auf einem Zettel in der Weißen Schachtel: »ein Bild oder eine Skulptur machen wie man eine Kino-Film-Spule aufwickelt« oder auf einem anderen: »versuchen über die plastische Dauer zu diskutieren« (chercher à discuter sur la durée plastique), eine kryptische Bemerkung, die Duchamp gegenüber dem Herausgeber der Weißen Schachtel, Cleve Gray, mit den

281 Duchamp: Duchamp du signe, S. 49 (Übers. d. Verf.).

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Worten erläuterte: »Ich meine damit Zeit im Raum«, also die Übersetzung von Zeitempfindung in Raumerfahrung.282

Damit korrespondiert das Prinzip des Ready-made aufs Engste mit jenem Konzept der

»plastischen Dauer« (durée plastique) oder der »Zeit im Raum« (temps en espace),283 das

Duchamp ausgehend von seiner Kritik am zeitgenössischen Avantgardismus entwickelt hatte

und das damit nicht zuletzt auf jenen fundamental neuartigen Begriff der durée zurückgeht,

mit dem Bergson im beginnenden 20. Jahrhundert ein Modephänomen ausgelöst und vor

allem auch die zeitgenössische Kunstwelt maßgeblich beeinflusst hatte.284

Eines der Ready-mades, das zu den »fünf Wahlen« aus dem Jahr 1916 gezählt werden darf,

enthält sogar einen konkreten Hinweis darauf, inwiefern Duchamps Konzept der »plastischen

Dauer« mit dem Phänomen des Bergsonismus korrespondiert. Aus einem Werbeschild des

Industriefarbenherstellers Sapolin Enamel machte Duchamp zwischen 1916 und 1917, indem

er einzelne Buchstaben und Details übermalte und andere hinzufügte, das »rektifizierte

Ready-made« Apolinère Enameled (Abb. 53). Damit karikierte er seinen Freund Guillaume,

den Pariser Literaten und Kunstkritiker, mit dem er einige Jahre zuvor Bekanntschaft gemacht

hatte, als »emaillierten Apollinaire«, was ihm umso treffender erscheinen musste, als der

französische Ausdruck für Emaillieren unter anderem auch im Zusammenhang mit dem

Ausschmücken eines Textes (émailler un texte) gebräuchlich ist. Im Gegensatz zu Duchamp

hatte sich Apollinaire übrigens mit richtiggehender Euphorie für den Krieg entschieden, ehe

seine Begeisterung ein jähes Ende fand, als er sich im März 1916 aufgrund einer schweren

Kopfverletzung von der Front zurückziehen musste. Nun war Apollinaire in Duchamps

Augen also vielleicht ein ›Lackaffe‹, aber darüber hinaus war er auch immer noch derjenige,

der als einer der ersten sein künstlerisches Potential erkannt285 und ihn in Anerkennung seiner

282 Molderings: »Fahrrad-Rad und Flaschentrockner«, S. 121–122 (Abbildungsverweise und Anmerkungen im Text wurden entfernt). 283 Duchamp: Duchamp du signe, S. 109. 284 Zu Bergsons Begriff der durée, vgl. Henri Bergson: Mémoire et vie. Textes choisis, Textauswahl von Gilles Deleuze, Paris: Presses Universitaires de France 1957; dt.: Philosophie der Dauer, aus dem Franz. v. Margarethe Drewsen, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2013. Zum Bergsonismus der historischen Avantgarden, vgl. oben, Kap. 1.2. 285 In seiner Essaysammlung Les Peintres cubistes. Méditations esthétiques, die er im März 1913 beim Pariser Verlag Figuière veröffentlichte, widmet Apollinaire Duchamp ein eigenes Kapitel, das nicht nur durch die äußert konzise Beschreibung von dessen Werk, sondern auch infolge seiner gleichsam prophetischen Schlussfolgerung beeindruckt: »Um alle Wahrnehmungen, die zu Begriffen werden könnten, von seiner Kunst fernzuhalten, schreibt Duchamp auf sein Bild den Titel, den er ihm verleiht. So verschwindet die Literatur, ohne die so wenige Maler ausgekommen sind, aus seinem Werk, nicht aber die Dichtung. Er verwendet sodann Formen und Farben, nicht um den äußeren Anschein wiederzugeben, sondern um in die eigentliche Natur dieser Formen und dieser formgewordenen Farben einzudringen, welche die Maler so sehr in Verzweiflung bringen, daß sie sich ohne sie behelfen möchten, und ohne die sie sich jedesmal, wenn sich hierfür eine Möglichkeit ergibt, zu behelfen suchen. | Marcel Duchamp stellt der konkreten Komposition seiner Bilder einen äußerst intellektuellen Titel

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künstlerischen Bezugnahme auf das Medium der Sprache auf den reichen Schatz der

zeitgenössischen experimentellen Literatur aufmerksam gemacht hatte. So hatte Duchamp

Apollinaire unter anderem auch seine Begeisterung für Raymond Roussel zu verdanken.

Insbesondere Roussels skandalumwittertes Theaterstück Impressions d’Afrique, das er im

Frühjahr 1912 im Rahmen einer Aufführung im Pariser Théâtre Antoine in Begleitung von

Apollinaire und Gabrielle und Francis Picabia gesehen hatte, sollte bleibenden Eindruck bei

Duchamp hinterlassen, wie er 1946 im Interview mit James Johnson Sweeney erklärt:

Der Grund, weshalb ich ihn bewunderte, war, daß er etwas produzierte, das ich noch nie gesehen hatte. Das ist das einzige, was meinem innersten Wesen Bewunderung entlockt – etwas völlig Selbständiges, das nichts mit großen Namen oder mit Einflüssen zu tun hat. Apollinaire zeigte mir als erster Roussels Werk. Es war Poesie. Roussel glaubte, er wäre ein Philologe, ein Philosoph und ein Metaphysiker. Aber er bleibt ein großer Dichter. | [...] Ich sah plötzlich, daß ich Roussel als einen Einfluß benutzen konnte. Ich spürte, daß es für einen Maler viel besser war, von einem Schriftsteller beeinflußt zu werden, als von einem anderen Maler. [...] | Dies ist die Richtung, welche die Kunst einschlagen sollte: mehr hin zu einem intellektuellen Ausdruck als zu einem tierischen Ausdruck. Ich bin angewidert von der Bezeichnung bête comme un peintre – dumm wie ein Maler.286

Vor dem Hintergrund dieser Aussage ist naheliegend, dass Duchamp im Zusammenhang

seines Rendezvous ganz bewusst auf die Redewendung bête comme un peintre anspielt, hätte

er für die Tiere, die er gleich zu Beginn seiner Textcollage erwähnt, anstelle des Ausdrucks

bêtes doch auch den neutraleren Begriff animaux verwenden können, während der Ausdruck

bêtes eben nicht nur ›wilde Tiere‹, sondern umgangssprachlich auch ›Dummköpfe‹ meint und

im Zusammenhang der Wendung noch dazu gerne mit Malern in Verbindung gebracht wird.

Der vermeintlich bedeutungslose Satz »On manquera, à la fois, de moins qu’avant cinq

élections et aussi quelque accointance avec quatre petites bêtes«, mit dem Duchamp nahelegt,

nach fünf Wahlen werde es ihm nicht nur an weniger mangeln, sondern auch »an irgendeiner

Verbindung mit vier kleinen Dummköpfen«, dieser Satz ist damit als Seitenhieb auf die

Malerei im Allgemeinen und konkret auf einige von Duchamps früheren Kollegen aus dem

Kreis der Puteaux-Kubisten zu verstehen, durch die er unter anderem auch mit Apollinaire –

gegenüber. In dieser Richtung geht er so weit wie möglich, und fürchtet sich nicht vor dem Vorwurf, er treibe eine esoterische oder gar dunkle Malerei. [...] Solch eine Kunst kann Werke von unvorstellbarer Kraft hervorbringen. Möglicherweise spielt sie sogar eine soziale Rolle. [...] Vielleicht wird es einem derart von rein ästhetischen Belangen freien, derart um Energie bemühten Künstler wie Marcel Duchamp vorbehalten bleiben, Kunst und Volk wieder miteinander zu versöhnen.« Guillaume Apollinaire: Die Maler des Kubismus, aus dem Franz. v. Oswald von Nostitz, mit einem Nachw. v. Herbert Molderings, Frankfurt am Main: Luchterhand Verlag 1989, S. 70–73. 286 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 38.

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als prominentem Fürsprecher der Gruppe – Bekanntschaft gemacht hatte und deren

dogmatische Ansichten ihm 1912 ein für alle Mal zu bunt geworden waren.287

Was Duchamp am Kubismus im wahrsten Sinne des Wortes zu bunt geworden war, war

damit nicht nur jenes »retinale« Prinzip, gegen dessen »Absurdität« die »Abstraktionisten«

zwar ihre Stimme erhoben, indem sie es mit ihren Pinseln und Meißeln aber genau genommen

weiter bedienten.288 Zu bunt geworden war ihm vor allem auch der dogmatische Anspruch,

mit dem Gleizes und Metzinger ihre Auffassung des Kubismus in Anlehnung an Bergsons

Philosophie theoretisch zu untermauern suchten und dem sich die anderen Mitglieder der

Gruppe mehr oder weniger ohne Vorbehalte anschlossen. Im Vergleich dazu fand Duchamp

den Zugang eines Picasso um vieles produktiver, wie er im September 1915 im Interview mit

Arts and Decoration zu verstehen gibt, wenn er bemerkt, dieser sei »streng genommen kein

Kubist«, sondern »heute ein Kubist, morgen etwas anderes«, um zum vernichtenden Schluss

zu kommen: »Die einzigen wahren Kubisten von heute sind Gleizes und Metzinger. Aber

dieses Wort Kubismus bedeutet überhaupt nichts [...]. Jetzt haben wir eine Menge kleiner

Kubisten – Affen, die der Bewegung des Anführers folgen, ohne deren Bedeutung zu

begreifen.«289

Im Gegensatz zu den Kubisten hatte Duchamp die Idee einer bildnerischen Darstellung der

Dauer von Angang an als Ding der Unmöglichkeit erachtet. So konzipierte er seinen Akt, eine

Treppe herabsteigend von 1912 eben nicht als Darstellung eines wirklichen, bewegten

Körpers, sondern als »Abstraktion der Bewegung«.290 Im Sinne dieser Abstraktion bezog er

sich also nicht auf jenes Prinzip einer simultanen Darstellung unterschiedlicher räumlicher

Perspektiven, mit dem die Puteaux-Kubisten ein Moment der Dauer ins statische Medium der

Malerei einführen wollten. Vielmehr löste er sein ikonoklastisches Motiv in Anlehnung an die

chronofotografische Methode der Mehrfachbelichtung nicht nur formal in eine Serie von

Momentaufnahmen auf, sondern zielte vor allem auch im übertragenen Sinn auf eine

Integration unterschiedlicher Blickwinkel ab. »Als die Vision des Aktes in mir aufblitzte,

wußte ich, dass er die versklavenden Ketten des Naturalismus für immer zerschlagen würde«, 287 Vgl. oben, Kap. 1.2.2. u. Kap. 1.3.1. Apollinaire hatte sich seit 1911 als Fürsprecher der Puteaux-Kubisten hervorgetan, vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 61ff. 288 Vgl. ebd., S. 73. Um 1950 bemerkte Duchamp im Interview mit Dorothy Norman: »Es war um 1910–11, als die ›Abstraktion‹ als Etikett zu erscheinen begann. [...] Heute sind die Abstraktionisten nur noch retinal. Sie repetieren, und das ist nicht gut. Immer dasselbe zu tun ist ähnlich, wie eine alte Jungfer zu sein. Eine Frau muß sein wie eine Rose – ständige Frische in dem, was sie tut.« Zit.n. ebd., S. 41. 289 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 10. Das Prinzip der Abstraktion, das Picasso und Braque mit ihren Papiers collés 1912 erstmals auf die Spitze getrieben hatten (vgl. oben, Kap. 2, S. XX), sollte für Duchamps Werk zentralen Stellenwert bekommen, insofern die Integration von Alltagsgegenständen eine der wesentlichen Voraussetzungen für sein Großes Glas und seine Ready-mades darstellt. 290 Duchamp: Interviews und Statements, S. 18.

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erinnert sich Duchamp 1936,291 um 1946 hinzuzufügen: »Ich war an Ideen interessiert, nicht

bloß an visuellen Produkten. Ich wollte die Malerei einmal mehr in den Dienst des Geistes

stellen.«292 So zeigte er sich von der Ablehnung seitens der Kubisten keineswegs entmutigt,

sondern vielmehr in seiner Vision bestärkt, dass es in der Malerei weniger um eine

Vervielfältigung von Oberflächeneffekten im Sinne der sprichwörtlichen ›Dummheit der

Maler‹ gehen sollte, als vielmehr um jenen Ausdruck intellektueller Raffinesse, der im

französischen Begriff esprit mit dem Bedeutungsspektrum »Intellekt, Geist, Witz« so schön

mitschwingt.293

Indem Duchamp den rigiden Kunstbegriff der Puteaux-Kubisten aufs Härteste verurteilte und

ihnen zwischen den Zeilen vielleicht sogar unterstellte, sie seien »Affen«, wenn sie Bergsons

Philosophie unter dem Vorzeichen des Bergsonismus blindlings folgten, »ohne deren

Bedeutung zu begreifen«, war er bezeichnenderweise ein und derselben Meinung wie

Bergson, der in Bezug auf den Kubismus zwar viel grundlegendere Vorbehalte hegte, infolge

derer er einige Jahre zuvor allerdings zu einem erstaunlich ähnlichen Urteil gekommen war.

Der immer häufiger zu beobachtenden Tendenz, »dass die Theorie der Verwirklichung

vorangeht«, könne er bestenfalls in Bezug auf die Wissenschaft etwas abgewinnen, hatte

Bergson im November 1911 klargestellt, um hinzuzufügen »Für die Künste würde ich das

Genie bevorzugen, und Sie? ... Aber wir haben die Natürlichkeit verloren, man muss sie wohl

durch etwas ersetzen ...« und sein Plädoyer noch im selben Atemzug zu illustrieren, indem er

auf eine fotografische Reproduktion von Rembrandts Lesendem Philosophen zeigte, die hinter

ihm an der Wand hing: »Rembrandt wusste die Bewegung zu fixieren, die Bewegung. Welch

Wunder!«294

Man darf davon ausgehen, dass die Puteaux-Kubisten diesen Kommentar wohl oder übel zur

Kenntnis nehmen mussten, auch wenn er sie nicht davon abhalten sollte, Bergson kurz darauf

um ein Vorwort zu einem ihrer Kataloge zu bitten.295 So scheint es nicht weit hergeholt, dass

291 Duchamp im Interview mit Daniel MacMorris, zit.n. ebd., S. 28. 292 Duchamp im Interview mit James Johnson Sweeney, zit.n. ebd., S. 37. 293 »Als ich sagte, daß ich die Malerei in den Dienst des Geistes zu stellen wünschte«, bemerkt Duchamp 1958 im Interview mit Laurence S. Gold, »da verwendete ich das Wort esprit in all seinen Bedeutungen: Intellekt, Geist, Witz.« Zit.n. ebd., S. 66. Wie Tomkins hervorhebt, hat der französische Begriff esprit eine viel größere Bedeutungsbreite als der englische Begriff mind: »Es umfaßt neben Intellekt auch Geist, Seele, Lebensprinzip, Verständnis, Witz, Phantasie, Humor, Naturell und Charakter, und das alles spielte in Duchamps Denken eine Rolle.« Tomkins: Marcel Duchamp, S. 429. 294 Bergson zit.n. Verne: »Un jour de pluie chez M. Bergson«, S. 1 (Übers. d. Verf.). Vgl. oben, Kap. 1.2.2. 295 Louis Vauxcelles war noch im Juni 1912 davon überzeugt, dass Bergson sich für ein Vorwort zum Katalog der für Oktober 1912 geplanten Ausstellung La Section d’Or in der Pariser Galerie La Boétie gewinnen lassen würde, vgl. Louis Vauxcelles: »La section d’or«, in: Gil Blas (22. Juni 1912), S. 3. Nachdem Bergson sich nicht für diese Idee erwärmen konnte, sollte er 1913 im Interview mit Villanova sogar noch zu drastischeren Worten

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Duchamp unmittelbar auf Bergsons Kommentar reagierte, indem er im Dezember 1911 und

Januar 1912 mehrere Gemälde zum Thema der Bewegung vollendete.296 Augenscheinlich

wird dies vor allem am Beispiel des Akts, der den entscheidenden Wendepunkt in Duchamps

künstlerischer Entwicklung markiert (Abb. 10). Angesichts frappierender formaler Parallelen

(Farbgebung, Schwung der Treppe, Treppenknauf auf quadratischem Steher) drängt sich

schließlich die Annahme auf, dass Duchamp auf die Treppe von Rembrandts im Louvre

befindlichem Gemälde Philosoph bei der Meditation (Abb. 54)297 Bezug nahm, um seinen

Gemälde in Anlehnung an die wissenschaftliche Methode der Chronofotografie ausdrücklich

als nackte »Abstraktion der Bewegung«298 zu konzipieren und die Gedankenbewegung des

Philosophen sozusagen als puren Idealismus abzutun. Jedenfalls gab Duchamp jenem Genius

oder schöpferischen Geist (génie), den Bergson im Sinne eines Plädoyers für die Natürlichkeit

(ingénuité) herbeizitiert, mit seinem Akt ein für alle Mal den Vorzug gegenüber dem

impliziten Naturalismus dogmatischer Theorien und Manifeste, um in einer seiner frühen

New Yorker Notizen zur Idee eines »reziproken Readymade« schließlich keinen anderen als

jenen Maler vom Sockel zu stoßen, der es Bergson zufolge verstanden hatte, »die Bewegung

zu fixieren«: »Se servir d’un Rembrandt comme planche à repasser«,299 das heißt schließlich

nicht nur »Einen Rembrandt als Bügelbrett verwenden«, sondern auch »Einen Rembrandt als

Bildtafel verwenden, um etwas hinter sich zu lassen« (Abb. 55).

2.3.2. »Rendezvous mit dem Schicksal«: Das Bild als Medium

Dass Duchamp dem Bergsonismus seiner Künstlerkollegen spätestens seit dem Eklat um

seinen Akt überaus kritisch gegenüberstand, bedeutet nicht, dass er Bergsons Philosophie

fortan den Rücken kehren, und genauso wenig, dass er sie nunmehr unter anderem

Vorzeichen auf den Sockel heben sollte. Indem er den Entschluss fasste, unterschiedlichste

Einflussfaktoren in sein künstlerisches Schaffen zu integrieren, entwickelte er vielmehr einen

neuen Zugang zu Bergsons Philosophie. Duchamps Kunstgriff bestand sozusagen darin,

Bergsons Konzeption des Schöpferischen im Sinne einer radikalen Rückbesinnung auf die

greifen: »C’est étrange, on croit généralement que j’ai de la sympathie pour les cubistes, pour les futuristes! Je n’ai jamais vu de ces sortes de peintures! Je n’ai aucune idée ce qu’elles représentent! […] Je déclare que je ne saurais approuver les formes révolutionnaires dans l’art.« Villanova: »Celui qui ignore les cubistes«, in: L’Éclair (29. Juni 1913). Vgl. Azouvi: La gloire de Bergson, S. 226–227. 296 Vgl. die Gemälde Trauriger Jüngling im Zug (Dezember 1911), Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 1 (Dezember 1911) und Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 (Januar 1912). 297 Es handelt sich dabei um eines der berühmtesten Werke Rembrandts, das sich damals bereits im Pariser Louvre befand, vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Philosopher_in_Meditation (aufgerufen am 28.12.2015). 298 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 18; vgl. oben, Kap. 1.3.1. 299 Duchamp: Duchamp du signe, S. 49.

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»unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins« beim Wort zu nehmen, sie vermittels einer

spielerischen Integration unterschiedlichster Quellen zu unterwandern und sich sozusagen an

jene paradoxale Methode der Intuition zu halten, die Bergson in seiner »Einführung in die

Metaphysik« 1903 wie folgt definiert hatte:

Kein Bild kann die unmittelbare Intuition der Dauer ersetzen, aber viele verschiedenartige Bilder, die den verschiedensten Bereichen der Dinge entlehnt werden, können durch die Konvergenz ihrer Wirkung das Bewußtsein auf den Punkt hinlenken, wo eine gewisse Intuition möglich ist. Indem man möglichst disparate Bilder auswählt, verhindert man, dass eines unter ihnen sich anmaßt, die Intuition, die es wachrufen soll, ganz wiederzugeben, da es sofort durch die rivalisierenden Bilder verdrängt werden wird. Indem man so erreicht, dass sie trotz ihrer Verschiedenheiten von unserem Geiste gewissermaßen dieselbe Art der Aufmerksamkeit fordern, bzw. denselben Grad der Spannung, wird man allmählich das Bewußtsein an eine ganz besondere und ganz bestimmte Disposition gewöhnen, und zwar gerade an diejenige, die sie annehmen muß, um sich selber ohne Schleier zu erscheinen.300

Wenn Duchamp mit seinem Vorsatz, die Malerei einmal mehr in den Dienst des Geistes zu

stellen, kritisch auf den rigiden Kunstbegriff der zeitgenössischen Avantgarden reagierte,

musste ihm gerade Bergsons Schöpferische Entwicklung reichlich Reflektionsmaterial liefern.

Dabei erscheint die Produktivität von Duchamps Zugang zum Bergsonismus rückblickend

buchstäblich als logischer Schluss aus einer der zentralen Thesen dieses epochalen Werks.

Eine Entwicklungsphilosophie, die ihrem Namen auch tatsächlich gerecht werden wolle,

argumentiert Bergson, habe »dem Wirklichen in seinem Entstehen und seinem Wachstum«

nachzugehen und werde sich daher bestenfalls »durch die gemeinsame und fortgesetzte,

einander ergänzende, berichtigende und verbessernde Bemühung vieler Denker und

Beobachter heranbilden können«.301 Folglich erhebt Bergson auch nicht den Anspruch, in

Bezug auf eine derartige Entwicklungsphilosophie das letzte Wort zu haben, zielt er doch im

Gegenteil darauf ab zu zeigen, »wie unser Verstand, durch Auferlegung einer bestimmten

Disziplin, selber fähig wird, auf eine Philosophie hinzuführen, die ihn überwächst«.302 Da das

Medium der Sprache mit seinen vorgefertigten Begriffen dem Philosophen per se keinen

unmittelbaren Zugang zur irreduziblen Wirklichkeit des Werdens gewährt, geht Bergson an

seine Philosophie der Entwicklung wie an ein Pferd heran, das sich bestenfalls von hinten

aufzäumen lässt. So verweist er zunächst auf das Problem, dass der menschliche Intellekt sich

nur »zuhause fühlt, solange man ihn unter den leblosen Gegenständen beläßt, wo unsere Tat

ihren Stützpunkt und unsere Arbeit ihre Werkzeuge findet«, dass er also in erster Linie ein

300 Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 187–188. 301 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 47. 302 Ebd., S. 47–48.

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praktisches Handlungsinstrument darstellt, das zwar eine »immer schärfere, immer

komplexere, immer geschmeidigere Anpassung des Lebewesens an die gegebenen

Existenzbedingungen« ermöglicht, wobei es »das wahre Wesen des Lebens, den tiefen Sinn

der Entwicklungsbewegung« aber notwendig verfehlt: »Vergebens pressen wir das Lebendige

in den und jenen von unseren Rahmen. Alle Rahmen krachen. Sie sind zu eng, zu starr vor

allem für das, was wir hineinspannen möchten.«303 Im Gegensatz zur Intuition ist der Intellekt

Bergson zufolge also keineswegs so unabhängig, wie man gerne meinen möchte, greift er in

seinem abstrakten Voranschreiten von einem Akt zum nächsten Akt doch notwendig auf

statische Bilder und vorgefertigte Begriffe zurück, die seiner Bewegung zwar einen Sinn, eine

Richtung (sens) verleihen, die der Wirklichkeit mit ihren mannigfaltigen Phänomenen und

kontinuierlichen Veränderungen jedoch keineswegs gerecht werden. »Einzig daher also rührt

die offensichtliche Diskontinuität unseres psychologischen Lebens«, folgert Bergson, indem

er sich auf die chronofotografische Methode seines Kollegen am Collège de France zu

beziehen scheint, »daß unsere Aufmerksamkeit sich ihm in einer Reihe diskontinuierlicher

Akte zuwendet: wo nur sanfter Abhang ist, glauben wir, der gebrochenen Linie unserer

aufmerksamen Akte folgend, Stufen einer Treppe zu gewahren«.304

Es ist nicht auszuschließen, dass Duchamp diese Zeilen im Hinterkopf hatte, während er noch

in den Kreisen der Kubisten verkehrte und gleichzeitig schon jenes Werk in Arbeit hatte,

dessen Titel in großen Lettern auf der Bildfläche vermerkt ist und mit dem er sein Interesse

am Medium der Sprache erstmals zur Schau stellen sollte. Wenn sich Bergson in Bezug auf

das »wahre Wesen des Lebens«, in Bezug auf »den tiefen Sinn der Entwicklungsbewegung«

fragte: »Müssen wir haltmachen bei dem mechanistischen Abbild, das der Verstand uns ewig

von ihm entwerfen wird?«,305 so war diese Frage also vielleicht auch für Duchamp von

Relevanz, insofern er seinen Akt in Anlehnung an die chronofotografische Methode Mareys

von Anfang an nicht als naturgetreue Darstellung, sondern als willkürliche »Abstraktion der

Bewegung« konzipierte. Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend ist damit als »Diagramm«

jener Form von Bewegung zu betrachten, die Bergson zufolge auf einer teleologischen

Aneinanderreihung statischer Momentaufnahmen und damit genau genommen auf einem

Prinzip des Stillstands basiert, wie er in Schöpferische Entwicklung verdeutlicht, indem er

303 Ebd., S. 43–44. 304 Ebd., S. 50. 305 Ebd., S. 45.

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dem »kinematographischen Mechanismus des Denkens« das gesamte Schlusskapitel

widmet.306

Selbiges gilt jedoch nicht für die beiden Gemälde, mit denen Duchamp einen Schlusspunkt

unter seine Karriere als Maler setzte und in denen er sich nicht mehr mit dem Problem der

Bewegung im Raum, sondern mit dem viel komplexeren Problem der Bewegung in der Zeit

beschäftigte – einer wirklichen Entwicklungsbewegung, die in letzter Konsequenz auch das

Leben und Nachleben seiner Bilder, ja sein eigenes Leben als Künstler und Lebenskünstler

betreffen sollte. Die Gemälde Der Übergang von der Jungfrau zur Braut (Abb. 17) und Braut

(Abb. 18), die Duchamp im Sommer 1912 in München vollendete,307 haben sozusagen weder

einen mechanistischen Fortschrittsgedanken noch einen konkreten Handlungsspielraum zum

Gegenstand. Vielmehr sind sie einer organischen Werdensbewegung gewidmet, die sich

jenseits abstrakter Zielvorstellungen unbeirrbar ihren Weg in Richtung des Unerwarteten

bahnt. Wenn Duchamp mit diesen Gemälden abermals eine »Abstraktion der Bewegung« ins

Bild setzt, so geht es ihm nunmehr um eine Form von Bewegung, die weder Reichweite noch

Geschwindigkeit hat und die weder messbar noch vergleichbar ist, insofern sie reine Qualität

und nur als Abstraktion des Werdens und des Lebens selbst zu verstehen ist. Das Motiv der

Braut, das die beiden Bildtitel preisgeben, lässt dementsprechend nicht im Entferntesten an

eine Braut im herkömmlichen Sinn denken, scheint es doch viel eher jene ganz besondere

»Disposition« herbeizuzitieren, die »viele verschiedenartige Bilder« aus »den verschiedensten

Bereichen der Dinge« in sich vereint und die das Bewusstsein Bergson zufolge »annehmen

muß, um sich selber ohne Schleier zu erscheinen«.

So wie Bergson darauf besteht, kein Bild könne die Intuition der Dauer ersetzen, so greift

auch Duchamp auf »viele verschiedenartige« und »möglichst disparate« Bilder zurück, um

die Hoffnung in Aussicht zu stellen, der Schleier seiner Braut könnte durch deren Konvergenz

unter Umständen doch zu lüften sein. In Analogie zur bergsonschen Intuition erscheint die

Braut sozusagen als Allegorie einer Werdensbewegung, die den Rahmen der Leinwand im

wahrsten Sinne des Wortes sprengt. Dementsprechend sollte Duchamps Gemälde Braut aus

dem Jahr 1912 denn auch sein letztes Gemälde im engeren Sinne bleiben, während ihn der

Topos der Braut in unterschiedlichsten Kontexten und Erscheinungsformen noch bis an sein

Lebensende beschäftigte. Um die sinnliche Dimension der Malerei mit einer intellektuellen

Form von Reflektion und Intuition zu vermählen und seine Kunst sozusagen in den Dienst der 306 Ebd., Kap. IV: »Der kinematographische Mechanismus des Denkens und die mechanistische Täuschung«, S. 275–357. Zum »Kunstgriff des Kinematographen«, den Bergson in Analogie zum »Kunstgriff unserer Wahrnehmung« und zum »Kunstgriff unseres Erkennens« beschreibt, vgl. ebd., S. 302ff. sowie oben, Kap. 1.2.3. 307 Vgl. oben, Kap. 1.3.2.

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Braut zu stellen, bediente sich Duchamp namentlich einer Vielzahl verschiedenartiger

Medien, denen aus seiner Perspektive nicht zuletzt auch eine Form von ›Jungfräulichkeit‹

anhaften musste, insofern sie nie zuvor in den Dienst einer gemeinsamen Sache gestellt

worden waren. Zunächst stellte Duchamp das Motiv der Braut in den Kontext seines Großen

Glases, wo das zentrale Sujet seines letzten Gemäldes fast unverändert wiederkehrt, während

der statische Hintergrund zugunsten eines transparenten Horizonts und der perspektivischen

Junggesellenmaschine verschwindet, um den Blick durch das Bild auf die Wirklichkeit hinter

dem Bild freizugeben. Die Braut schwingt mit im Neologismus des Ready-made, der nicht

zuletzt die Vorstellung eines bereiten Mädchens evoziert und den Duchamp im Sinne eines

Gegengewichts zum Großen Glas auf Werke wie Fresh Widow anwenden sollte. Die Braut

wird personifiziert in Gestalt von Rrose Sélavy, Duchamps weiblichem Alter Ego, in dessen

Namen er seinem Prinzip des »Erotismus« ein Denkmal setzte. Sie steht im Mittelpunkt der

Grünen Schachtel, deren Inhalt buchstäblich undurchsichtig ist. Die Braut erscheint als

zentrale Figur in der Installation Lazy Hardware, in deren Rahmen Duchamp eine kopflose

Schaufensterpuppe in der Auslage eines New Yorker Buchgeschäfts aufstellte, nachdem er ihr

Bein mit einem Wasserhahn versehen hatte, dessen Tropfen sich unmittelbar einstellen soll,

sobald man ihm nicht mehr zuhört. Und nicht zuletzt steht sie im Mittelpunkt von Duchamps

finalem Coup Gegeben sei, mit dem er Courbets skandalösem Gemälde Der Ursprung der

Welt einen zeitgenössischen Anstrich verlieh und in dessen perspektivischem Kontext der

nackte Korpus der Braut seit Duchamps Tod für unerwartetes Aufsehen sorgt, indem er rein

gar nichts Begehrenswertes ausstrahlt, sondern vielmehr an eine enthauptete Freiheitsstatue

gemahnt.

Wenn diesen vielen verschiedenartigen Bilder durch die Konvergenz ihrer Wirkung nun aber

tatsächlich auf jene Intuition hinauslaufen sollen, als deren »Motor« die Braut mit ihrem

»Liebesbenzin« im eigentlichen Sinne zu verstehen ist, so bedarf es dazu nicht zuletzt eines

aufgeschlossenen Gegenübers, das sich zu immer wieder neuen Lesarten, Spekulationen und

Projektionen herausfordern lässt. Nicht zufällig versieht Duchamp seine Braut mit Beinamen

wie »Verzögerung in Glas« oder »Eros, das ist das Leben«, indem er die Betrachter dazu

auffordert, sich ihr eigenes Bild von der Sache zu machen und dabei nicht zuletzt auch jene

Veränderungen in Betracht zu ziehen, die sich jenseits des statischen Bildes ereignen. In

Analogie zu seinen Schreibexperimenten und Ready-mades versteht sich die Braut sozusagen

als Einladung zu einer Form von Rendezvous, das mit den disparaten Bildern zwar über einen

zentralen Horizont verfügt, den es im Hinblick auf eine Hoffnung auf Erkenntnis jedoch

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notwendig zu transzendieren gilt. Der Einflussbereich der Braut liegt damit jenseits des

vorgefertigten Bildes, dessen Oberfläche sich in Abhängigkeit von den vorherrschenden

Lichtverhältnissen in ein Medium perspektivischer Projektion oder spieglerischer Reflektion

verwandeln kann. Obschon Verabredung mit einem bestimmten Ziel und Zweck, ist ein

Rendezvous schließlich doch in erster Linie ein Stelldichein mit offenem Ausgang. Sein

Potential liegt weniger in bestimmten Erwartungen, als vielmehr in einem Sich-Einlassen auf

die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins, in einer Anerkennung des Ungewissen, in

einer Bereitschaft zur Vision und Revision. Von Bewusstsein kann nur die Rede sein, wo

etwas unentschieden ist, konstatiert Bergson im Hinblick auf den Spielraum, der sich

zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen eröffnet:

Bewußtsein bedeutet Schwanken oder Wahl. Es ist intensiv, wo sich – wie bei unabgeschlossenen Entscheidungen – viele gleichmäßig mögliche Handlungen, ohne Eintreten einer einzigen wirklichen, im Geiste zeichnen. Es ist gleich Null, wo die wirkliche Handlung – wie beim somnambulen, oder allgemeiner gesprochen, automatischen Handeln – die einzig mögliche ist.308

So ist auch Duchamps Konzept des »Rendezvous« im Sinne jener Intensität zu verstehen, mit

der sich zunächst viele mögliche Handlungen »im Geiste zeichnen«, und die in dem Moment

in Indifferenz umschlägt, wo der Akt der Wahl »die einzig mögliche« Handlung ist. »Das

Wort Kunst heißt etymologisch übrigens ›machen‹, ganz einfach«, bemerkt Duchamp im

Interview mit Charbonnier, um hervorzuheben, die »Langeweile« beginne erst da, »wo man

das Wort machen mit der Idee eines Vergnügens«, mit einem stilistischen Anspruch oder

einem sinnlichen Erlebnis, in anderen Worten, mit dem Streben nach Intensität in Verbindung

bringe.309 Die »Idee der Wahl« habe ihn dementsprechend von Anfang an nicht auf der Ebene

des Geschmacks oder der Sinnesfreude, sondern »auf eine metaphysische Weise interessiert«,

erklärt Duchamp:

»Warum ›machen‹? Was heißt ›machen‹? Etwas machen, das heißt eine Tube Blau, eine Tube Rot wählen, ein wenig davon auf seine Palette geben, und immer die Menge Blau, die Menge Rot wählen, und immer die Stelle wählen, wo man sie auf die Leinwand geben wird. Immer heißt es wählen. Nun, um zu wählen, kann man Farbtuben benutzen, kann man Pinsel benutzen, aber man auch etwas Vorgefertigtes benutzen, das entweder mechanisch oder von der Hand eines anderen Menschen gemacht worden ist, wenn Sie so wollen, und es sich aneignen. Schließlich hat man es ja ausgewählt! Die Wahl ist die Hauptsache in der Malerei, sogar in der normalen.«310

308 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 167. 309 Zit.n. Charbonnier: Entretiens avec Marcel Duchamp, S. 12–13 (Übers. d. Verf.). 310 Zit.n. ebd., S. 61 (Übers. d. Verf.).

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Das ist auch der Grund, warum nicht nur Duchamps Großes Glas, sondern auch seine Ready-

mades, sieht man von den Bedingungen Leinwand, Farbe und Spannrahmen ab, in einer Linie

mit der Tradition der Modernismus zu sehen sind, deren eigentliche Triebfeder seit jeher in

einer Unterwanderung pikturaler Konventionen besteht, wie Thierry de Duve hervorhebt:

»Das ready-made Pißbecken wäre dann in einem noch reineren Sinne ›Malerei‹ als die ready-

made Leinwand, und Duchamp könnte mit mehr recht noch als Maler bezeichnet werden als

Malewitsch«.311 Sozusagen gibt es für Duchamp weder einen Unterschied zwischen Farben

und Worten, noch einen Unterschied zwischen Kunst und Philosophie: Schließlich handelt es

sich bei beiden, so Duchamp, um »eine Betrachtung jenseits der vulgären Sprache«,312 ohne

die der Intellekt mit Bergson gesprochen auf ewig an eine rein praktische Sicht der Dinge

geschmiedet bliebe. Jenseits dieser praktischen Perspektive aber eröffnet sich auch jener neue

Horizont oder Handlungsspielraum, der es dem Bewusstsein – demjenigen, das die Wahl hat

– erlaubt, »sich selber ohne Schleier zu erscheinen«, und der exemplarisch im Konzept des

Ready-made zum Ausdruck kommt. »Vom Tage ab, wo der Intellekt sich selbst als

Begriffsschöpfer, als Vorstellungsvermögen überhaupt, erfaßt, gibt es keinen Gegenstand

mehr, dessen Begriff er sich nicht aneignen möchte, und wäre er auch ohne unmittelbare

Beziehung zum praktischen Handeln«, formuliert Bergson den Grundgedanken seiner

paradoxalen Methode der Intuition, um zum bemerkenswerten Schluss zu kommen: »Eben

aber, indem das Wort sich über diesen Gegenstand legt, verwandelt es ihn abermals in ein

Ding.«313

So legte auch Duchamp Worte über Gegenstände – eine Schneeschaufel, einen Hundekamm –

und verwandelte sie dadurch in Dinge, die zwar ohne praktischen Nutzen bleiben, in

philosophischer Hinsicht aber umso größere Wirkung zeitigen sollten. Eine interessante

Perspektive öffnet damit auch die weit verbreitete Annahme, er habe sich mit seinen Ready-

mades ›nichts als eine Art Scherz‹ erlaubt, so wie seine Schreibexperimente »nur eine Art

Amüsement« darstellen sollten. Wie Linda Dalrymple Henderson bemerkt, geht Duchamps

Konzept des Ready-made schließlich nicht zuletzt auf den gleichbedeutenden französischen

Ausdruck tout fait zurück, den Bergson in seinem populären Werk Le Rire (Das Lachen) von

1900 im Sinne eines Plädoyers für das befreiende, ja buchstäblich erschütternde Potential des

Humors zu einer seiner zentralen Metaphern auserkoren hatte (Abb. 56).314 Bergsons Kritik

311 De Duve: Pikturaler Nominalismus, S. 221. 312 Zit.n. Charbonnier: Entretiens avec Marcel Duchamp, S. 49 (Übers. d. Verf.). 313 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 180. 314 Bergson: Le Rire. Vgl. Henderson: Duchamp in Context, S. 63. Henderson verweist in diesem Zusammenhang auch auf Duchamps Abgrenzung vom Kubismus: »Indeed, Duchamp’s detached, mechanical

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des »Stereotypen« oder »Vorgefertigten« (tout fait), die er zugunsten einer Rückbesinnung

auf das »Entstehende« und »im Werden Begriffene« (se faisant) entwickelte und die er in

Schöpferische Entwicklung anhand seiner Gegenüberstellung von Intellekt und Intuition im

Detail explizieren sollte,315 bildet einen zentralen Angelpunkt von Bergsons Philosophie, wie

Charles Péguy in seiner 1914 in den Cahiers de la Quinzaine veröffentlichten »Notiz über

Bergson und die bergsonsche Philosophie« hervorhebt, indem er gleichzeitig darauf hinweist,

dass man bei Bergson genau genommen zwischen zwei unterschiedlichen Verwendungen des

Begriffs tout fait unterscheiden muss:

Es gibt eine gewaltige Menge von Menschen, die durch vorgefertigte Gefühle fühlen, im selben Maß, wie es eine gewaltige Menge von Menschen gibt, die durch vorgefertigte Ideen denken, und im selben Maß, wie es eine gewaltige Menge von Menschen gibt, die durch vorgefertigte Willen wollen, im selben Maß, wie es eine gewaltige Menge von ›Christen‹ gibt, die mechanisch die Sätze des Gebets wiederholen. Und man könnte lange gehen und in alle Bereiche gehen und man könnte sagen: Im selben Maß, wie es eine gewaltige Menge von Malern gibt, die durch vorgefertigte Linien zeichnen. Es gibt ebenso wenige Maler, die schauen, wie Philosophen, die denken. | Diese Anprangerung eines universellen Intellektualismus, das heißt, einer universellen Faulheit, die darin besteht, sich stets des Vorgefertigten zu bedienen, wird eine der großen Errungenschaften und die große Erneuerung der bergsonschen Philosophie gewesen sein. [...] Wenn der Ausdruck das Vorgefertigte in Bergsons Philosophie ständig wiederkehrt, so als ob es natürlich wäre und als ob es zu erwarten wäre, muss man übrigens beachten, dass er dazu gebracht wird, in zwei deutlich unterschiedenen Bedeutungen wiederzukehren, die man meines Erachtens nicht ausreichend auseinandergehalten hat. Wenn Bergson das Vorgefertigte dem im Werden

practice and his name for it, Readymade, place these works directly in opposition to Bergsonian Cubist theory and painting.« Ebd. Wie Federico Luisetti hervorhebt, zieht Henderson aus Duchamps Abgrenzung vom Kubismus allerdings einen allzu verkürzten Schluss: »Although Henderson recognizes the diffuse presence in Duchamp of various Bergsonian motives, because she regards Bergson as the antiscientific philosopher of the ›inner self‹ and of ›profound self-expression‹, Bergsonian notions seem to her incompatible with the artistic revolution prompted by Duchamp. A historiographical exorcism is therefore needed in order to heal the consequences of the traumatic Bergson-Duchamp incest. Herein lies Henderson’s solution: since Duchamp rejects the aesthetic principles of the Puteaux Cubists, he also abandons Bergsonism, which represents their philosophical matrix.« Luisetti: »Reflections on Duchamp«, S. 77. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Henderson auch noch in einem erst kürzlich erschienenen Text, in dem sie etwas näher auf Duchamps Verhältnis zum Bergsonismus eingeht, vgl. Henderson: »Paradigm Shifts and Shifting Identities in the Career of Marcel Duchamp«. Unterstützen kann ich Hendersons Argument insofern, als Duchamp tatsächlich mit dem Bergsonismus gebrochen hat, jedoch nicht um Bergsons Philosophie damit den Rücken zu kehren. 315 Vgl. beispielhaft Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 246–247 (Originalwortlaut zit.n. ders.: L’Évolution créatrice, S. 238–239): »Soll aber unser Bewußtsein mit seinem Prinzip irgend zusammenfallen, dann muß es sich losmachen vom fertig Bestehenden [tout fait] und sich an das Entstehende [se faisant] heften. Sich umwendend, sich auf sich selber werfend, müßte das Vermögen des Schauens [voir] eins werden mit dem Akte des Wollens [vouloir]. [...] Im freien Handeln, wenn wir unser gesamtes Wesen zusammenballen, um es vorwärts zu schnellen, besitzen wir das klare Bewußtsein [la conscience plus ou moins claire] der Motive und Triebkräfte, ja zur Not selbst des Werdens, kraft dessen sich diese zu Akten organisieren; das reine Wollen aber, den Strom, der diese Materie Leben mitteilend durchfließt [le courant qui traverse cette matière en lui communiquant la vie], ist etwas, das wir kaum fühlen, etwas, das wir höchstens im Vorübergleiten streifen. [...] Kaum daß er ihren Impuls [élan] empfangen hat, muß der Philosoph die Intuition verlassen, muß nun, um ihre Bewegung weiterzuführen, Begriff an Begriff drängend auf sich selbst vertrauen.«

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Begriffenen entgegensetzt [...], gesteht er ein metaphysisches Hindernis ein, das von der Größenordnung der Dauer selbst ist und sich auf die Gegenüberstellung, auf die tiefe, essentielle, metaphysische Unvereinbarkeit von Gegenwart und Zukunft und Gegenwart und Vergangenheit bezieht. Das ist eine Unterscheidung nach Art der Metaphysik. Aber wenn derselbe Philosoph vom Vorgefertigten im Sinne von vorgefertigten Ideen, vom vorgefertigten Denken spricht, verwendet er dieses Wort in dem Sinn, wie die Kleidung von der Stange – im Unterschied zur maßgeschneiderten Kleidung – als vorgefertigte Kleidung bezeichnet wird. Das ist eine Unterscheidung der Herstellung, der Operation, des Zuschnitts, der Technik. Die bergsonsche Philosophie will, dass man sie nach Maß denkt und dass man sie nicht vorgefertigt denkt.316

Abgesehen davon, dass Duchamp 1914, als sein Atelier bereits mit einem Fahrrad-Rad

bestückt war, mit einiger Wahrscheinlichkeit von Péguys Text gehört haben oder ihn sogar

gelesen haben könnte, kann man mit Marc Décimo davon ausgehen, dass ihm Bergsons Essay

über Das Lachen, der seit 1900 in zahlreichen Ausgaben veröffentlicht worden war, damals

schon in der einen oder anderen Form in die Hände gekommen war und dass er wenigstens

darin geschmökert hatte; warum auch sonst hätte das Buch in der Ausgabe von 1950 Eingang

in Duchamps Bibliothek finden sollen.317 Offenbar hatte Duchamp Bergsons Theorie des

Lachens, die an dieser Stelle nur kurz umrissen sein soll, also einiges abzugewinnen und

hinzuzufügen.

316 Charles Péguy: »Note sur M. Bergson et la philosophie bergsonienne«, in: Cahiers de la Quinzaine XV, Nr. 8 (26. April 1914), S. 17–101, S. 35–36/38–41 (Übers. d. Verf.), Originalwortlaut: »Il y a une immense tourbe d’hommes qui sentent par sentiments tout faits, dans la même proportion qu’il y a une immense tourbe d’hommes qui pensent par des idées toutes faites, et dans la même proportion qu’il y a une immense tourbe d’hommes qui veulent par volontés toutes faites, dans la même proportion qu’il y a une immense tourbe de ›chrétiens‹ qui répètent machinalement les paroles de la prière. Et l’on pourrait aller longtemps et passer dans tous les compartiments et l’on pourrait dire: Dans la même proportion qu’il y a une immense tourbe de peintres qui dessinent par des lignes toutes faites. Il y a aussi peu de peintres qui regardent que de philosophes que pensent. | Cette dénonciation d’un intellectualisme universel c’est-à-dire d’une paresse universelle consistant à toujours se servir du tout fait aura été l’une des grandes conquêtes et l’instauratio magna de la philosophie bergsonienne […] Il faut faire attention d’ailleurs que cette expression le tout fait, si elle revient constamment, comme il était naturel, et comme il fallait s’y attendre, dans la philosophie de Bergson, est conduite à y revenir en deux sens assez sensiblement différents. Et que je ne vois pas que l’on ait suffisamment distingués. Quand Bergson oppose le tout fait au se faisant [...], il fait une opposition, il reconnaît une contrariété métaphysique de l’ordre de l’ordre [sic] même de la durée et portant sur l’opposition, sur la contrariété profonde, essentielle, métaphysique, du présent au futur et du présent au passé. C’est une distinction de l’ordre de la métaphysique. Mais quand ce même philosophe parle de tout fait dans le sens d’idées toutes faites, de pensée toute faite, il prend ce mot dans le sens où on dit un vêtement tout fait pour un vêtement de confection, au lieu d’un vêtement sur mesure. C’est une distinction de fabrication, d’opération, de coupe, de technique. La philosophie bergsonienne veut que l’on pense sur mesure et que l’on ne pense pas tout fait.« 317 Vgl. Marc Décimo: La Bibliothèque de Marcel Duchamp, peut-être, Paris: Les Presses du réel 2002, S. 24–25: »Qu’un philosophe de l’importance de Bergson […] prenne la précaution d’écrire sur le rire est un indice précieux. Son opuscule fait pour l’époque référence essentielle, de la même façon qu’un peu plus tard fera date l’article de Freud sur l’humour (paru dans Variétés en 1929). […] À Duchamp, pourquoi pas? Duchamp possède le livre de Bergson dans sa bibliothèque, certes dans l’édition de 1950 aux Presses Universitaires de France, mais rien n’empêche de croire qu’il a eu plus tôt connaissance de ces textes souvent réédites, parus pour la première fois sous la forme de trois articles entre le premier février et le premier mars 1899 dans la Revue de Paris puis, à partir de 1900, sous la forme de volume. Comme pour Stirner et pour Gaston de Pawlowski, on peut supposer que Duchamp rachète un exemplaire dans les années 50 par curiosité et parce qu’on commence à l’interroger souvent. C’est là du reste un des seuls livres de philosophie.«

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Gleich zu Beginn seines Essays hält Bergson fest, indem er über Wesen des Komischen

spekuliere, wolle er es keineswegs »in eine Definition einschließen«, da er in ihm »vor allem

etwas Lebendiges« sehe, das »von Form zu Form, vermittels unmerklicher Abstufungen, vor

unseren Augen die seltsamsten Metamorphosen« vollziehe; vielmehr ziele er auf »etwas

Geschmeidigeres als eine theoretische Definition« ab, auf eine »praktische und intime

Kenntnis« vergleichbar mit jener, die aus einer langen Freundschaft erwachse.318 Ausgehend

von drei prinzipiellen Beobachtungen geht er daraufhin der Frage nach, wo genau zwischen

»Leben« und »Kunst« das Komische zu verorten sein könnte. So postuliert er erstens, Komik

existiere ausschließlich im Zusammenhang mit dem, »was im eigentlichen Sinne menschlich

ist«, insofern der Mensch jenes Tier sei, das nicht nur »lachen kann«, sondern auch »zum

Lachen bringen« kann, während ein Tier nicht nur keinen Humor empfinden, sondern sich

auch unmöglich lächerlich machen könne; zweitens bemerkt Bergson, das Komische richte

sich an die »reine Intelligenz« und setzte eine gewisse »Kaltherzigkeit« oder wenigstens eine

»zeitweilige Anästhesie des Herzens« voraus, da die »Indifferenz sein natürliches Element«

sei und es »keinen größeren Feind als die Emotion« oder das »Mitgefühl« habe; und drittens

räumt er ein, das Lachen bedürfe allem Anschein nach eines »Echos«, da es auf einem Gefühl

der »Übereinkunft« oder der »Komplizenschaft« mit anderen Intelligenzen basiere und daher

vor allem auch eine »soziale Funktion« habe.319

Um die Problematik des Lachens im Anschluss an diese prinzipiellen Überlegungen im Detail

erörtern zu können, nennt Bergson als erstes Beispiel einen Mann, der soeben noch auf der

Straße lief und plötzlich stolpert und fällt – woraufhin einige Passanten lachen.320 Was sie

zum Lachen bringt, ist aber nicht die Tatsache, dass der Mann von einem Moment auf den

anderen auf der Straße sitzt, sondern nur, dass sein Stellungswechsel unfreiwillig ist, so

Bergson: »Was in diesem Fall lächerlich ist, ist eine gewisse mechanische Starrheit, wo man

sich die aufmerksame Geschmeidigkeit und die lebhafte Flexibilität eines Menschen erwartet

hätte«, eine Starrheit, die sich »wie ein vorgefertigter Rahmen« (un cadre tout fait) über die

Beweglichkeit seines Wesens legt.321 Ein Eindruck von Komik entsteht Bergson sozusagen in

genau dem Moment, wo der Mensch seiner eigentlichen Flexibilität verlustig geht und sich in

eine Marionette zu verwandeln scheint, wo das Mechanische vorherrscht und eine gewisse

Künstlichkeit Überhand nimmt, die es bloßzustellen gilt, oder wo die Menschen entsprechend

318 Bergson: Le Rire, S. 1–2. Aus Gründen der sprachlichen Differenzierung wird hier und im Folgenden nach der französischen Ausgabe zitiert. 319 Ebd., S. 2–7. 320 Ebd., S. 7. 321 Ebd., S. 8/11.

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dem Ausschlussprinzip einer sozialen Übereinkunft »beginnen, sich gegenseitig wie

Kunstwerke zu behandeln«.322 Handle es sich um Situationskomik, wie im Theater oder Film,

oder auch um das komische Potential der Sprache, wie im Falle von Wortspielen, Ironie und

Humor: Bergson zufolge erscheint das Komische stets auf jener Schwelle zwischen Leben

und Kunst, zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, die den Menschen mit all seinen

Fähigkeiten, aber auch in seiner Unfähigkeit charakterisiert. Wäre das Leben vollkommen

und jeder Mensch völlig unabgelenkt und eins mit sich selber, so gäbe es auch keinen

Spielraum – und vor allem auch keine Notwendigkeit – für Komik, so Bergson:

Aber es gibt keinen Teich, auf dessen Oberfläche nicht tote Blätter treiben, keine menschliche Seele, die nicht von Gewohnheiten überlagert wäre, durch die sie sich anderen und damit auch sich selbst gegenüber verhärtet, keine Sprache schließlich, die in jedem ihrer Aspekte so vollkommen geschmeidig, lebendig und gegenwärtig wäre, dass sie sich aller Stereotype [tout fait] entledigen könnte [...]. Das Starre, Stereotype [tout fait], Mechanische im Gegensatz zum Geschmeidigen, sich kontinuierlich Verändernden, Lebendigen, die Zerstreuung im Gegensatz zur Aufmerksamkeit, ja der Automatismus im Gegensatz zur freien Aktivität, das ist es schließlich, was das Lachen unterstreicht und korrigieren will.323

Im Sinne einer solchen Unterstreichung und Korrektur des Stereotypen im Gegensatz zum

Lebendigen sind damit auch Duchamps fertig vorgefundene Skulpturen zu verstehen, deren

»Zeitgestalt als Werk«, wie Egenhofer hervorhebt, in einem spezifischen »Werden« besteht,

»das in dem Bild, das seine Anschauer von ihm machen, seine Grenze, nicht seinen Abschluss

findet« und das »mit der Raumform des Objekts nicht zusammenfällt«: »Ready-made ist der

Name dieses Werkprozesses, der gerade nie fertig ist, der unabschließbar bleibt.«324 So steht

die Wandgarderobe, die Duchamp 1917 auf seinen Atelierboden genagelt und mit dem Titel

Trébuchet (Stolperfalle) versehen hat (Abb. 57),325 geradezu exemplarisch für sein Konzept

des Ready-made, entfaltet es seine Komik doch gerade durch die Möglichkeit, übersehen zu

werden und den unaufmerksamen Betrachter dadurch nicht nur physisch, sondern auch im

metaphysischen Sinne zu einem unfreiwilligen Stellungswechsel zu bringen. Das Starre und

Mechanische, das dem unspektakulären Massenartikel eignet, wird von Duchamp gerade dazu

verwendet, einen Spielraum für das Unvorhergesehene und Bemerkenswerte zu schaffen: So

eröffnet er dem Atelier- oder Ausstellungsbesucher mit seiner Stolperfalle die Möglichkeit,

322 Ebd., S. 16. 323 Ebd., S. 99–100 (Übers. d. Verf.). 324 Egenhofer: »Guss und Projektion«, S. 217. Im Textzusammenhang schreibt Egenhofer ebd.: »Die Wahl, mit der seine Existenz nicht als Objekt aber als Werk beginnt, ist ein Koitus durch die Schaufensterscheibe [...]. Von diesem Moment der déclaration an wird das Ready-made – und sein Werden [...] konstituiert seine Zeitgestalt als Werk, die mit der Raumform des Objekts nicht zusammenfällt.« 325 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 655 (Kat.-Nr. 350).

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sich entweder über sein lapidares Kunstwerk zu erstaunen – oder es zu übersehen, darüber zu

stolpern und im Idealfall nicht zuletzt über seine eigene Unaufmerksamkeit zu lachen.

»Je feindseliger die Kritik, desto mehr sollte der Künstler ermutigt sein«,326 befand Duchamp

1949 im Rahmen einer Diskussionsrunde in der San Francisco Art Association, indem er die

Involvierung des Rezipienten ein weiteres Mal als einen der wesentlichen Beweggründe

seines künstlerischen Schaffens in Anschlag brachte. Wie Duchamp in seinen »Notizen für

ein allgemeines Lachbild« nahelegt, in deren Zusammenhang er nicht nur vom »Refrain der

Dauer«, sondern auch von der »Bejahungsironie« im Unterschied zum bloßen »Lachen«

spricht (Abb. 58),327 imaginierte er das ideale Gegenüber seines Werks sozusagen keineswegs

als unabhängigen Betrachter, sondern als bereitwilliges »›Opfer‹ eines ›ästhetischen Echos‹«:

Im Gegensatz zum »dominierenden Zuschauer«, der nur seinem Geschmack folgt, indem er

»diktiert, was er mag und nicht mag, und dies in ›schön‹ und ›häßlich‹ übersetzt«, verortet

Duchamp denjenigen, der einer »ästhetischen Emotion« und ernstzunehmender »Kritik« fähig

ist, »in einer Position, die vergleichbar ist mit einem verliebten Mann oder einem Gläubigen,

der sein forderndes Ego automatisch aufgibt und sich hilflos einem erfreulichen und

mysteriösen Zwang unterwirft«.328

Dieser Zwang, den man auch auf Bergsons philosophische Methode der Intuition übertragen

könnte, impliziert wohlgemerkt nicht, dass der Rezipient der Intention des Künstlers oder

Philosophen hilflos ausgeliefert wäre. Vielmehr äußert er sich darin, dass die eigentliche

Originalität eines künstlerischen oder philosophischen Werks genau genommen erst in dem

Moment zum Tragen kommt, wo der Rezipient beginnt, seine eigene Position zu hinterfragen

und sich in Anbetracht der Gegebenheiten des Bewusstseins einen Reim auf die ungeahnten

Möglichkeiten zu machen, die es jenseits des vorgefertigten Rahmens dieses spezifischen

Werks zu entdecken gilt. Während die führenden Vertreter des historischen Avantgardismus

die Position »dominierender Zuschauer« einnahmen, indem sie Bergsons Philosophie auf

theoretischer Ebene bemühten, um ihre künstlerischen Innovationen zu rechtfertigen, darf

Duchamp sozusagen als bereitwilliges »Opfer« jenes »ästhetischen Echos« betrachtet werden,

durch das seine »Malerei« eine metaphysische Dimension bekommen und er den Horizont des

Bergsonismus zugunsten einer Reihe medialer Innovationen transzendieren sollte.

326 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S 40. 327 Duchamp: Duchamp du signe, S. 45. 328 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S 39–40.

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2.3.3. »Ironie der Indifferenz«: Das Bild als Wirklichkeit

1927 installierte Duchamp in seinem Pariser Atelier in der Rue Larrey 11 eine Holztür, die er

eigens von einem Tischler hatte anfertigen lassen, um von seinem Arbeitsraum aus zwei

Türöffnungen gleichzeitig bedienen und damit wahlweise sein Schlafzimmer oder sein

Badezimmer betreten zu können (Abb. 59). Mit dieser effizienten Lösung widerlegte er eine

französische Redewendung, die besagt, eine Tür müsse entweder offen oder geschlossen sein:

Il faut qu’une porte soit ouverte ou fermée – was auf Deutsch soviel bedeutet wie »Man muss

sich für das eine oder das andere entscheiden.«329 Dass Duchamp dieser Binsenweisheit mit

seiner Tür spielerisch einen Strich durch die Rechnung machte, ist nur eines von vielen

Beispielen dafür, dass es ihm ein Anliegen war, vorschnelle Antworten zu vermeiden und die

Dinge in der Schwebe zu halten. Wie Molderings bemerkt, ging es Duchamp dabei allerdings

weniger darum, die Sachverhalte, die er in Frage stellte, zu widerlegen oder zu negieren, als

vielmehr darum, ihnen Behauptungen gegenüberzustellen, neben denen sie gleichwertig

weiterbestehen, jedoch zugleich in einem anderen Licht erscheinen konnten. »Duchamps

Kunst«, so Molderings, »ist eine Kunst, die Fragen stellt, keine Kunst, die, weil sie die

Antworten bereits kennt, die gegnerische Position verhöhnt.«330 Wenn Duchamp postuliert:

»Es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt«,331 so verweist er jedoch nicht nur auf die

generelle Problematik definitiver Behauptungen oder Antworten, sondern auch und vor allem

auf die Problematik, die dem Problembegriff selbst innewohnt. So ist Duchamp der Meinung,

dass Probleme »eine Erfindung der Menschen« und damit »unsinnig« sind, und dass es

folglich immer auch Wege gibt, sie zu umgehen, sie gar nicht erst aufkommen zu lassen oder

sie schlichtweg zu ignorieren.332 Das adäquate Mittel, um Problemen zu begegnen, ist für

Duchamp daher eine spezifische Form der Ironie, die er einerseits als »Ironie der

Affirmation« oder »Bejahungsironie« und andererseits als »Ironie der Indifferenz« begreift:

329 1954 bemerkte Duchamp im Interview mit Michel Sanouillet: »Ich bewohnte in Paris eine winzige Wohnung. Um diesen mageren Raum maximal auszunützen, kam ich auf die Idee, einen einzigen Türflügel zu verwenden, der sich abwechselnd in zwei rechtwinklig zueinander stehende Türrahmen einfügen sollte. Ich zeigte diese Sache meinen Freunden und sagte, daß das Sprichwort ›Il faut qu’une porte soit ouverte ou fermée‹ hiermit in flagranti der Unexaktheit überführt werde. Den praktischen Grund, der mir diese Maßnahme diktierte, hat man aber vergessen, um nur die dadaistische Herausforderung daran festzuhalten.« Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 50. Mit dem »praktischen Grund« meint Duchamp seine Hochzeit mit Lydie Sarazin-Levassor, die, nachdem sie keine größere Wohnung gefunden hatten und er in seinem Atelier ein Bad hatte einbauen lassen, nach der Eheschließung im Juni 1927 bei ihm einziehen sollte, vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 324. Ehegelübde hin oder her sollte sich Duchamp aber auch in dieser Hinsicht an die besagte Redewendung halten, insofern er seine Entscheidung kurz darauf rückgängig machte und die Scheidung forderte, vgl. ebd., S. 330. 330 Herbert Molderings: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps ›3 Kunststopf-Normalmaße‹, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, S. 130. 331 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 30. 332 Zit.n. ebd.

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»Ironie ist ein spielerischer Weg, etwas zu akzeptieren. Meine Ironie ist die Ironie der

Indifferenz, ist eine ›Meta-Ironie‹.«333 So geht es ihm auch weniger um eine Idee der

Weiterentwicklung als um eine Idee der Vergegenwärtigung, wenn er mit einem Zwinkern in

Richtung von Bergsons Methode der Intuition postuliert: »es gibt keinen revolutionären Geist;

eigentlich gibt es nur einen Unterschied, wie die Zeit vorbeigeht«.334

Angesichts der Tatsache, dass Duchamp das Prinzip der »Meta-Ironie« spätestens seit seiner

Ankunft in New York für sich entdeckt und mit Ready-mades und Schreibexperimenten

bereits in die Tat umgesetzt hatte, dürfte sich jeder Zweifel erübrigen: Mit dem Titel der

Zeitschrift Rongwrong, deren erste und einzige Ausgabe er im Juli 1917 gemeinsam mit

Henri-Pierre Roché und Beatrice Wood als eines der ersten Organe der New Yorker Dada-

Bewegung lancierte (Abb. 60), haben sich die drei Herausgeber/innen wohl einen Scherz

erlaubt. Denn nicht nur widerspricht es den Regeln der Orthografie, den englischen Begriff

wrong mit der Bedeutung ›falsch‹ zu verdoppeln, ohne wenigstens einen Zwischenraum

einzufügen. Auch kann der offensichtliche Fehler, infolge dessen das Wortdoppel seines

ersten Buchstabens entbehrt, in diesem Zusammenhang nur mit Absicht zustande gekommen

sein. DADA! Das impliziert schließlich ein mutwilliges Brechen mit Konventionen, die

Freiheit zum Unsinn, die Frechheit zur Provokation, den Mut zur Lücke, ein Hoch auf die

Unkultur. – So kann man sich täuschen. Wrongwrong, mit einem großen W am Anfang: So

sollte die Zeitschrift eigentlich heißen, und die Herausgeber/innen haben den doppelbödigen

Witz des veröffentlichten Titels nicht etwa ihrer eigenen Kreativität, sondern einzig einem

glücklichen Zufall, nämlich einem Druckfehler zu verdanken.335 Diesen Fehler rückgängig zu

machen musste dem Trio nun aber doch widersinnig erscheinen. Und so blieb es dabei: Der

Titel der Zeitschrift Rongwrong sollte den Begriff des Falschen nicht nur in zweifacher

Hinsicht verdoppeln, sondern noch dazu exemplarisch vor Augen führen, in welchem Sinne

er denn eigentlich zu verstehen sei. Was hier zum Tragen kommt, ist einerseits ein Fehler,

andererseits aber auch eine bestimmte Intention, vervollständigt durch einen

unwahrscheinlich treffenden Zufall. Ob richtig, falsch oder Alschfalsch, das war bei alledem

also vielleicht gar nicht so wichtig. Schließlich lagen Schönheit und Reiz des Dadaismus doch

vor allem in der Fähigkeit, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind – wohlweislich nicht, ohne

ihnen die eine oder andere Pointe abzugewinnen. Gefragt war in diesem Fall also zunächst

333 Duchamp zit.n. Molderings: Kunst als Experiment, S. 130 (Zitat erstveröffentlicht in: Harriet Janis, Sidney Janis: »Marcel Duchamp, Anti-Artist«, in: View: The Modern Magazine V, Nr. 1: Marcel Duchamp (März 1945), S. 18–19/21/23/24/53–54, S. 23). 334 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 146. 335 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 652 (Kat.-Nr. 348).

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einmal eine ordentliche Portion Gleichgültigkeit, gepaart mit einem ausgeprägten Sinn für

Humor: Wer entscheidet über richtig oder falsch? Was heißt gewollt? Wo liegt die Grenze

zwischen Kunst und Leben? Derartige Fragen waren für Duchamp offenbar alles andere als

ephemerer Natur.

So erlaubte sich Duchamp drei Monate zuvor, anlässlich der ersten Ausstellung der New

Yorker Society of Independent Artists im New Yorker Grand Central Palace, im Sinne seiner

»Ironie der Affirmation« einen – diesmal allerdings wohlkalkulierten – Scherz.336 In seiner

Funktion als Gründungsmitglied der Society und Mitglied des Hängungskomitees, welches

zuvor vereinbart hatte, im Rahmen der Ausstellung bewusst von jeglicher Form der Zensur

oder Vorauswahl durch eine Jury abzusehen, reichte er ein handelsübliches Urinal mit dem

Titel Fountain zur Ausstellung ein, das er kurz zuvor in einer Sanitärmanufaktur erstanden,

auf den Kopf gestellt und mit dem Pseudonym »R. Mutt« signiert hatte (Abb. 61).337 Sein

Pseudonym leitet sich von J. L. Mott Iron Works ab, dem Namen der Manufaktur, und

verweist zugleich auf den damals ausgesprochen populären Comicstrip Mutt and Jeff (Abb.

62),338 für den sich Duchamp gewiss nicht zuletzt deswegen interessierte, weil er früher selbst

Cartoons in der Pariser Tagespresse veröffentlicht hatte. »R.« für »Richard« fügte er als

Anspielung auf den französischen Slangausdruck für Geldtasche (richard) hinzu, der im

übertragenen Sinn auch für eine sehr reiche Person, einen ›Geldsack‹, steht.339

Wie schon sein Akt im Jahr 1912 wurde Fountain entgegen der ursprünglichen Vereinbarung

des Hängungskomitees nicht als Ausstellungsobjekt akzeptiert. So wurde das Objekt hinter

einem Schirm platziert, um es der Korrektheit halber zwar in der Ausstellung zu behalten, wo

es den Augen der Öffentlichkeit aber wohlweislich verborgen bleiben sollte. Im Dada- 336 Die Ausstellung fand im April 1917 im Grand Central Palace statt. 337 Sue Tate zufolge ging Duchamps Idee auf die Dada-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven zurück, was nicht zuletzt anhand der Tatsache zu belegen sei, dass er seiner Schwester Suzanne kurz vor der Eröffnung der Ausstellung geschrieben habe, dass eine seiner Freundinnen unter dem Pseudonym Richard Mutt ein Urinal als Skulptur eingereicht habe, Sue Tate: The surprising truth about Duchamp’s urinal (9. August 2015), http://www.counterfire.org/news/17945-the-surprising-truth-about-duchamp-s-urinal (aufgerufen am 28.12.2015). Diese Beweisführung steht allerdings im Widerspruch zur Tatsache, dass Duchamp im Herbst mit der Produktion von Ready-mades begonnen hatte und dass er bereits im April 1916 zwei Ready-mades in einer Ausstellung der New Yorker Bourgeois Gallery gezeigt hatte, vgl. Obalk: »The Unfindable Readymade« sowie die folgenden Seiten der vorliegenden Arbeit. 338 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 648–650, S. 649 (Kat.-Nr. 345). Der Comicstrip Mutt and Jeff wurde 1907 von Bud Fisher unter dem Titel A. Mutt ins Leben gerufen. Anfangs handelten sie von Augustus Mutt, der leidenschaftlich gerne auf Pferde wettet und dabei zumeist verliert. Clou der Geschichten war, dass es sich um reelle Pferde handelte, die am Tag des Erscheinens des jeweiligen Strips starten sollten, weshalb der Strip auf der Sportseite des San Francisco Chronicle veröffentlicht wurde. Die Figur Jeff tauchte erstmals 1908 auf und wurde ab 1910 fester Bestandteil des Comics. 1916 wurde der Name Jeff auch in den Titel aufgenommen. Der Strip, der von mehreren Zeichnern über 75 Jahre hinweg fortgesetzt wurde, war Grundlage zahlreicher Verfilmungen. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mutt_and_Jeff (aufgerufen am 28.12.2015). 339 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 648–650, S. 649 (Kat.-Nr. 345).

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Magazin The Blind Man, das er – wiederum in Zusammenarbeit mit Roché und Wood –

eigens zu diesem Zweck herausgegeben hatte, lancierte Duchamp daraufhin einen Artikel, der

mit »The Richard Mutt Case« betitelt ist und für dessen Illustration er von Alfred Stieglitz,

dem berühmten Fotografen, Galeristen und Mäzen avantgardistischer Kunst, ein Foto hatte

anfertigen lassen. Ohne seine Identität preiszugeben, schreibt Duchamp in diesem Artikel:

They say any artist paying six dollars may exhibit. Mr. Richard Mutt sent in a fountain. Without discussion this article disappeared and never was exhibited. What were the grounds for refusing Mr. Mutt’s fountain: – 1. Some contended it was immoral, vulgar. 2. Others, it was plagiarism, a plain piece of plumbing. Now Mr. Mutt’s fountain is not immoral, that is absurd, no more than a bathtub is immoral. It is a fixture that you see every day in plumbers’ shop windows. Whether Mr. Mutt with his own hands made the fountain has no importance. He CHOSE it. He took an ordinary article of life, placed it so that its useful significance disappeared under the new title and point of view – created a new thought for that object. As for plumbing, that is absurd. The only works of art America has given are her plumbing and her bridges.340

Wenn die Society of Independent Artists schon den Anspruch erhob, auf jegliche Form des

Urteils gegenüber den eingereichten Kunstwerken zu verzichten, so machte Duchamp mit

Fountain also die Probe aufs Exempel – und der Skandal, den er damit auslöste, gab ihm

recht. Schließlich sollte die Ausstellung, in der die rund 2.500 anderen eingereichten Werke

auch tatsächlich gezeigt wurden, letzten Endes vor allem wegen des einzigen nicht gezeigten

Werkes im Gespräch bleiben, da dieses zu einer grundsätzlichen Kontroverse über den

Kunstbegriff führen und in weiterer Folge als eines der Schlüsselwerke der modernen Kunst

in die Annalen der Kunstgeschichte eingehen sollte.

In Anbetracht der besonderen Aura, die Duchamps Ready-mades aus heutiger Perspektive

haben, gerät leicht in Vergessenheit, dass es schließlich Jahrzehnte dauern sollte, bis sie auch

tatsächlich das Licht der Öffentlichkeit erblickten. Nachdem Duchamp bereits 1913 erste

Experimente mit vorgefertigten Skulpturen gemacht und 1915 ausdrücklich zur Produktion

von »Ready-mades« übergegangen war, hatte Duchamp im April 1916 im Rahmen der

Ausstellung Modern Art after Cézanne in der New Yorker Bourgeois Gallery, wie der

dazugehörige Katalog unter »No. 50« verrät, zwar schon einmal »2 Ready-mades« ausgestellt

– von denen allerdings nur bekannt ist, dass sie in einer Art Vorraum und eventuell in einem

Schirmständer präsentiert wurden und (im Gegensatz zu den anderen im Hauptraum

340 Marcel Duchamp (unsigniert): »The Richard Mutt Case«, in: The Blind Man, Nr. 2: P. B. T. (Mai 1917), S. 5, zit.n. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 649–650.

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ausgestellten Werken) mit keinerlei Hinweis betreffend Titel und Urheber versehen waren,

weshalb sie von den Besucher/innen der Ausstellung offenbar nicht als Werke zur Kenntnis

genommen wurden.341 Und nachdem Fountain, wie Duchamp geahnt haben mochte, im Jahr

darauf gar nicht erst ausgestellt wurde, sollte es schließlich bis 1936 dauern, bis mit einer

Replik seines Flaschentrockners von 1914 im Rahmen einer von André Breton organisierten

Ausstellung in der Pariser Galerie Charles Ratton erstmals ein Ready-made öffentlich gezeigt

wurde.342 Abgesehen davon, dass er sich nicht um deren Vermarktung kümmerte, stand

Duchamp seinen Ready-mades aber auch ganz prinzipiell mit einer bezeichnenden Indifferenz

gegenüber. Bei seinen mehrfachen Wohnungswechseln zwischen Paris und New York

landeten die Objekte zumeist auf dem Müll – warum auch nicht, standen sie als käufliche

Waren doch jederzeit zur Verfügung, um je nach Belieben erneut gefertigt und ins rechte

Licht gesetzt zu werden. Die meisten dieser Ikonen der modernen Kunst existieren daher

heute nur noch in Form jener Repliken, die Duchamp in den 1960er Jahren auf Initiative

seines Mailänder Galeristen Arturo Schwarz hat anfertigen lassen.

So stellte sich für Duchamp offenbar von allem Anfang die Frage nach dem grundsätzlichen

Status seiner sculptures toutes faites. »Kann man Werke schaffen, die nicht ›Kunst‹ sind?«,343

fragte er sich 1913 in einer Notiz, die er 1967, ein Jahr vor seinem Tod, in der so genannten

Weißen Schachtel veröffentlichte. Letztere trägt den Titel À l’infinitif (Im Infinitiv) und

bezieht sich damit auf die Verbform, in der die meisten in der Schachtel enthaltenen Notizen

verfasst sind und die, nomen est omen, auf lateinisch infinitum »unbestimmt, unvollendet«

zurückgeht (Abb. 63).344 Was aber faszinierte Duchamp so an der Idee, einen gewöhnlichen

Gebrauchsgegenstand in ein Kunstwerk zu verwandeln? 1961, anlässlich eines Vortrags im

New Yorker Museum of Modern Art, verwies Duchamp mit Nachdruck auf die Tatsache,

»daß die Wahl dieser ›Ready-mades‹ nie von einer ästhetischen Lust diktiert« worden sei:

»Diese Wahl beruhte auf einer Reaktion visueller Indifferenz, bei einer gleichzeitigen totalen

Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack ... In der Tat eine völlige

341 Vgl. Obalk: »The Unfindable Readymade«. 342 Vgl. ebd. 343 Duchamp: Duchamp du signe, S. 105. 344 Deleuze bringt die Verbform des Infinitiv unter anderem mit seiner Theorie der »Ereignisse« in Verbindung: »Man kann nicht sagen, daß sie [die Ereignisse] existieren, sondern eher, daß sie subsistieren oder insistieren, da sie über jenes Mindestmaß an Sein verfügen, das all dem zukommt, was kein Ding, was nicht-existierende Entität ist. [...] Es handelt sich nicht um lebendige Gegenwarten, sondern um Infinitive: grenzenloser Äon, Werden, das sich bis ins Unendliche in Vergangenheit und Zukunft teilt und dabei stets der Gegenwart ausweicht.« Deleuze: Logik des Sinns, S. 19–20. Zur »Poesie« als »Ereignis der Sprache«, vgl. ebd., S. 231.

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Anästhesie.«345 Auf dieses Moment der Indifferenz, in anderen Worten, auf diese Absage an

jegliche Form der Zensur oder der Bewertung, kam Duchamp in unzähligen Interviews immer

wieder zurück – so beispielsweise auch 1966 im Interview mit André Parinaud:

Mit einem Gefühl der Indifferenz ihm [dem Objekt] gegenüber pflegte ich es zu wählen, sehen sie. Und das war schwierig, weil alles schön wird, wenn Sie es lange genug anschauen. [...] Sehen Sie, es gibt doch eine Form von Indifferenz im Leben, wir sind vielen Dingen gegenüber indifferent, nicht wahr? [...] speziell in der Malerei, in der Kunst im allgemeinen, war es stets eine Sache des Geschmacks, sehen Sie? [...] Und in diesem Falle ging es darum, diese [215/216] Intention oder dieses Gefühl loszuwerden und die Existenz des Geschmacks, des guten oder schlechten oder indifferenten, vollständig aufzuheben.346

Duchamps Ready-mades sind somit weniger als ästhetisches, sondern vielmehr als kritisches,

philosophisches Statement zu verstehen, oder wie Octavio Paz es ausdrückt, »sie sind keine

Werke, sondern eher Fragezeichen oder Zeichen der Negation, die sich der Idee von Werken

gegenüberstellen.«347 Wesentlich ist, dass die Ready-mades, bei allen naheliegenden oder von

Duchamp nahegelegten Interpretationszusammenhängen, eben keinen Sinn machen und keine

bestimmte Bedeutung haben, sondern für ein Moment der Selbstbestimmung und für eine

konsequente Form der Kritik stehen, die als solche unentschieden bleibt und bleiben muss.

Als Werke oder Gesten ohne Intention und Inhalt stellen die Ready-mades ein Paradox dar:

Sie basieren auf einem Auswahlverfahren ohne Kriterien, sie erzeugen Gebrauchsgegenstände

ohne Nutzen, sie generieren Sinn durch Bedeutungslosigkeit. Wenn sich Duchamp fragte:

»Kann man Werke schaffen, die nicht ›Kunst‹ sind?«, so konnte er sich also offenbar nicht

nur – er wollte sich auch nicht entscheiden, ob die Ready-mades nun Kunst seien oder nicht.

Vielmehr waren sie für ihn ein Befreiungsschlag gegen die Konventionen der Kunstwelt und

die Anforderungen des Markts, ein Akt der Emanzipation von überholten Vorbildern und »ein

Mittel, um von der Tauschbarkeit, der Vermünzung des Kunstwerks wegzukommen, die etwa

damals langsam aufkam«.348 Die wahre Freiheit, das war für Duchamp die Freiheit, sich gar

nicht entscheiden zu müssen, ob seine Werke nun Kunst seien oder nicht: eine Freiheit, die er

in der »Schönheit der Indifferenz«, in der »Ironie der Indifferenz« für sich entdecken und die

ihn zeitlebens nicht mehr loslassen sollte.

345 Marcel Duchamp: »Hinsichtlich der ›Ready-mades‹« (1961), in: ders.: Der kreative Akt. Duchampagne brut, aus dem Franz., komm. u. hg. v. Serge Stauffer, Hamburg: Edition Nautilus 1992, S. 43–44, S. 43. 346 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 215–216. 347 Octavio Paz: »The Ready-made«, in: Joseph Masheck (Hg.): Marcel Duchamp in Perspective, Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice-Hall 1975, S. 84–89, S. 84 (Übers. d. Verf.). 348 Zit.n. Duchamp: Marcel Duchamp Ready Made!, S. 51–52.

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Wenn man sich vor Augen führt, dass Duchamp seit 1913 und bis an sein Lebensende Ready-

mades produzierte, die erst seit den 1930er Jahren öffentlich wahrgenommen und erst seit den

1960er Jahren zu Ikonen hochstilisiert wurden, so wird aber auch deutlich, dass er seine

Ready-mades nicht nur als eine Geste der intellektuellen Emanzipation verstand, sondern dass

es ihm vor allem auch um eine Sache ging, die ihn ganz einfach amüsierte, wie er im

Interview mit Charbonnier betont, wenn er die »humoristische Form, die dem Ready-made

notwendig zugrunde liegt«, darauf zurückführt, dass ihn die Idee der Wahl damals vor allem

»in metaphysischer Hinsicht« interessiert habe: »Ich wollte, dass meine Wahl keinesfalls von

irgendetwas beeinflusst werden würde, was ich entkräften wollte. Das war das eigentliche

Problem. [...] Die Heiterkeit der Wahl muss dazwischenfunken.«349 Genau genommen macht

es also keinen Unterschied, ob man die Ready-mades nun als Kunstwerke definiert oder nicht:

Wichtig ist, dass sie jene Schwelle markieren, welche Kunst und Leben nicht nur voneinander

trennt, sondern auch miteinander verbindet.

Um diese Schwelle näher zu definieren, prägte Duchamp 1945 das für sein Kunstverständnis

zentrale Konzept des Infra-mince,350 das heißt des »Infradünnen« oder »Hauchfeinen«, in

dessen Bereich die »Erscheinung« mit Egenhofer gesprochen »ins Werden getaucht« ist,351

insofern sie an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit oszilliert. Es handelt sich hier um einen

Neologismus, der sich Duchamp zufolge auf alle Phänomene anwenden lässt, die sich an der

Grenze des gerade noch Wahrnehmbaren, aber nicht notwendigerweise Wahrgenommenen

abspielen.352 Auf der Rückseite der Zeitschrift View, die ihm 1945 eine Sonderausgabe

widmete, sollte Duchamp ein erstes Beispiel geben, indem er unterschiedliche Lettern zum

Satz zusammenfügte: »Wenn der Tabakrauch zugleich nach dem Mund riecht, der ihn

ausatmet, so vermählen sich die zwei Gerüche durch Infra-mince« (Abb. 24).353 An anderer

Stelle verweist er darauf, dass zwei vermeintlich identische Massenartikel, die der selben

Gussform entnommen sind, immer auch infinitesimale Unterschiede aufweisen, oder, um ein

weiteres seiner Beispiele zu nennen, dass die Reflexion eines Spiegels oder Glases eine

»hauchdünne Trennung« (séparation inframince) darstelle, welche die Bedeutungen Intervall

349 Charbonnier: Entretiens avec Marcel Duchamp, S. 61/66 (Übers. d. Verf.). 350 Duchamps gesammelte Notizen zum Inframince finden sich in Duchamp: Notes, S. 19–47. 351 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 196. 352 Jean Clair dazu: »Von einem mehr sinnlichen, intuitiven Standpunkt aus gesehen könnte man sagen, dass INFRA-MINCE der unendlich schmale Rand ist, der eine Schwelle ausmacht: Hörschwelle, Sehschwelle, Geruchschwelle, alles, was zu den höchsten Feinheiten der Sinneswahrnehmung gehört.« Zit.n. Joseph Hanimann: »Infra-mince oder das Unendliche Dazwischen. Zu einem Begriff aus dem Nachlass Marcel Duchamps«, in: Pantheon XLIV (1986), S. 134–140, S. 139. 353 View: The Modern Magazine V, Nr. 1: Marcel Duchamp (März 1945), Originalwortlaut: »QUANd / lA FuMÉe de tABAC / seNT aussi / de La bouche / qui L'EXHALE, / leS DEUx ODEURS / S’ÉpOUSeNt par / INFRA-mINce«.

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und Scheidewand in sich vereinige.354 In Analogie zu dieser hauchdünnen Trennung kommt

Duchamp in seinen »allgemeinen Notizen für ein Lachbild« aus der Grünen Schachtel auch

auf die Formel »Präzisionsmalerei, und Indifferenzschönheit«, um ebenda festzuhalten:

»Immer oder fast immer das Warum der Wahl zwischen 2 oder mehreren Lösungen angeben

(durch ironische Kausalität)« und ferner zu betonen: »Die Ironie der Affirmation:

Unterschiede mit der negierenden Ironie, die nur vom Lachen abhängt.«355

Duchamps ging es nicht darum, der Kunst ihre Künstlichkeit zu nehmen und sie dem Ideal

der »Natürlichkeit« zu unterstellen, sondern vielmehr darum, sie mit den Mitteln der Subtilität

in ihrer Künstlichkeit und ihrem Humor zu bestärken und sie gerade dadurch mitten im Leben

zu verorten. Dieses Anliegen sollte sich mit dem Topos der Braut in den unterschiedlichsten

Metamorphosen durch sein gesamtes Leben und Werk ziehen. So spiegelt es sich eben auch

in jenem »Lachbild« wieder, dessen Horizont Duchamp nicht nur als Brautkleid, sondern

auch als Scharnier definiert, welches die beiden Domänen des Bildes analog zur Logik von

Infra-mince gleichzeitig trennt und verbindet (Abb. 35). Diese Scharnierlogik betrifft

bezeichnenderweise nicht nur den Bildinhalt, sondern auch das Werk als Ganzes. Indem

Duchamp auf das Medium Glas zurückgreift, entscheidet er sich für einen transparenten

Bildträger, der je nach Beleuchtungssituation aber auch undurchsichtig erscheinen und sich

damit in einen Spiegel verwandeln kann. Im übertragenen Sinne figuriert die Braut sozusagen

als Allegorie auf das Leben, das sich jenseits der Bildebene abspielt und dessen potentielle

Entblößung durch die Transparenz des Bildes gewährleistet ist. Die Junggesellenmaschine

hingegen symbolisiert den vorgefertigten Mechanismus des Kunstwerks, angesichts dessen

der Betrachter gleichsam in den Spiegel seines eigenen, stereotypen Begehrens blickt und

damit nicht umhin kommt, sich sein eigenes Bild von dieser rätselhaften Braut zu machen.

Ob die Braut nun tatsächlich entblößt wird oder nicht, hängt damit davon ab, ob wir unsere

Aufmerksamkeit allein auf den Bild-Horizont und sozusagen auf jene »Konfektionskleider«

richten, die Bergson im Rahmen seiner Analyse des Schöpferischen mit den Grenzen unseres

Intellekts identifiziert, indem er sie auf die Prinzipien des »Mechanismus« und »Finalismus«

zurückführt,356 oder ob wir Duchamps Kunstwerke und Konfektionswaren als Fenster oder

Spiegel betrachten, durch die das Leben selbst – in all seiner Ambivalenz, Unentschiedenheit

354 Duchamp: Notes, S. 22. Vgl. oben, Kap. 2.1.3. 355 Duchamp: Duchamp du signe, S. 46. 356 Vgl. Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 47: »Im ersten Kapitel proben wir die beiden Konfektionskleider, über die der Verstand verfügt, proben Mechanismus und Finalismus dem Entwicklungsfortschritt an. Wir zeigen, daß keins von beiden sitzt, daß aber das eine [der Finalismus] umgeschnitten und umgenäht werden [muss], und in dieser neuen Form weniger schlecht passen könnte als das andere.«

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oder auch Künstlichkeit – in Erscheinung tritt. Bezeichnenderweise hat Duchamp aber nicht

nur die leblose Materie, sondern auch seine eigene Person in ein Kunstwerk verwandelt.

Besonders deutlich wird dies an seinem weiblichen Alter Ego Rrose Sélavy, mit dem er seine

Identität als Künstler in Frage stellte, um sie gleichzeitig um ein weiteres Moment der

Indifferenz – in diesem Falle gegenüber den Geschlechtern – zu erweitern (Abb. 22). Mit

seinem Rrose Sélavy ging es Duchamp in letzter Konsequenz um nichts anderes als das Leben

und den allgegenwärtigen élan des Eros. Ob er seine Zeit nun auf Kunst oder auf Reisen, auf

das Schachspiel oder auf das nackte Leben verwendete, das war für ihn einerlei. So erinnert

sich Georges Herbiet Christian, dass Duchamp am Abend des 1. Oktober 1968, an dem er

einige Freunde zum Essen geladen hatte, um nur wenige Momente nach deren Abschied das

Zeitliche zu segnen, dass Duchamp also an diesem seinem buchstäblichen Lebensabend

gesagt haben soll: »Ein Maler, der malt, um zu verkaufen, macht sich zum Bilderhändler. [...]

Kunst und Kreation findet man nur in dem, was mit Lust und um der Lust willen gemacht

wird. Mit Annehmlichkeit zu leben, das ist für mich die erste aller Künste.«357 Die »Ironie der

Indifferenz«, die Duchamp im Hinblick auf seine Kunst vertrat, verband er also nicht nur mit

dem Leben, sondern auch mit dessen dunklem Gegenspieler, dem Tod. Schließlich wollte

Duchamp, seines Lebens unermüdlicher Herr, selbst auf seinem Grabstein noch in Stein

gemeißelt wissen: »Übrigens sind es immer die anderen, die sterben« (Abb. 64).

357 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 238.

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3. ZEITHISTORISCHER KONTEXT: BERGSON NACH DUCHAMP

Es gibt keine Dreiteilung mehr zwischen einem Bereich der Realität (der Welt),

einem Bereich der Darstellung (dem Buch) und einem Bereich der

Subjektivität (dem Autor).1

Mit dem Paradigmenwechsel, der sich mit der Konjunktur strukturalistischer und

poststrukturalistischer sowie neo- und postavantgardistischer Diskurse und Praktiken um die

Mitte des 20. Jahrhunderts abzuzeichnen begann, erfuhren die Werke Bergsons und

Duchamps, nachdem sie im über Jahrzehnte hinweg vorwiegend ein Schattendasein geführt

hatten, zeitgleich eine bemerkenswerte Aufwertung. So wurde Bergsons Philosophie, die mit

dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zunehmend eines fatalen Intuitionismus bezichtigt und

daraufhin über weite Strecken nur noch im Sinne einer Hintergrundfolie für unterschiedliche

philosophische Strömungen wie Epistemologie, Phänomenologie und Strukturalismus

wahrgenommen worden war, seit Mitte der 1940er Jahre durch Autoren wie Jean Wahl, Jean

Hyppolite und Maurice Merleau-Ponty nach und nach rehabilitiert, um mit Gilles Deleuze

schließlich einen vehementen Fürsprecher zu finden, der Bergson als großen »Theoretiker der

Differenz« in Anschlag bringen2 und damit jenem Neo-Bergsonismus den Weg ebnen sollte,

durch den Bergson innerhalb der letzten Jahrzehnte wieder als zentrale Referenz für die

Philosophie des 20. Jahrhunderts anerkannt wurde und damit gleichzeitig in den Fokus der

Kunst- und Kulturwissenschaften geriet.3 Anders als im Fall von Bergson scheint die

Nachhaltigkeit von Duchamps Einfluss auf die zeitgenössische Kunst und Kunsttheorie, die

angesichts einer nicht enden wollenden Reihe von Publikationen und Referenzen nicht von

1 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, aus dem Franz. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, Berlin: Merve 1993, S. 36/38. 2 1956 widmete Deleuze Bergson erstmals zwei Texte: »Bergson, 1859–1941« und »Der Begriff der Differenz bei Bergson«, beide in: Gilles Deleuze: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974, hg. v. David Lapoujade, aus dem Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 28–43 und S. 44–75. 1966 erschien sein Band Le Bergsonisme (Henri Bergson zur Einführung), 1983 und 1985 erschienen die beiden Bände L’image-mouvement. Cinéma 1 (Das Bewegungs-Bild) und L’image-temps. Cinéma 2 (Das Zeit-Bild) mit Deleuzes berühmt gewordenen »Bergson-Kommentaren«. Elisabeth Grosz zufolge betrachtete Deleuze Bergson als »the greatest theorist of difference«, Elizabeth Grosz: »Bergson, Deleuze and the Becoming of Unbecoming«, in: parallax 11, Nr. 2 (2005), S. 4–13, S. 4. 3 So veranstaltete das Londoner Courtauld Institute of Art im Februar 2011 eine Konferenz zum Thema Bergson and His Postmodern and Immanent Legacies, vgl. http://www.thelondongraduateschool.co.uk/blog/bergson-and-his-postmodern-and-immanent-legacies/ (aufgerufen am 28.12.2015) sowie John Mullarkey [John ó Maoilearca], Charlotte de Mille (Hg.): Bergson and the Art of Immanence: Painting, Photography, Film, Edinburgh, U.K.: Edinburgh University Press 2013.

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der Hand zu weisen ist, aus heutiger Perspektive kaum einer Erwähnung zu bedürfen.4 Dabei

täuscht Duchamps Omnipräsenz im Feld der zeitgenössischen Kunst doch über die Tatsache

hinweg, dass Duchamp bis ins hohe Alter nur im Kreis einer kleinen künstlerischen Elite

Anerkennung fand, da er seine Werke nur in Ausnahmefällen ausgestellt und für ein breiteres

Publikum zugänglich gemacht hatte. Tatsächlich wurde Duchamp erst seit Mitte der 1950er

Jahre, als er mit Museumsankäufen, Ausstellungen und Publikationen ins Licht der

Öffentlichkeit rückte, zur unumgänglichen Ikone der internationalen Kunstszene und

namentlich zum Vorbild einer ganzen Generation junger Künstler/innen und Intellektueller

hochstilisiert, die unter den Vorzeichen von Neodadaismus, Pop Art, Op Art, Happenings,

Fluxus, Nouveau Réalisme, Minimalismus, Konzeptkunst und Appropriation Art auf eine

Engführung von Kunst, Philosophie und Lebenspraxis abzielten, indem sie zunehmend auf

Phänomene der Alltagskultur rekurrierten, unterschiedlichste Kulturtechniken zum Einsatz

brachten und entgegen einem substantialistischen Werkbegriff die Prinzipien der

Prozessualität, der Kontingenz und des Transformismus ins Zentrum ihrer

Auseinandersetzung rückten.

Im Rahmen einer Einführung in die Rezeptionsgeschichte soll im Folgenden verdeutlicht

werden, dass die Werke Bergsons und Duchamps nicht nur inhaltliche und methodische

Korrespondenzen aufweisen, sondern vor allem auch im Hinblick auf ihr produktives

Potential in dieselbe Stoßrichtung zielen. Es gilt zu zeigen, inwiefern das Erbe Bergsons und

Duchamps in der Kunst und Philosophie des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts und vor

allem im Kontext neoavantgardistischer und postmoderner Diskurse und Praktiken einerseits

produktiv gemacht wurde, andererseits aber auch verkürzte Lesarten und mitunter auch

grundlegende Missverständnisse zutage gefördert hat. Der kritische Impetus, mit dem sich

neoavantgardistische und postmoderne Ansätze im Sinne von Methodenvielfalt, Relativismus

und Institutionskritik gegen zentrale Paradigmen des Modernismus wandten und wenden,

impliziert schließlich wiederum neue Paradigmen, die es im Folgenden zu historisieren und

damit aufs Neue in Frage zu stellen gilt.

4 Zur zentralen Bedeutung Duchamps für den zeitgenössischen Diskurs, vgl u.a. Kuenzli/Naumann: Marcel Duchamp. Artist of the Century; Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp; Martha Buskirk, Mignon Nixon (Hg.): The Duchamp Effect. Essays, Interviews, Round Table, Cambridge, Mass.: MIT Press 1996.

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3.1. »Artist of the Century«: Duchamp als Ikone des Neo- und Post-Avantgardismus

»Has it already been a hundred years since Duchamp was born? He seems to belong to a

younger generation […]. Rarely do we celebrate the hundredth birthday of an artist whose

works seem so contemporary, exciting, and still provocative.«5 Diese Zeilen, mit denen

Rudolf E. Kuenzli seine Einführung zum Duchamp-Sonderheft der Zeitschrift

Dada/Surrealism von 1987 eröffnet, bringen eindrücklich auf den Punkt, welches Ansehen

Duchamp als Star der internationalen Kunstszene genoss, nachdem sein Werk erst in den

1950er Jahren, als er bereits auf seinen 70. Geburtstag zuging, von einer breiteren

Öffentlichkeit ›entdeckt‹ worden war. Seinen Status als Vaterfigur der zeitgenössischen

Kunstwelt hat Duchamp – mit allen Ambivalenzen, die mit der Vaterfigur als solcher

verbunden sind – in gewisser Hinsicht bis heute nicht eingebüßt: Nach wie vor erscheint

Duchamp als unumgänglicher Bezugspunkt für einen Kunstbegriff, der nicht nur die

Produktionsbedingungen von Kunst und sozusagen deren ideologische, mediale und

materielle Bedingtheit zur Debatte stellt, sondern auch den Kontext der Rezeption und die

Maschinerie des Kunstmarkts als wesentliche Voraussetzungen für die Definition von Kunst

mitdenkt. So gerät aus heutiger Perspektive allzu leicht in Vergessenheit, dass Duchamp über

Jahrzehnte hinweg tatsächlich vorwiegend in Insiderkreisen oder überhaupt im Untergrund

der zeitgenössischen Kunstwelt tätig (oder auch untätig) gewesen war, ehe er seine

distanzierte Haltung gegenüber der Öffentlichkeit Ende 1955, im Rahmen seines ersten

Fernsehinterviews gegenüber James Johnson Sweeney, auf die Gefahr zurückführte, keinem

»idealen«, sondern »dem unmittelbaren Publikum« zu gefallen, »das dich umstellt und dich

vereinnahmt und dich akzeptiert und dir Erfolg und all das bereitet. Statt dessen würde ich«,

so fügte er hinzu, »lieber auf das Publikum warten, das fünfzig Jahre – oder hundert Jahre –

nach meinem Tod kommt.«6 Diese Überzeugung brachte Duchamp im Rahmen eines

Vortrags am Philadelphia Museum College of Art 1961 auch zu dem Schluss, der »Künstler

von morgen« müsse nicht nur die Frage der Repräsentation, sondern auch sämtliche Ismen

5 Rudolf E. Kuenzli: »Introduction«, in: ders./Naumann: Marcel Duchamp. Artist of the Century, S. 1–11, S. 1. Bei der Taschenbuchausgabe, die 1990 erstveröffentlicht wurde, handelt es sich um einen Wiederabdruck der Zeitschrift Dada/Surrealism 16, Nr. 1: Front Matter – Duchamp Centennial (1987), hg. v. Rudolf E. Kuenzli u. Mary Ann Caws in Zusammenarbeit mit Francis M. Naumann. 6 Der 30-minütige Film James Johnson Sweeney: A Conversation with Marcel Duchamp wurde Ende 1955 gedreht und erstmals im Januar 1956 im NBC-Programm »Elderly Wise Men of Our Day« ausgestrahlt, Ausschnitte sind abgedruckt in Stauffer: Interviews und Statements, S. 53–61, zit.n. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 457–458.

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hinter sich lassen, um sich »wie Alice im Wunderland durch den Spiegel der Retina

hindurchzubewegen« und damit zu einem »tieferen Ausdruck« zu gelangen:

If we now envisage the more technical side of a possible future, it is very likely that the artist, tired of the cult for oils in painting, will find himself completely abandoning this five-hundred-year old process, which restricts his freedom of expression by its academic ties. | Other techniques have already appeared recently and we can foresee that just as the invention of new musical instruments changes the whole sensibility of an era, the phenomenon of light can, due to current scientific progress, among other things, become the new tool for the new artist. | In the present state of relations between artists and the public, we can see an enormous output which the public moreover supports and encourages. Through their close connection with the law of supply and demand the visual arts have become a ›commodity‹; the work of art is now a commonplace product like soap and securities. […] In conclusion, I hope that this mediocrity, conditioned by too many factors foreign to art per se, will this time bring a revolution on the aesthetic level, of which the general public will not even be aware and which only a few initiates will develop on the fringe of a world blinded by economic fireworks. | The great artist of tomorrow will go underground.7

3.1.1. Duchamp als Kurator und Konservator seines eigenen Werks

Bezeichnend ist, dass Duchamp tatsächlich nicht nur mangels entsprechender Gelegenheiten,

sondern über weite Strecken auch aus freien Stücken vermieden hatte, seine Person und sein

Werk ins Rampenlicht einer breiten Öffentlichkeit zu stellen. Zur Überzeugung, dass es

besser sei, sich den Erwartungen der Kunstwelt und damit auch den Mechanismen des

Kunstmarkts zu entziehen, war er bereits 1912 gelangt, als er seinen Akt, eine Treppe

herabsteigend, Nr. 2 von der Ausstellung im Salon des Indépendants zurückzog und im

Rahmen seines Münchenaufenthalts begann, nur mehr »für sich selbst« zu arbeiten, »wie bei

einem Schiffbruch«,8 um sich fortan mit unterschiedlichen Gelegenheitsjobs von der

»manuellen Knechtschaft des Künstlers« zu befreien.9 So nahm Duchamp 1913 in Paris

zunächst die Stelle eines Hilfsbibliothekars an, um sich seinen Lebensunterhalt in New York,

Buenos Aires und Paris in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten unter anderem als

Französischlehrer, als Kunsthändler und (wenn auch mit geringem Erfolg) als Erfinder

optischer Gerätschaften zu verdienen, während er seine Werke zumeist an seine Freunde und

7 Marcel Duchamp: »Where do we go from here?« (1961), aus dem Franz. v. Helen Meakins, in: Studio International 189, Nr. 973 (Januar–Februar 1975), S. 28. 8 Duchamp zit.n. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 114. Vgl. oben, Kap. 1.3.1. und 1.3.2. 9 Duchamp zit.n. Caumont/Gough-Cooper: »Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy«, Eintrag zum 4. November 1912 (Übers. d. Verf.). Vgl. oben, Kap. 1.3.3.

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Sammler verschenkte und letztere entsprechend seiner eigenen Handhabe ausdrücklich dazu

anhielt, sie eben nicht für etwaige Ausstellungszwecke zur Verfügung zu stellen.10

Nachdem er seine Kunstproduktion seit der Vollendung des Großen Glases im Jahr 1923

mehr oder weniger eingestellt und sich stattdessen aufs professionelle Schach verlegt hatte,

nahm Duchamp gegen Mitte der 1930er Jahre – als er erfuhr, dass das Große Glas bei einem

Transport in die Brüche gegangen war – schließlich auch seine Tätigkeit als Verwalter seines

eigenen Nachlasses auf. Ehe er im Frühjahr und Sommer 1936 »Urlaub in der vergangenen

Zeit« machte, indem er im Rahmen eines Aufenthalts in New York die aufwändige Reparatur

des Großen Glases bewerkstelligte und nebenbei auch andere seiner früheren Werke (Rotative

Plaque Verre und 3 Maßnorm-Stoppagen) restaurierte und konservierte,11 hatte er in Paris

1934 bereits jene bemerkenswerten 320 Exemplare der Grünen Schachtel angefertigt, die

minutiöse Reproduktionen der zum Großen Glas gehörigen Notizen enthielten (Abb. 43), und

1935 überdies seine Arbeit an einem Miniaturmuseum in Angriff genommen, das ein Gros

seiner wichtigen Arbeiten vor 1923 enthalten und von dem er 1941 unter dem Titel De ou par

Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy (La boîte-en-valise) (Von oder durch Marcel Duchamp

oder Rrose Sélavy (Die Schachtel im Koffer)) ein erstes Exemplar veröffentlichen sollte (Abb.

65).12 »You have invented a new kind of autobiography«, schrieb ihm sein langjähriger

Freund und Sammler Walter Arensberg im Mai 1943, indem er Duchamps neue Identität als

Konservator und Kurator seines eigenen Werks scharfsinnig auf den Punkt brachte: »You

have become the puppeteer of your past.«13

Während Duchamp in Europa bis in die 1950er Jahre hinein dementsprechend so gut wie gar

kein öffentliches Leben führte und sein Werk nur seinen Vertrauten und Kollegen (und zum

Teil nicht einmal diesen) bekannt war, war er in den Vereinigten Staaten, wie Tomkins

hervorhebt, dennoch schon lange berühmter als Picasso oder Matisse.14 Nachdem sein Akt,

eine Treppe herabsteigend 1913 im Rahmen der legendären Armory Show zunächst in New

York und daraufhin auch in Chicago und Boston gezeigt worden war und einen landesweiten

Skandal ausgelöst hatte,15 war Duchamp, als er 1915 zum ersten Mal New Yorker Boden

betrat, bereits den meisten kunstinteressierten Amerikanern ein Begriff, und so standen die

10 Vgl. Catherine Craft: »Pictures of the Past: Dada and the Two Duchamps«, in: Ann Collins Goodyear, James W. McManus (Hg.): aka Marcel Duchamp. Meditations on the Identities of an Artist, Washington, D.C.: Smithsonian Institution Scholarly Press 2014, S. 123–141, S. 124–125. 11 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 355–357. Das Zitat stammt aus einem Brief, den Duchamp am 4. September 1936 an Katherine Dreier schrieb, zit.n. ebd., S. 359. 12 Vgl. Craft: »Pictures of the Past«, S. 125. 13 Zit.n. ebd. 14 Tomkins: Marcel Duchamp, S. 183. 15 Vgl. oben, Kap. 1.3.

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Journalisten bald Schlange, um den berühmten »Akt-eine-Treppe-herabsteigend-Mann«16 zu

interviewen und landauf landab ins Gespräch zu bringen. Doch anstatt die zahlreichen

Interviews und Pressemeldungen zu nutzen, um seine Karriere als Künstler voranzutreiben,

hielt Duchamp felsenfest an seinem Entschluss fest, dem »Leben eines Künstlers im Streben

nach Ruhm und Geld« zu entsagen.17 So stellte er seine Ready-mades, um nur ein Beispiel zu

nennen, zwar von Anfang an für öffentliche Ausstellungen zur Verfügung, allerdings nur,

indem er sie so unscheinbar in Szene setzte, dass sie nicht als solche wahrgenommen werden

konnten,18 oder indem seine wahre Identität hinter einem Pseudonym versteckte, um seiner

subversiven Geste darüber hinaus mit einer bissigen Rezension aus eigener Feder Nachdruck

zu verleihen.19

Gleichzeitig war Duchamp sehr wohl darauf bedacht, seine Werke in den guten Händen

weniger Freunde und Sammler versammelt zu wissen, denen er mitunter auch zu jenen

Werken verhalf, die ihren Besitzer bereits früher gewechselt hatten und die er den Fängen des

Kunstmarkts entriss, um sie seinen eigenen Vorstellungen gemäß in Szene setzen zu

können.20 Die zentrale ›Institution‹, derer sich Duchamp zur Inszenierung seines Nachlasses

bediente, fand er dabei schon 1915 in Louise und Walter Arensberg, die ihn als engagierte

Sammler zeitlebens unterstützten, indem sie nicht nur einen Großteil seiner Arbeiten

erwarben, sondern auch Duchamps Absicht teilten, sein Werk, das sie als »Herzstück« und

»einzigartiges Merkmal« ihrer Sammlung betrachteten,21 als ein zusammenhängendes Ganzes

zu bewahren. Der Nachdruck, mit dem sich Duchamp dafür einsetzte, die Sammlung der

Arensbergs zu vervollständigen, kommt in einem Brief zum Ausdruck, den er am 28.

September 1937 an Walter Pach schrieb, einen der Organisatoren der Armory Show von

1913, in dessen Besitz sich sein Gemälde Trauriger Jüngling im Zug von 1911 (eine

Vorstudie zum Akt, eine Treppe herabsteigend) damals befand:

Wieder zum Thema »Trauriger Jüngling im Zug« = Ich war natürlich bestürzt über den Preis, den Sie festgesetzt haben, und ich wollte nicht verhandeln, wollte Ihnen jedes Recht zugestehen, ihm einen Wert zuzuschreiben. | In Ihrem Brief weisen Sie mir 20% zu, auf $3500, d.h. $700, und ich weiß das sehr zu schätzen. | Könnten Sie diese 20%

16 »The Nude-Descending-a-Staircase Man Surveys Us« lautete die Schlagzeile über einem Sonntags-Feature in The New York Tribune (12. September 1912), Sec. IV, S. 2, online einsehbar via http://chroniclingamerica.loc.gov/lccn/sn83030214/1915-09-12/ed-1/seq-28.pdf (aufgerufen am 28.12.2015). Vgl. auch Tomkins: Marcel Duchamp, S. 179. 17 Duchamp im Interview mit Tomkins, zit.n. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 183. 18 So soll Duchamp im April 1916 zwei Ready-mades in der Ausstellung Modern Art after Cezanne in der New Yorker Bourgeois Gallery gezeigt haben, ohne diese als Kunstwerke kenntlich zu machen, vgl. Obalk: »The Unfindable Readymade« sowie oben, Kap. 2.3.3. 19 Man denke beispielsweise an den Skandal um Fountain (April 1917), vgl. oben, Kap. 2.3.3. 20 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 350ff. 21 Arensberg an Duchamp am 11. Januar 1945, zit.n. ebd., S. 433.

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weglassen und Ihren Betrag auf eine Summe zwischen $2000 und $2500 reduzieren? | Ich wäre mit $100, dieser Summe hinzugefügt, vollauf zufrieden. | Vor allem möchte ich nicht, dass Sie in meiner verspäteten Antwort ein unangenehmes Feilschen sehen: Ich habe Ihnen gesagt, warum ich gerne hätte, dass sich dieses Gemälde (wenn es Sie verlässt) wieder zu seinen Brüdern und Schwestern in Kalifornien gesellt_ | Ich bin nach wie vor überzeugt, dass meine Produktion, da sie nur von kleinem Umfang ist, keinerlei Anspruch auf Spekulation hat, d.h. von einer Sammlung zur nächsten zu reisen und dabei verstreut zu werden, und ich bin mir sicher, dass Arensberg, genauso wie ich, die Absicht hat, ein zusammenhängendes Ganzes aus ihr zu machen. | Sollte dieser Brief und mein Vorschlag Sie also nicht interessieren, vergessen Sie sie. | Sollten Sie meine Sicht der Dinge aber erwidern, werde ich sofort an Arensberg schreiben, und ich bezweifle stark, dass er ablehnt.22

Als Duchamp seine Zelte in Frankreich 1942 ein weiteres Mal abbrach und nach New York

übersiedelte (wo er, mit kürzeren Unterbrechungen, nunmehr bis an sein Lebensende bleiben

sollte),23 war die Stadt gerade auf dem Weg, Paris seinen Rang als Zentrum der modernen

Kunst abzulaufen. Von den zahlreichen Künstlern, die das kriegerische Europa verlassen und

in New York einen neuen Lebensmittelpunkt gefunden hatten, war er auch diesmal derjenige,

der, wie Catherine Craft konstatiert, »als eine Art Autorität« und einer der zentralen Zeugen

der wichtigsten Entwicklungen der modernen Kunst in Empfang genommen wurde.24 Schon

kurz nach seiner Ankunft wurde Duchamp von André Breton mit der Aufgabe betraut, nicht

nur den Katalog, sondern auch das Display zur Ausstellung First Papers of Surrealism zu

entwerfen, die als größte Ausstellung des Surrealismus, die je in den USA gezeigt werden

sollte, im Oktober 1942 in den Räumlichkeiten des Reid Mansion Building in Manhattan

eröffnet wurde, nachdem Duchamp ein Spinnennetz aus einer Meile Bindfaden installiert

hatte, durch das einige der gezeigten Werke kaum mehr zu sehen waren (Abb. 66).25 Eine

Woche später wurde Duchamps Schachtel im Koffer in der Eröffnungsausstellung von Peggy

Guggenheims Galerie Art of This Century, deren spektakuläre Ausstattung Frederick Kiesler

zu verantworten hatte, erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.26 Die Galerie, die in ihren

frühen Tagen als Schaufenster für die Surrealisten diente und die in den darauffolgenden

Jahren einer ganzen Generation von amerikanischen Künstlern (unter ihnen William Baziotes,

22 Zit.n. Naumann/Obalk: Affectt Marcel, S. 215 (Übers. d. Verf.). Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 362. 23 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 383–384. 24 Vgl. Craft: »Pictures of the Past«, S. 126: »Upon Duchamp’s arrival in New York in 1942, he found himself treated as a sort of authority, a key eyewitness to some of the most important developments in modern art. Whether the questions concerned cubism, futurism, or the Armory Show, scholars, curators, and dealers not only sought his opinion on works of art but also used him as a source of historical information*. [* Duchamp advised Peggy Guggenheim, and his opinions and recollections were sought out by Alfred H. Barr Jr., Pierre Matisse, Julien Levy, James Johnson Sweeney, and others.]« 25 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 387–388. 26 Kiesler hatte die Galerie, wie Tomkins schreibt, in einen »visuellen Jahrmarkt mit gekrümmten Wänden, exzentrischer Beleuchtung, Klangeffekten, Peep-Shows, und anderen Phantasmagorien« verwandelt, »die nie zuvor bei der Präsentation von Kunstwerken verwendet worden waren«. Vgl. ebd., S. 388–389.

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Robert Motherwell, Jackson Pollock, Mark Rothko und Clyfford Still) zur Größe verhelfen

sollte, zeigte 1943 auf Duchamps Initiative auch eine wegweisende Exhibition by 31 Women,

in der Künstlerinnen wie Leonora Carrington, Frida Kahlo, Meret Oppenheim, Sophie

Taeuber-Arp und Dorothea Tannig erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt wurden.27

Der stimulierende Effekt, den die kriegsbedingte Präsenz einer Vielzahl europäischer

Künstler/innen auf die New Yorker Kunstszene ausübte, führte in den 1940er Jahren im Sinne

einer Gegenbewegung zum Surrealismus bald zur Herausbildung der so genannten New York

School des Abstrakten Expressionismus, mit deren Höhenflug Duchamps Einfluss

unweigerlich abzunehmen begann, insofern eine intellektuelle Form der Auseinandersetzung

zugunsten des persönlichen Ausdrucks und eines »retinalen« Zugangs ins Hintertreffen geriet.

Während sich Duchamp um die Mitte der 1940er Jahre weitgehend aus der öffentlichen

Kunstszene zurückzog und sein Ruhm während der nächsten eineinhalb Jahrzehnte, wie

Tomkins – nicht ohne Übertreibung – konstatiert, »allmählich bis zur Unsichtbarkeit

schwinden« sollte,28 sah er sich gleichzeitig zunehmend mit dem Problem seines eigenen

Vermächtnisses konfrontiert. So machte er sich 1946 nicht nur an die Arbeit zu seinem

posthumen Coup Gegeben sei, der die Kunstwelt nach seinem Tod ein weiteres Mal vor den

Kopf stoßen sollte, sondern beschäftigte sich auch darüber hinaus intensiv mit der Frage, in

welcher Form er sein Werk einer von ihm vielfach herbeizitierten »Nachwelt« zukünftiger

Betrachter/innen überantwortet wissen wollte. Entgegen seinen früheren Neigungen erklärte

er sich 1945 nicht nur bereit, sich von James Johnson Sweeney (dem damaligen Kurator des

New Yorker MOMA) für dessen geplante Monografie (die als solche nie erscheinen sollte)

interviewen zu lassen und damit, wie Craft bemerkt, eine Möglichkeit wahrzunehmen, als

Pendant zum »linguistischen und visuellen« Komplex seiner Schachteln nunmehr die

Grundlage eines »kunsthistorischen und biografischen Narrativs« zu schaffen.29

Da sich der Gesundheitszustand der Arensbergs Ende der 1940er Jahre rapide verschlechterte

(beide waren damals bereits über siebzig, Duchamp über sechzig), wurde schließlich auch die

Zukunft ihrer Sammlung für Duchamp zu einer dringlichen Angelegenheit.30 Nachdem die

University of California, der die Arensbergs ihre Sammlung 1944 vermacht hatten, es trotz

27 Vgl. ebd., S. 390. 28 Vgl. ebd., S. 406. 29 Vgl. Craft: »Pictures of the Past«, S. 126: »At precisely the time when Duchamp had finished an intensive period of reviewing and formulating his own vision of his life’s work with the Box in a Valise, someone sat down with him and queried him extensively about this very subject, affording Duchamp his first opportunity to create in terms of and art historical and biographical narrative what the Green Box and the Box in a Valise provided linguistically and visually.« 30 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 432.

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erheblicher Publicity verabsäumte, die versprochenen Gelder für ein Museumsgebäude

bereitzustellen, wurde die Abmachung 1947 annulliert, und die Arensbergs erhielten in den

darauffolgenden zwei Jahren Angebote von über zwanzig Institutionen (darunter vom

Museum of Modern Art und vom Metropolitan Museum of Art in New York, von der

National Gallery of Art in Washington, vom Philadelphia Museum of Art und vom Art

Institute of Chicago), von denen infolge der strengen Auflagen des Sammlerpaars allerdings

nur wenige in Frage kommen sollten.31 Schließlich ernannten sie Duchamp zum Hauptemissär

in den Verhandlungen mit den unterschiedlichen Museen, der daraufhin eine Reihe der in

Frage kommenden Institutionen vor Ort besuchte und zahlreiche Gespräche führte, infolge

derer die Wahl im Dezember 1950 schlussendlich auf Philadelphia fiel.32 Als Walter und

Louise um den Jahreswechsel 1953/1954 im Abstand von nur zwei Monaten verstarben,

wurde ihre Sammlung 1954 unter Duchamps Aufsicht in zehn weiträumigen Sälen des

Philadelphia Museum of Art installiert, die in der Zwischenzeit eigens zu diesem Zweck

adaptiert worden waren, wobei einer der größten Säle seinem eigenen Werk gewidmet war

und bis heute gewidmet ist.33 Dank Katherine Dreier, Duchamps langjähriger Verehrerin und

mütterlicher Freundin, in deren Besitz sich seit 1918 eine Reihe weiterer Werke Duchamps

befand34 und die 1952 ebenfalls verstorben war, sollte sich hier schließlich auch das Große

Glas (für das Duchamp eigens einen Fensterdurchbruch veranlasst hatte, der das Glas ins

›rechte Licht‹ rücken sollte) endlich wieder zu seinen »Brüdern und Schwestern« gesellen,35

während sein Gegenstück, das skandalöse Tableau vivant Gegeben sei, wie von langer Hand

geplant erst nach Duchamps eigenem Ableben und ohne jedes öffentliche Aufheben zu seiner

›Familie‹ stoßen sollte.36

Rückblickend erscheint die Überantwortung der Louise and Walter Arensberg Collection an

das Philadelphia Museum wiederum als Initialzündung für die zunehmende öffentliche

Präsenz, die Duchamps Werk nun nach und nach nicht nur in den Vereinigten Staaten,

sondern endlich auch in Europa finden sollte. Dabei scheint die Entscheidung, einen Gutteil

seines Oeuvres einer öffentlichen Institution zu vermachen, auch bei Duchamp selbst zu

31 Vgl. ebd. 32 Vgl. ebd., S. 435. 33 Vgl. ebd., S. 452–453. 34 Unter anderem das Gemälde Tu m’, das Dreier 1918 bei Duchamp in Auftrag gegeben hatte und das Große Glas, das sie den Arensberg abgekauft hatte, als diese 1923 nach Kalifornien übersiedelten und dem Werk den Transport nicht zumuten wollten, vgl. ebd., S. 237/293. 35 Vgl. ebd., S. 453. 36 Die Assemblage Gegeben sei: 1. der Wasserfall, 2. das Leuchtgas wurde der Öffentlichkeit erstmals im Juni 1969 zugänglich gemacht, wobei es entsprechend Duchamps letztem Willen weder eine offizielle Eröffnung noch eine Pressemitteilung gab, vgl. ebd., S. 523.

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einem grundsätzlichen Umdenken hinsichtlich der öffentlichen Zurschaustellung seiner

Werke und seiner Person geführt zu haben. 1952 machte Duchamp Rose Fried den Vorschlag,

unter dem Titel Duchamp Frères & Sœur, Œuvres d’Art eine Ausstellung in seiner Galerie in

der East 68th Street zu zeigen und ließ sich in diesem Zusammenhang bereitwillig auf eine

Reihe von Interviews ein. Life veröffentlichte unter dem Titel »Dada’s Daddy« ein

zehnseitiges Feature, für das sich Duchamp von Elias Elisofon per Zeitrafferfoto beim

Herabsteigen einer Treppe ablichten ließ – nicht ohne den Fotografen zu fragen: »Wollen Sie

nicht, daß ich es nackt mache?« (Abb. 67).37 Kurz zuvor hatte er die Arensbergs auch

überredet, seine zwei Gemälde Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 und Braut aus dem Jahr

1912 für die von James Johnson Sweeney kuratierte Ausstellung Chefs-d’œuvre du XXe siècle

zur Verfügung zu stellen, die im Frühjahr 1952 im Pariser Musée National d’Art Moderne

eröffnet wurde und daraufhin in die Londoner Tate Gallery wanderte (das Musée National

d’Art Moderne sollte 1954 mit dem Gemälde Schachspieler von 1911 auch als erstes

europäisches Museum ein Werk Duchamps in seinen Bestand aufnehmen, während das New

Yorker Museum of Modern Art 1945 mit dem Gemälde Übergang von der Jungfrau zur

Braut überhaupt als erstes Museum ein Werk Duchamps in seine Sammlung aufgenommen

hatte).38 In der New Yorker Sidney Janis Gallery, in der Duchamp in den frühen 1950er

Jahren in einer Reihe von Ausstellungen moderner Kunst vertreten gewesen war, ehe sie im

Gefolge von Peggy Guggenheims Galerie zum wichtigsten Schaukasten der New York

School werden sollte, kuratierte Duchamp 1953 schließlich auch selbst eine bedeutende

historische Ausstellung des internationalen Dada, in die er unter die mehr als zweihundert

gezeigten Werke auch vier seiner eigenen aufnahm.39

Nachdem mit dem Duchamp-Sonderheft der Zeitschrift View im März 1945 eine erste

wichtige Publikation mit zahlreichen Illustrationen und Texten über Duchamps Werk

erschienen war,40 folgte in den 1950er Jahren schließlich auch eine ganze Reihe von

Interviews und Publikationen, mit denen Duchamps Werk erstmals einer breiten

internationalen Öffentlichkeit zugänglich wurde,41 darunter die Anthologie The Dada

Painters and Poets von Robert Motherwell, die das erneute Interesse am Dadaismus

wesentlich fördern sollte (1951), das Feature »Dada’s Daddy« in Life (1952), Michel

Carrouges’ Les Machines célibataires (1954), die von Michel Sanouillet unter dem Titel

37 Winthrop Sargeant: »Dada’s Daddy«, in: Life Magazine 32, Nr. 17 (28. April 1952), S. 100–111. Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 442. 38 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 442. 39 Vgl. ebd., S. 440–441. 40 View: The Modern Magazine V, Nr. 1: Marcel Duchamp (März 1945). 41 Eine umfassende Bibliografie findet sich in Hulten: Marcel Duchamp: Work and Life, nicht paginiert.

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Marchand du Sel auf französisch herausgegebenen Schriften Duchamps (1959), die erste

eingehende Monografie samt Catalogue raisonné, die Robert Lebel unter dem Titel Sur

Marcel Duchamp veröffentlichte (1959) und die von George Heard Hamilton und Richard

Hamilton unter dem Titel The Bride Stripped Bare by Her Bachelors, Even typografisch ins

Englische übertragenen Notizen aus der Grünen Schachtel (1960).42 Mit diesen Publikationen

war der Grundstein für jene breite internationale Anerkennung gelegt, infolge derer Duchamp

endlich der Ruf eines der wichtigsten Künstler der 20. Jahrhunderts ereilen sollte.

3.1.2. Duchamps Weg zur Ikone: »Dada’s Daddy« und »Pop’s Granddada«43

Eine entscheidende Rolle für Duchamps zunehmende Berühmtheit spielte vor allem auch das

Interesse, das ihm seit den 1950ern von einer Generation junger Künstler entgegengebracht

wurde, die sich kritisch gegenüber dem Abstrakten Expressionismus positionierten. Einer der

zentralen Katalysatoren dieses Umschwungs war der Avantgarde-Komponist John Cage, der

Duchamp 1942 in New York erstmals begegnet war und dessen Kunstauffassung sich mit

jener Duchamps deckte, insofern er die Persönlichkeit des Künstlers in den Hintergrund

rücken und damit eine Kunst begründen wollte, die auf den Prinzipien des Zufalls und des

zweckfreien Spiels basieren und damit nicht zuletzt dem ständigen künstlerischen

Entdeckungsprozess im täglichen Leben Rechnung tragen sollte.44 Wie sein Silent Piece mit

dem Titel 4’ 33’’ (1952) deutlich macht, wird das Werk bei Cage, so Egenhofer, »zu einer

Rahmen- und Empfängerstruktur«, in der die »Zeit ihre taktlose vertikale Tiefe zurück

[erhält], die Dimension der indeterminierten Abweichung, in der das Kleid der Braut in

Bewegung ist, die Dimension, aus der der Zufall ›kommt‹.«45 Cage, der in Duchamp, wie

Kuenzli schreibt, eine Art »Zen-Meister« sah, »einen großen Befreier von jedweder

traditionellen Auffassung von Kunst, der spielerisch den Weg zu neuen Möglichkeiten

öffnete«,46 war nicht nur persönlich mit vielen Künstlern seiner Generation befreundet,

sondern hatte unter anderem auch im Rahmen seiner Lehrtätigkeit am Black Mountain

42 Robert Motherwell (Hg.): The Dada Painters and Poets: An Anthology, New York: Wittenborn, Schultz, Inc. 1951; Sargeant: »Dada’s Daddy«; Carrouges: Les Machines célibataires; Marcel Duchamp: Marchand du sel: Écrits de Marcel Duchamp, hg. v. Michel Sanouillet, Paris: Le Terrain Vague 1959 (gesammelte Schriften in Originalsprache, Französisch und Englisch); Robert Lebel: Sur Marcel Duchamp, Paris: Éditions Trianon 1959, dt.: Marcel Duchamp; Marcel Duchamp: The Bride Stripped Bare by Her Bachelors, Even, hg. v. George Heard Hamilton u. Richard Hamilton, aus dem Franz. v. George Heard Hamilton, typografische Version der Notizen aus Duchamps Grüner Schachtel v. Richard Hamilton, London & Bradford/New York: Percy Lund Humphries/George Wittenborn Inc. 1960. 43 Vgl. Emily Genauer: »Duchamp – Pop’s Granddada«, in: New York Herald Tribune (24. Januar 1965), S. 31. 44 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 475ff. 45 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 197. 46 Kuenzli: »Introduction«, S. 3.

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College (1952) und an der New School for Social Research (1956–1958) wesentlichen

Einfluss auf eine Reihe von Künstlern,47 die in den 1950er und 1960er Jahren im Sinne einer

Gegenbewegung zur New York School den Weg zu Happenings (Allan Kaprow), Fluxus

(George Brecht, Dick Higgins), Nouveau Réalisme (Arman, Jean Tinguely, Daniel Spoerri)

und Pop Art (Robert Rauschenberg, Jasper Johns, Richard Hamilton) ebnen sollten.48

Die Affinität dieser aufstrebenden jungen Künstler zu Duchamp beschränkte sich keineswegs

auf eine ideelle Ebene, sondern schlug sich seit Mitte der 1950er Jahre auch in einer Reihe

von Publikationen, Ausstellungen und künstlerischen Arbeiten nieder, die sich unmittelbar auf

Duchamps Werk bezogen.49 Während die meisten Künstler dieser Generation sich vor allem

mit Duchamps Frühwerk und insbesondere mit dem Konzept des Ready-made beschäftigten,

waren es vor allem Robert Rauschenberg und Jasper Johns, die einen differenzierten Zugang

entwickelten, indem sie nicht zuletzt auch auf Duchamps Selbstvermarktung als »A-Künstler«

und damit, wie Craft hervorhebt, auf die »Diskrepanz zwischen zwei Duchamps – jung und

alt, aktiv und inaktiv« reagierten, um ausgehend von dieser Auseinandersetzung eine Brücke

zwischen Abstraktem Expressionismus und Pop Art zu schlagen.50 So war Rauschenberg, der

1953 im Rahmen der Dada-Ausstellung in der Sidney Janis Gallery auf Duchamp

aufmerksam geworden war, im Hinblick auf eine Negation der Lücke zwischen Kunst und

Lebenswirklichkeit nicht nur von Duchamps Ikonoklasmus inspiriert, sondern griff unter

anderem auch auf Duchamps Strategie zurück, Miniaturen seiner früheren Werke in sein

aktuelles Werk zu integrieren, wie beispielsweise in einer (verlorengegangenen) Arbeit aus

dem Jahr 1954, auf die er sich später als Self-made Retrospective bezog.51

47 Vgl. Dieter Daniels: »Der Einzige und sein Publikum«, in: Museum Ludwig Köln (Hg.): Übrigens sterben immer die anderen. Marcel Duchamp und die Avantgarde seit 1950, Köln: Museum Ludwig Köln 1988, S. 23–67, S. 37. Das Black Mountain College hatte seinen Sitz von 1933 bis 1956 in der Nähe von Asheville, North Carolina. Ende der 1940er Jahre war es die führende Institution zur interdisziplinären Ausbildung künstlerischer Disziplinen. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Black_Mountain_College (aufgerufen am 28.12.2015). Die New School for Social Research (auch The New School oder New School University) mit Sitz in New York City wurde 1919 gegründet und beherbergte seit den 1940er Jahren eine Reihe angesehener Sozialwissenschaftler, unter ihnen Claude Lévi-Strauss, Roman Jakobson, Henri Bonnet und Gregory Bateson, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/The_New_School (aufgerufen am 28.12.2015). 48 Vgl. Kuenzli: »Introduction«, S. 3. 49 Jean Tinguely setzte sich dafür ein, dass Duchamp 1955 in der Ausstellung Le Mouvement in der Pariser Galerie Denise René vertreten sein sollte; George Brecht veröffentlichte 1957 einen Text mit dem Titel Chance Imagery, in dem er Duchamp eine zentrale Rolle einräumte, Daniel Spoerri gab 1959 ein Rotorelief in der Edition MAT heraus; Richard Hamilton veröffentlichte 1960 in Zusammenarbeit mit George Heard Hamilton eine typografische Version der englischen Übersetzung von Duchamps Grüner Schachtel, die Jasper Johns zum Anlass eines Artikels nahm (Jasper Johns: »The Green Box«, in: Scrap (23. Dezember 1960), S. 4, abgedruckt in Masheck: Marcel Duchamp in Perspective, S. 110–111). Vgl. Daniels: »Der Einzige und sein Publikum«, S. 37. 50 Craft, »Pictures of the Past«, S. 135. 51 Vgl. ebd.

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Während Rauschenberg mit seinen Combine Paintings in den 1950er Jahren in erster Linie

auf Duchamps Konzept des Ready-made reagierte, indem er Gegenstände und Bilder des

Alltags in seine neodadaistischen Collagen und Assemblagen integrierte und sich über

Gattungs- und Stilgrenzen hinwegsetzte, bediente sich Johns in seinen Malereien und

Plastiken seit Mitte der 1950er alltäglicher Motive und populärer Symbole (Flaggen,

Zielscheiben, Karten, Buchstaben, Zahlen) und stellte dabei das Prozessuale seiner Arbeiten

in den Vordergrund, indem er beispielsweise auf die Verfahren der Assemblage und der

Enkaustik zurückgriff, wie in seinem wegweisenden Bild-Objekt Flag von 1954–1955 (Abb.

68),52 oder Kopien käuflicher Massenprodukte anfertigte, wie in seiner Arbeit Painted Bronze

von 1960, zwei in Blei gegossenen Bierdosen, die er mit den originalen Etiketten der Marke

Ballantine Ale bemalte.53 Gleichzeitig ließ sich Johns, wie Max Kozloff 1964 in seiner

Gegenüberstellung der Werke Johns’ und Duchamps verdeutlicht, im Vergleich zu

Rauschenberg relativ tief auf Duchamps Werk und Denken ein,54 um, so Johns 1969 in einem

Artikel zu Duchamp, die retinalen Grenzen der Kunst hinter sich zu lassen, die »Kontrolle

über die ästhetischen Vorzüge seines Werkes« abzugeben und in einen Bereich vorzudringen,

»wo Sprache, Denken und Vision aufeinander einwirken«.55 Egenhofer zufolge ging es Johns

dementsprechend nicht um die »souveräne, auf Distanz angelegte Darstellungsfunktion des

Bildes«, sondern im Gegenteil um die »Intimität der materiellen Kopie«, die »vom seriellen

Original geschieden« ist »wie das Ready-made von seinen ›Kumpeln‹«56 und die in ihrer

singulären Verfasstheit topologisch57 zu denken ist:

Das Ready-made, sofern es in seiner Werkfunktion aufgefasst wird, ist nicht da, es liegt nicht vor als das vorhandene Objekt, das sein existierender Träger ist. Als Werk hat es nicht den Kontur der Form dieses Objekts im Raum, sondern den Kontur des Werdens, der in die zeitliche Tiefe zurückreicht bis an den Punkt der déclaration, in dem diese Form sich von ihrer Gussform [vom Körper der Serie] löst. Seine Perspektive ist vierdimensional, sein Fluchtpunkt die Datierung. [...] Diese temporale Spreizung des Seins des Werks ist in Johns Malerei durch die Zeitungscollage und die geschärfte Indexikalität der Maltechnik explizit formalisiert. Offensichtlicher als bei Seurat oder

52 Wie Egenhofer betont, hat Johns die Flagge »nicht eigentlich gemalt«, sondern die Streifen und Sterne aus Zeitungspapier ausgeschnitten, das er mithilfe des Verfahrens der Enkaustik, bei dem die in Wachs gebundene Farbe mit dem Bildgrund verklebt wird, auf die Leinwand aufbrachte, Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 192. 53 Vgl. Max Kozloff: »Johns and Duchamp«, in: Masheck: Marcel Duchamp in Perspective, S. 138–146, S. 143 (Erstveröffentlichung in: Art International VIII, Nr. 2 (20. März 1964), S. 42–45). 54 Ebd.; vgl.Tomkins: Marcel Duchamp, S. 480. 55 Jasper Johns: »Thoughts on Duchamp«, in: Art in America 57, Nr. 4 (Juli–August 1969), S. 31, zit.n. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 480–481. 56 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 192. 57 Zu den vielfältigen toplogischen Implikationen von Johns’ Werk, vgl. ebd. sowie Neuner: »Topologische Wendungen bei Jasper Johns«, in: Pichler/Ubl: Topologie, S. 235–294.

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im Impressionismus kann das Bild-Objekt, der hergestellte Schirm, nicht von dem Zeitraum der Handlungen, deren Protokoll er ist, abgelöst werden.58

Ebenso wie Cage, der seinen Kontakt zu Duchamp Anfang der 1960er intensivierte, indem er

regelmäßig Schachstunden bei ihm nahm, lernten Rauschenberg und Johns Duchamp 1960

auch persönlich kennen, reisten nach Philadelphia, um die Arensberg-Sammlung zu sehen,

erwarben in den darauffolgenden Jahren selbst einige seiner Werke und nahmen mit ihren

eigenen auch ausdrücklich auf Duchamp Bezug.59 Rauschenberg kaufte 1960 im Rahmen der

Ausstellung Art and the Found Object eine Replik von Duchamps Flaschentrockner (zum

spektakulären Preis von nur drei Dollar) und widmete ihm im gleichen Jahr sein Combine

Painting Trophy II (for Teeny and Marcel Duchamp) (Abb. 69).60 Johns wiederum reagierte

1961 auf die besagten »zwei Duchamps«, indem er nicht nur eine kleine Zeichnung mit dem

Titel Litanies of the Chariot anfertigte, mit der er sich direkt auf eine von Duchamps frühen

Notizen zum Großen Glas bezog, sondern auch einen Bronzeguss von Duchamps Female Fig

Leaf (1950, Guss 1961) kaufte, den er daraufhin erhitzte, um damit auf seinem enkaustischen

Gemälde NO (1961) einen Abdruck zu hinterlassen – eine Geste, mit der er einerseits

Duchamps Idee des reziproken Ready-made (»Einen Rembrandt als Bügelbrett verwenden«)

aufgriff und gleichzeitig (da die Skulptur an einen Abdruck weiblicher Genitalien gemahnt)

auf Duchamps bärtige Mona Lisa (L.H.O.O.Q. / elle a chaud au cul / ihr ist heiß am Arsch)

anspielte.61 Johns legte seinen Akzent damit insbesondere auf die unterschiedlichen und

veränderlichen Perspektiven, die es im Hinblick auf Duchamps Werk und öffentliches

›Image‹ zu erschließen galt, wie zwei seiner Arbeiten aus dem Jahr 1964 – die Collage M.D.

und die Assemblage According to What – verdeutlichen, in die er eine (vermittels

Schattenwurf verzerrte) Kopie von Duchamps Self-Portrait in Profile (1957) integrierte.62

Zudem arbeitete Johns, indem er Rauschenberg in seiner Funktion ablöste, in den 1960er

Jahren als Bühnenbildner für den Tänzer und Choreografen Merce Cunningham, dessen

Arbeiten seit den frühen 1940er Jahren wesentlich von Cage inspiriert waren und für dessen

Stück Walkaround Time (1968 uraufgeführt) er ein Bühnenbild mit sieben aufblasbaren,

58 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 194. Egenhofer zufolge vollzieht Johns damit die »generative, zeitliche Öffnung des Bildes nach der Abstraktion« (ebd., S. 195), die Cage in einem Text über Johns mit den folgenden Worten sichtbar gemacht habe: »He [Johns] is engaged with the endlessly changing ancient task: the imitation of nature in her manner of operation. The structures he uses [in Flag] give the dates and places […]. They are the signature of anonymity […].« John Cage: »Jasper Johns: Stories and Ideas«, in: Jasper Johns. Paintings, Drawings and Sculptures, Ausstellungskatalog, London: Whitechapel Gallery 1964, S. 26–35, S. 28, zit.n. Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 195–196. 59 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 477ff. 60 Vgl. ebd., S. 480. 61 Vgl. Craft: »Pictures of the Past«, S. 136–137. 62 Vgl. ebd., S. 138.

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transparenten und beweglichen Vinylquadern entwickelte, auf deren Vorderseite die

wesentlichen Elemente des Großen Glases abgebildet waren (Abb. 70).63

Im Gegensatz zu Rauschenberg und Johns, die sich als Wegbereiter der New Yorker Pop-

Bewegung eingehend mit Duchamp beschäftigt hatten, streifte der sich verlängernde Schatten

Duchamps die führenden Vertreter der Pop Art nur mehr peripher.64 So bezogen sich Künstler

wie Claes Oldenburg, Jim Dine, Roy Lichtenstein, James Rosenquist und Andy Warhol im

Sinne einer Gegenposition zum Abstrakten Expressionismus zwar offensiv auf die trivialen

Bildwelten der Alltagskultur und insbesondere der Massenmedien, wobei sie an einer

eingehenden Auseinandersetzung mit Duchamps Werk allerdings nur beschränkt interessiert

waren. Eine Ausnahme von dieser Regel stellt Richard Hamilton dar, einer der Wegbereiter

der Pop-Bewegung in England, der Duchamps Werk 1952 in der Ausstellung Twentieth

Century Masterpieces in der Londoner Tate Gallery erstmals gesehen hatte und daraufhin – in

Zusammenarbeit mit George Heard Hamilton und in regelmäßigem Austausch mit Duchamp

– nicht nur über viele Jahre hinweg an einer englischsprachigen Ausgabe der Grünen

Schachtel arbeitete,65 sondern (mit Duchamps Einverständnis und späterer Signatur) für die

von ihm organisierte Ausstellung The Almost Complete Works of Marcel Duchamp, die 1966

in der Londoner Tate Gallery eröffnet wurde, zusätzlich zu den 184 anderen gezeigten

Werken eine originalgetreue Replik des Großen Glases anfertigte, wobei er sich zwecks

größtmöglicher Präzision nicht am damals bereits gealterten (und aufwändig reparierten)

Werk, sondern an Duchamps ursprünglichen Entwürfen und Notizen orientierte.66

Die Künstlergruppe der Nouveau Réalistes wiederum, die sich 1960 als französisch-

schweizerisches Pendant der amerikanischen Pop-Bewegung um den Kunstkritiker Pierre

Restany formierte und der unter anderen Arman, Niki de Saint Phalle, Daniel Spoerri und

Jean Tinguely angehörten, fand eine ihrer zentralen Inspirationsquellen in Duchamps Konzept

des Ready-made und stand dem Dadaismus damit in letzter Konsequenz näher als der Pop

Art. Ihrer Déclaration constitutive du Nouveau Réalisme vom April 1960 zufolge ging es den

63 Vgl. Paul B. Franklin: »Merce on Marcel: An Interview with Merce Cunningham«, in: Étant donné Marcel Duchamp, Nr. 6 (2005), S. 8–19, S. 10–11. 64 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 481. 65 Duchamp: The Bride Stripped Bare by Her Bachelors, Even; vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 468–469. Nachdem er ein Exemplar der typografischen Ausgabe der Grünen Schachtel erhalten hatte, schrieb Duchamp am 26. November 1960 an Hamilton: »Wir sind hingerissen von dem Buch. | Ihr Liebesdienst hat ein Monstrum originalgetreuer Wiedergabe und eine kristalline Transsubstantiation der französischen Grünen Schachtel hervorgebracht – Die Übersetzung wird, vor allem dank Ihres Designs, zu einer plastischen Form erhöht, die dem Original so nahe kommt, daß die Braut mehr denn je blühen muss.« Zit.n. Naumann/Obalk: Affectt Marcel, S. 368 (Übers. d. Verf.). 66 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 483, 506. Eine frühere Replik des Großen Glases war 1961 von Ulf Linde für die Ausstellung Art in Motion im Moderna Museet in Stockholm angefertigt worden, vgl. ebd.

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Nouveau Réalistes mit ihren Collagen und Assemblagen und ihrem aktionistischen Zugang

vor allem um eine »Annäherung der Wahrnehmungsfähigkeit an das Reale«.67 Tinguely, der

bereits in den frühen 1940er Jahren auf Duchamps Werk aufmerksam geworden war, setzte

sich 1955 selbst dafür ein, dass Duchamp mit seinen Rotoreliefs in jener Ausstellung Le

Mouvement in der Pariser Galerie Denise René vertreten war, die schließlich den Boom

Kinetischer Kunst auslösen sollte.68 Nachdem er ihn 1959 in Paris durch Zufall persönlich

kennengelernt hatte,69 wandte sich Tinguely unter anderem auch an Duchamp und bat ihn um

Hilfe, als er 1960 im Garten des New Yorker Museum of Modern Art aus allerlei Objekten

und Gerätschaften eine gigantomanische Maschine konstruierte, die als Homage to New York

am Eröffnungsabend zu Duchamps Amüsement vor versammeltem Publikum »mechanischen

Selbstmord« begehen sollte (Abb. 71).70 Noch im selben Jahr widmete Tinguely Duchamp

zwei Assemblagen, eine mit dem Titel Hommage à Duchamp, deren Herzstück ein Fahrrad-

Rad bildet,71 und eine weitere mit dem Titel Frigo Duchamp, für die er einen ausrangierten

Kühlschrank, den ihm Duchamp geschenkt hatte, mit einer roten Glühbirne und einer

Feuerwehrsirene ausstattete, die laut aufheulte, sobald die Tür geöffnet wurde.72

Parallel zur zunehmenden Vereinnahmung Duchamps im Kontext neoavantgardistischer

Bewegungen setzte in den frühen 1960ern mit einer Reihe groß angelegter Ausstellungen

endlich jene breite Anerkennung ein, mit der Duchamp, der sich damals bereits in der Mitte

seiner Siebziger befand, international zur Vaterfigur eines zeitgenössischen Kunstbegriffs

hochstilisiert wurde.73 Duchamp gab zahlreiche Interviews für Presse, Rundfunk und

67 Vgl. http://fr.wikipedia.org/wiki/Nouveau_r%C3%A9alisme (aufgerufen am 28.12.2015). 68 Vgl. Daniels: »Der Einzige und sein Publikum«, S. 36–37; Dieter Daniels: »Klassiker schon – aber immer wieder vergessen. Interview mit Jean Tinguely«, in: Museum Ludwig Köln: Übrigens sterben immer die anderen, S. 129–142, S. 130. 69 Vgl. ebd., S. 132. Dass er Duchamp anlässlich ihrer zufälligen Begegnung zu einem Besuch in seinem Atelier eingeladen hatte, vergaß Tinguely offenbar, jedenfalls erschien er nicht zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Ort, vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 481. 70 Vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 481–482. »Duchamp gefiel Tinguelys beißender, ironischer Humor und seine je m’en fous-Einstellung (leckt mich doch) gegenüber der Tradition«, schreibt Tomkins, »und er und Teeny waren im Publikum, als Tinguelys klappernde, weiß angemalte Assemblage aus Fahrrad-Rädern, Motoren, Sägen, Hupen, einem Heißluftballon, einer Adressograph-Maschine und anderen pittoresken Überbleibseln am Abend des 17. März 1960 im Garten des MOMA mehr oder weniger wie geplant mechanischen Selbstmord beging.« Ebd. 71 Vgl. Gerhard Kolberg: »Aspekte der ›Bewegung‹ im Werk von Marcel Duchamp und Jean Tinguely«, in: Museum Ludwig Köln: Übrigens sterben immer die anderen, S. 115–128, S. 123. 72 Frigo Duchamp sollte 1962 in der ersten gemeinsamen Ausstellung von Pop-Künstlern und Nouveau Réalistes in der New Yorker Sidney Janis Gallery erstmals gezeigt werden, vgl. Tomkins: Marcel Duchamp, S. 482. 73 1960 zeigte das Kunstgewerbemuseum Zürich mit der von Serge Stauffer organisierten Dokumentation über Marcel Duchamp die erste große Einzelausstellung in einem europäischen Museum; 1961 organisierte Pontus Hulten die Ausstellung Moving Movement, die zunächst im Stedelijk Museum in Amsterdam und daraufhin im Moderna Museet in Stockholm gezeigt wurde; das New Yorker Museum of Modern Art zeigte 1961 The Art of Assemblage; das Passadena Art Museum in Kalifornien widmete Duchamp 1963 eine erste umfassende Retrospektive; seit 1965 war die Mary Sisler Sammlung, die ausschließlich aus Werken Duchamps besteht, auf

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Fernsehen, wurde – gemeinsam mit Teeny, die er 1954 geheiratet hatte – zum gern gesehenen

Gast bei unterschiedlichsten Events der New Yorker und Pariser Kunstszene und erhielt

schließlich sogar akademische Würden.74 War es bislang noch möglich gewesen, Duchamps

Ideen und Werke als skurriles Vermächtnis eines Außenseiters abzutun, so war sein Einfluss

mit dem Höhenflug von Neo-Dadaismus und Pop Art nicht mehr zu leugnen. »Über 50 Jahre

hinweg war er zunächst eine vitale Kraft, dann ein führender Geist«, schrieb Rosalind

Constable – die als Kunstkritikerin und Journalistin des Time Magazine (1948–1967) den Ruf

hatte, ihrer Zeit immer einen Schritt voraus zu sein75 – 1964 im New York Herald Tribune

über Duchamp, »und heute dient er als Inspiration einer anderen Generation, einer anderen

Avantgarde.«76 Auch Tomkins, der sich als Journalist beim New Yorker mit einer Reihe von

Texten über Duchamp und dessen Erben einen Namen gemacht hatte, veröffentlichte 1965

einen Essayband, mit dem er Duchamp, Tinguely, Cage, Rauschenberg und Cunningham als

»Meister der Avantgarde« würdigte, die »die Hürden zwischen Kunst und Leben« endgültig

überwunden hätten.77 Und während sich der französische Schriftsteller Alain Jouffroy 1958

anlässlich der Veröffentlichung von Lebels Monografie Sur Marcel Duchamp noch mit gutem

Recht fragte, warum es »im Vergleich zu anderen Vertretern der Moderne wie Picasso oder

Braque, über die man so viel (und vielleicht zuviel) geschrieben hat«, so lange dauern musste,

bis endlich ein Standardwerk über Duchamp erscheinen sollte, sah sich Dore Ashton, eine

Kritikerin der New York Times, 1965 bereits veranlasst, von einer »enormen Summe von

Kommentaren über sein Werk« sprechen.78

zahlreichen Stationen in den Vereinigten Staaten zu sehen; 1966 zeigte Richard Hamilton in der Londoner Tate Gallery The Almost Complete Works of Marcel Duchamp; 1967 wurde Duchamp erstmals in größerem Rahmen in Frankreich gewürdigt, zunächst im Kreis seiner Geschwister im Musée des Beaux-Arts Rouen und daraufhin gemeinsam mit seinem Bruder Raymond-Duchamp Villon im Pariser Musée National d’Art Moderne; 1967 wanderte die Mary Sisler Sammlung nach Neuseeland und Australien; 1968 zeigte das Museum of Modern Art die Ausstellung The Machine; und 1969 wurde schließlich Duchamps posthumer Coup Étant donné im Philadelphia Museum of Art der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Vgl. Daniels, »Der Einzige und sein Publikum«, S. 37–38. 74 Vgl. ebd., S. 38–39. Die erste Dissertation über Duchamps Werk wurde 1960 unter dem Titel The Position of »La mariée mise à nu par ses célibataires, même« (1915–1923) in the Stylistic and Iconographic Development of the Art of Marcel Duchamp von Lawrence D. Steefel an der Princeton University in New Jersey vorgelegt, veröffentlicht unter dem Titel The Position of Duchamp’s »Glass« in the Development of his Art (New York/London: Garland 1977). 1961 erhielt Duchamp die Ehrendoktorwürde der Wayne State University, Detroit, Michigan. 75 Vgl. [Editorial]: »Between the Lines«, in: New York Magazine 1, Nr. 37 (16. Dezember 1968), S. 4. 76 Rosalind Constable: »New York’s Avant-Garde, and How It Got There«, in: The New York Herald Tribune, 17. Mai 1964, S. 10, zit.n. Francis M. Naumann: »Duchamp’s Detractors«, in: Goodyear/McManus: aka Marcel Duchamp, S. 225–253, S. 251. 77 Calvin Tomkins: The Bride and the Bachelors: Five Masters of the Avant-Garde, Duchamp, Tinguely, Cage, Rauschenberg, Cunningham, New York: Viking Press 1965. 78 Alain Jouffroy: »Marcel Duchamp nous déclare: Il n’est pas certain que je revienne à la peinture«, in: Arts, Lettres et Spectacles, Nr. 694 (29. Oktober bis 4. November 1958), S. 12; Dore Ashton: »Marcel Duchamp, bricoleur de génie«, in: XXe Siècle, Nr. 25 (Juni 1965), S. 98; beide zit.n. Daniels: »Der Einzige und sein Publikum«, S. 37.

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Ashtons Kommentar fällt bezeichnenderweise in eine Zeit, in der zunehmend auch kritische

Stimmen aus dem Kreis der New York School laut zu werden begannen, die Duchamps

nunmehr unübersehbarer Popularität und den damit einhergehenden neuen Tendenzen der

zeitgenössischen Kunst den Wind aus den Segeln nehmen wollten.79 Erst im Februar 1965

hatte Thomas B. Hess, der (wie Ashton) schon seit langem zu den Fürsprechern des

Abstrakten Expressionismus zählte und der gerade zum Chefredakteur der renommierten Art

News ernannt worden war, anlässlich der Ausstellung Not Seen and/or Less Seen of/by Marcel

Duchamp/Rrose Sélavy, 1904–1964 in der New Yorker Cordier & Ekstrom Gallery einen so

zynischen wie vernichtenden Artikel mit dem Titel »J’accuse Marcel Duchamp« (Ich klage

Marcel Duchamp an) lanciert, in dem er Duchamp zwar eine gewisse Form von Originalität

und »analytischer Intelligenz« attestierte, mit der er sich praktisch jeder »seriösen Kritik«

entziehe, sein Vermächtnis aber gleichzeitig auf wenige ernstzunehmende frühe Werke und

Gesten beschränkt sah und daher mit aller Vehemenz dafür plädierte, sich dem Bann von

Duchamps narzisstischem Ikonoklasmus, mit dem er zum »Verderber der Jugend« geworden

sei, ein für alle Mal zu entziehen:

Duchamp is not responsible for the errors of his followers because they should have known that only Duchamp can be his own work of art. When Duchamp did it first, he did it last. That is his lesson. Those who have understood him make the same point: In the Beginning is – Originality.80

Obschon Hess damals zweifelsohne Duchamps prominentester Kritiker war, war er doch

keineswegs der einzige, der Duchamps Werk als veritable Bedrohung für die Zukunft der

Kunst verstanden wissen wollte. Gegen Ende der 1960er Jahre war Duchamp für die

zeitgenössische Kunstwelt zu einem derart unumgänglichen Bezugspunkt geworden, dass

auch Clement Greenberg, der zu den wichtigen Fürsprechern des Abstrakten Expressionismus

zählte und der Duchamp bislang konsequent außer vor gelassen hatte, nicht mehr umhin

konnte, Position zu beziehen.81 In einem Vortrag, den Greenberg 1970 an der Brandeis

University hielt und der 1971 in Art International veröffentlicht wurde,82 erklärte er Duchamp

zum Urheber jener historisch einzigartigen Form von »Avantgardismus«, die das Neue – im 79 Vgl. Naumann: »Duchamp’s Detractors«, S. 251. 80 Thomas B. Hess: »J’accuse Marcel Duchamp«, in: Masheck: Marcel Duchamp in Perspective, S. 115–120, S. 120 (Erstveröffentlichung in: Art News LXIII, Nr. 10 (Februar 1965), S. 44–45, 52–54). Eine eingehende Analyse des Artikels und der Reaktionen (inklusive der Duchamps), die auf ihn folgten, findet sich in Naumann: »Duchamp’s Detractors«, S. 225–228. 81 Vgl. ebd., S. 231. 82 Clement Greenberg: »Counter-Avant-Garde«, in: Masheck: Marcel Duchamp in Perspective, S. 122–133 (Erstveröffentlichung in: Art International 15, Nr. 5 (20. Mai 1971), S. 16–19).

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Gegensatz zum programmatischen Zugang der Futuristen – als Selbstzweck setze und damit

in eine Sackgasse aus einer nicht enden wollenden Reihe von »Ausarbeitungen, Variationen

und Rekapitulationen« führe:

The Futurists discovered avant-gardness, but it was left to Duchamp to create what I call avant-gardism. In a few short years after 1912 he laid down the precedents for everything that advanced-advanced art has done in the fifty-odd years since. Avant-gardism owes a lot to the Futurist vision, but it was Duchamp alone who worked out, as it now looks, every implication of that vision and locked advanced-advanced art into what has amounted to hardly more than elaborations, variations on, and recapitulations of his original ideas. | With avant-gardism, the shocking, scandalizing, startling, the mystifying and confounding, became embraced as ends in themselves and no longer regretted as initial side-effects of artistic newness that would wear off with familiarity.83

Anders als Hess, der Duchamps Konzept des Ready-made als Geste gegen einen modernen

Begriff von Skulptur abgetan hatte, die infolge ihrer breiten Rezeption schließlich nur zu

einem neuen Schönheitsideal geführt habe,84 erkannte Greenberg den Kunst-Status der

Ready-mades zwar grundsätzlich an, allerdings nur, indem er auf die (seither immer wieder

herbeizitierte) Problematik verwies, dass genau genommen jede Form von Erfahrung eine

ästhetische Dimension einschließt und dass damit in letzter Konsequenz alles, was erfahren

werden kann, »auch als Kunst erfahren werden kann«85 – ein Einwand, der sich, wie Francis

M. Naumann hervorhebt, insofern als unhaltbar erweist, als Duchamp die Anzahl seiner

Ready-mades von Anfang an bewusst limitierte, indem er darauf abzielte, den traditionellen

Kunstbegriff herauszufordern und ihm eben kein Prinzip der Beliebigkeit, sondern vielmehr

ein Prinzip der »ästhetischen Indifferenz« und damit eine Kritik des Geschmäcklerischen

entgegenzusetzen.86

Auch der Kunstkritiker Harold Rosenberg, ein weiterer prominenter Fürsprecher der New

York School, der die Bezeichnung »Action Painting« geprägt hat, veröffentlichte 1974

anlässlich der großen Duchamp-Retrospektive, die zunächst im Philadelphia Museum (1973)

und daraufhin im New Yorker Museum of Modern Art (1973–1974) zu sehen war, einen

Artikel im Magazin The New Yorker, mit dem er den Wert von Duchamps Werk für die

Kunstgeschichte zwar grundsätzlich verteidigte, jedoch nicht, ohne eine Reihe von

Kritikpunkten anzuführen, die sich im Wesentlichen mit jenen von Hess und Greenberg

83 Ebd., S. 123–124. 84 Vgl. Hess: »J’accuse Marcel Duchamp«, S. 118. 85 Greenberg: »Counter-Avant-Garde«, S. 129. 86 Vgl. Naumann: »Duchamp’s Detractors«, S. 248–249.

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decken.87 Ein weiterer Kritiker, der die Retrospektive von 1973/1974 zum Anlass nahm,

gleich zwei bissige Rezensionen zu verfassen, war Hilton Kramer, der sich von 1965 bis 1982

als bedeutendster Kunstkritiker der New York Times hervortat. Kramer hatte seine Meinung

zu Duchamp erstmals 1962 öffentlich kundgetan, als er im Rahmen eines Symposiums zur

Pop Art am Museum of Modern Art zu bedenken gab, mit den Ambitionen der Pop-Künstler

rücke »die legendäre Präsenz der wohl überschätztesten Erscheinung der modernen Kunst«

bedrohlich näher: jene von »Hrn. Marcel Duchamp«, dessen »berühmtes Schweigen,

Leugnen, Aufgeben der Kunst« durch die Pop-Künstler »vereinnahmt, kolonisiert und

ausgeschlachtet« worden sei.88 Die von Richard Hamilton organisierte Duchamp-

Retrospektive in der Londoner Tate Gallery nahm Kramer 1966 schließlich zum Anlass eines

ersten Pamphlets mit dem Titel »Duchamp: Resplendent Triviality«, in dem sich Kramer

fragt, ob die Ausstellung einen »Triumph« markiere – oder doch »das schmähliche Scheitern

einer Karriere und einer Ideologie«, welche die kontinuierliche Präsenz Duchamps in der

zeitgenössischen Kunstwelt in keinerlei Hinsicht rechtfertigten.89 Die Duchamp-Retrospektive

von 1973 bot Kramer eine weitere Gelegenheit, seiner Überzeugung Luft zu machen,

Duchamps Position sei vor allem insofern einzigartig, als »kein anderer Künstler unseres

Jahrhunderts (vielleicht sogar eines beliebigen Jahrhunderts) auf der Basis so geringer

Leistungen einen derart großen Einfluss auf das künstlerische Bewusstsein ausgeübt« habe.90

So sei Duchamps Gemälde Akt, eine Treppe herabsteigend, wie Kramer in seinem zweiten

Artikel von 1973 polemisiert, keineswegs ein Meisterwerk, sondern vielmehr ein

»Meisterwerk an Publizität«.91 Und noch 1995 sollte Kramer seine Geringschätzung des

»faulen Revolutionärs« bekräftigen, indem er Duchamps Oeuvre als »eines der kleinsten im

modernistischen Kanon« bezeichnete, das nicht als solches, sondern allein durch den

»Halbschatten von Ideen und Mystifikationen«, die mit ihm assoziiert seien, »den Geist so

vieler eigentlich intelligenter Leute in den Bann gezogen« habe.92

87 Harold Rosenberg: »Duchamp: Public and Private«, in: The New Yorker (18. Februar 1974), S. 86–91. Vgl. Naumann: »Duchamp’s Detractors«, S. 234. 88 Kramers Aussagen sind dokumentiert in Jill Johnston: »The Artist in a Coca-Cola World«, in: Village Voice (31. Januar 1963), S. 24, zit.n. Naumann: »Duchamp’s Detractors«, S. 235–236. Dass Duchamp im Publikum saß während er sein vernichtendes Urteil aussprach, war Kramer in diesem Moment nicht bewusst, vgl. ebd., S. 236. 89 Hilton Kramer: »Duchamp: Resplendent Triviality«, in: New York Times (10. Juli 1966), S. 93, zit.n. Naumann: »Duchamp’s Detractors«, S. 236. 90 Hilton Kramer: »The Greatest Duchampian Joke: No other artist made so great an impact on the basis of so slender an accomplishment«, in: The New York Times (9. Dezember 1973), S. 199. 91 Hilton Kramer: »The First of our Publicity Masterpieces«, in: The New York Times (30. Dezember 1973), S. 19. 92 Hilton Kramer: »Duchamp and His Legacy«, in: New Criterion 14, Nr. 2 (Oktober 1995), S. 4–8, zit.n. http://www.newcriterion.com/articles.cfm/Duchamp---his-legacy-4215 (aufgerufen am 28.12.2015).

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3.1.3. Zurück in die Zukunft: Minimalismus, Konzeptkunst, Appropriation Art

So vernichtend die Urteile all dieser prominenten Kritiker aus den Reihen der New York

School auch ausfallen mochten – in letzter Konsequenz waren sie doch nicht mehr als ein

Tropfen auf den heißen Stein. Schließlich zählten die innovativen Methoden des Neo-

Dadaismus unter Schlagworten wie Combine Painting, Assemblage, Objektkunst, Pop Art,

Environment, Op Art, Kinetik, Happening, Fluxus, etc. längst zum Standardrepertoire der

damaligen Kunst, das in den ausgehenden 1960ern und frühen 1970ern, wie Amelia Jones in

ihrer 1994 veröffentlichten Studie Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp

hervorhebt, mit dem Diskurs um Minimalismus und Konzeptkunst nunmehr auch

ausdrücklich im Sinne einer Gegenposition zum greenbergschen Modernismus

kontextualisiert werden sollte.93 Eine zentrale Vermittlerrolle spielte dabei zunächst Ad

Reinhardt, der seit 1937 der Vereinigung der American Abstract Artists angehörte und der

sich seit den frühen 1950ern vom Abstrakten Expressionismus distanzierte, indem er mit

seinen Black Paintings (seit 1953) die selbstreflexive Immanenz einer »reinen, abstrakten,

nicht-objektiven, zeitlosen, raumlosen, unveränderlichen, beziehungslosen, desinteressierten

Malerei«94 ins Zentrum seiner künstlerischen Auseinandersetzung stellte, mit der er

Duchamps Erbe eine vehemente Absage erteilte95 und die er mit seinen Texten und Vorträgen

buchstäblich konterkarierte, insofern letztere, wie Egenhofer hervorhebt, »das zu den Bildern

komplementäre Element von Reinhardts Werk sind«: »Sie sind die Zahnräder der Ironie, mit

denen das Bild in den Stoff der Welt greift, die Wassermühlen, die den Zuwurf der

Kontingenz auffangen und in die Produktion von Sinn übersetzen.«96

Einen wesentlichen Schritt in Richtung einer theoretischen Grundlegung des Minimalismus

machte daraufhin Donald Judd, der zunächst als Kunstkritiker (Art News, Arts Magazine, Art

International) tätig war und sich als einer der führenden Vertreter des Minimalismus auch um

eine theoretische Definition des Minimalismus als radikal neuer Kunstbewegung bemühte.

93 Vgl. hier und im Folgenden Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 40ff. 94 Ad Reinhardt: Art as Art. The Selected Writings of Ad Reinhardt (1975), hg. v. Barbara Rose, Berkeley/Los Angeles: The University of California Press 1991, S. 82–83, zit.n. Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 199 (Übers. d. Verf.). 95 Vgl. Reinhardt: Art as Art, S. 28: »I’ve never approved or liked anything about Marcel Duchamp. You have to choose between Duchamp and Mondrian«, zit.n. Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 198. 96 Ebd., S. 203. Egenhofer zufolge zieht sich Reinhardts Bild dementsprechend nur »seiner Prätention nach in eine transmundane Tiefe zurück«: »Das absolute Bild müsste sich seiner Teleologie gemäß in sich selbst verschließen. Um aber Bild zu sein, braucht es ein Sehen, dem es sich appräsentiert – durch die Schnittfläche seiner verletzlichen Oberfläche hindurch. Es ist auf diese materielle Existenz in Raum und Zeit angewiesen, auf die zeitlich und räumlich singuläre Tatsächlichkeit dieser Existenz, deren Stellenwert Reinhardt mit allen Mitteln zu reduzieren versucht.« Ebd., S 201.

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Mit seinem Artikel »Specific Objects« (1965)97 statuierte Judd entgegen dem puristischen,

gleichsam entkörperlichten Kunstbegriff Reinhardts ein Exempel für die seit den späten

1960er Jahren zunehmend zu beobachtende Tendenz, sich als Künstler/in auch aktiv auf eine

diskursive Form der Auseinandersetzung einzulassen. Unter Bezugnahme auf Duchamps

Ready-mades, die man »ebenfalls auf einen Schlag und nicht nach und nach sieht«,98 führte

Judd sein Konzept des »spezifischen Objekts« im Gegensatz zu Reinhardt auf eine

ganzheitliche Perspektive und sozusagen auf ein raumgreifendes Moment zurück, das den

formalistischen und repräsentativen Tendenzen der New York School komplementär

entgegengesetzt war, wie Egenhofer betont: »Judd betrachtet Malerei, den materiellen

Geburtsort des specific object, im Licht des Ready-made. [...] Dieses Licht ist die Zeit, in der

die Werkpräsenz sich gibt.«99 Wie Timothy Martin hervorhebt, gründete Judds Ansatz dabei

nicht zuletzt in seiner früheren Beschäftigung mit Psychologie und Psychoanalyse und

namentlich in seinem Interesse an der im Subjekt zu verortenden »Topologie des Begehrens,

in der aggressive und triebhafte Kräfte aus Löchern in Oberflächen hervorgehen«.100 Diese

»Topologie« thematisierte Judd bereits in einem seiner ersten specifics objects aus dem Jahr

1962 – es trägt den programmatischen Titel Untitled (DSS 29) – durch den Einsatz einer

schwarzen Asphaltröhre (eines phallischen Objekts mit zwei Öffnungen), die er auf dem Weg

zu seinem Atelier auf der Straße gefunden hatte und die er vertikal in einen in Rot-Schwarz

bemalten Rahmen einspannte,101 um mit dem Motiv der Röhre in weiterer Folge auch in einer

Reihe freistehender specific objects auf jenes ›schwarze Loch‹ und Moment des »Mangels«

zurückzukommen, das der Vorstellung eines begehrenden Subjekts zugrunde liegt (Abb.

97 Donald Judd: »Specific Objects«, in: Arts Yearbook 8 (1965), S. 74–82. 98 Ebd., S. 78. 99 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 103. Vgl. dazu auch Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 40. Mit zwei weiteren Artikeln aus dem Jahr 1965 verfolgten auch Richard Wollheim und Barbara Rose diese Argumentationslinie, indem sie die Ready-mades als historische Voraussetzung des minimalistischen Konzepts der Reduktion auf die künstlerische Geste in Anschlag brachten, vgl. Richard Wollheim: »Minimal Art«, in: Arts Magazine (Januar 1965), S. 26–32; Barbara Rose: »ABC Art«, in: Art in America (Oktober–November 1965), S. 57–69; beide wiederveröffentlicht in: Gregory Battcock (Hg.): Minimal Art: A Critical Anthology, New York: Dutton 1968. 100 Timothy Martin: »Donald Judd: Architecture and φ Space«, in: Haecceity Papers: Psychoanalysis and Space 4, Nr. 1 (2009), S. 15–44, zit.n. https://www.academia.edu/6426240/Donald_Judd_Architecture_and_%D0%A4_Space (aufgerufen am 28.12.2015), nicht paginiert. Konkret führt Martin Judds erste specific objects auf dessen Begegnung mit dem Werk Lee Bontecous zurück, deren Relief-Skulpturen Judd als »Körperöffnungen« interpretierte, die eine gleichsam »bedrohliche« Macht hätten, vgl. ebd. 101 Vgl. ebd. sowie Yanhua Zhou: »Rethinking Seriality in Minimalist Art Practices«, in: Canadian Social Science 11, Nr. 7 (2015), S. 148–154, S. 150–151. Wie Egenhofer hervorhebt, wurde DSS 29 ungeplant zur ersten Bodenarbeit Judds, wie eine Aussage Judds deutlich macht: »It was a big thing when sitting on the floor. […] It was meant to go to the wall, but it looked all right on the floor.« Vgl. Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 41; das Zitat entstammt John Coplands: »»I am interested in a static visual art and hate imitation of movement«. An interview with Donald Judd«, in: Artforum IX, Nr. 10 (Juni 1971), S. 40–50, S. 43. Indem Judd das Objekt um 90 Grad dreht, vollzieht er sozusagen gleichzeitig eine topologische Operation.

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72).102 Wie Egenhofer hervorhebt, liefert Judd mit seinen spezifischen Objekten erstmalig

eine »Form der Unmittelbarkeit, in der das Weltverhältnis des Werks erscheint« und die

»notwendig von Kontingenzlinien durchzogen« ist, insofern das »Werk [...] ›seinem‹ Raum

einen unscharfen ontologischen Hof« einzeichnet und »als die Raumsituation selbst

veränderlich und unkontrollierbar« ist.103 Diese »Vollräumlichkeit« mache deutlich, dass die

»isoliert visuelle und zeitlich auf den ›Augenblick‹ beschränkte« Werkanalyse, die schon mit

dem Ready-made ad absurdum geführt wurde, in Bezug auf Judds spezifische Objekte nicht

mehr hinreichend sei: »Es ist offenbar der ganze Verlauf einer leiblichen

Wahrnehmungserfahrung in seiner räumlichen, zeitlichen und individuellen Konkretion und

Kontingenz, der das Element und den Stoff der Werkanalyse abgeben muss.«104

Während Judd die unmittelbare Präsenz des Werks als eine der wesentlichen Grundlagen des

Minimalismus betrachtete, sollten Michael Asher und Dan Graham in weiterer Folge, so

Egenhofer, »nicht nur eine Rekontexualisierung, eine historische Analyse und Rückbettung

der sinnlichen Unmittelbarkeit« leisten, sondern ausgehend davon auch ein »neu gefasstes,

radikal temporalisiertes Werkkonzept« entwickeln, in dem die »Heterochronie von Form und

Produktion« als »Krise der ästhetischen Unmittelbarkeit«, als »eine Krise des Bildes«

bestimmt wird, die »die Geschehnisstruktur und das heißt die Geschichtlichkeit des Werks

ausmacht«.105 Diese historische Dimension sollte sich vor allem in kontextspezifischen

Arbeiten wie Grahams Zeitschriften-Foto-Text-Artikeln Homes for America (seit 1966) oder

Ashers Exposition des buchstäblich entblößten, da einzig und allein zum Zweck der

Ausstellung sandgestrahlten Ausstellungsraums in der Mailänder Galleria Toselli (1973)

niederschlagen.106 Wie Eric de Bruyn betont, war insbesondere Graham auch einer der

zentralen Impulsgeber für die »topologischen Wege des Post-Minimalismus«,107 indem er den

102 Zu den vielschichtigen Bezügen zur Topologie, die sich in Bezug auf Judds specific objects nachweisen lassen, vgl. im Besonderen Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 42–52. 103 Ebd., S. 35. 104 Ebd., S. 36–37. Egenhofer weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), die 1962 in englischer Übersetzung erschien, spätestens seit Robert Morris’ »Notes on Sculpture« (in: Artforum, Part I: Februar 1966, Part II: Oktober 1966) eine zentrale Rolle für die Konzeption und Rezeption des Minimalismus gespielt hat, vgl. ebd., S. 37, Anm. 30. 105 Ebd., S. 342. 106 Vgl. ebd., S. 342–344. Wie Eric de Bruyn hervorhebt, »bewegte sich Homes for America hin und her zwischen dem metrischen Raum minimalistischer oder vorstädtischer Rasterstrukturen, dem perspektivischen Raum der Fotografie und dem topologischen Raum des Informationsnetzwerks.« Eric de Bruyn: »Topologische Wege des Post-Minimalismus«, in: Pichler/Ubl: Topologie, S. 361–404, S. 391. 107 Wie de Bruyn hervorhebt, sind die »topologischen Modelle, die Graham aus Kybernetik, Systemtheorie und Gruppentheorie übernimmt, [...] nicht rein begrifflicher Natur, sondern auch auf einer mikropolitischen Ebene wirksam: Sie haben experimentellen Charakter im Hinblick auf die Möglichkeiten gemeinschaftlicher Erfahrung und erlauben die Einbeziehung realer Subjekte in jene »Gleitzeit kollektiver Bezüge [shifting time of collective relations]«, von denen Graham in Subject Matter spricht.« De Bruyn: »Topologische Wege des Post-Minimalismus«, S. 370–371. In seiner Analyse der topologischen Wege des Post-Minimalismus bezieht sich de Bruyn vor allem auf die Arbeiten von Graham, Bruce Nauman und Stanley Brouwn sowie auf jene Gruppe von

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Begriff der Topologie im Rahmen seines Artikels »Subjekt Matter« (1969)108 in gleichsam

modellhafter Form und namentlich sowohl in deskriptiver als auch in performativer Weise in

die Kunstkritik einführte:

›Topologie‹ kommt in Subject Matter nicht nur in deskriptiver Beziehung vor: Der Text selbst verkörpert in seiner sich zerstreuenden Struktur einen topologischen Transformationsvorgang. [...] Tatsächlich verwandelt sich Grahams Titel »Subject Matter« ins Mantra: »Machen wir uns selbst zum Material der Komposition«, und sein Text, als ein dichtes Gewebe aus Eindrücken, Kommentaren, Bezugnahmen und Zitaten, in das sich Schreiber und Leser gleichermaßen verwickeln, gerät zum Modell einer topologischen Räumlichkeit. [...] Topologie erfüllt bei Graham andere als nur deskriptive Aufgaben; in seiner künstlerischen Praxis fungiert sie als ein strategisches Verfahren oder, wie er selbst sagen würde, als ein kritisches Modell. Dieses topologische Modell beschränkt sich nicht auf die Transgression einer mit dem Minimalismus assoziierten »rigid notion of Euclidean geometry«. [...] Grahams Taktik besteht darin, »vorgefundene Strukturen« aufzugreifen: von ihm so genannte sozialpsychologische Denkmodelle, wie sie in der populärwissenschaftlichen Literatur auftauchen.109

Obschon Judd mit seinen dichotomen Begriffspaaren (Reinheit versus Eklektizismus,

Spezifität versus Beliebigkeit) im Gegensatz zu Graham noch weitgehend im modernistischen

Wertekanon verbleibt110 und damit, so Egenhofer, eine »positivistische Episteme« propagiert,

die er mit seinen frühen specific objects »schon gesprengt hat«,111 sollte sein gleichsam

»anarchischer Nominalismus«, das heißt, »die philosophische Haltung, die er mit Marcel

Duchamp teilt« und die von einer »Auflösung des Werkbegriffs« zeugt,112 den Minimalismus

fortan wesentlich prägen und damit eine Kerbe markieren, in welche die formalistische Kritik

auch weiterhin schlagen würde. So verurteilt Michael Fried den Minimalismus in seinem

wegweisenden Artikel »Art and Objecthood« (1967)113 – in polemischer Verkehrung von

Judds Definition – als ideologische und uneigenständige Bewegung, mit der die Grenze

zwischen Kunst und Massenkultur zugunsten eines Prinzips der Theatralität unterwandert

Humanwissenschaftlern, Videokünstlern und Medienaktivisten, die sich im Umfeld der Zeitschrift Radical Software formierte. 108 Dan Graham: »Subject Matter« (1969), in: ders.: Rock My Religion. Writings and Art Projects, 1965–1990, Cambridge, Mass.: MIT Press 1993, S. 38–51. 109 De Bruyn: »Topologische Wege des Post-Minimalismus«, S. 368–369 (Anmerkungen im Text wurden entfernt). Zu den konkreten Beweggründen Grahams, zu denen Bruce Naumans faltbare Latex-Plastiken zählen, die Graham 1968 kennenlernte, vgl. ebd., S. 361–362. 110 Vgl. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 41ff. 111 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 51. 112 Ebd., S. 53. 113 Michael Fried: »Art and Objecthood«, in: Artforum 5 (Juni 1967), S. 12–23, dt.: »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, aus dem Engl. v. Christoph Hollender, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 334–374.

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werde, dem »eine Art latenter oder verborgener Naturalismus, ja sogar Anthropomorphismus«

zugrunde liege.114 Wenn die Krux des Minimalismus für Fried vor allem in jener »besonderen

Mitwirkung« (special complicity) liegt, zu der er den Betrachter verführe oder gar nötige,115

so steht für ihn nicht weniger als die Identität des modernistischen Kritikers mit seinem

patriarchalen System der Oppositionen und seinem hegemonialen Anspruch der Kontrolle

über den Gegenstand auf dem Spiel,116 so Jones: »The vehemence of Fried’s text exposes the

enormous threat to the modernist critic of the perceived feminization or homosexualization of

culture promoted by Duchampian postmodern art.«117 Wie Jones hervorhebt, bezieht sich

Frieds Kritik am Minimalismus dabei vor allem auf die spezifische »Dauer des postmodernen

(minimalistischen) Objekts«, die er im Anschluss an Reinhardt mit dessen theatralischer

Inszenierung in Verbindung bringt und der er im Hinblick auf eine drohende Unterwanderung

des autoritativen modernistischen Wertesystems eine prinzipielle Absage erteilt.118 Der

zentrale Stellenwert, den Fried diesem Moment der Dauer attestiert, indem er es auf das

Konzept des Ready-made und den damit einhergehenden neuen Status des Betrachters

zurückführt, wird besonders deutlich in seiner Conclusio, die infolge ihrer Stichhaltigkeit für

die zentrale These der vorliegenden Arbeit in aller Ausführlichkeit zitiert sein soll:

Hier möchte ich nochmals etwas betonen, was vielleicht bereits klar geworden ist: Die jeweilige Erfahrung währt fort in der Zeit, und die Gegenwärtigung der Endlosigkeit, die, wie ich behauptet habe, für die literalistische Kunst und Kunsttheorie von zentraler Bedeutung ist, ist wesentlich eine Gegenwärtigung von endloser oder unbestimmter Dauer. [...] Die intensive Beschäftigung der Literalisten mit der Zeit – genauer gesagt, mit der Dauer der Erfahrung – ist, wie ich meine, paradigmatisch theatralisch: als ob

114 Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, S. 349. 115 Vgl. ebd., S. 345: »Weiterhin ist die Gegenwart der literalistischen Kunst [des Minimalismus], die Greenberg als erster analysierte, im Grunde ein theatralischer Effekt oder eine theatralische Eigenschaft – eine Art Bühnenpräsenz. Sie ist eine Funktion nicht nur der oft sogar aggressiven Aufdringlichkeit der Kunstwerke, sondern auch der besonderen Mitwirkung, welche die Arbeiten vom Betrachter verlangen. Man spricht von der Gegenwart einer Sache, wenn sie verlangt, vom Betrachter berücksichtigt zu werden, ernst genommen zu werden – und wenn diese Forderung bereits damit erfüllt ist, daß er sich ihrer bloß bewußt ist und sozusagen dementsprechend handelt.« 116 Vgl. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 44. Bemerkenswert ist dabei, dass sich in jüngerer Zeit auch die Fürsprecher eines radikalen Postmodernismus dieses Argumentationsmusters bedienen, indem sie dessen Werte verkehren. Hal Foster etwa argumentierte 1986, der Minimalismus habe der postmodernen Institutionskritik den Weg geebnet, indem er den Autonomiebegriff modernistischer Kunst unterwandert habe. Vgl. Hal Foster: »The Crux of Minimalism«, in: Howard Singerman (Hg.): Individuals. A Selected History of Contemporary Art, 1945–86, New York: Abbeville Press 1986, S. 162–183, S. 172. 117 Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 43. 118 Vgl. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 45–46: » Art can be a nonobject; art can be theater itself. […] It is the duration of the postmodern (minimalist) object that Fried sees as marked by the trait of corruption that links it back to Duchamp. Duration, like transitoriness, is an effect of theater; and as Nietzsche reminds us, theatricality can be mobilized as a degrading label through its links to feminization. […] Although Susan Sontag’s »Notes on ›Camp‹« helped define the terms by which a new sensibility […] was to be posed in opposition to the authoritarian value systems of modernist aesthetics, in her contemporaneous discussion of the Happening and its »genre of spectacle« Sontag implicates Duchamp directly in the theatricalization of aesthetics put in place in this alternative cultural development.«

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das Theater den Betrachter mit der Endlosigkeit nicht nur der Objekthaftigkeit, sondern auch der Zeit konfrontierte und ihn so isolierte; als ob der Sinn, den das Theater im Grunde anspricht, ein Sinn der Zeitlichkeit sei, der vergehenden wie der zukünftigen Zeit, der zugleich heranrückenden und zurückweichenden, wie in einer unendlichen Perspektive wahrgenommenen ... Die Beschäftigung mit der Zeit markiert einen grundlegenden Unterschied zwischen der literalistischen Kunst und der modernen Malerei und Skulptur. Es scheint, dass die Erfahrung der letztgenannten keine Zeitdauer hat – nicht etwa, weil man ein Bild von Noland oder Olitski oder eine Skulptur von David Smith oder Caro nicht tatsächlich in der Zeit erfährt, sondern weil das Werk selbst in jedem Moment gänzlich manifest ist. [...] Diese fortwährende und vollständige Gegenwärtigkeit, gewissermaßen eine unaufhörliche Selbstschöpfung, wird erfahren als eine Art Augenblicklichkeit: als reichte, wenn man nur unendlich viel scharfsichtiger wäre, ein einzelner, unendlich kurzer Moment aus, um alles zu sehen, um das Werk in seiner ganzen Tiefe und Fülle zu erfahren, um für immer von ihm überzeugt zu sein. [...] Ich denke, daß es Dank dieser Gegenwärtigkeit und Augenblicklichkeit der modernen Malerei und Skulptur gelingt, das Theater zu überwinden. Ja, ich bin versucht, weit über mein Wissen hinauszugehen und zu sagen, daß die anderen modernen Künste, insbesondere Dichtung und Musik, angesichts der Notwendigkeit, das Theater zu überwinden, vor allem nach der Seinsbedingung der Malerei und der Skulptur streben – das heißt danach, in einer andauernden und zeitlosen Gegenwart zu existieren, oder vielmehr diese überhaupt herzustellen. [...] Natürlich stimmt es, dass mein Schreiben weitgehend von dem Wunsch motiviert war, zu unterscheiden zwischen dem, was für mich die authentische Kunst unserer Zeit ist, und anderen Werken, die, unabhängig von dem Einsatz, der Leidenschaft und der Intelligenz ihrer Schöpfer, gewisse gemeinsame Eigenschaften aufzuweisen scheinen, die hier mit den Konzepten des Literalismus und der Theatralik verknüpft sind. In diesen letzten Sätzen möchte ich jedoch die Aufmerksamkeit auf die schrankenlose Verbreitung – beinahe die Universalität – der Sensibilität oder Seinsweise lenken, die ich vom Theater korrumpiert oder pervertiert genannt habe. Wir sind alle Literalisten, (fast) immer. Gegenwärtigkeit ist Gnade.119

Trotz seines autoritativen Gestus ist Frieds Text von einem defensiven Grundtenor

gekennzeichnet, den Robert Smithson in einem bissigen Kommentar zu Frieds Text auf die

Tatsache zurückführt, dass die »zeitlose Welt« des Minimalismus mit ihren »pervertierten

Erscheinungsformen der Unendlichkeit« eine Bedrohung für dessen Ideal der

»Gegenwärtigkeit« (presentness) darstelle.120 Jones zufolge versteht sich Frieds Artikel dabei

nicht zuletzt als Reaktion auf jene neue Form der »Sensibilität« und »Anti-Ästhetik«, die

Susan Sontag in ihren wegweisenden »Notes on ›Camp‹« von 1964 im Sinne einer

Aufhebung der Grenzen zwischen high und low culture propagiert hatte.121 Die Appropriation

des Ready-made im Kontext des Minimalismus ist damit auch in unmittelbarem

119 Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, S. 364–366 (Anmerkungen im Text wurden entfernt). 120 Vgl. Robert Smithson: »Letter to the Editor«, in: Artforum 6, Nr. 2 (Oktober 1967), S. 4: »This atemporal world threatens Fried’s present state of temporal grace – his ›presentness‹. The terrors of infinity are taking over the mind of Michael Fried. Corrupt appearances of endlessness worse than any known Evil. A radical skepticism, known only to the dreadful ›literalists‹ is making inroads into intimate ›shapehood‹. Non-durational labyrinths of time are infecting his brain with eternity.« 121 Susan Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: Partisan Review 31, Nr. 4 (Herbst 1964), S. 515–530; vgl. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 43–44.

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Zusammenhang mit jener performativen Wende zu sehen, die sich Ende der 1950er Jahre mit

den zeitgenössischen Bewegungen von Happening und Fluxus abzuzeichnen begann und die

sich, so Jones weiter, einerseits in Allan Kaprows Verweis auf die »transitorische Natur der

›Bedeutung‹ des Ready-made«, die er mit dem flüchtigen Charakter der Happenings

assoziierte, und andererseits in George Brechts Fetischisierung des Ready-made als

»beispielhaftem Moment in der Nivellierung modernistischer Anmaßungen« niederschlagen

sollte.122 Mit ihrem performativen Zugang, den Sontag 1962 in ihrer Kritik der

zeitgenössischen Happenings in stilistischer Hinsicht auf die Methode des Action Painting, in

inhaltlicher Hinsicht aber vor allem auf »frühere avantgardistische Werke wie Duchamps

zerstörerische, auf ihr Umfeld bezogene Ausstellungsarrangements für die Surrealisten« und

»eine bestimmte, mit dem Begriff ›Camp‹ assoziierte Form leidenschaftlicher Nicht-Kunst«

zurückführte,123 ebneten Kaprow und Brecht jenem egalitären Kunstbegriff den Weg, der auf

der Annahme basiert, dass Kunst und Leben in letzter Konsequenz nicht voneinander zu

trennen sind und dass folglich »alles Kunst sein und jeder Kunst machen kann«, so Jones:

»Art can be a nonobject; art can be theater itself.«124

Dabei ist bezeichnend, dass das Prinzip des Theatralischen, das im Allgemeinen mit einer

feminisierenden Tendenz assoziiert wurde, mit Duchamp nicht nur durch eine männliche

Gründerfigur legitimiert, sondern auch bevorzugt auf männliche Künstler übertragen wurde,

während Künstlerinnen aus dieser patrilinearen Erbfolge weitgehend ausgeschlossen wurden,

wie die Künstlerin und Kunsttheoretikerin Mira Schor hervorhebt: »Optimal patrilineage is a

perceived relationship to such mega-fathers as Marcel Duchamp […] and such mega-sons as

Jasper Johns and Robert Rauschenberg […].«125 So wurden Künstler wie Robert Morris,

dessen Performances und Objekten ein theatralisches Moment unterstellt wurde, zu legitimen

Erben Duchamps erklärt,126 während Künstlerinnen wie Carolee Schneemann oder Hannah

Wilke (Abb. 73), die eine zentrale Rolle für die Entwicklung der Performancekunst spielten,

122 Vgl. Jones:, Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 45–46. Seine Bezugnahme auf Duchamps Konzept des Ready-made begründete Kaprow 1974 wie folgt: »Duchamp’s interest in verbal metaphors […] and […] in the nebulous categories of the existence of art […] [inspired me to choose] in 1958 a readymade word, ›Happening‹, to designate experiences exterior to art. […] I wanted to […] prove that, after the fashion of Duchamp’s readymade objects, they imposed themselves rapidly as an art form.« Zit.n. ebd., S. 45. 123 Susan Sontag: »Happenings: An Art of Radical Juxtaposition«, in: dies.: Against Interpretation, New York: Farrar, Straus and Giroux 1962, S. 263–274, S. 271, zit.n. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 46. 124 Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 45. 125 Mira Schor: »Patrilineage«, in: Art Journal 50, Nr. 2: Feminist Art Criticism (Sommer 1991), S. 58–63, S. 58–59, zit.n. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 47. 126 So z.B. bei Maurice Berger: Labyrinths: Robert Morris, Minimalism, and the 1960s, New York: Harper & Row 1989, vgl. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 46–47.

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weitgehend aus dem Diskurs verdrängt wurden.127

Während das Ready-made im Kontext der Performancekunst vor allem infolge seines

theatralischen Charakters vereinnahmt wurde, spielte es für die Proponenten der

Konzeptkunst, wie Jones betont, vor allem hinsichtlich seines ideologischen Potentials eine

zentrale Rolle.128 Im Sinne einer Weiterentwicklung und Radikalisierung jenes Werkbegriffs,

der bereits im Minimalismus und im Konzept des Happening angelegt ist, versteht sich der

Begriff der Konzeptkunst oder Concept Art, den Henry Flynt Anfang der 1960er Jahre

prägte,129 als Überbegriff für unterschiedliche Tendenzen der zeitgenössischen Kunst, die eine

theoretische Form der Auseinandersetzung als wesentlich für die Bedeutung eines

Kunstwerks erachteten und der Idee respektive dem Konzept den Vorrang gegenüber der

Ausführung eines Werks gaben. Im Gegensatz zum vergleichsweise eng gefassten

Werkbegriff der New York School und des Minimalismus rückten damit neben Bildern,

Objekten und Performances vor allem auch Skizzen, Notizen und Handlungsanleitungen ins

Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung, wobei zunehmend auch die Rezipienten

aktiv in den Schöpfungsprozess einbezogen wurden. Eine der ersten Manifestationen dieser

neuen Tendenz ist die Werkserie This Way Brouwn (1960–1964), die der niederländische

Künstler Stanley Brouwn noch im neoavantgardistischen Kontext von Fluxus und Happening

entwickelte130 und die, so de Bruyn, als »Ausgangspunkt von Brouwns Entwicklung zum

Konzeptkünstler« zu betrachten ist.131 Es handelt sich bei der Werkserie mit de Bruyn

gesprochen um »eine merkwürdige Serie von Zeichnungen [...] aus wenigen, schwankenden

Linien, die sich auf ein paar Blätter standardisierten Papiers verteilen« und die »kaum

Interesse an Geschicklichkeit, Detaillierung oder Platzierung« erkennen lassen.132 Dies erklärt

127 Vgl. Amelia Jones: »Dis/playing the phallus: male artists perform their masculinities«, in: Art History 17, Nr. 4 (Dezember 1994), S. 546–584, S. 560: »Schneemann herself has expressed irritation at having been demoted in the piece [Site by Robert Morris, 1965] to the role of immobile and sexualized symbol of female ›labor‹ and consternation over her construction by male artists and by art historians in general as, in her words, »cunt mascot … PERMITTED TO BE AN IMAGE, BUT NOT AN IMAGE-MAKER CREATING HER OWN SELF-IMAGE«.« Die Bemerkung geht auf ein Interview zurück, das Jones im November 1992 mit Schneemann führte, vgl. ebd., Anm. 31. Das Zitat im Zitat findet sich in Carolee Schneemann: More Than Meat Joy: Complete Performance Works and Selected Writings, hg. v. Bruce McPherson, New Paltz/New York: Documentext 1979, S. 194/196. Zu Hannah Wilkes Bezugnahme auf Duchamp, vgl. u.a. Hannah Wilke: »I Object – Memoirs of a Sugar Giver«, in: Museum Ludwig Köln: Übrigens sterben immer die anderen, S. 263–271 sowie Alfred M. Fischer: »Hannah Wilke – Die wirkliche Braut, entkleidet«, ebd., S. 259–262. 128 Vgl. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 49. 129 Henry Flynt: »Essay: Concept Art« (1961), in: La Monte Young (Hg.): An Anthology of Chance Operations, New York: George Maciunas and Jackson Mac Low 1963, nicht paginiert. 130 Vgl. de Bruyn: »Topologische Wege des Post-Minimalismus«, S. 374: »Brouwn führte um diese Zeit mehrere öffentliche Aktionen durch und produzierte multiples, in denen sich die Duchamp’sche Strategie des Ready-made mit einer Ästhetik des Spiels und der Partizipation verband.« 131 Ebd. Eine detaillierte Analyse der Werkserie findet sich ebd., S. 373–376. 132 Ebd., S. 373.

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sich daher, dass die Zeichnungen nicht von Brouwn selbst stammen, sondern von Passanten,

die er auf er Straße angesprochen hatte und die ihm den Weg zu einem bestimmten Ort in der

Stadt skizzieren sollten. Dabei hatte Brouwn nie die Absicht, den Wegbeschreibungen zu

folgen – es ging ihm einzig um die zumeist dilettantischen Skizzen, die aus den zufälligen

Begegnungen entstanden und die er sich künstlerisch aneignete, indem er sie – ohne die

Passanten davon in Kenntnis zu setzen – mit dem titelgebenden Stempel versah (Abb. 74).

Wie de Bruyn betont, ist This Way Brouwn nicht nur als ein »Fingerzeig« zu verstehen, »der

einen Weg aus der Sackgasse spätmoderner Abstraktion weist«, sprechen »der operative

Charakter, die systematische Ordnung und Kunstlosigkeit« und »das Oszillieren zwischen den

Registern des Zufalls und der Kontrolle« de Bruyn zufolge doch für »mehr als nur eine

Topologie der Macht«,133 insofern Brouwn sich gezielt »in den Imaginationsraum (oder die

Raumimagination) des Anderen ein[schleicht], um darauf, so unplausibel dies in Wirklichkeit

scheinen mochte, Besitzrechte anzumelden«.134

Mel Bochner, der neben Victor Burgin, Sol LeWitt, Joseph Kosuth und Art & Language zu

den bedeutendsten Theoretikern der Konzeptkunst zählt, richtete 1966 in der Galerie der

School of Visual Arts in New York unter dem Titel Working Drawings and Other Visible

Things on Paper Not Necessarily Meant to Be Viewed as Art schließlich eine Ausstellung aus,

die als erste öffentliche Manifestation der Konzeptkunst-Bewegung in die Geschichte

eingegangen ist und von der ausgehend Sol LeWitt mit seinen »Paragraphs on Conceptual

Art« 1967 den Begriff der Konzeptkunst prägte.135 Einen weiteren wesentlichen Schritt

markierte das 1969 von Joseph Kosuth veröffentlichte Manifest »Art After Philosophy, I–III«,

in dem er die Konzeptkunst, der er auch minimalistische Künstler wie Judd oder Richard

Serra zuordnete, in klarer Abgrenzung von jeglicher Form von Theatralik oder Kitsch

definierte,136 um sich unter Bezugnahme auf Duchamp, wie Jones hervorhebt, sowohl von der

133 Ebd., S. 374/376. 134 Ebd., S. 379. 135 Sol LeWitt: »Paragraphs on Conceptual Art«, in: Artforum 5, Nr. 10 (Juni 1967), S. 79–83, S. 79. 136 Vgl. Joseph Kosuth: »Art After Philosophy, I–II«, in: Gregory Battcock (Hg.): Idea Art: A Critical Anthology, New York: Dutton 1973, S. 70–101. Erstveröffentlicht wurde das Manifest »Art After Philosophy« im Rahmen von drei Artikeln in: Studio International 178, Nr. 915–917 (Oktober–Dezember 1969), Teil I: S. 134–137; Teil II: S. 160–161; Teil III: S. 212–213. Teil I und Teil II finden sich als Wiederabdruck in: Alexander Alberro, Blake Stimson (Hg.): Conceptual Art: A Critical Anthology, Cambridge, Mass./London: MIT Press 1999, S. 158–177. Teil I schließt mit den Zeilen: »In an age when traditional philosophy is unreal because of its assumptions, art’s ability to exist will depend not only on its not performing a service – as entertainment, visual (or other) experience, or decoration – which is something easily replaced by kitsch culture, and technology, but, rather, it will remain viable by not assuming a philosophical stance; for in art’s unique character is the capacity to remain aloof from philosophical judgments. It is in this context that art shares similarities with logic, mathematics, and, as well, science. But whereas the other endeavors are useful, art is not. Art indeed exists for its own sake. | In this period of man, after philosophy and religion, art may possibly be one endeavor that fulfills what another age might have called ›man’s spiritual needs‹. Or, another way of putting it might be that art deals analogously with the state of things ›beyond physics‹ where philosophy had to make

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(weiblich konnotierten) Performancekunst als auch von den (ebenso weiblich konnotierten)

dekorativen Tendenzen des Formalismus zu distanzieren und für die Konzeptkunst im

Gegenzug ein (männlich konnotiertes) Prinzip der Produktivität zu reklamieren (Abb. 75).137

So schreibt Kosuth:

The function of art, as a question, was first raised by Marcel Duchamp. In fact it is Marcel Duchamp whom we can credit with giving art its own identity. […] With the unassisted readymade, art changed its focus from the form of the language to what was being said. Which means that it changed the nature of art from a question of morphology to a question of function. This change – one from ›appearance‹ to ›conception‹ – was the beginning of ›modern‹ art and the beginning of ›conceptual‹ art. All art (after Duchamp) is conceptual (in nature) because art only exists conceptually.138

Indem Benjamin Buchloh, der mit Nachdruck auf die zentrale Bedeutung Duchamps für die

Herausbildung konzeptueller Praktiken und eines postmodernen Kunstbegriffs hingewiesen

hat, in seinem Artikel »Conceptual Art« von 1990 hervorhebt, dass Duchamps Vermächtnis

im Kontext der Konzeptkunst erstmals in seiner vollen Tragweite konfrontiert und damit nicht

nur die »Rolle des Betrachters«, sondern auch »die Rolle (oder der Tod) des Autors« erstmals

eingehend reflektiert worden sei,139 bringt er die Paradoxie auf den Punkt, dass Duchamp, wie

Jones betont, zur unumgänglichen Referenz für eine Bewegung stilisiert werden sollte, die das

Prinzip künstlerischer Autorität von Grund auf hinterfragte.140

Im Gegensatz dazu wurde Duchamp im Kontext der Pop Art, die sowohl mit der

Konzeptkunst als auch mit der späteren Appropriation Art eine Reihe von Berührungspunkten

teilte, zwar ebenfalls als zentrale Referenz und namentlich als Gründervater einer neuen

Konzeption von Autorschaft betrachtet, allerdings gleichzeitig durch die schillernd-androgyne

Figur von Andy Warhol in den Hintergrund gedrängt. »Duchamp’s en-genderings of the

authorship function«, schreibt Jones, »go underground as they are incorporated into Warhol,

the strangely androgynous, theatrical, and aggressively ›indifferent‹ destroyer of the last

bastions of aesthetic purity, the (masculine-feminine and overly homosexual) heir of the

assertions. And art’s strength is that even the preceding sentence is an assertion, and cannot be verified by art. Art’s only claim is for art. Art is the definition of art.« Ebd., S. 170. 137 Wie Jones hervorhebt, war Kosuth sehr darauf bedacht, die Konzeptkunst auf eine (männlich konnotierte) »konzeptuelle Zeugungskraft« (conceptual virility) zurückzuführen, die auch für die Proponenten der New York School bezeichnend war: »For Kosuth, as for Greenberg and Fried, it is the theatrical, decorative, and kitsch that must be warded off to ensure aesthetic viability.« Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 50. 138 Kosuth: »Art After Philosophy, I–II«, S. 164. 139 Benjamin H. D. Buchloh: »Conceptual Art 1962–1969: From the Aesthetic of Administration to the Critique of Institutions« (1990), in: Alberro/Stimson: Conceptual Art, S. 514–537, S. 515 (Erstveröffentlichung in: October 55 (Winter 1990), S. 105–143, S. 107). 140 Vgl. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 50.

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Duchampian father.«141 In einer Linie mit Duchamp wurde Warhol bald zur Ikone eines

antimodernistischen Kunstbegriffs hochstilisiert, der, wie Rosenberg 1976 konstatiert, die

Unterscheidung zwischen Kunst und Populärkultur verunmögliche und insbesondere auch die

Figur des Künstlers selbst als »populärkulturelles Bild« ins Zentrum des Interesses stelle.142

Buchloh zufolge ist die Institutionalisierung Warhols als prominentestem Erben Duchamps

namentlich darauf zurückzuführen, dass Warhol im Zuge seiner »possenhaften Plünderung

des modernistischen Erbes« wesentlich weiter ging »als irgendeiner seiner Kollegen«, um die

»traditionellen Thesen zur Einzigartigkeit, Authentizität und Autorschaft des bildhaften

Objekts« in Weiterführung von Duchamps Konzept des Ready-made radikal infrage zu

stellen143 und seine Kunst im Gegenzug gerade in jenem »Gefängnis der Temporalität«* zu

verorten, dem Reinhardt zu entkommen suchte.144

Vor dem Hintergrund der regen Kontroverse um Pop und Concept Art formierte sich Mitte

der 1970er Jahre unter dem Schlagwort der Appropriation Art in New York schließlich eine

Gruppe von Künstler/innen – unter ihnen nicht nur männliche Künstler wie Robert Longo,

Jeff Koons, Jack Goldstein, Richard Prince oder John Baldessari, sondern auch zahlreiche

Künstlerinnen wie Elaine Sturtevant, Barbara Kruger, Jenny Holzer, Louise Lawler, Sherrie

Levine oder Cindy Sherman –, die Duchamps/Warhols Erbe antraten, indem sie einerseits auf

Bilder aus der Populärkultur und den Massenmedien zurückgriffen, andererseits aber auch

Elemente der Werke anderer Künstler/innen in ihre Werke integrierten und den

zeitgenössischen Kunstbegriff dadurch ein weiteres Mal herausforderten. Im Unterschied zu

den historisierenden Selbstlegitimierungen des Minimalismus und der Konzeptkunst ist dabei

bezeichnend, dass nunmehr auch die Konsequenzen dieser neuen Kunstpraxis, die

fundamentale Kategorien wie Autorschaft, Originalität, Kreativität oder das Prinzip des

geistigen Eigentums radikal infrage stellte, unmittelbar auf theoretischer Ebene reflektiert

wurden und sich konkret im zeitgleich im Umfeld der New Yorker Kunstzeitschriften

October (seit 1976) und Artforum (seit 1962) entstandenen Diskurs um den Postmodernismus

niederschlugen. Hatte die Kritik am greenbergschen Modernismus bereits im Kontext von

Minimalismus und Konzeptkunst eine zentrale Rolle gespielt, so wurde sie mit dem Diskurs

um Appropriation Art und Postmodernismus geradewegs institutionalisiert, indem das Erbe

141 Vgl. ebd., S. 51. 142 Harold Rosenberg: »The Mona Lisa Without a Moustache: Art in the Media Age«, in: Art News 75, Nr. 5 (Mai 1976), S. 47–50, S. 49–50. 143 Benjamin Buchloh: »Andy Warhol’s One-dimensional Art: 1956–1966«, in: Kynaston McShine (Hg.): Andy Warhol. A Retrospective, New York: Museum of Modern Art 1990, S. 39–61, S. 56 (Übers. d. Verf.). 144 Vgl. Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 205; *das Zitat findet sich in Reinhardt: Art as Art, S. 107.

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Duchamps und Warhols zwar weiterhin als unumgängliche Referenz betrachtet, unter

Bezugnahme auf theoretische Positionen aus dem Kontext der Frankfurter Schule, des

französischen Poststrukturalismus, der feministischen Theorie und des Situationismus

gleichzeitig aber auch historisiert und zugunsten eines antihegemonialen Kunstbegriffs

relativiert wurde.145 Craig Owens, der – neben Rosalind Krauss, Annette Michelson und

Douglas Crimp – seit den späten 1970er Jahren zu den Mitherausgebern und Autoren von

October zählte, führte die Strategien der Appropriation Art dementsprechend nicht nur auf

Duchamps Konzept des Ready-made und den erweiterten Kunstbegriff der Dadaisten und

Surrealisten zurück, sondern stellte gleichzeitig auch klar, dass diese durch die Etablierung

eines »Gegen-Diskurses« historisiert werden mussten, um einen Blick auf die zeitgenössische

Kunstproduktion zu gewinnen, der nicht länger den Kategorien und Kriterien des

Modernismus untergeordnet sei.146

Seine Initialzündung hatte dieser »Gegen-Diskurs« mit der von Douglas Crimp im Herbst

1977 im New Yorker Artists Space präsentierten Ausstellung Pictures erfahren, in der Werke

von Künstler/innen versammelt waren, die sich durch den Rückgriff auf fotografiebasierte

Massenmedien in unterschiedlicher (zumeist unautorisierter) Weise auf bereits bestehende

Bilder oder Artefakte bezogen, und von der ausgehend die Bezeichnung ›Pictures Generation‹

geprägt werden sollte.147 Im Katalogtext zur Ausstellung, den er 1979 in überarbeiteter

145 Zu den historischen Voraussetzungen der Appropriation Art wurden im Allgemeinen dadaistische Strategien wie Ready-made und Fotomontage sowie der Rückgriff auf die Massenmedien durch die Künstler der Pop Art gezählt. Auf theoretischer Ebene war vor allem Walter Benjamin ein zentraler Referenzpunkt, der das Prinzip der Montage bereits in den 1920ern als Allegorie des Modernismus bezeichnet hatte und in seinem Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1935) nicht nur auf den Verlust der Aura durch die Massenmedien, sondern auch auf das emanzipatorische Potential der Fotografie verwiesen hatte. Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt war Roland Barthes’ mit seiner in Mythen des Alltags (1957) entwickelten ideologischen Kritik der Konsumkultur und seiner These vom »Tod des Autors« (1967), durch die der Begriff der Originalität radikal infrage gestellt wurde. Auch Guy Debords Idee der Vereinnahmung (détournement) dominanter Begriffe und Bilder, für die er in Die Gesellschaft des Spektakels (1967) plädierte, zählte zu den zentralen Referenzen. Vgl. David Evans: »Introduction//Seven Types of Appropriation«, in: ders. (Hg.): Appropriation, Cambridge, Mass./London: MIT Press/Whitechapel Gallery 2009, S. 12–23, S. 13ff. 146 Vgl. Anders Stephanson: »Interview with Craig Owens«, in: Social Text Nr. 27 (1987), S. 55–71, S. 56, zit.n. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 56: »Obviously a lot of these practices went back to such moments as Duchamp and the readymades in 1913 or 1915, back to Dada and surrealism. These links were very clear; but in order to historicize them, to deal with contemporary production without evaluating it in terms of the categories and criteria of high modernism as elaborated by Greenberg and Michael Fried, it seemed necessary to elaborate a counter-discourse.« Der Erscheinungszeitpunkt des Interviews wird von verschiedenen Autor/innen unterschiedlich angegeben, Jones zufolge erschien das besagte Heft 1991, andere Autor/innen nennen das Jahr 1990, die Angabe 1987 folgt den Archives de la critique d’art: http://www.archivesdelacritiquedart.org/outils_documentaires/critiques_d_art/333/bibliographie (aufgerufen am 28.12.2015). 147 Vgl. Evans: »Introduction//Seven Types of Appropriation«, S. 12–13: »Pictures was the forerunner of an appropiationist current that became strongly associated with certain commercial galleries in New York.« An der Ausstellung Pictures wurden Arbeiten von Troy Brauntuch, Jack Goldstein, Sherrie Levine, Robert Longo und Philip Smith gezeigt. 2009 wurde im New Yorker Metropolitan Museum of Art unter dem Titel The Pictures Generation eine von Douglas Eklund kuratierte Überblicksausstellung zu dieser ersten Phase der Appropriation Art gezeigt, vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Pictures_Generation (aufgerufen am 28.12.2015).

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Fassung in October veröffentlichte, formuliert Crimp sein Interesse an der Appropriation Art

als künstlerischer Bewegung, die genuin »postmoderne Fragen« stelle, insofern sie in

Analogie zum Minimalismus zwar ebenfalls auf einem Prinzip des »Theatralischen« und der

von Fried beanstandeten »Beschäftigung mit Zeit« oder genauer »mit der Dauer von

Erfahrung« basiere, sich im Unterschied zum Minimalismus allerdings nicht durch die

Verwendung bestimmter Medien und Formen oder Inszenierung definiere, sondern vielmehr

eine Rückführung des Theatralischen auf die Ebene der Bildhaftigkeit vollziehe und damit die

Frage der Repräsentation als »unumgängliche Voraussetzung von Intelligibilität« ins Zentrum

des Interesses stelle:

It was temporality that Fried considered »paradigmatically theatrical«, and therefore a threat to modernist abstraction. And in this […] Fried’s fears were well founded. For if temporality was implicit in the way Minimal sculpture was experienced, then it would be made thoroughly explicit – in fact the only possible manner of experience – for much of the art that followed. The mode that was thus to become exemplary during the 1970s was performance – and not only that narrowly defined activity called performance art, but all those works that were constituted in a situation and for a duration by the artist or the spectator or both together. It can be said quite literally of the art of the 1970s that ›you had to be there‹. […] An art whose strategies are thus grounded in the literal temporality and presence of theatre has been the crucial formulating experience for a group of [postmodern appropriation] artists currently beginning to exhibit in New York. The extent to which this experience fully pervades their work is not, however, immediately apparent, for its theatrical dimensions have been transformed and, quite unexpectedly, reinvested in the pictorial image. If many of these artists can be said to have been apprenticed in the field of performance as issued from Minimalism, they have nevertheless begun to reverse its priorities, making of the literal situation and duration of the performed event a tableau whose presence and temporality are utterly psychologized; performance becomes just one of a number of ways of ›staging‹ a picture.148

Durch den Rekurs auf die avantgardistischen Vorstellungen der Radikalität und

Fortschrittlichkeit wurden die Strategien der Appropriation Art von Autoren wie Hal Foster

oder Benjamin Buchloh aber nichtsdestoweniger über weite Strecken auf eine Spielart des

Ready-made und der seriellen Objekte von Pop Art und Minimalismus reduziert.149

»Discourses arguing for the progressivity of appropriative postmodernism persistently rest

their claims on the innovative authority of Duchamp, who, ironically, is celebrated precisely

for his radical critiques of authority and authorship«, schreibt Jones: »simultaneously,

148 Douglas Crimp: »Pictures« (1979), in: Evans: Appropriation, S. 76–79, S. 77–78. Es handelt sich bei dem zitierten Artikel um einen gekürzten Wiederabdruck der Erstveröffentlichung in: October Nr. 8 (Frühjahr 1979), S. 75–77/87–88. 149 Vgl. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 56/61–62.

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postmodernism is determined to be definitively different from what came before.«150 Noch

dazu fand der Status Duchamps als legitimierender Vaterfigur, so Jones, seine Fortsetzung in

der »starken institutionellen Orientierung« der Appropriation Art, die Autor/innen aus dem

Kreis von October vor allem mit der Position Rosalind Krauss’ in Verbindung brachten, deren

Texte den zeitgenössischen Diskurs um den Postmodernismus maßgeblich prägten und die

damit – ungeachtet der von ihr selbst propagierten Dekonstruktion des Originalitätsbegriffs –

eine Art institutionalisierte »Autor-Funktion« bekommen habe, durch die Duchamp in seiner

Rolle als »impliziter und unterdrückter Funktion, als beiläufig erwähntem Ausgangspunkt«

des postmodernen Radikalitätsbegriffs abermals bekräftigt worden sei.151

Eine entscheidende Rolle für die Etablierung des Postmodernismus, der als populäre

akademische Gegenbewegung zum greenbergschen Modernismus für einen radikal

erweiterten Kunstbegriff einstand, spielte die 1984 von Brian Wallis unter der

Schirmherrschaft des New Yorker New Museum of Contemporary Art herausgegebene

Anthologie Art After Modernism: Rethinking Representation, mit der Grundlagentexte des

Poststrukturalismus und der Frankfurter Schule in den Dienst einer kritischen Theorie der

Repräsentation gestellt und in den zeitgenössischen Diskurs einbettetet wurden.152 Wie

Isabelle Graw hervorhebt, wurde die Unterscheidung zwischen ›künstlerischer Appropriation‹

und ›Appropriation‹ als fundamentaler Form des Weltbezugs durch diese Rückkopplung an

einen kritischen Begriff der Repräsentation im Laufe der 1980er Jahre zunehmend nivelliert:

»The question of what is specifically artistic about appropriation ceases to be valid if

appropriation is seen as critical (in the sense of a criticism of language) or subversive per

se.«153 Damit stellte sich nach und nach auch die Frage nach den Kriterien, anhand derer das

spezifisch kritische Potential künstlerischer Formen der Appropriation festzustellen war. So

bildete sich, wie Graw betont, erst Ende der 1980er Jahre ein Diskurs um unterschiedliche

Formen der Appropriation heraus, die sich durch verschiedenartige Zugänge auszeichneten,

wie beispielsweise derjenigen von Sherrie Levine, die sich infolge ihrer geradezu »obsessiven

Faszination« an den von ihr appropriierten Werken gleichsam zu einer Art »Diebstahl«

veranlasst sieht und die das Objekt ihrer Wahl – wie im Fall von Fountain (after Marcel

150 Ebd., S. 59. 151 Vgl. ebd., S. 56–57. 152 Brian Wallis (Hg.): Art After Modernism: Rethinking Representation, New York/Boston: New Museum of Contemporary Art/David R. Godin 1984. Vgl. Jones: Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, S. 57–58. 153 Vgl. Isabelle Graw: »Fascination, Subversion and Dispossession in Appropriation Art« (2004), in: Evans: Appropriation, S. 214–218, S. 214.

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Duchamp: A. P.) (1991) – auf einen symbolischen Sockel hebt (Abb. 76),154 derjenigen von

Andrea Fraser, die eine spielerische Analyse der Strukturen des Kunstbetriebs betreibt, indem

sie die Grenze zwischen Realität und Verfremdung in ihren Performances kontinuierlich

verschiebt,155 oder derjenigen von Yasumasa Morimura, der sich als appropriation artist der

zweiten Generation auf die appropriation artists der ersten Generation bezieht und dessen

Werk um Fragen von Gender, Identität und Differenz kreist, wie in seiner Arbeit

Doublonnage (Marcel) (1988), mit der er nicht nur auf Rrose Sélavy, sondern auch auf die

Arbeiten Cindy Shermans Bezug nimmt (Abb. 77). Dabei beruhen die unterschiedlichen

Strategien der Appropriation allesamt auf einem Prinzip der Transformation, mit dem sie

bestehende Strukturen entweder nach dem Ready-made-Verfahren der exposition156 in einen

neuen Kontext verschieben und in ein neues Licht rücken oder sie im Zuge dieses Prozesses

verzerren, umstülpen, ineinander umschlagen lassen oder miteinander verknoten, um sie

mitunter auch auf theoretischer Ebene hinsichtlich ihrer identitätslogischen und

genderspezifischen Implikationen zu hinterfragen.

Mit dem Diskurs um unterschiedliche Formen der Appropriation von Objekten, Ideen oder

Konzepten, der im Hinblick auf eine kritische Reflexion der praktizierten Neuverortung oder

Vereinnahmung geistigen Eigentums eng an postkolonialistische Ansätze und eine Kritik des

globalen Kapitalismus gekoppelt war, kam es in den beginnenden 1990er Jahren auch zur

Herausbildung neuer Disziplinen wie der Anthropologie und Museologie, die, wie John

Welchman hervorhebt, gleichzeitig vom Entstehen neuer Epistemologien des Beschreibens,

des Sammelns, des Vergleichens und der Evaluation begleitet waren.157 Im Anschluss an die

154 Vgl. ebd., S. 214–215. John Welchman verortet Levines Strategie der Appropriation in einem »weiten Feld sozialer, genderspezifischer, objektspezifischer und generischer Relationen«, deren Effekte – vor allem auch im Hinblick auf die ›Skulpturen‹, die sie seit 1989 schuf – grundlegend von jenen von Duchamps Ready-mades zu unterscheiden seien, vgl. John C. Welchman: Art After Appropriation. Essays on Art in the 1990s, New York: Routledge 2003, S. 11. Welchman verweist in diesem Zusammenhang auch auf Krauss, die Levines Skulpturen weniger mit dem Konzept des Ready-made als mit dem der Junggesellenmaschine in Verbindung bringt: »In 1989 the bachelor machine was there, waiting, to provide Sherrie Levine with ›a way‹ to make sculpture. The Duchamp effect she needed was not that of the ready-made, which describes the relations among commodities, and between commodities and their consumers, but that of the bachelor-machine, which invokes the connections between part-objects. And the malic molds, otherwise called the cemetery of uniforms and liveries, would provide these part-objects ›ready-made‹. The ›way to make a sculpture‹ would be to exhume them, to liberate them from the plane of The Large Glass, to cast them in three dimensions.« Rosalind E. Krauss: Bachelors, Cambridge, Mass./London: MIT Press 2000, S. 182. 155 Vgl. Graw: »Fascination, Subversion and Dispossession in Appropriation Art«, S. 217. 156 Egenhofer bestimmt die »Zeit der exposition« (exposition) ausgehend von seiner Analyse des Großen Glases als »Verzögerung« oder »Verspätung« (retard) und bringt sie mit jener Zeit des Werdens (durée) in Verbindung, die Bergson als Gefälle zwischen Vergangenheit und Zukunft denkt, vgl. Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 166–167, sowie oben, Kap. 2.1.3. und Kap. 2.2.2. Zum Prinzip der exposition, das Egenhofer zufolge ein Charakteristikum des Ready-made ist, vgl. auch das Unterkapitel »déclaration und exposition«, in: Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 118–121. 157 Welchman: Art After Appropriation, S. 1.

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Institutionskritik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, die sich vor allem auf die

Strukturen des Kunstbetriebs und die Logik des Museums bezogen hatte, ging es nunmehr, so

Welchman, auch vermehrt um interaktive und performative Formen der Intervention, die »das

historische Selbstbewusstsein des Museums oder der Galerie« thematisierten, indem sie nicht

nur deren Ausstellungskriterien, sondern auch deren eigene Strategien der Appropriation

kritisch reflektierten.158 Beispielhaft schlug sich dieser Trend in der Ausstellung The?

Exhibition? (›The Curator’s Egg‹) nieder, die von Dezember 1991 bis Mai 1992 im

Ashmolean Museum of Art and Archeology in Oxford gezeigt wurde und in der gängige

Ausstellungspraktiken durch die Gegenüberstellung populärkultureller Materialien mit

klassischer Kunst konterkariert wurden.159 Gleichzeitig entwickelten sich mit dem Diskurs um

das Prinzip der Appropriation auch neue Formen künstlerischer Auseinandersetzung, mit

denen das Interesse am subversiven Akt als solchem zugunsten eines innovativen Zugangs zu

Materialien, Maßstäben und visuellen Strukturen in den Hintergrund rückte.160 Welchman

zufolge erfuhr der Begriff der Appropriation Ende der 1980er Jahre vor allem durch Mike

Kelley und dessen Rückgriff auf handgefertigte, in vielen Fällen gebrauchte, abgegriffene

oder zerschlissene Objekte wie Stofftiere, Teppiche oder Decken (viele davon exemplarische

›Übergangsobjekte‹) eine grundlegende Neubewertung.161 Im Anschluss an Batailles

radikales Konzept »zweier polarisierter menschlicher Impulse: EXKRETION und

APPROPRIATION«162 brachte Kelley nunmehr auch ein Moment emotionaler Involvierung

oder vielmehr noch Regression ins Spiel, das dem neutralen, emotionslosen Charakter der

minimalistischen und konzeptuellen Ästhetik diametral entgegengesetzt war (Abb. 78).

So war der Diskurs um unterschiedliche Formen der Appropriation in den frühen 1990ern im

Wesentlichen von drei Strängen geprägt, mit denen gleichzeitig schon das Zeitalter der Post-

Appropriation eingeläutet wurde, wie Welchman zusammenfasst:

First, the continuation, modification and eventual dilution of the legacy of the Pictures generation; secondly, the first emergence of and definition of ›post-appropriation‹; and

158 Vgl. ebd., S. 2. 159 Vgl. ebd. 160 Vgl. ebd., S. 40. 161 Vgl. ebd., S. 41ff. »The piece of blanket, symbolic of the mother’s breast«, schreibt Welchman, »becomes in Kelley’s work both the transitional object (not yet a whole teddy bear, or whatever) and its territory, that which wraps around it. It is, simultaneously, the figure and ground.« Ebd., S. 43. 162 Vgl. ebd.: »Among the theorists of appropriation, it is Georges Bataille who offers the term perhaps its greatest, and most troubling, cultural extension. In his essay on the Marquis de Sade [»The Use Value of D.A.F. de Sade«, 1930], Bataille correlates appropriation with bodies, unitary and collective, identifying »two polarised human impulses: EXCRETION and APPROPRIATION« which follow on from »the division of social facts into religious facts… on the one hand and profane facts… on the other«. […] Appropriational experience may begin with the ordering of foreign bodies through digestive incorporation, but it extends to analogous forms of additive material: »clothes, furniture, dwellings, and instruments of production… finally… land divided into parcels«.«

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thirdly, as series of moves that complete the first, as appropriation’s reliance on rhetorics of negativity or obliqu[e]ness merges with a strand of anti-academic counter-theorising, popularly correlated with the material profusions of the grunge aesthetic and the textualist disinclinations of the ›slacker generation‹. This last emergence of art after appropriation, then, takes over the gestures of taking, but assumes that the selected presentational facts and self-evident appearances are now remaindered outside of any political or critical predisposition, or effect. Objects and their spreads are supposedly made or found, installed and viewed outside the shell of any theoretical dependence – or even, at the extreme of this tendency – beyond reference itself. […] Such shifts towards spectacles of the excessive constitute one of the most insistent markers of the 1990s, both in the art world and wider visual cultures.163

Hatte der Rekurs auf das Prinzip des Ready-made seinen Ausgangspunkt im Kontext des

Neo-Avantgardismus genommen, so wurde er mit dem kanonisierenden Diskurs um

Minimalismus, Konzeptkunst und Appropriation Art bis an seine äußersten Grenzen

ausgereizt, um letzten Endes einer Vielfalt unterschiedlicher künstlerischer Strategien

Vorschub zu leisten, die bis zum heutigen Tag nicht von Duchamps Erbe zu trennen, ihm

allerdings nicht mehr im Sinne einer unumgänglichen Legitimationsfigur verpflichtet sind.

Der paradigmatische Status, den die künstlerischen Bewegungen der 1960er, 1970er und

1980er Jahre für sich in Anspruch nahmen, ist innerhalb der letzten Jahrzehnte einem Prinzip

der Methodenvielfalt gewichen, mit dem die kanonisierende Klassifikation unterschiedlicher

Kunstrichtungen gleichsam ad absurdum geführt wurde. So lassen sich zeitgenössische Werke

im Allgemeinen weniger durch eine Zuordnung zu bestimmten Traditionslinien als vielmehr

durch den Rekurs auf bestimmte Medien, Verfahren und Strategien charakterisieren, mit

denen sie auf frühere Bewegungen oder Positionen Bezug nehmen, ohne sich diesen im

ideologischen Sinne zu verschreiben. Die zeitgenössische Kunst folgt damit im Wesentlichen

jenem Paradigma des anything goes, das Paul Feyerabend in seinem wegweisenden Buch

Against Method (Wider den Methodenzwang) von 1975 im Sinne eines produktiven

Wissenschaftsbegriffs definiert hatte, der nicht auf der Etablierung universeller Grundsätze

und Regeln, sondern vielmehr auf einer radikalen Offenheit gegenüber einer Pluralität

möglicher Zugänge und Methoden basiert.164

Beispielhaft zeichnet sich diese (zum neuen Paradigma prädestinierte) Zurückweisung des

Paradigmatischen im zeitgenössischen Trend der künstlerischen Forschung ab, die ihre

eigenen Voraussetzungen und Setzungen auf theoretischer Ebene reflektiert, indem sie das

Atelier in Anlehnung zum Labor und den künstlerischen Prozess zum Experiment oder zur

163 Ebd., S. 29–30. 164 Vgl. Paul Feyerabend: Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge, London: New Left Books 1975; dt.: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.

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Feldforschung erklärt, um das künstlerische Tun mit dem Ideal eines buchstäblich

objektivierbaren Erkenntnisfortschritts in Verbindung zu bringen. Wenn dieser Trend

ebenfalls auf Duchamp zurückgeht, um entgegen der früheren Ikonisierung des Ready-made

nunmehr bei Duchamps wissenschaftshistorischen Studien, pseudowissenschaftlichen

Experimenten, präzisionsmalerischen Konstruktionszeichnungen und vielschichtigen

Notizensammlungen anzuknüpfen, so unterscheidet er sich in seinem Anspruch doch

maßgeblich von jenem Duchamps, der im Gegensatz zum Erkenntnisanspruch

wissenschaftlicher Forschung davon überzeugt war, er könne mit seiner Kunst bestenfalls

einen subjektiven Erkenntnisfortschritt erzielen und darüber hinaus nichts weiter als Impulse

setzen, deren Relevanz zu beurteilen er seiner Nachwelt überlassen müsse. Während

Duchamp sich die Methoden der Wissenschaft im allerengsten Wortsinn durch einen Akt der

Appropriation zu eigen machte, indem er sie nach Belieben auswählte, veränderte und

verfremdete, zeigt sich die zeitgenössische künstlerische Forschung zuweilen allzu

beeindruckt vom Mythos ›wahrer Wissenschaftlichkeit‹ und nähert sich damit einem rigiden

Wissenschaftsbegriff an, für den Methoden nur Mittel zum Zweck und substantielle

Ergebnisse das Um und Auf der Auseinandersetzung sind. In seiner Radikalität und

Eigenständigkeit scheint Duchamps eklektizistisches Methodenvokabular, das er einst in der

Formel »Präzisionsmalerei, und Indifferenzschönheit« zusammenfasste, damit bis heute

emanzipatorisches Potential zu bergen.

3.2. »Bergson im Werden«: Vom Anti-Bergsonismus zur bergsonschen Wende

»Wer erinnert sich noch, dass Bergson ein berühmter Philosoph war, zweifelsohne der erste

seines Rangs?«165 Diese Frage, mit der François Azouvi seine 2007 veröffentlichte Studie

über den Bergsonismus eröffnet, ist so bezeichnend wie die Erklärung, die er für die

unvergleichliche Popularität von Bergsons Philosophie im frühen 20. Jahrhundert parat hat

und mit der er gleichzeitig ein Argument für deren nachhaltige Aktualität und deren zentralen

Stellenwert für den Diskurs des beginnenden 21. Jahrhunderts liefert. »Für seine Zeitgenossen

schien Bergsons Philosophie, mehr als jede andere, dazu befähigt, sie mit einem

Handwerkszeug auszustatten, mit dem sie die Welt verstehen konnten, die sich um 1900 vor

ihren Augen ereignete«, schreibt Azouvi, »diese Welt, die wir auch die moderne nennen und

deren überquellender Reichtum uns noch heute, aus der Distanz eines Jahrhunderts,

165 Azouvi: La gloire de Bergson, S. 13 (Übers. d. Verf.).

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beeindruckt.«166 So wurde Bergson als Apologet eines Prinzips des Schöpferischen und der

Veränderung, das in Anbetracht der fundamentalen Umwälzungen in der zeitgenössischen

Wissenschaft, Technologie, Kunst und Populärkultur nicht von der Hand zu weisen war, im

beginnenden 20. Jahrhundert von den einen als »der größte Denker der Welt« gefeiert,167

während er anderen, die Bergsons Intuitionismus als Bedrohung für die herrschende Ordnung

wahrnahmen, bezeichnenderweise auch als »der gefährlichste Mann der Welt« galt.168 Wie

John Mullarkey in seinem 1999 veröffentlichten Band The New Bergson hervorhebt, traf

Bergsons Philosophie vor einem Jahrhundert in einer derart tiefgreifenden und nachhaltigen

Art und Weise den Nerv der Zeit und wurde dementsprechend in einem Ausmaß und einer

Geschwindigkeit vereinnahmt, dass sie bald nicht mehr von zeitgenössischen und späteren

philosophischen Positionen und Trends zu unterscheiden sein und über weite Strecken aus

dem Diskurs verdrängt werden sollte:

Few philosophers have been as influential on our age as Henri Bergson. At the threshold of the twentieth century, he reset the agenda of philosophy and its relationship with science, art and even life itself. […] Yet fewer philosophers still have seen such a level of influence dissipate so quickly. The diffusion of his ideas was so extensive throughout intellectual Europe that, as a distinct and original body of thought, it was all but indiscernible by the 1920s. […] Such was its eventual ubiquity, however, that the originality of the Bergsonian world-view seemed to loose any distinctiveness as its ideas were incorporated (mostly without acknowledgement) into other movements – phenomenology, existentialism, structuralism – whose longevity was more secure. More than most philosophies, Bergsonism has the potential to be appropriated by a variety of philosophical traditions, and this was part of its downfall.169

In Übereinstimmung mit dieser Diagnose konstatiert auch Bernard-Henri Lévy in seinem

2000 veröffentlichten Werk Le Siècle de Sartre, mit der »Geschichte des Bergsonschen

Denkens in Frankreich« kenne man sich »nur schlecht aus« und was nach wie vor fehle, sei

eine umfassende »Wirkungsgeschichte Bergsons, die quer durchs Jahrhundert die Spur eines

Denkens verfolgte, das man heute allzu rasch in die Hölle der überkommenen, nicht mehr

zeitgemäßen Gedankenmumien verbannt«.170 Und auch Heike Delitz kommt in ihrer 2015

veröffentlichten Studie zu Bergsons Stellenwert für die französische Soziologie zu dem

166 Ebd., S. 15–16 (Übers. d. Verf.). 167 Frédérick LeFevre: »Une heure avec Maurice Maeterlinck«, in: Les Nouvelles Littéraires (7. April 1928), S. 8, zit.n. Robert C. Grogin: The Bergsonian Controversy in France, 1900–1914, Calgary: University of Calgary Press 1988, S. 61 (im Anschluss an John Mullarkey: »Introduction«, in: ders. (Hg.): The New Bergson, Manchester: Manchester University Press 1999, S. 1–16, S. 1, Anm. 1; Übers. d. Verf.). 168 Walter Lippmann: »The Most Dangerous Man in the World«, in: Everybody’s Magazine 27 (1912), S. 100–101, zit.n. Mullarkey: »Introduction«, S. 1, Anm. 1 (Übers. d. Verf.). 169 Ebd., S. 1. 170 Bernard-Henri Lévy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, aus dem Franz. v. Petra Willim, München: Hanser Verlag 2002, S. 135–136.

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Schluss, dass Bergsons »Einfluss auf das französische Denken des 20. Jahrhunderts insgesamt

sicher kaum hoch genug eingeschätzt werden kann«, wobei »die Ansteckungen und selbst die

Aversionen nur allzu oft unausgesprochen« blieben und mitunter »regelrecht versteckt«

wurden.171 In Ermangelung einer derartigen Wirkungsgeschichte soll im Rahmen der

vorliegenden Arbeit nur ein grober Überblick über den Einfluss Bergsons auf das Denken des

20. Jahrhunderts gegeben und ausgehend davon die Frage aufgeworfen werden, welcher

Stellenwert und welche spezifische Funktion Bergsons Philosophie aktuell zuzuschreiben ist.

3.2.1. Das Für und das Wider: Epistemologie, Phänomenologie, Strukturalismus

Mit ihrem 2015 veröffentlichten Werk Bergson-Effekte hat Heike Delitz eine der ersten

umfassenderen Studien zum Einfluss Bergsons auf das Denken des 20. Jahrhunderts

vorgelegt. Ausgehend von der Beobachtung, dass in der Soziologie seit jeher »ein ganz

bestimmtes Bergson-Bild« vorherrsche, nämlich dasjenige eines »Irrationalisten und Anti-

Intellektualisten«, das die »Assoziation seines Denkens mit einer soziologischen These

unvereinbar« mache, führt Delitz bereits die Etablierung der Soziologie als eigenständiger,

von der Philosophie unabhängiger Disziplin (im Zeitraum von 1890 bis 1930) ausdrücklich

auf einen »Bergson-Effekt« zurück, insofern sie auf eine »Abwehrbewegung seitens der

französischen Soziologie« gegenüber dem Bergsonismus zurückzuführen sei.172 Nachdem

Émile Durkheim als Gründer der so genannten École française de Sociologie von

Zeitgenossen buchstäblich als »Anti-Bergson« wahrgenommen wurde, grenzten sich Delitz

zufolge auch Maurice Halbwachs, Marcel Mauss, Henri Hubert und Lucien Lévy-Bruhl klar

»von Bergson als dem führenden ›Intuitionisten‹« ab und trugen damit zur Definition der

Soziologie als »einer durchgreifend positivistischen Disziplin« bei.173 Wie Delitz

zusammenfasst, diente Bergson Durkheim und seinen Anhängern dabei nicht nur »zur

Abstoßung in eine bestimmte methodologische Richtung«, nämlich in diejenige einer

»positiven sowie nicht-psychologischen Wissenschaft«, sondern gab »in dieser

Abstoßungsbewegung auch einige inhaltliche Vektoren« und »Themen der soziologischen

Forschung« vor, wie das Problem von Gedächtnis und Zeit, das Problem der Technik oder

epistemologische Fragen, welche die Durkheimiens »in dezidiert nicht-bergsonscher,

spezifisch ›soziologischer‹ Weise zu besetzen« suchten.174 Da diese »negativen Bergson-

Effekte (die Aversionen)« der Durkheim-Schule allerdings weniger auf Bergsons Philosophie

171 Delitz: Bergson-Effekte, S. 13. 172 Ebd., S. 13/15. 173 Ebd., S. 16. Vgl. auch ebd., S. 45–130. 174 Ebd., S. 47–48.

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als solcher als vielmehr auf dem öffentlichen Bild Bergsons beruhten,175 stehen sie Delitz

zufolge in direktem Zusammenhang mit jenem engagierten »Anti-Bergsonismus«, der seinen

ersten Höhepunkt in dem von Julien Benda verfassten Pamphlet Le Bergsonisme ou une

Philosophie de la mobilité (1912) fand und dessen Ende mit Georges Politzers La Fin d’une

parade philosophique: le Bergsonisme (1929) und Paul Nizans Les Chiens de garde (1932)

eingeläutet wurde.176 Im Kontext dieser breiten Welle des Anti-Bergsonismus begann sich die

französische Intellektuellenszene nach Jahrzehnten der Ambivalenz erstmals in einem

radikalen Schritt von Bergson zu lösen, wie Delitz hervorhebt: »Es ist ein tiefer Bruch

zwischen zwei Arten des Philosophierens, zwei Grundhaltungen, zwei Problemstellungen.

[...] Diesem Bruch entstammt letztlich der Poststrukturalismus und genereller (und richtiger)

der Strukturalismus.«177 Wenn die französische Philosophie Bergson um 1930 den Rücken

kehrte, um sich fortan der deutschen Philosophie und namentlich den phänomenologischen

Ansätzen der ›drei großen H‹ (Hegel, Husserl, Heidegger) zuzuwenden, so ging es dabei

Delitz zufolge aber nicht nur um eine »Hinwendung zu etwas«, sondern auch um eine

»interessierte Abwendung von etwas«, die »die französische Philosophiegeschichte und deren

Impulse an die Sozialwissenschaft seit den 1930ern bis in die 1960er und darüber hinaus

bestimmt« habe.178 Erst durch den Bruch mit Bergson, dessen Philosophie nun zwar »nicht

mehr allgegenwärtig« war, aber »gleichwohl untergründig weiterwirkte«, sei jener »frische,

unvoreingenommene Blick« möglich geworden, der für jene Neulektüren charakteristisch sei,

die die »Grundlage jedes heutigen Bergson-Verständnisses« und damit auch »die Grundlage

seiner aktuellen Renaissance in der internationalen Philosophie und den weiteren human- und

kulturwissenschaftlichen Disziplinen« bilden sollten.179

Den ersten entscheidenden Schritt in Richtung einer kritischen Relektüre und

Neuinterpretation von Bergsons Philosophie, der Frédéric Worms zufolge buchstäblich zum

einigenden Punkt der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts werden sollte,180 machte

175 Ebd., S. 16–17. 176 Benda: Le Bergsonisme ou une philosophie de la mobilité; François Arouet [Georges Politzer]: La Fin d’une parade philosophique: le Bergsonisme, Paris: Les Revues 1929; Paul Nizan: Les Chiens de garde, Paris: Rieder 1932. Vgl. Delitz: Bergson-Effekte, S. 133–138. 177 Delitz: Bergson-Effekte, S. 133–134 (Anmerkungen im Text wurden entfernt). 178 Ebd., S. 17. Delitz verweist in diesem Zusammenhang auf die These Vincent Descombes’, demzufolge es tatsächlich Bergson gewesen sei, »um dessentwillen die Generation der 1930er die drei großen H (Hegel, Husserl, Heidegger) lasen – um endlich von ihm wegzukommen«, ebd., S. 134. Vgl. Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere. 45 Jahre Philosophie in Frankreich. 1933–1978, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 17. 179 Delitz: Bergson-Effekte, S. 17. 180 Vgl. Frédéric Worms: La philosophie en France au XXe siècle. Moments, Paris: Éditions Gallimard 2009, S. 339–344.

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Gaston Bachelard, der Wissenschaft und künstlerische Imagination als zwei unterschiedliche,

aber gleichwertige Möglichkeiten betrachtete, sich der Differenz des Neuen zu öffnen, mit

seinen beiden Werken L’intuition de l’instant (1932)181 und La dialectique de la durée

(1936).182 Wie Delitz hervorhebt, markieren die beiden Werke einen fundamentalen

Wendepunkt, insofern Bachelard Bergson nicht mehr nur »polemisch verabschiedet«, sondern

gleichzeitig »seinen Vektor und seine Innovation aus Bergson bezieht«, indem er – wie

bereits Durkheim, aber nunmehr auch explizit – zentrale Thesen Bergsons übernimmt, um

»sodann einfach ein negatives Vorzeichen« vor sie zu setzen.183 So eröffnet Bachelard La

dialectique de la durée mit einer richtiggehenden Lobeshymne auf Bergson, dessen

»Psychologie der Fülle [...] so reich, so nuanciert, so beweglich« sei, dass sie »sich nicht

widersprechen« könne,184 weshalb er sie nur in einem einzigen Punkt kritisieren wolle: »Da

eine Kritik durch ihr Ziel erhellt wird, sagen wir sogleich, dass wir vom Bergsonismus fast

alles annehmen, außer die Kontinuität.«185 Damit ist es Bachelards erklärtes und vorrangiges

Ziel, einen »diskontinuierlichen Bergsonismus« zu entwickeln,186 um »gegen die Bergsonsche

These der Kontinuität« einer »präzisen und konkreten Dauer« nachzugehen, die sich genau

genommen aus einer »Vielzahl von Dauern« zusammensetze, in der es vor »Lücken« nur so

wimmle und auf deren Basis sich – entgegen der bergsonschen Vorstellung einer

interesselosen Teilhabe an einem Fluss der Veränderung – eine »Alternative des Halts und der

Aktion« formulieren lasse.187

Obschon Bachelard Bergsons Konzept der Dauer unter dem Einfluss des zeitgenössischen

Anti-Bergsonismus zunächst verwirft, übernimmt er gleichzeitig doch Bergsons Vorstellung,

dass Geschichte – und eben nicht nur die Geschichte im Allgemeinen, sondern auch die

Geschichte der Wissenschaften im Speziellen, die im Zentrum von Bachelards Methode der

historischen Epistemologie steht – notwendig auf einem unvorwegnehmbaren Werden beruhe,

das sich, wie Delitz hervorhebt, per definitionem nicht in Affirmationen, sondern in Brüchen

und damit in einer »›Geschichte des Nein‹ gegenüber vorherigen Theorien« vollzieht.188

Delitz zufolge läuft Bachelards Konzept der historischen Epistemologie damit auf einen

»inkonsequenten Anti-Bergsonismus oder einen sich selbst widerstrebenden Bergsonismus«

181 Gaston Bachelard: L’intuition de l’instant, Paris: Éditions Gonthier 1932. 182 Gaston Bachelard: La dialectique de la durée (1936), Paris: Presses Universitaires des France 2001. 183 Delitz: Bergson-Effekte, S. 17/139–140. 184 Bachelard: La dialectique de la durée, S. 1. 185 Ebd., S. 7 (Übers. d. Verf.). 186 Ebd., S. 8. 187 Gaston Bachelard: »Avant-Propos«, in: ders.: La dialectique de la durée, S. V–XI, S. VII–VIII. 188 Delitz: Bergson-Effekte, S. 140.

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hinaus, der sich in ähnlicher Form auch für Sartre sowie für eine Reihe weiterer Autoren

nachweisen lasse.189

Eine durchaus kritische, vergleichsweise aber weit positivere Haltung gegenüber Bergsons

Philosophie nimmt auch Georges Canguilhem ein, der sich als Mitbegründer der historischen

Epistemologie wie Bachelard mit der Geschichte und Geschichtlichkeit menschlicher

Erkenntnis befasst, seinen Akzent im Gegensatz zu Bachelard allerdings auf das Feld der

»Lebenswissenschaften« legt.190 Obschon sich Canguilhem Politzers Polemik gegen Bergson

zunächst noch bedingungslos anschließt,191 hat er gegenüber Bergson, so Delitz, in weiterer

Folge allerdings weniger Berührungsängste als Bachelard.192 In seiner 1943 veröffentlichten

Dissertation über die Beziehungen des Normalen zum Pathologischen, die er für sein 1966

veröffentlichtes Werk Le normal et le pathologique (Das Normale und das Pathologische)

überarbeiten und erweitern sollte,193 entwickelt Canguilhem seine These einer essentiellen

»Normativität des Lebendigen«, derzufolge die »Krise« das im eigentlichen Sinne Normale

ist und mit der Canguilhem Bergson, wie Delitz zusammenfasst, zugleich »präzisiert« und

»korrigiert«, insofern man das Leben notwendig als »Kette von Erfindungen oder

Ereignissen« begreifen müsse, die auf Irrtümer folgen und die sich selbst wiederum als

Irrtümer erweisen werden.194 So ist der neue Vitalismus, den Canguilhem im Sinne eines

Lebensbegriffs entwirft, der Intellekt und Leben miteinander in Einklang bringt, mit Delitz

gesprochen in letzter Konsequenz »eher eine Anreichung als Verabschiedung Bergsons«.195

Entsprechend Delitz Argumentation ist auch Jean-Paul Sartre als ›inkonsequenter Anti-

Bergsonianer‹ oder, wie Bernard-Henri Lévy in seiner vieldiskutierten Biografie

argumentiert, sogar als (verkappter) »Bergsonianer« zu betrachten:

189 Ebd, S. 142. Vgl. auch ebd., S. 142–143: »Jean-Paul Sartre liest Hussel und Heidegger, um von Bergson wegzukommen. Von Sartre und zugleich von Bergson, die sie gleichsetzen, werden sich wiederum weitere Autoren abstoßen, so Bourdieu und Foucault. Dabei handelt es sich recht besehen weniger um Bergson als um einen ›sartrisierten‹ Bergson, wenn nun Bergson immer noch und erneut als der Philosoph des Subjekts gilt, den man in Sartre wiedererkennt.« 190 Vgl. u.a. Georges Canguilhem: La connaissance de la vie, Paris: Hachette 1952; ders.: Études d’histoire et de philosophie des sciences concernant les vivants et la vie, Paris: Vrin 1968. 191 Vgl. Georges Canguilhem: »Quelques livres: La fin d’une parade philosophique: le bergsonisme«, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris: Vrin 2011, S. 221–229; Erstveröffentlichung in: Libres Propos (20. April 1929). 192 Delitz: Bergson-Effekte, S. 270–271. 193 Georges Canguilhem: Essai sur quelques problèmes concernant le normal et le pathologique, Clermont-Ferrand: La Montagne 1943; ders.: Le normal et le pathologique, Paris: Presses Universitaires de France 1966; dt.: Das Normale und das Pathologische, aus dem Franz. v. Monika Noll und Rolf Schubert, Berlin: August Verlag 2012. 194 Delitz: Bergson-Effekte, S. 274–275. In seiner Kritik der Vorstellung, dass soziale Ordnung nur im Gegensatz zu einer dahinterliegenden, gleichsam ›pathologischen‹ Unordnung zu denken sei, bediente sich Canguilhem Delitz zufolge einer »bergsonschen Logik«, indem er dessen »Kritik negativer Begriffe sowie der Vermengung des Quantitativen mit dem Qualitativen« folgte, ebd., S. 270. 195 Ebd., S. 271.

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Sartre, ein Bergsonianer? Die Hypothese mag seltsam anmuten. Sie steht quer zu der Tatsache, daß sowohl Sartre als auch seine Zeitgenossen im Denken Bergsons das Symbol für eine Philosophie sahen, mit der sie um jeden Preis brechen wollten. [...] Und dennoch glaube ich, daß man von seinem philosophischen Abenteuer nichts versteht, wenn man nicht auch bei ihm die Allgegenwärtigkeit des Bergsonschen Denkens konstatiert [...]. Der Bergsonismus war Sartre ebenso ›gegeben‹ wie die Prägung durch Gide und ging, ebenso wie der Geist Gides, als eines der Hauptelemente in seine ›Situation‹ ein. Übrigens wird Sartre just in dem Moment sich dazu bekennen, daß der Bergsonismus sein Ideal gewesen sei, in dem er darauf hinarbeitet, sich davon loszureißen.196

Lévy zufolge ist Bergson für Sartre nichts Geringeres als jener »Ursprungsautor, der ihn

fesselt, gefangen hält und ihn zaudern läßt, zu Sartre zu werden [...], der zugleich Quelle und

Hindernis ist, jenes intellektuelle Praktisch-Inerte, jene Materie des Denkens, von der es sich

zu befreien gilt, damit der ›wahre‹ Sartre Gestalt annehme«.197 Anders als Bachelard bezieht

sich Sartre in seiner Polemik gegen den Bergsonismus vor allem auf Bergsons Bildbegriff aus

Materie und Gedächtnis, den er in seinen beiden Werken L’Imagination (1936) und

L’Imaginaire (1940) einer fundamentalen Kritik unterzieht.198 Sartre hebt mit seiner Kritik

vor allem darauf ab, dass Bergson den Unterschied zwischen materiellen Dingen und

geistigen Bildern negiere und damit auf einem Subjektbegriff beruhe, der Bewusstsein als

»eine Art substantielle Form der Realität« fasse und damit in letzter Konsequenz nicht mehr

als eine Art Verkehrung klassischer Konzepte des Bildes leiste.199 Wie die Empiristen mache

Bergson aus dem Universum eine »Welt von Bildern«, in der jede Form von Realität durch

eine Art »Verwandtschaft« oder »Analogie« in einer gewissen Beziehung zum Bewusstsein

stehe, in das sich die Bilder nur noch im Sinne präexistenter Inhalte »einschreiben« müssten,

anstatt als »lebendiges Moment geistiger Aktivität« zum Tragen zu kommen.200 Während die

196 Lévy: Sartre, S. 141–142 (Anmerkungen im Text wurden entfernt). 197 Ebd., S. 135. Auch Sarah Richmond kommt in ihrer Gegenüberstellung »Sartre and Bergson« zu dem Schluss: »Henri Bergson’s philosophy, which Sartre studied as a student, had a profound but largely neglected influence on his thinking.« Sarah Richmond: »Sartre and Bergson: A Disagreement about Nothingness«, in: International Journal of Philosophical Studies 15, Nr. 1 (2007), S. 77–95, S. 77. 198 Jean-Paul Sartre: L’Imagination, Paris: Presses Universitaires de France 1936 (zitiert wird im Folgenden nach der späteren Ausgabe: Paris: Presses Universitaires de France 1983); dt: »Die Imagination«, aus dem Franz. v. Bernd Schuppener, in: ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1994, S. 97–254; Jean-Paul Sartre: L’Imaginaire. Psychologie phénoménologique de l’imagination, Paris: Éditions Gallimard 1940; dt.: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Mit einem Beitrag »Sartre über Sartre«, aus dem Franz. v. Hans Schöneberg, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1971. 199 Sartre: L’imagination, S. 44. Vgl. ebd., S. 41ff. sowie Delitz: Bergson-Effekte, S. 143. 200 Sartre: L’imagination, S. 42/49. Zu Sartres Kritik an Bergsons Bildbegriff, die er ausgehend von Husserls Konzept der Intentionalität entwickelt, vgl. auch Caterina Zanfi: »Henri Bergson und Maurice Merleau-Ponty – Das Bild zwischen Phänomenologie und Ontologie«, in: Simone Neuber, Roman Veressov (Hg.): Das Bild als Denkfigur. Funktionen des Bildbegriffs in der Philosophiegeschichte von Platon bis Nancy, München: Wilhelm Fink Verlag 2010, S. 285–299, S. 291–292: »Selbst wenn Sartre wohl anerkennt, dass Bergson die Bilder ins

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Fähigkeit zur Imagination Bergson zufolge in den Dingen selbst wurzelt, an denen das

Subjekt einerseits durch »Wahrnehmungsbilder« partizipiert, indem es sich ihnen andererseits

durch »Erinnerungsbilder« gegenüberstellt, konzipiert Sartre die Fähigkeit zur Imagination im

Sinne einer Negation der Materie, der das Bewusstsein als konstitutives Moment

menschlichen Seins und Instrument der Freiheit komplementär entgegengesetzt ist.201 Wie

Temenuga Trifonova hervorhebt, nimmt Sartre mit seinen beiden Werken zur Imagination

damit auch eine der zentralen Thesen seines 1943 veröffentlichten Werks L’Être et le néant

(Das Sein und das Nichts) vorweg, derzufolge das Bewusstsein eines Gegenstands, dessen

»Für-Sich-Sein«, unmöglich dessen »An-Sich-Sein« beinhalten kann und daher notwendig

dessen »Nichts« impliziert.202 Sarah Richmond zufolge argumentiert Sartre hier wiederum in

Abgrenzung von jenem »Begriff des Nichtseins«, den Bergson im Schlusskapitel von

Schöpferische Entwicklung als »unsichtbare Triebfeder des philosophischen Denkens« ins

Treffen führt, da das illusorische »Bild des Nichtseins« sich nur an jener Schnittstelle

»zwischen Innen und Außen« formen könne, die »das Subjekt und Objekt gleichzeitig

einschließt – mitsamt aber dem unaufhörlichen Überspringen vom einen zum anderen und der

Weigerung, jemals endgültig bei einem von beiden zu verweilen«.203

Wie Delitz betont, unterhält Sartre in seinem unermüdlichen Versuch, »sich von Bergson

loszureißen«, nach wie vor eine ausgeprägte Nähe zu jenem »schlecht verstandenen

Bergson«, den Jean Wahl, Jean Hyppolite und Merleau-Ponty mit ihren einflussreichen

Neulektüren in einem nächsten Schritt »gegen Sartre verteidigen« werden.204 Nachdem der

›Reich der Lebenden‹ erhoben habe, so tadelt er doch, in Materie und Gedächtnis Bilder nach wie vor als Dinge oder bewusstseinsimmanente Quasi-Dinge verstanden seien. [...] Bergsons Bewusstsein ist in der Welt selbst beheimatet, ferner sind seine Bilder der Gegenstände und die Bilder in unserem Bewusstsein nur graduell verschieden. Entsprechend erscheint Bewusstsein selbst als substantieller Teil der Realität. Ganz anders Sartre: Er will das Bewusstsein zu seiner transzendentalen Freiheit zurückführen, indem er ihm den Status reiner Negativität, der Negation der reinen Positivität der Welt, verleiht.« 201 Vgl. u.a. Temenuga Trifonova: »Matter-Image or Image-Consciousness: Bergson contra Sartre«, in: Janus Head 6 (2003), Nr. 1, S. 80–114; Lothar Knapp: »Das Bild und das Imaginäre. Sartres Schriften L’Imagination (1936), L’Imaginaire (1940) und Un théâtre de situations (1973)«, in: Michael Lommel, Volker Roloff (Hg.): Sartre und die Medien, Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 157–172. 202 Temenuga Trifonova: »Matter-Image or Image-Consciousness: Bergson contra Sartre«, in: Janus Head 6, Nr. 1 (2003), S. 80–114, S. 109. Zu Sartres Konzept des »Nichts«, vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 49ff. 203 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 277/281. Zu Bergsons »Begriff des Nichtseins«, vgl. ebd., S. 277–297. Zu Sartres Bezugnahme auf Bergson, vgl. Richmond: »Sartre and Bergson«, S. 79: »Bergson aims to discredit the idea of nothingness as ill-founded and illusory, and describes at great length how this illusion arises. As far as I am aware, there is no explicit record that Sartre had read this chapter, but we do know – from a reference in Sartre’s earlier brief discussion of nothingness in The Imaginary – that he knew of Bergson’s »analyses«, as he puts it, of nothingness, and although he does not provide a bibliographical source, it seems safe to assume that Sartre meant the discussion in Creative Evolution«. 204 Delitz: Bergson-Effekte, S. 143–144. Bernard-Henri Lévy zufolge nimmt Sartre in vielerlei Hinsicht Anleihen bei Bergson, so zum Beispiel mit den Begriffen ›Unaufrichtigkeit‹ und ›Authentizität‹, die er mit dem (schlecht verstandenen) Gegensatz von ›Zeit‹ und ›Dauer‹ assoziiere, oder mit seiner Freude am Unvorhersehbaren, vgl. Lévy: Sartre, S. 142ff.

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Bruch mit Bergson (respektive das Bedürfnis nach diesem Bruch) Anfang der 1930er Jahre zu

einer Hinwendung der französischen Autoren zur deutschen Philosophie und vor allem zu den

›drei großen H‹ geführt hatte, kam es Mitte der 1940er Jahre schließlich nach und nach zu

einem Trendumkehr, die, so Delitz, endlich auch »reichhaltige und tiefgreifende Relektüren«

von Bergsons Philosophie möglich machte und all die Vorurteile und Missverständnisse ins

Zentrum der Auseinandersetzung rückte, die Bergsons Philosophie seit jeher wie ein Schatten

begleitet hatten.205 Während der allseits grassierende Anti-Bergsonismus vor allem dem

»schlecht verstandenen Bergson« galt und damit nicht nur durch Bergsons Popularität und die

daraus resultierenden oberflächlichen Lektüren, sondern auch durch Bergsons »anscheinend

einfache Sprache« und die allzu missverständlichen, esoterisch angehauchten Grundbegriffe

seiner Philosophie (durée, élan, intuition) begünstigt worden war, kam es nun also auch

vermehrt zu »positiven Bergson-Effekten«, die ihre Grundlage in einer Rehabilitierung von

Bergsons Kritik am identitätslogischen und substanzontologischen Erbe der europäischen

Philosophie fanden.206 Diese Rehabilitierung wurde nicht zuletzt durch die Rezeption der

phänomenologischen Ansätzen Husserls und Heideggers vorangetrieben, mit denen die

spezifische »Räumlichkeit des In-der-Welt-Seins« (Heidegger)207 und der konkrete Horizont

der »Lebenswelt« (Husserl)208 ins Zentrum der Auseinandersetzung rückten. So bezieht sich

Jean Wahl, der einst selbst bei Bergson studiert und sich damals stillschweigend in die Reihe

seiner Feinde gestellt hatte, 1932 noch eher am Rande auf Bergson als einen der ersten

Philosophen, der gegen den abstrakten Rationalismus den Weg zum »Konkreten«

eingeschlagen und damit die Philosophie der Gegenwart vorbereitet habe,209 um ihn 1946

schließlich mit keinem Geringeren als Descartes zu vergleichen, dessen »kühnes Unterfangen,

jedes Ding erkennen zu wollen«, mit Bergson nicht nur seine Fortsetzung, sondern gleichsam

seine Krönung finde, insofern er das »Denken [...] mit dem Leben und der Bewegung«

zusammengeführt habe.210

205 Delitz: Bergson-Effekte, S. 160. 206 Vgl. ebd., S. 18. 207 Vgl. § 23 in Heidegger: Sein und Zeit, S. 104–110. 208 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1996 (Erstveröffentlichung 1936). 209 Jean Wahl: Vers le concret. Études d’histoire de la philosophie contemporaine: William James, Whitehead, Gabriel Marcel, Paris: Vrin 1932, vgl. Delitz: Bergson-Effekte, S. 160–161. 210 Jean Wahl: Tableau de la philosophie française, Montréal/Paris: L. Parizeau/Éditions de la Revue Fontaine 1946; dt.: Französische Philosophie: ein Abriss, aus dem Franz. v. Brigitte Beer, Säckingen: H. Stratz 1948. Vgl. ebd., S. 164, zit.n. Delitz: Bergson-Effekte, S. 161: »Vom ›Ich denke, also bin ich‹ Descartes’ bis zum ›Ich daure, also bin ich‹ Bergsons, von der fortgesetzten Schöpfung bis zur schöpferischen Entwicklung sind wir der großen Straße der französischen Philosophie gefolgt. Von den beiden cartesischen Substanzen, der Ausdehnung und dem Denken, bleibt nur das Denken bestehen; es fällt nun mit dem Leben und der Bewegung zusammen. Die repräsentativen Empfindungen werden geleugnet, ebenso der reine Mechanismus und der reine

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Einen wesentlichen Beitrag zur Rehabilitierung Bergsons leistete daraufhin vor allem Jean

Hyppolite, der sich seit den frühen 1940ern als Übersetzer und Interpret von Hegels

Phänomenologie des Geistes einen Namen gemacht hatte211 und der 1949 zunächst an die

Sorbonne berufen wurde, um 1954 die Direktion der École Normale Supérieure und 1963 den

Lehrstuhl »Histoire des Systèmes« am Collège de France zu übernehmen. Delitz zufolge war

es vor allem Hyppolite, der mit seinen Vorträgen, Texten und Vorlesungen seit den späten

1940ern seinen illustren Schülern – unter ihnen Louis Althusser, Jacques Derrida, Gilles

Deleuze, Jean Laplanche und Michel Foucault – »Bergson neu aufgeschlossen« und damit die

»Basis jeder aktuellen Bergson-Lektüre in Frankreich« geschaffen hat.212 Dabei ging es

Hyppolite, wie er 1950 im Rahmen eines Vortrags betont, nicht nur darum, die gängigen

Missverständnisse aus der Welt zu schaffen, infolge derer man die »Originalität und Kraft«

von Bergsons Denken über weite Strecken »verkannt« und ihn daher als Irrationalist, Anti-

Intellektualist oder Intuitionist abgetan habe, obschon Bergsons »Kritik der Intelligenz«

keinesfalls als »negative Kritik« zu verstehen sei, die die Intelligenz »durch etwas anderes

ersetzen« wolle, sondern im Gegenteil als »Anstrengung, damit die Intelligenz sich selbst

übersteigt«.213 Denn gleichzeitig ging es Hyppolite auch darum zu zeigen, dass der

französische Existentialismus, der, so Hyppolite 1959 im Rahmen der Konferenz Bergson et

nous, sich als besonders »unnachsichtig gegenüber Bergson« erwiesen habe, zweifellos von

Bergson »geprägt« sei – wenn auch nur, um ihn infolge einer Reihe von Missverständnissen

zu verwerfen.214 So bleibe der Existentialismus letztlich in der conditio humana befangen,

während Bergson zwar keine Geschichtstheorie, aber eine allgemeine »Philosophie des

Lebens als der Geschichte« entwickelt habe, in der Erinnerung und aktuelle Handlung im

Sinne einer permanenten Aktualisierung des Virtuellen ein Kontinuum bildeten, die den

Menschen damit gleichzeitig als Subjekt und Objekt seines Wissens begreife und die wohl

Intellektualismus. Dennoch bleibt Bergson durch die Klarheit seines Stils und durch die Eindringlichkeit seiner Analysen dem cartesischen Geiste treu [...]. Die Philosophie Descartes’ war ein kühnes Unterfangen, jedes Ding erkennen zu wollen. Das gilt auch für die Philosophie Bergsons.« 211 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: La phénoménologie de l’esprit, 2 Bde., aus dem Dt. v. Jean Hyppolite, Paris: Aubier, Éditions Montaigne 1939/1941. Vgl. Jean Hyppolite: Genèse et structure de la Phénoménologie d’Esprit de Hegel, 2 Bde., Paris: Aubier, Éditions Montaigne 1946. 212 Delitz: Bergson-Effekte, S. 163. 213 Jean Hyppolite: »Vie et existence d’après Bergson« (1950), in: ders.: Figures de la pensée philosophique: écrits de Jean Hyppolite (1931–1968), Paris: Presses Universitaires de France 1971, S. 489–498, S. 490–491, zit.n. Delitz: Bergson-Effekte, S. 160–161. 214 Jean Hyppolite: »Néant et Existentialisme«, in: Gérald Mignot (Hg.): Bergson et nous. Actes du Xe congrès des sociétés de philosophie de langue française, Paris, 17–19 mai 1959. Discussions, Paris: Librairie Armand Colin 1960 (Bulletin de la Société Française de Philosophie, 54e année, numéro spécial), S. 142–164, S. 160, zit.n. Delitz: Bergson-Effekte, S. 161.

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gerade dadurch in Verruf geraten sei, dass sie sich als »zu kontemplativ« erwiesen habe, »um

auf die Erfordernisse unserer historischen Existenz zu antworten«.215

Auch Maurice Merleau-Ponty, der seit seinem Studium in Kontakt mit Hyppolite und Sartre

stand und dessen phänomenologische Analysen auf einem intensiven Dialog mit dem

Existentialismus, der Gestalttheorie, dem Strukturalismus und der Psychoanalyse216 basierten,

hatte Delitz zufolge bereits seit seinem Studium einen tiefen Bezug zu Bergson, den er 1953

im Rahmen der Antrittsrede anlässlich seiner Berufung aufs Collège de France (wo er als

Nachfolger von Bergson den Lehrstuhl für moderne Philosophie übernahm217) zum Ausdruck

brachte, indem er auf den signifikanten Unterschied zwischen einem ›recht‹ und einem

›schlecht‹ verstandenen Bergson verwies, der zu einer Vielzahl von Missverständnissen

geführt habe.218 Obschon Merleau-Ponty, wie Shoichi Matsuba betont, Bergson zeitlebens mit

einer gewissen Ambivalenz gegenüberstand,219 ist das »Lob der Philosophie«, von dem der

Titel seiner Antrittsrede kündet, mit Delitz gesprochen buchstäblich als »»Lob« der

Philosophie Bergsons« zu bewerten.220 Indem er mit Nachdruck für die »Beseitigung eines

vordergründigen Eindrucks des Bergsonismus« plädiert, wendet sich Merleau-Ponty

namentlich gegen die von Bergsons Gegnern wie auch von seinen Anhängern vertretene

Meinung, Bergson habe »die Intuition gegen die Intelligenz oder die Dialektik ausgespielt

und den Geist gegenüber der Materie, das Leben gegenüber dem bloßen Mechanismus 215 Jean Hyppolite: »Sens et existence dans la philosophie de Maurice Merleau-Ponty« (1963), in: ders.: Figures de la pensée philosophique, S. 731–758, S. 732, zit.n. Delitz: Bergson-Effekte, S. 162. Vgl. dazu auch Hyppolite: »Vie et existence d’après Bergson«, S. 495 sowie ders.: »Aspects divers de la mémoire chez Bergson« (1949), in: ders.: Figures de la pensée philosophique: écrits de Jean Hyppolite (1931-1968), Paris: Presses Universitaires de France 1971, S. 468–488. 216 Von seinem frühen Text La Structure du comportement (1942) über seine Vorlesungen am Collège de France bis hin zu seinem letzten Werk Le Visible et l’invisible (1964) war Merleau-Pontys Werk von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Konzepten Freuds und Lacans geprägt, die wiederum in Lacans Werk einfloss und in der die Begegnung zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse Guy Félix Duportail zufolge ihren Höhepunkt erreichte. Vgl. Guy Félix Duportail: »Le Chiasme d’une amitié. Lacan et Merleau-Ponty«, in: Chiasmi International (Hg.): Merleau-Ponty entre esthétique et psychanalyse, Paris: Vrin 2005, S. 345-365, S. 345ff. 217 1914 übernahm Édouard Le Roy den Lehrstuhl von Bergson (zunächst als Substitut und ab 1921 als offizieller Nachfolger), 1941 wurde Louis Lavelle auf den Lehrstuhl berufen, vgl. Richard A. Cohen: »Philo, Spinoza, Bergson: The Rise of an Ecological Age«, in: Mullarkey: The New Bergson, S. 18–31, S. 27, Anm. 23. 218 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: »Éloge de la philosophie«, in: ders.: Éloge de la philosophie et autres essais, Paris: Éditions Gallimard 1953, S. 7–79; dt.: »Lob der Philosophie«. Es handelt sich bei dem Text um die schriftliche Fassung der Antrittsvorlesung, die Merleau-Ponty am 15. Januar 1953 am Collège de France hielt. Vgl. Delitz: Bergson-Effekte, S. 163. 219 Vgl. Shoichi Matsuba: »From Miscarried Phenomenology to Intuitive Ontology: Merleau-Ponty’s Reading of Bergson«, in: Chan-Fai Cheung, Yu Chung-Chi (Hg.): Phenomenology 2005, Bd. 1: Selected Essays from Asia, Part 2, Bukarest: Zeta Books 2007, S. 517–533, S. 518–519: »It is clear that the philosophy of Bergson influenced on Merleau-Ponty. In fact, Merleau-Ponty refers consistently to Bergson from his initial book review until the last drafts of the later years. […] For the most part, Merleau-Ponty took an ambivalent position toward Bergson’s thought. He evaluated it affirmatively, on the one hand, and pointed out its insufficiency, on the other hand.« 220 Delitz: Bergson-Effekte, S. 163.

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aufgewertet«.221 Entgegen dieser verkürzten Sichtweise bestehe »die innere Bewegung des

Bergsonismus«, deren Grundlagen Bergson in Materie und Gedächtnis formuliert und die er

in Schöpferische Entwicklung im Sine eines »Mechanismus für die Freiheit« weiterentwickelt

habe, im Ȇbergang von einer Philosophie des Eindrucks zu einer Philosophie des

Ausdrucks«, mit der »der rückwirkende Effekt des Wahren«, in anderen Worten, die

»Erfahrung der Bewährung« zum Tragen komme:

Bergson hat erkannt, daß die Philosophie nicht darin bestehen könne, die Freiheit und die Materie, den Geist und den Leib jeweils unabhängig voneinander zu verwirklichen und gegeneinander auszuspielen. Er hat im Gegenteil behauptet, Freiheit und Geist müßten sich, um selbst sein zu können, in der Materie und im Leib bekunden, d.h. sich ausdrücken. [...] Die Materie ist zwar ein Hindernis, sie ist aber auch ein stimulierendes Instrument.222

So kommt Merleau-Ponty in einem Vortrag anlässlich des Bergson-Kongresses von 1959223

zu dem Schluss, in Wahrheit gebe es »zwei Bergsonismen«, einen Bergsonismus »der

Kühnheit, als die Philosophie Bergsons sich ihren Platz erkämpfte und sich, wie Péguy sagt,

sehr gut schlug«, und einen Bergsonismus »nach dem Sieg, der von vornherein davon

überzeugt ist, was Bergson lange Zeit zu finden bemüht war, der bereits mit Begriffen

versehen ist, wo Bergson seinerseits seine Begrifflichkeiten zu prägen suchte«.224 Um

Bergsons Philosophie in dem ihr eigentümlichen »Entdeckergeist« gerecht zu werden, müsse

man den etablierten Bergsonismus daher hinter sich lassen und sich auf die eigentliche

Aufgabe der Philosophie zurückbesinnen, die darin bestehe, vorgefertigte Meinungen zu

hinterfragen und stattdessen auf der Suche nach Wahrheit »den ganzen Weg« zu gehen: »Der

etablierte Bergsonismus entstellt Bergson. Bergson beunruhigte, er aber beruhigt. Bergson,

das war eine Eroberung, der Bergsonismus hingegen verteidigt und rechtfertigt Bergson«,

schreibt Merleau-Ponty, indem er gleichzeitig andeutet, wo die unverminderte Aktualität

dieser radikalen Philosophie des Werdens aktuell zu verorten sei: »Bergson, das bedeutete, in

Berührung mit den Dingen zu stehen, während der Bergsonismus nur eine Sammlung

vorgefertigter Meinungen ist.«225

221 Vgl. Merleau-Ponty: »Lob der Philosophie«, S. 182–184. 222 Vgl. ebd., S. 196–197. 223 Vgl. Mignot: Bergson et nous. 224 Merleau-Ponty: »Bergson im Werden«, S. 266. Dieser Text wurde unter dem Titel »Hommage solennel à Henri Bergson« erstmals im Rahmen des Bergson-Kongress vom 17. bis 20. Mai 1959 präsentiert. Erstveröffentlichung: »Bergson se faisant«, in: Bulletin de la Société Française de Philosophie Nr. 1 (1960), S. 35–45. 225 Merleau-Ponty: »Bergson im Werden«, S. 266–267.

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Merleau-Ponty zufolge mussten Bergsons Bücher – und musste insbesondere Materie und

Gedächtnis, »das am wenigsten gelesene der bedeutenden Bücher Bergsons«, mit dem er »das

Feld der Dauer und die Praxis der Intuition auf entscheidende Weise erweitert« habe226 – im

beginnenden 20. Jahrhundert »wie eine Renaissance, eine Befreiung der Philosophie

empfunden« werden, sei es doch nicht weniger als das »vergessene Sein und seine

Fähigkeiten«, das Bergson wiederentdeckt habe und durch das seine Bücher bis heute Bestand

hätten, in anderen Worten, das »entstehende Sein, von dem mich keine Repräsentation

trennt«, »das von vornherein alle Ansichten enthält, selbst die nicht übereinstimmenden«,

»das aufrecht vor uns steht, jünger und älter als das Mögliche und das Notwendige«, und

»das, sobald es einmal entstanden ist, nie wird aufhören können, im Hintergrund anderer

Gegenwarten gewesen zu sein«.227 Kurz, indem Bergson endlich jenen »Kreis« geschlossen

habe, »der das Sein ›für mich‹ zum Zuschauer werden läßt, den Zuschauer jedoch im

Gegenzug ›für das Sein‹ da sein läßt«, habe er wie niemand vor ihm »das rohe Sein (l’être

brut) der wahrgenommenen Welt« erfasst.228 So bestehe Bergsons »große Neuerung mit

Zukunft« darin, »kein ›Ich denke‹, und seine immanenten Gedanken« zum Prinzip zu

erheben, sondern »ein Selbst-sein, dessen Zusammenhalt auch eine Trennung« bedeute,

insofern die Intuition der Dauer »das Erlernen einer allgemeinen Weise des Sehens«

voraussetze, »die alle Dinge sub specie durationis erneut betrachtet – auch das, was man

Subjekt und Objekt nennt«, und die damit nicht nur »Veränderung, Werden, Bewegung« in

den Blick nehme, sondern auch »das Sein, im lebendigen, aktiven Sinn des Wortes«: »Die

Zeit wird nicht an die Stelle des Seins gesetzt, sie wird als ein entstehendes Sein verstanden,

und es ist nun das gesamte Sein, das man von der Seite der Zeit aus angehen muß.«229

Richard A. Cohen zufolge geht Merleau-Pontys »›phänomenologische‹ Methode« damit nicht

nur auf Husserl, sondern auch auf Bergson zurück, dessen Methode der Intuition er vermittels

Husserls Konzept der »Intuition der Essenzen« verfeinert habe.230 In Le Visible et l’invisible

(Das Sichtbare und das Unsichtbare),231 seinem erst posthum veröffentlichten Werk, an dem

er bis zu seinem Tod im Mai 1961 gearbeitet hatte, führt Merleau-Ponty das Wesentliche der

Philosophie im Anschluss an Bergson und Husserl namentlich auf eine »Rückkehr zu den

unmittelbaren Gegebenheiten« zurück, die nicht im Sinne einer reinen »Intuition« oder

226 Ebd., S. 269. 227 Ebd., S. 278. 228 Ebd., S. 270. 229 Ebd., S. 268–269. 230 Cohen: »Philo, Spinoza, Bergson«, S. 27. 231 Maurice Merleau-Ponty: Le Visible et l’invisible, suivi de notes de travail, hg. und mit einem Vor- und Nachw. v. Claude Lefort, Paris: Éditions Gallimard 1964; dt.: Das Sichtbare und das Unsichtbare.

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»Koinzidenz« zu verstehen sei,232 sondern vielmehr auf einem Prinzip der »Nicht-

Koinzidenz« und der »Differenzierung« beruhe, dem sich die Philosophie nur vermittels der

Methode der »Befragung« annähern könne:

Das ›Originäre‹ ist nicht von einer einzigen Prägung, es liegt nicht gänzlich hinter uns; die Wiederherstellung der wahren Vergangenheit und der Präexistenz macht nicht die ganze Philosophie aus; das Gelebte ist nicht flach, nicht ohne Tiefe und ohne Dimension, es ist keine undurchdringliche Schicht, mit der wir zu verschmelzen hätten; die Berufung auf das Originäre läuft in mehrere Richtungen: das Ursprüngliche zerspringt, und die Philosophie muß dieses Zerspringen, diese Nicht-Koinzidenz, diese Differenzierung begleiten.233

Wenn Merleau-Ponty »das Fragen als letzte Beziehung zum Sein und als ontologisches

Organ« als eigentliche Aufgabe der Philosophie definiert, so liegt eine »Antwort« seines

Erachtens weder in den »Tatsachen« noch in den »Wesensnotwendigkeiten«, sondern

vielmehr im »Fleisch« der sichtbaren Welt,234 in anderen Worten, im »wilden Sein«, in dem

sich die Dinge und die Wahrnehmung der Dinge gegenseitig bedingen und das damit das

»Sediment« einer jeden kritischen Annäherung darstelle: »Die ›Antwort‹ liegt oberhalb der

›Tatsachen‹ und unterhalb der ›Wesenheiten‹ im wilden Sein, wo beide noch ungeteilt waren

und wo sie hinter oder unterhalb der Spaltungen unserer erworbenen Kultur weiterhin

232 In seiner 1922 verfassten Einleitung zum Band Denken und schöpferisches Werden definierte Bergson seinen Begriff der Intuition im Sinne eines Koinzidierens mit dem wahrgenommenen Gegenstand: »Intuition bedeutet also zunächst Bewußtsein, aber ein unmittelbares Bewußtsein, eine direkte Schau, die sich kaum von dem gesehenen Gegenstand unterscheidet, eine Erkenntnis, die Berührung und sogar Koinzidenz ist.« Bergson: »Einleitung (Zweiter Teil)«, S. 44. Dabei hatte Bergson »das Feld der Dauer und die Praxis der Intuition« Merleau-Ponty zufolge genau genommen bereits mit Materie und Gedächtnis »auf entscheidende Weise erweitert«: »Von nun an ist die Dauer das Milieu, in dem die Seele und der Körper ihre Artikulation finden, weil die Gegenwart und der Körper, die Vergangenheit und der Geist, die in der Natur so verschieden sind, gleichwohl ineinander übergehen. Die Intuition ist ganz entschieden keine einfache Koinzidenz oder Fusion mehr: Sie erstreckt sich auf ›Grenzen‹, wie die reine Wahrnehmung oder das reine Bewußtsein, aber auch auf das zwischen beiden Liegende, auf ein Sein, das sich, wie Bergson sagt, der Gegenwart und dem Raum genau in dem Maße öffnet, in dem es auf eine Zukunft abzielt und über eine Vergangenheit verfügt.« Merleau-Ponty: »Bergson im Werden«, S. 269. 233 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 164–165. Zu Merleau-Pontys Konzept des »Fragens«, das er mit Bergson und Husserl entwickelt, vgl. den Abschnitt »Fragen und Anschauung« (frz. »Interrogation et intuition«), ebd., S. 142–171, sowie im Besonderen ebd., S. 161–162: »Fragt man sich nach dem Wesen der Zeit und des Raums, so bedeutet dies noch nicht, daß man Philosophie betreibt, solange man nicht auch die Beziehungen der Zeit und des Raums selbst zu diesem Wesen erfragt. Und in gewissem Sinne reichen die Tatsachenfragen weiter als die Vernunftwahrheiten. [...] Gelänge es uns, deren letztes Motiv freizulegen, so stießen wir hinter den Fragen Wo bin ich? und Wie spät ist es? auf ein verborgenes Wissen um Raum und Zeit als zu befragende Seiende, auf das Fragen als letzte Beziehung zum Sein und als ontologisches Organ.« 234 Mit »Fleisch« (chair) meint Merleau-Ponty das »Sichtbare« an sich, das heißt, eine Art »inkarniertes Prinzip« oder »›Element‹ des Seins«, das weder »Materie« noch »Geist« oder »Substanz« ist, weder »Tatsache« noch »Summe von Tatsachen«, und das doch als »am Orte und dem Jetzt haftend« zu denken sei, Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 183–184. An anderer Stelle schreibt er: »Das Fleisch der Welt = ihre Horizonthaftigkeit (innerer und äußerer Horizont), die das winzige Häutchen des Sichtbaren streng zwischen diesen 2 Horizonten einschließt – [...] Das Fleisch = die Tatsache, daß das Sichtbare, das ich bin, sieht (Blick ist) oder, was auf dasselbe hinausläuft, ein Innen hat + die Tatsache, daß das äußerliche Sichtbare auch gesehen wird, d.h. hineinragt bis in die Umfriedung meines Leibes, der an seinem Sein teilhat.« Ebd., S. 339–340.

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ungeteilt sind.«235 Ebenso wie es Bergson darum geht, die Materie, Leib und Welt, als eine

»Gesamtheit von Bildern« zu betrachten, die »an sich« existieren, »vor der Scheidung, die

Idealismus und Realismus zwischen ihrer Existenz und ihrer Erscheinung vollzogen

haben«,236 ebenso meint Merleau-Ponty, man dürfe »das Fleisch nicht von den Substanzen

Körper und Geist aus denken, denn dann wäre es eine Einheit von Gegensätzen«, sondern

man müsse es vielmehr »als Element und als konkretes Emblem einer allgemeinen Seinsart

denken«.237 In der »Welt der Bilder«, die Bergson mit dem Universum als solchem

gleichsetzt238 und die Merleau-Ponty als das »rohe oder wilde Sein (= wahrgenommene

Welt)«239 definiert, sind Leib und Welt sozusagen immer schon und unauflöslich ineinander

verflochten, wie Merleau-Ponty konstatiert:

Wo sollen wir die Grenze zwischen Leib und Welt ansetzen, wenn die Welt Fleisch ist? Wo innerhalb des Leibes soll der Sehende angesiedelt werden, wo es doch offensichtlich im Leib nur ›eine mit Organen angefüllte Finsternis‹, also selbst wiederum Sichtbares gibt? Die gesehene Welt ist nicht ›in‹ meinem Leib, und mein Leib ist letztlich nicht ›in‹ der sichtbaren Welt: als Fleisch, das es mit einem Fleisch zu tun hat, umgibt ihn weder die Welt, noch ist sie von ihm umgeben. [...] Die oberflächliche Haut des Sichtbaren besteht nur für mein Sehen und für meinen Leib. Aber die Tiefe unter dieser Oberfläche enthält meinen Leib und also auch mein Sehen. Mein Leib als sichtbares Ding ist im großen Schauspiel mitenthalten. Aber mein sehender Leib unterhält diesen sichtbaren Leib und mit diesem alles Sichtbare. Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere. Oder vielmehr, wenn man auch hier wieder auf das Denken in Ebenen und Perspektiven verzichtet, so gibt es zwei Kreise, zwei Wirbel oder Sphären,* die konzentrisch sind, solange ich naiv dahinlebe, und leicht gegeneinander verschoben, sobald mein Fragen beginnt ...240

In einer seiner Arbeitsnotizen, die er im Oktober 1959 – ein halbes Jahr nach dem Bergson-

Kongress – verfasste, plädiert Merleau-Ponty dementsprechend dafür, den »topologischen

Raum als Modell des Seins [zu] benutzen«, der – im Gegensatz zum euklidischen Raum,

einem »Raum ohne Transzendenz« als »Modell des perspektivischen Seins« – als das

235 Ebd., S. 161–162. Vgl. dazu auch ebd., S. 162: »Die sichtbaren Dinge um uns ruhen in sich selbst, und ihr natürliches Sein erscheint als so vollständig, daß es ihr Wahrgenommenwerden mitzuenthalten scheint, so als ob sich unsere Wahrnehmung derselben in ihnen selbst abspielen würde. Doch wenn ich diese Erfahrung zum Ausdruck bringe, indem ich sage, daß die Dinge an ihrem Ort sind und wir in ihnen aufgehen, so mache ich diese Erfahrung alsbald unmöglich: denn je mehr ich mich dem Ding nähere, desto mehr höre ich auf zu sein; je mehr ich bin, desto weniger gibt es Dinge, sondern es gibt dann nur noch deren Doubletten in meiner ›Dunkelkammer‹.« 236 Henri Bergson: »Vorwort zur 7. Auflage«, in: ders.: Materie und Gedächtnis, S. I–VIII, S. I–II. 237 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 193. 238 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 2. 239 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 193. 240 Ebd., S. 182. *Die Metapher gleicht derjenigen Lyotards, der seine Theorie der »Umkehrungen« am Beispiel zweier Kreise erläutert, die einen Berührungspunkt teilen, der mit jeder Bewegung in einen »Grenzpunkt« (limes) umschlägt, vgl. Lyotard: Die TRANSformatoren Duchamp, S. 37ff. sowie oben, Kap. 2.1.3.

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»Milieu« zu begreifen sei, »in dem sich Beziehungen der Nachbarschaft, der Einschließung

etc. abzeichnen« und der damit das »Bild eines Seins« zum Ausdruck bringe, »das – wie die

Farbflecken von Klee – das allerälteste und das Sein »am ersten Tag« (Hegel)« und damit

nicht nur »konstitutiv für das Leben«, sondern auch für »das wilde Prinzip des Logos« sei:

»Dieses wilde oder rohe Sein ist es, das auf allen Ebenen auftaucht und dazu führt, die

Probleme der klassischen Ontologie zu überwinden (Mechanizismus, Finalismus, in jedem

Falle: Artifizialismus)«.241

Mit Wolfram Pichler gesprochen zählt Merleau-Ponty neben Jean Piaget zu den »wichtigsten

Mittlerfiguren in der Kulturgeschichte der Topologie«, da er nicht nur das philosophische

Raumdenken, sondern auch eine Reihe von Künstlern maßgeblich in ihrer Konzeption des

Raums geprägt hat.242 Wie Esther Hutfless hervorhebt, vollzieht Merleau-Ponty mit seinem

Konzept des »wilden Seins« aber gleichzeitig auch innerhalb der Phänomenologie eine

entscheidende Wendung, indem er das Husserlsche Problem der Intentionalität und die (mehr

oder weniger bewusste) Erfahrung des Subjekts zugunsten einer topologischen »Ontologie

des Fleisches«, in den Hintergrund rückt, »in der Welt und Leib als ineinander verschränkt

gedacht werden«.243 Damit schlägt Merleau-Ponty eine Brücke vom Existentialismus und von

der Phänomenologie in Richtung Strukturalismus,244 der sich in den 1960ern als dominante

Diskursfigur herauskristallisiert und durch den Einfluss Hyppolites und Merleau-Pontys nicht

zuletzt auch bei Bergsons Strukturmodell der Beziehung zwischen Körper und Geist

anknüpft. So bezieht sich Claude Lévi-Strauss, dessen Analyse der Verwandtschaftssysteme

von 1949 als eines der zentralen Gründungsmomente des Strukturalismus gilt, 245 in seinem

1962 veröffentlichten Werk La Pensée sauvage (Das wilde Denken) nicht nur auf Merleau-

241 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 269. 242 Pichler: »Topologische Konfigurationen des Denkens und der Kunst«, S. 27–28. Pichler zufolge geht Merleau-Pontys topologisches Wissen vor allem auf den Entwicklungspsychologen Jean Piaget zurück, der 1948 mit La représentation de l’espace chez l’enfant (Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde) und La géométrie spontanée de l’enfant (Die natürliche Geometrie des Kindes) zwei Grundlagentexte zur Topologie verfasst hatte (vgl. oben, Kap. 2.1.1.), deren teleologischem Entwicklungsmodell Merleau-Ponty allerdings kritisch gegenüberstand. Während Piaget den Weg in den euklidischen Raum als Voraussetzung reifen Denkens betrachtete, erschien er Merleau-Ponty, wie Pichler schreibt, als »eine Art Sündenfall, der in eine mechanizistische Ontologie führen musste«, ebd., S. 27. Zu den Künstlern, die sich mit Merleau-Pontys Konzept des topologischen Raumes auseinandersetzten oder die sich zumindest gleichzeitig mit topologischen Fragen befassten, zählen unter anderem Richard Serra, Dan Graham, Bruce Nauman und Stanley Brouwn, vgl. ebd. sowie de Bruyn: »Topologische Wege des Post-Minimalismus«. 243 Esther Hutfless: »Das wilde Sein. Akt – Ereignis – Schöpfung«, in: Critica – Zeitschrift für Philosophie und Kunsttheorie 1 (2012), S. 17–28, S. 17. 244 Vgl. Johannes Angermüller: Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 46ff. 245 Claude Lévi-Strauss: Les strucutres élémentaires de la parenté, Paris: Presses Universitaires de France 1949; dt.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, aus dem Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.

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Ponty, dem das Werk gewidmet ist und dessen Begriff des »wilden Seins« der Titel

aufgreift,246 sondern auch auf Bergson, dessen Denken Lévi-Strauss – im Gegensatz zu jenem

Durkheims oder Sartres – insofern würdigt, als es »seine Wurzeln in die tiefste Schicht des

menschlichen Denkens einsenkt, in die tiefste Schicht dessen, was es an Universalem haben

kann«.247

Guy Félix Duportail zufolge stellt Merleau-Pontys »Topologie des wilden Seins, die dem

Wahrnehmbaren eine Stimme im Universum des Denkens verleiht«, auch den zentralen

Kreuzungspunkt der Phänomenologie und der Psychoanalyse dar.248 Nachdem Merleau-

Pontys Werk, wie Duportail hervorhebt, bereits seit den frühen 1940er Jahren von einer

intensiven Auseinandersetzung mit den Ansätzen Freuds und Lacans geprägt war,249 erreicht

die Begegnung zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse mit Le Visible et l’invisible

auch insofern ihren Höhepunkt, als Lacan wiederum auf Merleau-Pontys Konzept des

Sichtbaren rekurriert, um sein Konzept der »Tyche« zu entwickeln, das er in Anlehnung an

Aristoteles auf die griechische Göttin des Schicksals, der Fügung und des Zufalls rückbezieht,

indem er es in seiner Seminarsitzung vom 12. Februar 1964 als »Begegnung mit dem Realen«,

als »Rendez-vous mit dem Realen« definiert250 – als hätte er gleichzeitig eine Bemerkung

Duchamps im Hinterkopf, der 1961 gegenüber Charbonnier in Bezug auf die Auswahl seiner

Ready-mades vom »Rendezvous mit dem Schicksal« sprach.251 In Analogie zum Konzept des

Ready-made, das damit auch mit Merleau-Pontys Konzept des »wilden Seins« in Verbindung

zu bringen wäre, ist das Reale nach Lacan das, was sich buchstäblich »wiederholt« und sich

dabei »wie durch Zufall ereignet«, das, was »jenseits des Automaton, der Wiederkehr, des

Wiedererscheinens« liegt, jenseits »des Insistierens der Zeichen, auf die wir durch das

Lustprinzip verpflichtet sind«, in anderen Worten, das, was »am Ursprung der analytischen

Erfahrung sich als ein nicht Assimilierbares zeigt – in Form des Traumas«, und was »das

246 Claude Lévi-Strauss: La Pensée sauvage, Paris: Librairie Plon 1962; dt.: Das wilde Denken, aus dem Franz. v. Hans Naumann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. Vgl. das Gespräch der Gruppe Esprit mit Claude Lévi-Strauss: »Autour de la Pensée sauvage. Réponses à quelques questions« (November 1963), http://www.fondsricoeur.fr/uploads/medias/articles_pr/prclaudelevistraussesprit63.PDF (aufgerufen am 28.12.2015). 247 Claude Lévi-Strauss in: ders., Didier Eribon: Das Nahe und das Ferne. Eine Autobiographie in Gesprächen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 170, zit.n. Delitz: Bergson-Effekte, S. 362. Zum generellen Einfluss von Bergsons Philosophie auf Lévi-Strauss’ strukturale Anthropologie, vgl. ebd., S. 161–184. 248 Duportail: »Le Chiasme d’une amitié«, S. 350. 249 Sowohl Merleau-Pontys früher Text La Structure du comportement (Paris: Presses Universitaires de France 1942; dt.: Die Struktur des Verhaltens, hg. v. Carl Friedrich Graumann und Alexandre Métraux, aus dem Franz. und mit einem Vorw. v. Bernhard Waldenfels, Berlin: Walter de Gruyter 1976) als auch seine Vorlesungen am Collège de France lassen diesen Einfluss erkennen, vgl. Duportail: »Le Chiasme d’une amitié«, S. 345ff. 250 Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 59–60. 251 Zit.n. Charbonnier: Entretiens avec Marcel Duchamp, S. 68 (Übers. d. Verf.). Vgl. dazu auch oben, Kap. 2.3.2.

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Subjekt mit sich fortreißt« und »schier sprengt«.252 Bereits Freud habe in seiner Analyse des

Fort-Da gezeigt, dass die Wiederholung im Gegensatz zur Wiederkehr nicht auf die

Befriedigung eines Bedürfnisses abziele, sondern »nach einem Neuen« verlange und sich

damit jenem »Spiel« verschreibe, »das sich dieses Neue zueigen macht« und dessen Reiz

darin liegt, dass es jene noch »radikalere Verschiedenheit [verbirgt], die die Wiederholung an

sich konstituiert«.253 Konkret könne man daher in Anlehnung an Aristoteles sagen, »daß der

Mensch mit seinem Objekt denkt« und »daß wir genau da«, in der Begegnung mit dem

Realen, im »Objekt klein a« und der damit einhergehenden »Spaltung«, »das Subjekt

festmachen können«.254 Der Bezug zu Merleau-Pontys Konzept des »wilden Seins« ist

evident: »Es ist hier nicht einfach Zufall«, wird Lacan eine Woche darauf »bezogen auf die

Ordnung des rein Tychischen« konstatieren, »wenn gerade in dieser Woche posthum das

Buch unseres Freundes Maurice Merleau-Ponty über Das Sichtbare und das Unsichtbare

erscheint«.255 Gleichsam »inkarniert« komme in dem Buch zum Ausdruck, was den

»Wechsel« seines Dialogs mit Merleau-Ponty bewirkt habe, so Lacan:

Dieses Sichtbare und Unsichtbare stellt für uns deutlich den Punkt heraus, an dem die philosophische Tradition angelangt ist – eine Tradition, die mit dem Aufstieg der Idee bei Platon beginnt [...]. Nicht umsonst erkennt Maurice Merleau-Ponty, daß die Idee von der Vorstellung des Auges geleitet ist. | In diesem abschließenden und zugleich inaugurierenden Werk werden Sie eine Erinnerung entdecken und auch einen Schritt vorwärts auf der Bahn, die die Phänomenologie der Wahrnehmung zuerst eröffnete. [...] Die Phänomenologie verwies uns auf das Regulativ der Gestalt, dem nicht nur das Auge des Subjekts vorsteht, sondern dessen ganze Erwartung, Bewegung, Zugriff, die Erregung seiner Muskeln, auch seiner Eingeweide – kurz dessen konstitutive Präsenz, zugespitzt in ihrer, wie man sagt, totalen Intentionalität. | Maurice Merleau-Ponty tut jetzt den nächsten Schritt und reißt auch die Grenzen der Phänomenologie ein. Sie werden sehen, daß die Wege, die er Sie nunmehr führt, nicht allein in die Ordnung der Phänomenologie des Visuellen gehören, sie greifen – dies ist der wesentliche Punkt – die Abhängigkeit des Sichtbaren auf, die Abhängigkeit von dem, was uns unter das Auge des Sehenden stellt. Noch ist dies zu viel gesagt, denn dieses Auge ist nur die Metapher für etwas, was ich lieber das Sprießen des Sehenden / la pousse du voyant nennen sollte, etwas von vor seinem Auge. Was einzukreisen wäre auf den Bahnen des von ihm gewiesenen Wegs, ist die Präexistenz eines Blicks – ich sehe nur von einem Punkt aus, bin aber in meiner Existenz von überall her erblickt.256

Auch wenn Lacan Bergsons Philosophie im Gegensatz zu Lévi-Strauss von Anfang an – und

so auch nach seiner ›strukturalistischen Wende‹ in den 1950er Jahren – ausgesprochen

252 Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 60–61. 253 Ebd., S. 67. 254 Ebd., S. 68–69. 255 Ebd., S. 59–60. 256 Ebd., S. 77–78.

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distanziert gegenübersteht, da er sie in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Anti-

Bergsonismus eines so naiven wie reaktionären Intuitionismus und Realismus bezichtigt, der

im Hinblick auf den Raum und seine Strukturen eine symptomatische Blindheit aufweise,257

geht das topologische Schema des »Blicks«, das Lacan im Rahmen seiner drei nächsten

Seminarsitzungen unter Bezugnahme auf Merleau-Pontys Das Sichtbare und das Unsichtbare

und Sartres Das Sein und das Nichts entwickelt,258 in indirekter Weise doch auf Bergsons

Theorie der Wahrnehmung zurück, die er in Materie und Gedächtnis auf ein unauflösliches

Zusammenspiel und Ineinander-Verschränktsein von »reiner Wahrnehmung« (Lacans

»Blick« als unmittelbares Betroffensein) und »reiner Erinnerung« (Lacans »Subjekt der

Vorstellung« als intentionales Bewusstsein) zurückführt. »Alles vollzieht sich so«, konstatiert

Bergson hier in Übereinstimmung mit Lacans Theorie des Blicks, »als ob wir die reale

Wirkung der äußeren Dinge durch uns hindurchsickern ließen, um ihre virtuelle Wirkung

aufzufangen und zurückzubehalten: diese virtuelle Wirkung der Dinge auf unseren Körper

und unseres Körpers auf die Dinge ist das, was wir unsere Wahrnehmung nennen.«259

Ähnlich wie Lacan stand auch Foucault, der seit den späten 1940ern bei Merleau-Ponty und

Hyppolite studiert hatte260 und 1961 bei Canguilhem promovierte,261 Bergsons Philosophie

durchaus kritisch gegenüber, da sie – im Anschluss an Kant und ebenso wie die Philosophie

Hegels und Heideggers – ihren Fokus vorwiegend auf die Zeit gelegt und den Raum auf die

Seite »des Analytischen, des Begrifflichen, des Todes, der Erstarrung« gedrängt habe.262 So

257 Vgl. Giuseppe Bianco: »Le Bergson de Deleuze entre existence et structure«, in: Adnen Jdey (Hg.): Gilles Deleuze. Politiques de la philosophie, Genf: Métis Presses 2015, S. 99–116, S. 100. Die Kommentare Lacans zu Bergson, die sich in einigen seiner Artikel, Rezensionen und Vorträge von 1935 bis 1977 finden, sind nachzulesen in den gesammelten verstreuten Schriften: École lacanienne de psychanalyse (Hg.): Pas-tout Lacan 1926–1981, http://www.ecole-lacanienne.net/fr/p/lacan/m/nouvelles/paris-7/pas-tout-lacan-1926-1981-102 (aufgerufen am 28.12.2015). 258 Vgl. Lacans Seminare vom 28. Februar, 4. März und 11. März 1964, in: Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 85–126. 259 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 231. Zur Gegenüberstellung von Bergsons Theorie der Wahrnehmung und Lacans Schema des Blicks, vgl. auch oben, Kap. 2.1.1. 260 Während seines Philosophiestudiums begeisterte sich Foucault vor allem für die Phänomenologie Merleau-Pontys, der ihn unter anderem auch mit den Schriften des damals noch recht unbekannten Linguisten Ferdinand de Saussure bekannt machte. Anfang 1949 beendete er seine Diplomarbeit über Hegel, die von Hyppolite betreut wurde. Es folgten weitere Diplome in Psychologie (1949) und Psychopathologie (1952) sowie das Staatsexamen in Philosophie (1951). Vgl. http://www.die-grenze.com/foucault_bio1a.htm (aufgerufen am 28.12.2015). 261 Michel Foucault: Folie et déraison. Histoire de la folie à lʼâge classique, Dissertation, Paris: Plon 1961; dt.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, aus dem Franz. v. Ulrich Köppen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. Auf der Basis seiner Auseinandersetzung mit Canguilhems Begriff des Normalen und Pathologischen analysierte er darin den historischen Entstehungsprozess der Unterscheidung von geistiger Gesundheit und geistiger Krankheit und die damit einhergehenden sozialen Mechanismen. 262 Michel Foucault: »Das Auge der Macht« (Gespräch mit Jean-Paul Barou und Michel Perrot, 1977), in: ders.: Dits et Écrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 3: 1976–1979, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, aus dem

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argumentiert Foucault 1963 in Naissance de la clinique (Die Geburt der Klinik) im Rahmen

seines Kapitels »Das Sichtbar-Unsichtbare«,263 Bergson gehe »in die verkehrte Richtung,

wenn er in der Zeit und gegen den Raum, in einem intimen Erfassen der Innerlichkeit, in

einem tollkühnen Ansturm auf die Unsterblichkeit« die Bedingungen suche, unter denen

»lebendige Individualität« zu denken sei; vielmehr stehe das Wissen um das Individuum, das

als solches erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durch die »Verbegrifflichung des

Todes« möglich geworden sei, »am Ende eines langen Verräumlichungsprozesses«, der »dem

Blick die differenzierte Gestalt des Individuums eröffnet« habe.264 Mit seiner Kritik an

Bergson zielt Foucault damit nicht nur auf das Problem der Individualität ab, das als solches

notwendig im Raum des Wissens zu verorten sei, sondern – viel grundlegender – auf das

»historische und konkrete Apriori«, das jeder Form von Wissen zugrunde liegt und dem

Foucault mit seiner Methode der »Archäologie des Wissens« Rechnung tragen will.265

Dementsprechend kommt Foucault auch im Vorwort zu Die Geburt der Klinik zum Schluss,

um die »Mutation des Diskurses in dem Moment zu erfassen, da sie sich vollzogen hat«,

müsse man »zweifelsohne etwas anderes befragen als die thematischen Inhalte oder die

logischen Modalitäten« und sich »ein für alle Mal auf die Ebene der fundamentalen

Verräumlichung und Versprachlichung« begeben:

Man muß sich jener Region zuwenden, in der die ›Dinge‹ und die ›Wörter‹ noch nicht getrennt sind, wo die Weise des Sehens und die Weise des Sagens auf der Ebene der Sprache noch eins sind. Man wird die ursprüngliche Verteilung des Sichtbaren und des Unsichtbaren befragen müssen, wo sie mit der Teilung zwischen dem sich Aussprechenden und dem Verschwiegenen zusammenhängt. [...] Einen Vorrang gibt es nur für eine rückblickende Frage; ein unparteiischer Blick vermag nur die sprachliche Struktur des Wahrgenommenen zu erfassen, jenen vollen Raum, in dessen Höhlung die Sprache ihr Volumen und ihr Maß findet.266

Franz. v. Michael Bischof, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 250–271, S. 254. 263 Michel Foucault: Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical, Paris: Presses Universitaires de France 1963; dt.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, aus dem Franz. v. Walter Seitter, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1988. Zu »Kapitel IX: Das Sichtbar-Unsichtbare«, vgl. ebd., S. 162–185. 264 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 184. Die »Verräumlichung des Todes« führt Foucault auf die Arbeit des einflussreichen französischen Anatomen und Physiologen Xavier Bichat (1771–1802) zurück, der als Begründer der Histologie gilt, vgl. ebd. 265 Ebd., S. 205. Eine systematische Reflektion seiner Methode hat Foucault mit seinem Werk L’archéologie du savoir (Paris: Gallimard 1969; dt.: Archäologie des Wissens, aus dem Franz. v. Ulrich Köppen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981) vorgelegt. 266 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 9. Zum Problem des »Sichtbaren« und des »Sagbaren« bei Foucault, vgl. auch den Abschnitt »Die Schichten oder historischen Formationen: Das Sichtbare und das Sagbare (Wissen)« in: Gilles Deleuze: Foucault (1986), aus dem Franz. v. Hermann Kocyba, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2015, S. 69–98.

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Obschon Foucault seine theoretischen Quellen mit keinem Wort preisgibt, kann man doch

davon ausgehen, dass er sich mit dem Konzept des Sichtbaren und des Unsichtbaren, das er in

Die Geburt der Klinik entwickelt und das ihn fortan nicht mehr loslassen wird, implizit auf

die Analysen Merleau-Pontys bezieht, der in Das Sichtbare und das Unsichtbare ebenfalls auf

das grundlegende Problem des »Sehens« und »Sagens« verweist, indem er festhält, die

Philosophie dürfe sich nicht darauf beschränken, sich »in der Ordnung des Gesagten und

Geschriebenen« einzurichten, sondern sie müsse sich vielmehr zum Ziel setzen, »den Dingen

selbst aus der Tiefe ihres Schweigens zum Ausdruck zu verhelfen«.267 Dabei werde gerade

anhand der Sprache »am deutlichsten, wie man auf die Dinge selbst zurückkommen und wie

man nicht auf sie zurückkommen sollte«.268 Denn wenn der Sprache – und hier argumentiert

Merleau-Ponty wieder mit Bergson – einerseits eine »Macht des Irrtums innewohnt, weil sie

das kontinuierliche Gewebe zerreißt, das uns auf vitale Weise mit den Dingen und mit der

Vergangenheit verbindet, und sich wie ein Schirm dazwischenschiebt«,269 so dürfe man

andererseits daraus nicht folgern, der Philosoph »müßte schweigen, schweigend einswerden

und im Sein eine Philosophie wiederfinden, die schon fertig vorliegt«; mit gutem Grund wolle

der Philosoph – und konkret spricht Merleau-Ponty von Bergson – »ein gewisses Schweigen,

das er in sich vernimmt, in Worte kleiden«:

Er schrieb, um seinen Kontakt zum Sein auszudrücken, er hat ihn nicht ausgedrückt und vermag dies auch nicht, denn dieser ist nichts als Schweigen. Also beginnt er von neuem ... Man muß also annehmen, daß die Sprache nicht einfach das Gegenteil der

267 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 18. Zum Einfluss von Merleau-Pontys Topologie des Seins auf Foucaults Schriften der 1960er Jahre, vgl. Béatrice Han: »L’apriori historique selon Michel Foucault«, in: Emmanuel da Silva (Hg.): Lectures de Michel Foucault, Volume 2: Foucault et la philosophie, Lyon: ENS Éditions 2003, S. 23–38, S. 27–28 sowie John Carvalho: »The Visible and the Invisible in Merleau-Ponty and Foucault«, in: International Studies in Philosophy XXV, Nr. 3 (1993), S. 35–46. In seiner Analyse von Foucaults Spätwerk kommt auch Deleuze zu dem Schluss: »Es ist das Verdienst Merleau-Pontys, gezeigt zu haben, wie sich eine radikale, »vertikale« Sichtbarkeit in ein Sich-Sehendes faltete und von da aus die horizontale Beziehung eines Sehenden und eines Gesehenen ermöglichte. […] Kurz, die Intentionalität des Seienden geht über in die Falte des Seins, zum Sein als Falte […]. Es besteht kein Zweifel daran, daß Foucault zu dem Thema, das ihn verfolgte – die Falte, die Doppelung –, von Heidegger und von Merleau-Ponty theoretisch stark inspiriert wurde.« Deleuze: Foucault, S. 154–155. 268 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 165. 269 Ebd., S. 166. Aus dem Textzusammenhang wird deutlich, dass sich Merleau-Ponty hier implizit auf Bergson bezieht, der in Materie und Gedächtnis schreibt: »In Wirklichkeit gibt es kein unausgedehntes Bild, daß [sic] sich im Bewußtsein bildet und dann in den Punkt P projiziert wird. Die Wahrheit ist die, daß der Punkt P, die Strahlen, die er aussendet, die Netzhaut und die beteiligten Elemente des Nervensystems ein solidarisches Ganzes bilden, in dem der Punkt P ein Teil ist, und daß im Punkte P, und nirgends anders, das Bild von P gebildet und wahrgenommen wird.« Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 28. In Analogie dazu schreibt Merleau-Ponty, indem er sich auf Bergsons Konzept der »reinen Wahrnehmung« und der »reinen Erinnerung« bezieht: »Wenn uns die Möglichkeit vorschwebt, daß wir die natürliche Welt oder die Zeit durch Koinzidenz wiederfinden, daß wir identisch sind mit dem Punkt O, den wir dort sehen, oder mit der reinen Erinnerung, die unsere Wiedererinnerungen von unserem Innern her lenkt, so ist die Sprache eine Macht des Irrtums, weil sie das kontinuierliche Gewebe zerreißt, das uns auf vitale Weise mit den Dingen und mit der Vergangenheit verbindet, und sich wie ein Schirm dazwischen schiebt.« Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 165–166.

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Wahrheit, der Koinzidenz ist, die es in ihr gibt oder in ihr geben könnte – und gerade das ist es, was er sucht, eine Sprache der Koinzidenz, eine Weise, die Dinge selbst zum Sprechen zu bringen. Es wäre dies eine Sprache, die nicht er organisieren würde, Worte, die nicht er zusammenstellen würde, die durch die natürliche Verflechtung ihres Sinnes und durch den geheimen Verkehr der Metapher in ihm eine Verbindung eingingen, – und zählen würde dann nicht mehr der manifeste Sinn jedes Wortes und jedes Bildes, sondern die lateralen Bezüge, die Verwandtschaften, die in ihren Wendungen und in ihrem Austausch mitenthalten sind. Eine Sprache von der Art hat wohl Bergson selbst für den Philosophen gefordert.270

In Bezug auf die Frage, »wie man auf die Dinge selbst zurückkommen und wie man nicht auf

sie zurückkommen sollte«, plädiert Merleau-Ponty mit Bergson entgegen den semantischen

Philosophien, die Sprache als in sich geschlossenes System begreifen würden, daher für eine

der »Tiefe entstammende Sprache«, die »keine Unterbrechung der Unmittelbarkeit« darstelle,

»die ohne sie vollkommen wäre«: denn »auch das Sehen und das Denken sind »strukturiert

wie eine Sprache««, schließt Merleau-Ponty mit Lacan, »und beide sind Artikulation vor

Auftreten des Wortes, Erscheinen von etwas dort, wo vorher nichts oder etwas anderes

war«.271

Im Hinblick auf Foucaults Projekt einer strukturalistischen Epistemologie, das er im

Anschluss an Bachelard und Canguilhem entwickelte, kommt Delitz zufolge zwar nur ein

»indirekter Bergson-Effekt« zum Tragen,272 der sich durch Foucaults Auseinandersetzung mit

Merleau-Ponty und vor allem auch mit Deleuze, dessen bahnbrechende Bergson-Lektüren in

einem nächsten Schritt zu behandeln sein werden, jedoch als nicht unbeträchtlich erweisen

sollte. So weiß Foucault, wie er 1978 im Gespräch mit Moriaki Watanabe klarstellt, nicht nur

270 Ebd., S. 166. In seinem Vortrag L’intuition philosophique, den er 1911 auf dem Philosophenkongress in Bologna hielt und den er 1934 in seinen Band La pensée et le mouvant aufnahm, äußerte sich Bergson zur Möglichkeit des Sprechens in der Philosophie wie folgt: »Ich will nicht sagen, daß die Arbeit des Vergleichens, der wir uns zunächst hingegeben hatten, fruchtlos wäre: ohne diese Vorarbeit, eine Philosophie zu rekonstruieren aus dem, was nicht ihr eigentliches Wesen ist, und sie in Beziehung zu setzen zu ihrem zeitgenössischen Milieu, – ohne diese Vorarbeit würden wir vielleicht niemals zu dem gelangen, was sie in Wirklichkeit ist; denn der menschliche Geist ist so beschaffen, daß er das Neue erst zu begreifen beginnt, nachdem er alles versucht hat, um es auf das schon Bekannte zurückzuführen. Aber in demselben Maße, wie wir uns mehr in das Denken des Philosophen hineinversetzen, anstatt es nur von außen zu betrachten, sehen wir, wie seine Lehre eine neue Gestalt gewinnt. Zunächst vermindert sich ihre Kompliziertheit. Dann beginnen die Teile miteinander zu verschmelzen. Schließlich konzentriert sich das Ganze in einem Punkt, und wir fühlen, daß man sich ihm immer mehr annähern könnte, ohne ihn je zu errreichen. | In diesem Punkt liegt irgend etwas so Einfaches, daß es dem Philosophen niemals gelungen ist, es auszudrücken. Und darum hat er sein ganzes Leben lang darüber gesprochen. Er konnte das, was ihm vorschwebte, nicht formulieren, ohne genötigt zu sein, seine Formulierung zu korrigieren, um dann diese Korrektur von neuem zu verbessern. So hat er, von Theorie zu Theorie, sich jedesmal berichtigend, wenn er seine Lehre zu vervollständigen glaubte, sein Leben lang nichts anderes getan, als durch eine Komplikation, die wieder eine weitere Komplikation nach sich zog, und durch aneinandergereihte Gedanken-Entwicklungen eine wachsende Annäherung an die Einfachheit seiner ursprünglichen Intuition wiederzugeben. Die ganze Kompliziertheit seiner Lehre, die bis ins Unendliche gehen würde, bedeutet also nur die Inkommensurabilität zwischen seiner einfachen Grund-Intuition und den Ausdrucksmitteln, über die er verfügte.« Bergson: »Die philosophische Intuition«, S. 127–128. 271 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 167. 272 Vgl. Delitz: Bergson-Effekte, S. 286.

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zwischen Bergsons Philosophie auf der einen und dem schlecht verstandenen Bergsonismus

auf der anderen Seite zu unterscheiden,273 sondern schließt auch insofern an Bergson an, als er

den Menschen, wie Delitz bemerkt, als vitales, unvorhersehbares und erfinderisches Wesen

versteht.274 Vor allem Foucaults Spätwerk, in dessen Mittelpunkt die Theorie ethopoietischer

Erfindungen, das heißt der Erfindung neuer Seins- oder Lebensweisen steht,275 ist Guillaume

le Blanc zufolge unmittelbar auf Canguilhems Bergson-Lektüre zurückzuführen, die »den

langen Weg Foucaults zu einem neuen – nicht anthropologischen – Denken des Menschen,

das sich ganz um dessen Praxis dreht«, überhaupt erst ermöglicht habe.276 Wie Deleuze in

seiner posthumen Würdigung Foucaults hervorhebt, wenn er dessen Archäologie des Wissens

unter dem Überbegriff »Topologie: ›Anders-Werden‹« auf die drei Dimensionen »Wissen,

Macht, Selbst« zurückführt,277 besteht im Hinblick auf das Problem der Subjektivierung

gleichzeitig »kein Zweifel daran, daß Foucault zu dem Thema, das ihn verfolgte – die Falte,

die Doppelung –, von Heidegger und von Merleau-Ponty theoretisch stark inspiriert

wurde«.278 Damit ist Foucaults Konzept der Ethopoiesis auf einen weiteren indirekten

Bergson-Effekt – neben Canguilhem nun auch Merleau-Ponty – zurückzuführen, den Deleuze

anklingen lässt, wenn er hervorhebt, mit Foucault gesprochen vollziehe sich Subjektivierung

»durch Faltung« und der »Kampf für die Subjektivität« präsentiere sich folglich »als Recht

auf Differenz, als Recht auf Variation, zur Metamorphose«.279 Die »Faltung« oder

»Verdopplung« sei damit nichts anderes als eine Form von »Gedächtnis«, und namentlich ein

»absolutes Gedächtnis« oder »Gedächtnis des Außen«, »das die Gegenwart doppelt, das

Außen verdoppelt und eine Einheit mit dem Vergessen bildet, da es selbst ist und beständig

vergessen wird, um wiederhergestellt zu werden«, so Deleuze:

273 Michel Foucault: »Die Bühne der Philosophie« (Gespräch mit Moriaki Watanabe, 1978), in: ders.: Dits et Écrits, Bd. 3, S. 718–748, S. 724–725. »Als ich Student war, wurde die französische Philosophie von einer Art latentem Bergsonismus beherrscht. Ich sage Bergsonismus, ich sage nicht, dass es sich um die wirklichen Gedanken Bergsons handelte, bei weitem nicht.« Zit.n. Delitz: Bergson-Effekte, S. 285. 274 Vgl. Delitz: Bergson-Effekte, S. 287. 275 Vgl. u.a. Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, aus dem Franz. v. Michael Bischof, Ulrike Bokelmann, Hans-Dieter Gondek u. Hermann Kocyba, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange, ausgewählt u. mit einem Nachw. v. Martin Saar, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. In seiner Vorlesung am Collège de France vom 10. Februar 1982 definiert erklärt Foucault: »Ethopoios ist etwas, das die Eigenschaft hat, die Seinsweise, die Lebensweise eines Individuums zu verändern.« Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/1982, aus dem Franz. v. Ulrike Bokelmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 297, zit.n. Delitz: Bergson-Effekte, S. 287. 276 Guillaume le Blanc: »L’invention de l’homme moderne. Une lecture de Michel Foucault«, in: Philosophie 1, Nr. 109 (2011), S. 60–73, S. 73, zit.n. Delitz: Bergson-Effekte, S. 287. 277 Deleuze: Foucault, S. 5/160. 278 Ebd., S. 155. Zum Problem der Subjektivierung, vgl. den Abschnitt »Die Faltungen oder das Innen des Denkens (Subjektivierung)«, ebd., S. 131–172. 279 Ebd., S. 146/148.

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Gedächtnis ist der wahre Name des Bezugs zu sich oder des Sich-durch-sich-Affizierens. [...] Einzig das Vergessen (das Entfalten) findet im Gedächtnis das Gefaltete wieder (in der Falte selbst). [...] Diese Koextensivität ist Leben, Dauer. Die Zeit wird Subjekt, weil sie die Faltung des Außen ist und in dieser Eigenschaft alle Gegenwart ins Vergessen übergehen läßt, aber die ganze Vergangenheit im Gedächtnis aufbewahrt, das Vergessen als Unmöglichkeit der Rückkehr und das Gedächtnis als Notwendigkeit des Neubeginns. Lange Zeit hatte Foucault das Außen als eine äußerste Räumlichkeit, tiefer als die Zeit, gedacht; die letzten Arbeiten machen es wieder möglich, die Zeit ins Außen zu setzen und das Außen als Zeit zu denken, in Gestalt der Falte.280

Mit seinem Spätwerk – und vor allem mit seinen beiden Werken, L’usage des plairis (Der

Gebrauch der Lüste) und Le souci de soi (Die Sorge um sich), deren Veröffentlichung er kurz

vor seinem Tod noch vorbereitete,281 sowie mit seinem letzten Werk Les aveux de la chair

(Die Geständnisse des Fleisches), das er nicht mehr zur Veröffentlichung freigeben sollte282 –

wendet sich Foucault entgegen seiner früheren Aufwertung des Raumes, die er mit Delitz

gesprochen »um den Preis der Abwertung der Zeit und einer Vermengung von Zeit und

durée« vollzog,283 nunmehr einer Konzeption des »Außen« zu, in dem sich Neues nur in dem

Moment ereignet, da man ihm »die aktive und gegenwärtige Vergangenheit zurückgibt«, so

Deleuze: »Das Denken denkt seine eigene Geschichte (Vergangenheit), jedoch um sich von

dem zu befreien, was es denkt (Gegenwart), um schließlich »anders denken« zu können

(Zukunft).«284 Foucaults Theorie der Erfindung neuer Sein- oder Lebensweisen ist damit in

unmittelbarer Nähe jenes Freiheitsbegriffs zu verorten, auf den Bergson mit seinem Konzept

der Dauer abzielt und den er in Materie und Gedächtnis nicht nur auf die Möglichkeiten der

»Bewegung im Raume« zurückführt, die unmittelbar mit der »Differenzierung der

Funktionen« des Körpers korrespondieren, sondern auch auf die »wachsende Spanne des

280 Deleuze: Foucault, S. 146/148 (Herv. d. Verf.). Analog dazu stellen Deleuze und Guattari auch in Was ist Philosophie? einen impliziten Bezug zu Bergson her, wenn sie zum Schluss kommen, dass für Foucault, wenn er vom Aktuellen spricht, in letzter Konsequenz »die Differenz von Gegenwärtigem und Aktuellem das ist, was zählt«: »Das Neue, Interessante, das ist das Aktuelle. Nicht das, was wir sind, vielmehr das, was wir werden, was wir dabei sind zu werden, das heißt das Andere, unser Anders-Werden ist das Aktuelle. Das Gegenwärtige dagegen ist das, was wir sind und dadurch gerade auch schon wieder nicht mehr sind.« Gilles Deleuze, Félix Guattari: Was ist Philosophie? (1991), aus dem Franz. v. Bernd Schwibs u. Joseph Vogl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 130. Vgl. dazu auch Delitz: Bergson-Effekte, S. 287–288. 281 Michel Foucault: Histoire de la sexualité II: Lʼusage des plaisirs, Paris: Éditions Gallimard 1984; dt.: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, aus dem Franz. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989; ders.: Histoire de la sexualité III. Le souci de soi, Paris: Éditions Gallimard 1984; dt.: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, aus dem Franz. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. 282 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Foucault (aufgerufen am 28.12.2015). Deleuze zufolge kann man annehmen, dass Foucaults unveröffentlichtes Manuskript Die Geständnisse des Fleisches »auf seine Weise das gesamte Problem der »Faltung« (Inkarnation) betrifft, indem es den christlichen Ursprung des Fleisches aus der Perspektive einer Geschichte der Sexualität unterstreicht«, vgl. Deleuze: Foucault, S. 155, Anm. 37. 283 Delitz: Bergson-Effekte, S. 285. 284 Deleuze: Foucault, S. 168–169. Deleuze bezieht sich hier auf Foucault: Der Gebrauch der Lüste, S. 16.

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Bewußtseins in der Zeit«, die jeder Form von Erkenntnis zugrunde liege und die mit dem

Gedächtnis als einmaligem Charakteristikum des Menschen ihren Höhepunkt erreiche:

Nicht nur behält dieses Bewußtsein durch sein Gedächtnis der alten Erfahrungen die Vergangenheit immer besser, um sie mit der Gegenwart zu immer reicherer und neuerer Entscheidung zu gestalten, sondern dadurch daß es ein immer intensiveres Leben lebt, daß es durch sein Gedächtnis der unmittelbaren Erfahrung eine immer wachsende Zahl äußerer Augenblicke in seine gegenwärtige Dauer zusammenzieht, wird es immer fähiger, Taten zu tun, deren innere Indeterminiertheit um so leichter durch die Maschen der Notwendigkeit hindurchgehen wird, als sie sich über eine große Anzahl (so groß man sie nur will) von Augenblicken der Materie verteilen muß. So erscheint die Freiheit, ob wir sie nun vom Standpunkte der Zeit oder des Raumes ins Auge fassen, immer ihre Wurzeln tief in die Notwendigkeit zu versenken und sich mit ihr aufs innigste zu verbinden. Der Geist entnimmt der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung zieht, und gibt sie ihr als Bewegung zurück, der er den Stempel seiner Freiheit aufgedrückt hat.285

3.2.2. Bergson als »Theoretiker der Differenz«: Gilles Deleuzes Neo-Bergsonismus

Wenn Bergsons Philosophie im Kontext der Epistemologie, der Phänomenologie und des

Strukturalismus einen zentralen Bezugspunkt darstellte, der einer ganzen Reihe von Autoren

zur Abstoßung in Richtung neuer Zeit-, Raum-, Bild-, Geschichts-, Subjekt- und

Lebenskonzepte diente, so nimmt die Wirkungsgeschichte Bergsons mit Deleuze eine

entscheidende Wendung.286 Denn im Gegensatz zur inhaltlichen Auseinandersetzung seitens

vieler Autoren ist Deleuzes primärer Bezug zu Bergson weniger inhaltlicher als vielmehr

methodischer Natur. Ebenso wie Bergson sieht Deleuze die zentrale Aufgabe der Philosophie

darin, das Medium der Sprache nicht nur als Instrument der Reflexion, sondern vor allem

auch als Instrument der Schöpfung zu begreifen, vermittels dessen es Bewegung ins Denken

zu bringen und neue Begriffe zu schaffen gelte, wie Deleuze 1985 im Gespräch mit Antoine

Dulaure und Claire Parnet hervorhebt:

In der Tat ist es wichtig, dem Philosophen das Recht des Nachdenkens ›über‹ zu entziehen. Der Philosoph ist Schöpfer, Erfinder und nicht reflexiv. […] wie Bergson Wahrnehmung, Affekt und Aktion als die drei Formen der Bewegung zu unterscheiden, damit führt man eine sehr neue Einteilung ein. Das ist immer neu, da es, wie ich glaube, nie richtig angenommen worden ist, und es gehört zu dem Schwierigsten und Schönsten

285 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 249–250. 286 Zum »atypischen Charakter von Deleuzes Interesse an Bergson«, das in Gegenüberstellung mit den Urteilen seiner Zeitgenossen deutlich werde, vgl. Bianco: »Le Bergson de Deleuze entre existence et structure«, S. 99. Zur Gegenüberstellung mit zeitgenössischen Autoren wie Canguilhem, Hyppolite, Merleau-Ponty, Althusser, Sartre, Lacan, Lévi-Strauss, Foucault, Derrida, u.a., vgl. ebd., S. 99–105.

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im Denken Bergsons. […] Die Einführung der Bewegung in den Begriff findet zum selben Zeitpunkt statt wie die Einführung der Bewegung ins Bild. Bergson ist einer der ersten, bei denen es Selbst-Bewegung des Denkens gibt. Weil es nicht genügt zu sagen: die Begriffe bewegen sich. Man muß auch Begriffe konstruieren, die geistiger Bewegung fähig sind.287

Nachdem er bei Canguilhem und Hyppolite Philosophie studiert und sich 1948 im Rahmen

des Staatsexamens (agrégation) eingehender mit Bergsons Philosophie beschäftigt hatte,288

veröffentlichte Deleuze 1956 in dem von Merleau-Ponty herausgegebenen Band Les

Philosophes célèbres erstmals einen kurzen Text zu Bergson,289 der zweifelsohne von dessen

Auffassung des Bergsonismus als »Philosophie des Ausdrucks« informiert ist und in dem sich

Deleuzes Zugang zu Bergson bereits deutlich abzeichnet. So vertritt Deleuze in

Übereinstimmung mit Merleau-Ponty die Meinung, Bergsons Philosophie ziele keineswegs

darauf ab, »mit der Wissenschaft zu rivalisieren«, sondern versuche im Gegenteil, in

Ergänzung zur deduktiven Logik der Wissenschaft »eine andere Beziehung zu den Dingen

einzuführen oder vielmehr wiederherzustellen, also eine andere Erkenntnis«, die sich insofern

von jener der Wissenschaft unterscheide, als letztere nur darauf abziele, »zu folgern und

abzuleiten, ohne uns das Ding je als solches zu zeigen.«290 Deleuze zufolge gibt es bei

Bergson, was die komplementären Felder der Wissenschaft und der Philosophie anbelangt,

folglich »nicht die geringste Unterscheidung zwischen zwei Welten [...], einer sinnlich

wahrnehmbaren und einer intelligiblen«, sondern »lediglich zwei Bewegungen oder vielmehr

zwei Richtungen ein und derselben Bewegung«, die »jede auf ihre Art natürlich« seien: »eine,

bei der die Bewegung dazu tendiert, in ihrem Ergebnis, ihrem Resultat, das sie unterbricht, zu

erstarren, und die andere, die kehrtmacht und in dem Ergebnis die Bewegung wiederfindet,

aus der sie resultiert.«291 Die Aufgabe der Philosophie bestehe daher mit Bergson gesprochen

darin, im Gegensatz zur Wissenschaft »weniger das Ding selbst als vielmehr die Differenz des

Dings« in den Blick zu nehmen, in anderen Worten, »das, was sein Sein ausmacht, das, was

bewirkt, daß es eher dies ist als jenes, eher dies als etwas anderes«: »Das Unmittelbare ist

287 Gilles Deleuze: »Die Fürsprecher« (1985), in: ders.: Unterhandlungen, S. 175–196, S. 176–177. 288 Canguilhem und Hyppolite begutachteten 1947 auch Deleuzes Dissertation über David Hume, vgl. Gilles Deleuze: Empirisme et subjectivité. Essai sur la nature humaine selon Hume, Paris: Presses Universitaires de France 1953; dt.: David Hume, aus dem Franz. v. Peter Geble, Frankfurt am Main: Campus Verlag 1997. Neben einer Reihe anderer Werke war Bergsons Materie und Gedächtnis 1947/48 fixer Bestandteil des Staatsexamens, wodurch in den späten 1940ern auch eine ganze Reihe von Publikationen zu Bergson angestoßen wurde, vgl. Bianco: »Le Bergson de Deleuze entre existence et structure«, S. 105–106. 289 Gilles Deleuze: »Bergson, 1859–1941«, in: Maurice Merleau-Ponty (Hg.): Les Philosophes célèbres, Paris: Éditions d’Art Lucien Mazenot 1956, S. 292–299; dt.: »Bergson, 1859–1941«, in: ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953–1974, hg. v. David Lapoujade, aus dem Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 28–43. 290 Deleuze: »Bergson, 1859–1941«, S. 29; zitiert wird hier und im Folgenden nach der deutschen Ausgabe. 291 Ebd., S. 30.

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genau die Identität des Dings und seiner Differenz, so wie die Philosophie sie wiederfindet

oder ›erfaßt‹.«292

In einem zweiten Text, den er 1956 in der Reihe Études bergsoniennes veröffentlichte,293

charakterisiert Deleuze Bergsons Philosophie dementsprechend als eine »Philosophie der

Differenz«, die sich als solche »stets auf zwei Ebenen, einer methodologischen und einer

ontologischen«, bewege:

Einerseits geht es darum, die Wesensunterschiede zwischen den Dingen zu bestimmen: nur auf diese Weise kann man zu den Dingen selbst ›zurückkehren‹, sich über sie klarwerden, ohne sie auf anderes als sie selbst zu reduzieren, sie in ihrem Sein erfassen. Andererseits jedoch, wenn das Sein der Dinge in gewisser Weise in ihren Wesensunterschieden liegt, können wir hoffen, daß die Differenz selber etwas ist, daß sie ein Wesen hat, daß sie uns schließlich das Sein als solches preisgeben wird. Diese beiden Probleme, das methodologische und das ontologische, beziehen sich ständig aufeinander: das der Wesensdifferenz und das des Wesens der Differenz. Bei Bergson begegnen wir ihnen in ihrer Verbindung, erblicken wir den Übergang von der einen zur anderen.294

Wie Delitz hervorhebt, stellt das »prozessuale differenztheoretische Denken Bergsons« im

Zusammenspiel mit Theorien des Affekts (Spinoza, Hume), der Macht (Nietzsche) und des

Begehrens (Freud) für Deleuze einen der zentralen Bezugspunkte dar, ausgehend vom dem er

jenes eigenständige philosophische »Vokabular« entwickeln sollte, das es – wie auch im Fall

von Bergson – nicht als gegeben zu nehmen, sondern vielmehr »zu übersetzen« gelte.295 So

entwickelte Deleuze bereits 1960, im Rahmen einer seiner Vorlesungen an der École

Supérieure von Saint-Cloud, die er dem dritten Kapitel von L’Évolution créatrice widmete,

ausgehend von den Begriffen des »Virtuellen« und der »Aktualisierung« nicht nur die

Grundlagen seiner Theorie der Differenz als permanente und unvorhersehbare

»Differentiation«, sondern verwies dabei auch ausdrücklich auf Bergsons Methode der

Intuition, die man in unterschiedlichsten Feldern zur Anwendung bringen könne, da sie rein

gar nichts »Sentimentales« habe, sondern im Gegenteil zwei Vorteile aufweise: »1. Sie allein

292 Ebd., S. 32–33. 293 Gilles Deleuze: »La Conception de la différence chez Bergson«, in: Raymond Polin, Raymond Aron, Samuel Dresden (Hg.): Les Etudes bergsoniennes, Bd. 4, Paris: Albin Michel 1956, S. 77–112; dt.: »Der Begriff der Differenz bei Bergson«. 294 Deleuze: »Der Begriff der Differenz bei Bergson«, S. 44. 295 Delitz: Bergson-Effekte, S. 332–333. Vgl. François Zourabichvili: Le vocabulaire de Deleuze, Paris: Éditions Ellipses 2003.

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erlaubt, die Probleme in Begriffen der Zeit zu stellen: das ist ihre positive Seite; 2. mit ihr

kann man die wahren von den falschen Problemen trennen: das ist ihre negative Seite.«296

In seinem 1966 veröffentlichten Werk Le Bergsonisme,297 mit dem er gegenüber dem

historischen Bergsonismus und dem zeithistorischen Anti-Bergsonismus Position bezog,

sollte Deleuze seine Bergson-Lektüren schließlich erstmals systematisieren, um die »Intuition

als Methode« in ein konkretes Regelwerk zu übersetzen298 und Bergsons zentrale Begriffe der

Dauer, des Gedächtnisses und des élan vital im Sinne seiner Theorie der »Differentiation«

zusammenzuführen. »Uns scheint, daß die Dauer wesentlich eine virtuelle Vielheit (das, was

wesensverschieden ist) umschreibt. Das Gedächtnis erscheint dann als die Koexistenz aller

Differenzstufen innerhalb dieser Vielheit und Virtualität«, schreibt Deleuze: »Der Elan vital

schließlich bezeichnet die Aktualisierung dieses Virtuellen entlang der Differenzierungslinien,

die diesen Differenzstufen entsprechen – bis hin zur Entwicklungslinie des Menschen, wo der

Elan vital ein Bewußtsein von sich gewinnt.«299

Deleuzes zutiefst eigenständiger Zugang zu Bergsons Philosophie, dessen Einsatzpunkte er in

Le Bergsonisme erstmals definiert, gründet nicht nur in der Tatsache, dass Deleuze, wie er

bereits 1956 konstatiert, Bergson vor allem insofern als ›großen Philosophen‹ bewunderte, als

er »neue Begriffe« schafft, die »über die Dualitäten des gewöhnlichen Denkens« hinausgehen

und »zugleich den Dingen eine neue Wahrheit, eine neue Aufteilung, eine außergewöhnliche

Zerlegung« verleihen.300 Wie er 1973 in seinem »Brief an einen strengen Kritiker« (Michel

Cressole) zu verstehen gibt, gründet er vor allem auch in der Tatsache, dass Deleuze – und

auch hier hält er sich an Bergson – der Philosophiegeschichte im Allgemeinen äußerst kritisch

gegenüberstand und nicht zuletzt davon beeindruckt war, »wieviel Haß Bergson anfangs in

der französischen Universität auf sich zog und wie er einen Sammelpunkt für alle Arten von

Verrückten und Außenseitern bildete«, weil er sich die Freiheit herausnahm, »etwas in seinem

eigenen Namen zu sagen«:

Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus, sie ist der eigentlich philosophische Ödipus: ›Du wirst doch wohl nicht wagen, in deinem Namen zu sprechen, bevor du nicht dieses und jenes gelesen hast, und dieses über jenes, und jenes über dieses.‹ [...] vor allem bestand meine Art, heil da rauszukommen, glaube ich, darin, die Philosophiegeschichte als eine Art Arschfickerei

296 Gilles Deleuze: »Cours sur le Chapitre III de l’Évolution créatrice de Bergson«, in: Annales bergsoniennes II. Bergson, Deleuze, la phénoménologie, Paris: Presses Universitaires de France 2004, S. 166–188, S. 181, zit.n. Delitz: Bergson-Effekte, S. 334 (ohne Angabe d. Übers.). 297 Deleuze: Le Bergsonisme; dt.: Henri Bergson zur Einführung. 298 Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Kap. I: »Intuition als Methode«, S. 23–51. 299 Ebd., S. 141–142. 300 Deleuze: »Bergson, 1859–1941«, S. 28.

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zu betrachten oder, was auf dasselbe hinausläuft, unbefleckte Empfängnis: Ich stellte mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines, aber trotzdem monströs wäre. Daß es wirklich seins war, ist sehr wichtig, denn der Autor mußte tatsächlich all das sagen, was ich ihn sagen ließ. Aber daß das Kind monströs war, war ebenfalls notwendig, denn man mußte durch alle Arten von Dezentrierungen, Verschiebungen, Brüchen, versteckten Äußerungen hindurchgehen, was mir nicht wenig Spaß bereitet hat. Mein Buch über Bergson ist meiner Ansicht nach exemplarisch für diese Gattung. [...] Es ist etwas sehr Merkwürdiges, etwas in seinem eigenen Namen zu sagen; denn es ist gerade nicht im Moment, wo man sich für ein Ich, eine Person oder ein Subjekt hält, daß man in seinem Namen spricht. Im Gegenteil, ein Individuum erwirbt erst wirklich einen Eigennamen, wenn es die strengste Depersonalisierungsübung hinter sich hat, wenn es sich den Vielheiten öffnet, die es von einem Ende zum anderen durchziehen, den Intensitäten, die es durchlaufen. Der Name als augenblickliches Ergreifen einer solchen intensiven Vielheit ist das Gegenteil der Depersonalisierung, wie sie die Philosophiegeschichte bewirkt, ist eine Depersonalisierung aus Liebe und nicht aus Unterwerfung. Man spricht aus der Tiefe dessen, was man nicht weiß, aus der Tiefe der eigenen Unterentwicklung. Man ist ein Ensemble freigesetzter Singularitäten geworden, ein Ensemble von Namen, Vornamen, Fingernägeln, Dingen, Tieren, kleinen Ereignissen: das Gegenteil eines Stars. Ich habe also angefangen, zwei Bücher in diesem vagabundierenden Sinn zu machen, Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns.301

Wie Jae Emmerling hervorhebt, beruht Deleuzes Bergsonismus im Wesentlichen auf einer

spezifischen »Methodologie des ›Rückgriffs‹«, die weder das Konzept eines »vermeintlichen

Ursprungs« noch jenes einer hervorragenden »Autor-Funktion« unterstütze, sondern

Philosophiegeschichte vielmehr »als Wiederholung und Maskerade« begreife, vermittels

derer sich Deleuze genuin bergsonsche Konzepte zu eigen mache, indem er sie gleichzeitig

einer fundamentalen Transformation unterziehe und damit »neue Gedankenlinien« zu Tage

fördere, die »die Philosophiegeschichte durchqueren« und eine »Alternative zum

Strukturalismus, zur Phänomenologie und zur Psychoanalyse« darstellen.302 1988, in seinem

berühmten Nachwort zur englischen Übersetzung von Le Bergsonisme, verweist Deleuze

dementsprechend auf die drei zentralen Eckpfeiler, auf denen seine »Rückkehr zu Bergson«

basiere, insofern sie »nicht nur eine erneute Bewunderung für einen großen Philosophen«

bedeute, »sondern eine zeitgemäße Erneuerung oder Erweiterung seines Projekts, in

Beziehung zu den Transformationen von Leben und Gesellschaft, parallel zu den

301 Gilles Deleuze: »Brief an einen strengen Kritiker« (1973), in: ders.: Unterhandlungen, S. 11–24, S. 14–17 (Herv. d. Verf.). 302 Jae Emerling: »Afterword: An Art Historical Return to Bergson«, in: Mullarkey/de Mille: Bergson and the Art of Immanence, S. 260–271, S. 260 (Herv. d. Verf.): »Hence his [Deleuze’s] singular ›Bergsonism‹ is a method that prioritises concepts inherent in Bergson’s own texts such as multiplicity, the virtual, becoming and immanence; yet they are transformed in Deleuze’s appropriation of them. What Deleuze demonstrated was that a return neither recollects some putative origin nor shores up an author-function. Instead, it always involves a radical untimeliness, an event. […] Deleuze’s ›return‹ to Bergson allowed him to render new lines of thought that traversed the history of philosophy, offering alternatives to structuralism, phenomenology and psychoanalysis.«

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Transformationen der Wissenschaft«.303 So beruft sich Deleuze im Rahmen seines Nachworts

erstens auf die »Intuition« als »wahre Methode«,304 zweitens auf die Synthese von

»Wissenschaft und Metaphysik«,305 und drittens auf die »Logik der Mannigfaltigkeiten«.306

Wenn Deleuze mit seiner Habilitationsschrift Différence et répétition (Differenz und

Wiederholung) von 1968307 nunmehr tatsächlich »aus der Tiefe der eigenen

Unterentwicklung« und sozusagen in einem »vagabundierenden Sinn« zu philosophieren

begann,308 so bildeten seine Studien zu Bergson, wie Éric Alliez hervorhebt, dabei nicht

weniger als »das Gerüst derjenigen Kapitel*, die das Herzstück von Differenz und

Wiederholung ausmachen«, jenes Werks, »das als Fundament der deleuzianischen

Philosophie betrachtet werden muß«.309 Wie Deleuze in seinem Vorwort zusammenfasst, geht

es ihm mit dem Thema von Differenz und Wiederholung, das »ganz offenbar im Geist der

Zeit« liege, um einen kritischen Blick auf das »moderne Denken«, insofern dieses »dem

Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der

Kräfte [entspringt], die unter der Repräsentation des Identischen wirken«: »Die moderne Welt

ist die der Trugbilder [simulacres]. [...] Alle Identitäten sind nur simuliert und wie ein

optischer ›Effekt‹ durch ein tieferliegendes Spiel erzeugt, durch das Spiel von Differenz und

Wiederholung.« 310 Das »Trugbild« ist Deleuze zufolge also »nicht etwa ein Abbild«, sondern

»reißt vielmehr alle Abbilder nieder, indem es auch die Urbilder stürzt: Jeder Gedanke wird

303 »A ›return to Bergson‹«, schreibt Deleuze, »does not only mean a renewed admiration for a great philosopher but a renewal or an extension of his project today, in relation to the transformations of life and society, in parallel with the transformations of science.« Gilles Deleuze: »Afterword: A Return to Bergson« (1988), in: ders.: Bergsonism, aus dem Franz. v. Hugh Tomilson u. Barbara Habberjam, New York: Zone Books 1991, S. 115–118, S. 115 (Übers. d. Verf.). 304 Ebd., S. 115–116. 305 Ebd., S. 116–117. 306 Ebd., S. 117. 307 Gilles Deleuze: Différence et répétition, Paris: Presses Universitaires de France 1968; dt.: Differenz und Wiederholung. 308 Deleuze: »Brief an einen strengen Kritiker«, S. 13–14: »Wie läßt sich anders schreiben als darüber, worüber man nicht oder nur ungenügend Bescheid weiß? Gerade darüber glaubt man unbedingt etwas zu sagen zu haben. Man schreibt nur auf dem vordersten Posten seines eigenen Wissens, auf jener äußersten Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwissen trennt und das eine ins andere übergehen läßt.« 309 Éric Alliez: »Deleuze, Bergson und das Virtuelle« (1998), in: Elisabeth von Samsonow, ders. (Hg.): Telenoia. Kritik der virtuellen Bilder, Wien: Turia + Kant 1999, S. 67–78, S. 67. *Die zentralen Kapitel sind Alliez zufolge »Das Bild des Denkens«, »Ideelle Synthese der Differenz« und »Asymmetrische Synthese des Sinnlichen«, ebd. Vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung. 310 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 11. Vgl. dazu auch ebd., S. 11–12: »Wir wollen die Differenz an sich selbst und den Bezug des Differenten zum Differenten denken, unabhängig von den Formen der Repräsentation, durch die sie auf das Selbe zurückgeführt und durch das Negative getrieben werden. [...] Im Trugbild beruht die Wiederholung bereits auf Wiederholungen, beruht die Differenz bereits auf Differenzen. Es wiederholen sich die Wiederholungen, es differenziert sich das Differenzierende. Das Geschäft des Lebens besteht darin, alle Wiederholungen in einem Raum koexistieren zu lassen, in dem sich die Differenz verteilt.«

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zur Aggression.«311 In Entsprechung mit »den Neuerungen in manchen anderen Künsten, im

Theater oder im Film etwa«, müsse daher auch die »Suche nach neuen philosophischen

Ausdrucksmitteln« fortgesetzt werden, durch welche die Philosophiegeschichte eine völlig

neue Bedeutung bekomme, wie Deleuze unter Berufung auf Duchamps bärtige Mona Lisa312

proklamiert:

Die Philosophiegeschichte muß, wie uns scheint, eine ganz ähnliche Rolle wie die Collage in einem Gemälde übernehmen. Die Geschichte der Philosophie ist die Reproduktion der Philosophie selber. Die Nacherzählung sollte in der Philosophiegeschichte als eine regelrechte Kopie wirken und die der Kopie entsprechende maximale Modifikation enthalten. (Man stelle sich einen Hegel mit – philosophisch – aufgemaltem Bart, einen philosophisch kahlrasierten Marx vor, ganz wie eine schnurrbärtige Mona Lisa).313

Wenn Deleuze von »Wiederholung« spricht, so meint er also keine stereotype Wiedergabe,

sondern vielmehr eine spezifische »Verhaltensweise«, die »eine untauschbare, unersetzbare

Singularität« betrifft: »Wiederholen heißt sich verhalten, allerdings im Verhältnis zu etwas

Einzigartigem oder Singulärem, das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist.«314 Die

Wiederholung beziehe sich damit auf die »Universalität des Singulären« und entspreche »eher

dem Wunder als dem Gesetz«, insofern sie wesentlich »eine Sache des Humors und der

Ironie« sei (man stelle sich vor, Duchamp hätte Bergson – philosophisch – einen Bart

aufgemalt): »sie ist ihrer Natur nach Überschreitung, Ausnahme und behauptet immer eine

Singularität gegen die dem Gesetz unterworfenen Besonderheiten, ein Universales gegen die

Allgemeinheiten, die als Gesetz gelten.«315 Als »reine schöpferische Bewegung eines

dynamischen Raums und einer dynamischen Zeit«,316 die sich sowohl der Gewohnheit als

auch dem Gedächtnis entgegenstellt, ist die Wiederholung Deleuze zufolge damit nichts

anderes als »das Denken der Zukunft«, mit dem »das Vergessen zur positiven Macht« wird:

»es handelt sich darum, aus der Bewegung selbst – und ohne Zwischenschritt – ein Werk zu

311 Ebd., S. 12. 312 Zu Duchamps bärtiger Mona Lisa L.H.O.O.Q (1919) und ihrem rasierten Pendant L.H.O.O.Q rasée (1965), vgl. oben, Kap. 2.1.3. 1967 hatte die Pariser Galerie Givaudan unter dem Titel Ready-mades et éditions de et sur Marcel Duchamp (8. Juni bis 30. September 1967) als erste Institution in Frankreich eine Überblicksausstellung zu Duchamps Ready-mades und Druckgrafiken präsentiert, in der auch L.H.O.O.Q. gezeigt wurde und die Deleuze gesehen haben könnte. Am 21. Juni 1967 führte Philippe Collin im Rahmen der Ausstellung für Radiodiffusion Télévision France ein Fernsehinterview mit Duchamp, in dem auch L.H.O.O.Q. zu sehen ist, vgl. »Marcel Duchamp parle des readymades«, http://www.ina.fr/video/CPD07011070 (aufgerufen am 28.12.2015). Das Interview wurde am 1. Januar 1971 erstmals ausgestrahlt und ist unter dem Titel »Marcel Duchamp spricht über Ready-mades« abgedruckt in Museum Jean Tinguely Basel (Hg.): Duchamp, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2002, S. 37–41. 313 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 14. 314 Ebd., S. 15. 315 Ebd., S. 15–16/20. 316 Ebd., S. 42.

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machen; die mittelbaren Repräsentationen durch direkte Zeichen zu ersetzen«, schreibt

Deleuze: »Schwingungen, Rotationen, Drehungen, Gravitationen, Tänze oder Sprünge

auszudenken, die den Geist direkt treffen.«317

Im Zusammenhang mit der Wiederholung als Inbegriff des Schöpferischen, der sich gegen

das »Ungeheuer« der reinen Differenz wendet, in anderen Worten, gegen jenen »Zustand, in

dem man von DER Bestimmung sprechen kann« und der »bloß empirisch« und »äußerlich«

ist,318 verweist Deleuze nun auch darauf, dass Bergson die rein »qualitative Dauer« genau

genommen »ganz und gar nicht als Unteilbares« definiert, sondern als das, »was sich

fortwährend teilt, indem es sich in seiner Natur verändert«, das heißt, als »virtuelle

Mannigfaltigkeit«, die sich nicht nur »von den graduellen Differenzen« der Ausdehnung

unterscheide, sondern gleichzeitig auch mit dem »Wesen der Differenz« verschmelze und

»aus diesem Grund alle Grade von Differenz« umfasse.319 Erst durch das Gedächtnis, erst mit

dem Denken, erst in der Wiederholung komme die Differenz als solche zum Tragen:

Von der Differenz muß also gesagt werden, daß man sie macht oder daß sie sich macht, entsprechend des Ausdrucks ›einen Unterschied machen‹. [...] Die Differenz ist nicht das Verschiedene. Das Verschiedene ist gegeben. Die Differenz aber ist das, wodurch das Gegebene gegeben ist. Sie ist das, wodurch das Gegebene als Verschiedenes gegeben ist. [...] Die Differenz wird qualitativ nur in dem Prozeß, in dem sie sich in der Extension tilgt. Aber im Übergang von einer Qualität zu einer anderen gibt es, selbst bei einem Maximum von Ähnlichkeit oder Kontinuität, Verschiebungs- und Stufenphänomene, Differenzschocks, Entfernungen, ein ganzes Spiel von Konjunktionen und Disjunktionen, eine regelrechte Tiefe, die eher eine Skala denn eine spezifisch qualitative Dauer bildet.320

Daher erklärt sich auch der Schluss, zu dem Deleuze bereits 1956 kommt, wenn er Bergsons

Methode der Intuition – in einer ähnlichen Wendung, wie sie Duchamp mit seinem Konzept

des Ready-made vollzog – auf die Fähigkeit zurückführt, »das Ding selbst anhand dessen zu

erfassen, was es ist, in seiner Differenz zu allem, was es nicht ist, d.h. in seiner inneren

Differenz«: »Die Intuition ist der Genuß der Differenz.«321

Auch das nächste Buch, das Deleuze 1969 unter dem Titel Logique du sens (Logik des Sinns)

veröffentlichte,322 knüpft in dem von Deleuze intendierten »vagabundierenden Sinn«

unmittelbar an Bergson an, indem es sich im Sinne einer strukturalistischen Literaturtheorie 317 Ebd., S. 23–24. 318 Ebd., S. 49–50. 319 Ebd., S. 302–303. 320 Ebd., S. 49/281/301–302. 321 Deleuze: »Der Begriff der Differenz bei Bergson«, S. 45–46. 322 Gilles Deleuze: Logique du sens, Paris: Éditions de Minuit 1969; dt.: Logik des Sinns.

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als »Geschichte mit Knoten« und »Versuch eines logischen und psychoanalytischen Romans«

versteht, der in eine »Serie von Paradoxa« gegliedert ist.323 So handelt bereits das erste der 34

Paradoxa, anhand derer Deleuze seine topologischen Analysen entwickelt, »Vom reinen

Werden«, dessen Paradox Deleuze zufolge »in der Bejahung zweier Richtungen, zweier

Sinnprägungen zugleich« besteht, insofern es die wesentliche »Eigenheit« habe, »sich dem

Gegenwärtigen zu entziehen«, wie Deleuze am Bespiel von Lewis Carrolls Alice im

Wunderland verdeutlicht:

Wenn ich sage ›Alice wächst‹, will ich sagen, daß sie größer wird, als sie war. Doch eben dadurch wird sie auch kleiner, als sie jetzt ist. Sicherlich ist sie nicht zur gleichen Zeit größer und kleiner. Es ist aber die gleiche Zeit, in der sie es wird. [...] Insofern es sich dem Gegenwärtigen entzieht, verträgt dieses Werden weder die Trennung noch die Unterscheidung von Vorher und Nachher, von Vergangenem und Künftigem. Es gehört vielmehr zum Wesen des Werdens, in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen, zu streben: Alice wächst nicht, ohne zu schrumpfen, und umgekehrt.324

Mit Platon müsse man daher notwendig »zwei Dimensionen« unterscheiden: »Jene der

begrenzten und mit Maß versehenen Dinge, der feststehenden Qualitäten, seien sie nun

dauerhafte oder vorübergehende, die aber immer ein Innehalten als Unbeweglichkeiten

voraussetzen«, und »jene eines reinen und maßlosen Werdens«, das »sich stets dem

Gegenwärtigen entzieht und Künftiges und Vergangenes [...] in der Gleichzeitigkeit einer

unlenksamen Materie zusammenfallen läßt«.325 Es ist dies keine andere Unterscheidung, als

sie Bergson vornimmt, wenn er in Schöpferische Entwicklung einerseits – auf der Ebene der

feststehenden Begriffe – die abstrakte Vorstellung ins Treffen führt, ein ›Kind‹ könne sich

zum ›Manne‹ entwickeln, während die Zuschreibungen ›Kind‹ und ›Mann‹ in Wirklichkeit

nur »von außen her ersonnene mögliche Stillstände in der Kontinuität eines Fortschritts«

seien, und wenn er andererseits – auf der Ebene des reinen Werdens – darauf hinweist, dass

die Wirklichkeit, »sie, die das Übergehen vom Kinde zum Alter der Reife ist«, uns per

definitionem »zwischen den Fingern« entgleitet.326 Es ist dies aber auch keine andere

Unterscheidung als diejenige, die Duchamp trifft, wenn er sein Großes Glas in zwei

»Domänen« gliedert: die zentralperspektivisch organisierte »Domäne der Junggesellen« auf

der einen Seite des zentralen »Horizonts«, deren Akteure Duchamp als »männische

Gussformen« definiert, deren Begehren sich durch ein Netz von »Maßnorm-Stoppagen« 323 Deleuze: Logik des Sinns, S. 14. Die 34 Abschnitte des Buchs tragen alle den Titel »Serie der Paradoxa«, der jeweils durch einen anderen Untertitel ergänzt wird. Im Anhang des Buches finden sich fünf Aufsätze, die auf früheren Veröffentlichungen basieren und einzelne Punkte im Detail entwickeln. 324 Ebd., Kap. I: »1. Serie der Paradoxa: Vom reinen Werden«, S. 15–18, S. 15. 325 Ebd., S. 15. 326 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 308–309. Vgl. oben, Kap. 1.3.2.

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verteilt und dabei in »Pailletten« zerfällt, und die aperspektivische »Domäne der Braut« auf

der anderen Seite, in der die aperspektivische Gegenwart der Braut sich dem Blick der

Junggesellen per definitionem entzieht, da ihr »kinematisches Erblühen« nur die »Gesamtheit

ihrer strahlenden Vibrationen« sichtbar werden lässt.327

Mit dem Begriff des Werdens, den Deleuze in impliziter Anlehnung an Bergson entwickelt,

geht es ihm »um eine Kategorie von Dingen ganz besonderer Art: um die Ereignisse, die

reinen Ereignisse«.328 Ein Ereignis aber ist Deleuze zufolge notwendig topologisch und

namentlich als »Singularität« zu denken, oder vielmehr noch als »Gesamtheit von

Singularitäten«, die »eine mathematische Kurve auszeichnen, einen physischen Dingzustand,

eine psychologische und moralische Person«:

Es [das Ereignis] besteht aus Punkten der Wiederkehr, der Inflexion usw.; aus Verengungen, Knoten, Mittelpunkten, Zentren; aus Verschmelzungs-, Verdichtungs-, Siedepunkten usw.; Punkten der Tränen und der Freude, der Krankheit und der Gesundheit, Hoffnung und Angst, sinnlich genannten Punkten. [...]. Die Singularität gehört zu einer anderen Dimension als jenen der Bezeichnung, der Manifestation oder der Bedeutung. [...] Sie ist dem Individuellen und dem Kollektiven, dem Persönlichen und dem Unpersönlichen, dem Besonderen und dem Allgemeinen – wie auch ihren Gegensätzen gegenüber vollkommen indifferent. Sie ist neutral. Andererseits ist sie nicht ›gewöhnlich‹: Der singuläre Punkt widersetzt sich dem Gewöhnlichen. [...] Der Modus des Ereignisses ist das Problematische.329

In der Theorie des reinen Ereignisses, die im Mittelpunkt von Logik des Sinns steht und die

Deleuze im Modus des Problematischen verwirklicht sieht, zeichnet sich bereits jene

entscheidende Wendung ab, die er in einem nächsten – radikalen – Schritt vollzieht, indem er

sich im Zuge seiner Zusammenarbeit mit dem Psychiater und Psychoanalytiker Félix Guattari

dem Bereich des »Nicht-Philosophische[n]« zuwendet, der, so Deleuze/Guattari in Was ist

Philosophie? (1991), »vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie [ist] als die Philosophie

selbst«.330 Ausgangspunkt der vieljährigen und intensiven Zusammenarbeit war die Pariser

Studentenrevolte vom Mai 1968 und die Bestürzung beider Autoren über deren Scheitern, das

327 Vgl. oben, Kap. 2.1.3. Duchamps künstlerische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Werdens findet ihren ersten konkreten Ausdruck im Gemälde Übergang von der Jungfrau zur Braut von 1912, vgl. oben, Kap. 1.3.2. 328 Deleuze: Logik des Sinns, S. 15. Bergson wird in Logik des Sinns nur an wenigen Stellen explizit zitiert, so z.B. im Zusammenhang mit dem »Sinn«, der »immer vorausgesetzt« sei, »sobald ich zu reden beginne«, und in den man sich mit Bergson gesprochen »auf Anhieb« niederlasse (ebd., S. 48), oder im Zusammenhang mit dem »Übergang vom Geräusch zur Stimme«, wie wir ihn ihm Traum erleben (ebd., S. 240–241). Gleichwohl finden sich Anklänge an Bergson – ebenso wie an Duchamp – durch das gesamte Werk hindurch. 329 Ebd., S. 76/78. 330 Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 49.

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sie zur Überlegung veranlasste, dass sich in dem Ereignis »etwas von der Ordnung des

Wunsches im Maßstab der gesamten Gesellschaft gezeigt hat, was dann unterdrückt, liquidiert

worden ist«, und zwar – was bezeichnend ist – »sowohl von den Kräften der Macht wie von

den sogenannten Arbeiterparteien und -gewerkschaften und, bis zu einem gewissen Grad, von

den linksradikalen Organisationen selbst«.331

Ausgehend von dieser Überlegung entwickeln Deleuze/Guattari in ihrem groß angelegten

Projekt Kapitalismus und Schizophrenie mit Band 1 Anti-Ödipus (1972) und Band 2 Tausend

Plateaus (1980)332 als Gegenentwurf zur Psychoanalyse Freuds und Lacans das theoretische

Instrument der »Schizo-Analyse«, das auf der Idee basiert, im Gegensatz zur Fixierung auf

den Ödipus-Komplex »das umfassende Spiel der Wunschmaschinen und der Repression des

Wunsches bloßzulegen«333 und die »Natur nicht als Natur, sondern als Produktionsprozeß« zu

begreifen, in dem Kategorien wie »Ich und Nicht-Ich, Innen und Außen [...] nichts mehr

besagen«334:

Denn in Wahrheit – die im Delirium aufbrechende dunkle Wahrheit – gibt es gar keine wechselseitig unabhängigen Sphären: die Produktion [das Geschäft der Wunschmaschinen] ist unmittelbar Konsumtion und Aufzeichnung (enregistrement); Aufzeichnung und Konsumtion bestimmen direkt die Produktion, allerdings innerhalb dieser selbst. Demnach ist alles Produktion: Produktionen von Produktionen, von Aktionen und Erregungen, Produktionen von Aufzeichnungen, von Distributionen und Zuweisungen, Produktionen von Konsumtionen, von Wollust, Ängsten und Schmerzen. [...] Unaufhörlich bewirkt der Wunsch die Verkopplung der stetigen Ströme mit den wesentlich fragmentarischen und fragmentierten Partialobjekten. Der Wunsch läßt fließen, fließt und trennt. [...] Die Wunschmaschinen erschaffen uns einen Organismus, doch innerhalb dieser seiner Produktion leidet der Körper darunter, auf solche Weise organisiert zu werden, keine andere oder überhaupt eine Organisation zu besitzen. [...] Zwischen den Wunschmaschinen [dem Begehren] und dem organlosen Körper [dem Unproduktiven, Ungezeugten] zeichnet sich ein erkennbarer Konflikt ab. Dem organlosen Körper ist jede Maschinenverbindung, jede Maschinenproduktion, jeglicher Maschinenlärm unerträglich geworden. [...] Den Organmaschinen setzt der organlose Körper seine glatte, straffe und opake Oberfläche entgegen, den verbundenen, vereinigten und wieder abgeschnittenen Strömen sein undifferenziertes, amorphes Fließen [die Repression].335

331 Gilles Deleuze, Félix Guattari: »Deleuze und Guattari erklären sich ...« (1972), in: Deleuze: Die einsame Insel, S. 315–334, S. 315–316. 332 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (1972), aus dem Franz. v. Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997; dies.: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. 333 Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, S. 496. Zum Konzept der »Schizo-Analyse«, vgl. allgemeiner ebd., Kap. IV: »Einführung in die Schizo-Analyse«, S. 353–496. 334 Ebd., S. 8. 335 Ebd., S. 9–11/14–15.

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Ausgehend vom »Gegensatz zwischen Wunschmaschinen und organlosem Körper«, vom

»Gegensatz zwischen Abstoßung und Anziehung« zielen Deleuze/Guattari mit ihrem Projekt

Kapitalismus und Schizophrenie nun auf eine »wirksame Versöhnung« der beiden Prinzipien

ab, auf eine »neue Verbindung zwischen Wunschmaschinen und organlosem Körper zum

Zwecke einer neuen Menschheit oder eines glorreichen Organismus«, die »nur auf der Ebene

einer neuen Maschine« erfolgen könne, »die in Form einer »Rückkehr des Verdrängten«

funktioniert« und die sie im Prinzip der »zölibatären Maschinen«, der »Maschinen der

Phantasie« exemplarisch verwirklicht sehen.336 Der Begriff der »zölibatären Maschinen« oder

»Junggesellenmaschinen« (machines célibataires), den Deleuze/Guattari Michel Carrouges

entlehnen,337 geht dabei natürlich auf keinen anderen als Duchamp zurück, dessen Großes

Glas sie neben einer Reihe weiterer Beispiele als derartige zölibatäre Maschine

charakterisieren: »Alles: ihr Räderwerk, ihr Fahrgestell, ihre Scheren, Nadeln, Geliebten und

Strahlen unterscheiden sie von einer paranoischen Maschine. Noch in den Qualen, die sie

zufügt, dem Tod, den sie bringt, offenbart sie etwas Neues, eine Kraft gleich der Sonne.«338

Nach Deleuze/Guattari ist eine zölibatäre Maschine wesentlich eine Maschine, die »ein

Gefühl heftigen Übergangs« erzeugt, »Zustände reiner und von jeglicher Formbestimmung

entblößter Intensität«, die ein noch »stärkeres ›Ich fühle‹« voraussetzen, ein »›ich fühle, daß

ich Frau werde‹, ›daß ich Gott werde‹ usw.«,339 indem sie gleichzeitig den »beiden

vorgängigen Kräften, Abstoßung und Anziehung, und deren Gegensatz« entspringen: »Nichts

ist dabei repräsentativ, alles ist Leben und gelebt: wie eine prädestinierte Zone im Ei nicht

dem Organ gleicht, das darin induziert wird, so gleicht auch eine gelebte Empfindung von

Brüsten nicht diesen selbst«, so Deleuze/Guattari: »Nichts als Intensitätsstreifen, Potentiale,

Schwellen, Gradienten. Eine Erfahrung, die erregt und aufwühlt, die den Schizo in größte

Nähe zur Materie, deren heftigem und lebendem Zentrum trägt [...].«340

Die philosophische Praxis, die Deleuze/Guattari parallel zum Konzept der Schizo-Analyse

entwickeln und die in Tausend Plateaus ihren eindrücklichsten Niederschlag gefunden hat,

versteht sich dementsprechend als Versuch einer »Anti-Genealogie«341 nach dem

topologischen Modell des »Rhizoms«342, das auf einer »Logik des UND« basiert und das

»weder Anfang noch Ende« hat, da es »immer in der Mitte« ist, »zwischen den Dingen«, an 336 Ebd., S. 24–25. 337 Carrouges: Les Machines célibataires; vgl. auch Jean Clair, Harald Szeemann (Hg.): Junggesellenmaschinen / Les Machines Célibataires, Ausstellungskatalog, Venedig: Alfieri 1975. 338 Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus, S. 26. 339 Ebd. 340 Ebd., S. 27 (Herv. d. Verf.). 341 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 21. 342 Vgl. ebd., Kap. I: »Einleitung: Rhizom«, S. 11–42. Die Einführung wurde bereits früher publiziert, vgl. dies.: Rhizome. Introduction, Paris: Éditions de Minuit 1976.

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dem »Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden« und der »keine lokalisierbare Beziehung«

bezeichnet, »sondern eine Pendelbewegung, eine transversale Bewegung, die in die eine und

die andere Richtung geht, ein Strom ohne Anfang und Ende, der seine beiden Ufer unterspült

und in der Mitte immer schneller fließt«.343 Als »ungefähre Merkmale des Rhizoms«, das »die

unterschiedlichsten Formen annehmen« kann, nennen Deleuze/Guattari die Prinzipien »der

Konnexion und der Heterogenität«, »der Mannigfaltigkeit«, »des asignifikanten Bruchs«, »der

Kartographie und des Abziehbildes«,344 mit denen es »weder auf das Eine noch auf das

Mannigfaltige« zurückzuführen ist:

Im Gegensatz zu einer Struktur, die durch eine Menge von Punkten und Positionen definiert wird, sowie durch binäre Beziehungen zwischen diesen Punkten und durch bi-univoke Verhältnisse zwischen den Positionen, besteht das Rhizom nur aus Linien: aus Dimensionen der Segmentierungs- und Stratifizierungslinien, aber auch der Flucht- und Deterritorialisierungslinie, einer äußersten Dimension, in der die Mannigfaltigkeit, der Fluchtlinie folgend, sich völlig verwandelt und dabei ihre Beschaffenheit verändert. [...] Im Gegensatz zum Baum ist das Rhizom kein Gegenstand der Reproduktion [...]. Im Gegensatz zur Graphik, Zeichnung oder Photographie, und im Gegensatz zur Kopie bezieht sich das Rhizom auf eine Karte, die produziert und konstruiert werden muß, die man immer zerlegen, verbinden, umkehren und modifizieren kann, die viele Fluchtlinien, Ein- und Ausgänge hat. [...] Im Rhizom geht es um eine Beziehung zur Sexualität, aber auch zum Animalischen und Pflanzlichen, zur Welt, zur Politik, zum Buch, zu natürlichen und künstlichen Dingen, die sich völlig von der baumartigen Beziehung unterscheidet: um alle möglichen Arten des ›Werdens‹. [...] Es gibt keine Dreiteilung mehr zwischen einem Bereich der Realität (der Welt), einem Bereich der Darstellung (dem Buch) und einem Bereich der Subjektivität (dem Autor).345

Als »Karte, die produziert und konstruiert werden muß, die man immer zerlegen, verbinden,

umkehren und modifizieren kann, die viele Fluchtlinien, Ein- und Ausgänge hat« definiert

sich das Rhizom in Analogie zum Großen Glas, in dem der vierdimensionale Körper der

Braut nichts anderes als jene »äußerste Dimension«, das heißt, jene »Singularität« darstellt,

»in der die Mannigfaltigkeit, der Fluchtlinie folgend, sich völlig verwandelt und dabei ihre

Beschaffenheit verändert«, um »alle möglichen Arten des ›Werdens‹« zum Vorschein zu

bringen. Auch im Großen Glas gibt es folglich – um Deleuze/Guattari mit Bergson

weiterzudenken – »keine Dreiteilung mehr« zwischen einem Bereich der reinen

Wahrnehmung (der Domäne der Braut), einem Bereich der reinen Erscheinung (dem

Horizont) und einem Bereich der reinen Erinnerung (der Domäne der Junggesellen).346 So

geht es auch im Großen Glas um jene »ganz besonderen Arten des Tier-Werdens«, die der 343 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 41–42. 344 Vgl. die entsprechenden Abschnitte, ebd., S. 16–27. 345 Ebd., S. 36/38 (Herv. d. Verf.). 346 Zu Bergsons Bildbegriff, vgl. oben, Kap. 2.1.2.

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»Strukturalismus«, wie Deleuze/Guattari in ihren »Erinnerungen eines Bergsonianers«347

hervorheben, »nicht berücksichtigt, da er gerade geschaffen wurde, um ihre Existenz zu

leugnen oder zumindest herabzuwürdigen«.348 Diese »Arten des Tier-Werdens, die den

Menschen durchdringen und mitreißen«, sind Deleuze/Guattari zufolge »weder Träume noch

Phantasmen«, sondern »durch und durch real« im Sinne eines Werdens, das nicht darin

besteht, »ein Tier zu spielen oder nachzuahmen«, da es »nichts als sich selber«, nichts als

jenen »Block des Werdens« produziert, der keinen Anfang und kein Ende hat: »Das Werden

kann und muß als ein Tier-Werden bestimmt werden, ohne einen Endzustand zu haben, der

das gewordene Tier wäre. Das Tier-Werden des Menschen ist real, ohne daß das Tier, zu dem

er wird, real ist [...].«349 Analog dazu ist auch das Gottesanbeterin-Werden, das Wespe-

Werden der Braut350 real, ohne dass die Gottesanbeterin, die Wespe, zu der sie wird, real ist.

Schließlich ist das Werden als solches Deleuze/Guattari zufolge »keine Evolution durch

Herkunft und Abstammung«, sondern vielmehr eine Form der »Involution«, sprich, eine Form

der Verwicklung und Involvierung, die durch »Bündnisse« respektive »Symbiosen« zwischen

»Heterogenen« zustande kommt, die insofern einen »Block des Werdens« bilden, als sie

wesentlich »kommunikativ oder ansteckend«, in einem Wort, »schöpferisch« sind – wie etwa

jener »Block des Werdens, der die Wespe und die Orchidee umfaßt, aus dem aber keine

Wespen-Orchidee hervorgehen kann«.351 Wenn Deleuze/Guattari das Werden als »involutiv«

und die Involution als »schöpferisch« charakterisieren, so geht es ihnen darum, »das Tier«

(die Wespe, die Braut) »nicht mehr durch (Art-, Gattungs- etc.) Eigenschaften« zu definieren,

»sondern durch Populationen, die vom [sic] einer Umwelt zur nächsten oder in ein und

derselben Umwelt variabel sind« (wie die Notizen und Werkminiaturen in Duchamps

Schachteln): »die Bewegung kommt nicht mehr ausschließlich oder hauptsächlich durch eine

Produktion von Filiationen [eine Logik der Deduktion] zustande, sondern durch transversale

Kommunikationsformen zwischen heterogenen Populationen.«352 Eine »Linie des Werdens«

347 Vgl. den gleichnamigen Abschnitt in Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 323–326. 348 Ebd., S. 323–324. 349 Ebd., S. 323–325. 350 Vgl. oben, Kap. 1.3.2. 351 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 325. Zur Symbiose zwischen Wespe und Orchidee, vgl. ebd., S. 20: »Die Orchidee deterritorialisiert sich, indem sie ein Bild formt, das Abbild einer Wespe; aber die Wespe reterritorialisiert sich auf diesem Bild. Die Wespe dagegen deterritorialisiert sich, indem sie selber zu einem Teil des Fortpflanzungsapparates der Orchidee wir; aber sie reterritorialisiert die Orchidee, weil sie deren Pollen transportiert. Wespe und Orchidee bilden ein Rhizom, insofern sie heterogen sind. Man könnte sagen, daß die Orchidee die Wespe imitiert, deren Bild sie auf signifikante Weise reproduziert (Mimesis, Mimikry, Köder etc.). Aber das trifft nur auf der Ebene der Schichten zu [...]; es geht um wirkliches Werden, Wespe-Werden der Orchidee, Orchidee-Werden der Wespe, und jedes Werden sichert die Deterritorialisierung des einen und die Reterritorialisierung des anderen Terms, das eine und das andere Werden verbinden sich miteinander und wechseln sich in einem Kreislauf von Intensitäten ab, der die Deterritorialisierung immer weiter vorantreibt.« 352 Ebd., S. 325–326.

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wird Deleuze/Guattari zufolge also »weder durch Punkte definiert, die sie miteinander

verbindet, noch durch Punkte, aus denen sie zusammengesetzt ist«, geht sie doch im

Gegenteil »zwischen den Punkten hindurch«, »vertikal zu den Punkten, die man zuvor

unterschieden hat, transversal zur lokalisierbaren Beziehung zwischen angrenzenden oder

entfernten Punkten«.353 Damit ist das »Werden« nach Deleuze/Guattari nichts anderes als »die

Bewegung, durch die die Linie sich vom Punkt befreit und die Punkte ununterscheidbar

macht«:

Ein Punkt ist immer ein Ursprungspunkt. Aber eine Linie des Werdens hat weder Anfang noch Ende, weder Ausgangspunkt noch Ziel, weder Ursprung noch Bestimmung. [...] Ein Werden ist immer in der Mitte, man kann es nur in der Mitte erfassen. Ein Werden ist weder eins noch zwei, noch die Beziehung zwischen beiden, sondern es ist dazwischen, die Grenze oder Fluchtlinie, die Fallinie* [sic], die vertikal zu beiden verläuft. Das Werden ist ein Block (Linien-Block), weil es eine Zone der Nachbarschaft und Ununterscheidbarkeit bildet, ein Niemandsland, eine nicht lokalisierbare Beziehung, die die beiden entfernten oder angrenzenden Punkte mitreißt und den einen in die Nachbarschaft des anderen trägt [...]. Die Linie oder der Block schafft keine Verbindung zwischen Wespe und Orchidee, und ebensowenig vereint oder vermischt sie beide: sie geht zwischen den beiden hindurch und nimmt sie mit in eine gemeinsame Nachbarschaft, in der die Unterscheidbarkeit der Punkte verschwindet. Das Linien- (oder Block-) System des Werdens steht im Gegensatz zum Punkt-System des Gedächtnisses.354

Als zentrale »Grenze oder Fluchtlinie« schafft auch das Horizont-Scharnier im Großen Glas

(das »Kleid der Braut«, auf dem der dreibeinige »Schwerpunktjongleur« seinen Tanz

aufführt) keine »Verbindung« zwischen Braut und Junggesellen, ebenso wenig wie es beide

»vereint oder vermischt« – bildet es doch vielmehr eine »Zone der Nachbarschaft und

Ununterscheidbarkeit«, die »die beiden entfernten oder angrenzenden Punkte mitreißt und den

einen [die Wirklichkeit] in die Nachbarschaft des anderen [des Betrachters] trägt«.

Indem Deleuze/Guattari das Linien-System des Werdens im Gegensatz zum Punkt-System

des Gedächtnisses definieren und dabei hervorheben, dass sich die »Linie des Werdens [...]

weder durch Punkte definiert, die sie miteinander verbindet, noch durch Punkte, aus denen sie

zusammengesetzt ist«, führen sie ihren Begriff des Werdens unmittelbar auf jenen Begriff der

Dauer zurück, der Bergson zufolge greifbar wird, »wenn unser Ich sich dem Leben überläßt,

wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden

353 Ebd., S. 399. 354 Ebd., S. 399–400 (Herv. d. Verf.). *Die Falllinie einer geografischen oder mathematischen Fläche ist jene Linie, die der Richtung des größten Gefälles folgt und damit orthogonal zu den Höhenlinien steht, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Falllinie (aufgerufen am 28.12.2015).

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Zuständen eine Scheidung zu vollziehen«.355 Bergson wendet sich mit seinem Konzept der

Dauer namentlich gegen jenen Begriff der Bewegung, der die Bewegung im Raum verortet

und sie mit dem durchlaufenen Raum gleichsetzt, könne man sich bei genauerem Hinsehen

doch davon überzeugen, »daß die sukzessiven Lagen, die das Bewegte einnimmt, allerdings

Raum beanspruchen, daß aber die Operation, durch die es von einer Lage in die andere

gelangt, eine Operation, die Dauer in Anspruch nimmt und nur für einen bewußten

Beobachter Wirklichkeit besitzt, sich dem Raum entzieht«: »Wir haben es hier [bei der

Bewegung] mit keiner Sache [chose], sondern mit einem Fortschritt [progrès] zu tun: die

Bewegung, insofern sie als Übergang von einem Punkt zum anderen angesehen wird, ist eine

geistige Synthese, ein psychischer Prozeß und folglich unausgedehnt.«356

Dies ist nun auch der Punkt, an dem Deleuze mit seinen Schriften zum Kino357 einhakt, in

denen er ausgehend von vier Bergson-Kommentaren eine Kritik des semiotischen

Filmverständnisses entwickelt und das Kino im Gegenzug als philosophische Praxis begreift,

die im Sinne einer spezifischen »Logik des Films« dazu Anlass gebe, »Typen von Bildern

und die entsprechenden Zeichen zu klassifizieren, wie man Tiere klassifiziert«.358 In dem

Kapitel »Thesen zur Bewegung. Erster Bergson Kommentar«, mit dem Deleuze den Band

Das Bewegungs-Bild. Kino 1 von 1983 eröffnet und in dem er die zentralen Begriffe seiner

Filmtheorie definiert,359 hebt Deleuze dementsprechend hervor, dass Bergson nicht nur eine,

sondern drei Thesen zur Bewegung vorgelegt habe, deren erste »derart berühmt« sei, »daß sie

die beiden anderen nahezu verdeckt«, obschon sie genau genommen »nur zur Einführung in

die beiden anderen« diene.360 Fassen wir die drei Thesen Bergsons, auf deren Basis Deleuze

seine Theorie des Kinos entwickeln wird, mit Deleuze zusammen: Nach der ersten These (sie

wurde bereits eingeführt) »geht die Bewegung mit dem Raum, den sie durchläuft, keine

Verbindung ein«, da sie sich »nicht mit Punkten in Raum oder Zeit, d.h. mit unbeweglichen

355 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 77. Im Gegensatz zum Ich, das sich dem Leben überlässt und nicht zwischen vorher und nachher unterscheidet, ist das denkende und fühlende Ich Bergson zufolge weniger in der Dauer als vielmehr im Raum zu verorten: »Ein Gefühl, eine Vorstellung schließt eine unbegrenzte Pluralität von Bewußtseinstatsachen in sich ein; diese Pluralität wird aber nur vermittelst einer Art von Entfaltung in jenes homogene Medium [Zeit] zur Erscheinung gelangen, das einige Dauer nennen, das aber in Wirklichkeit Raum ist. [...] Sobald man sich von einem Bewußtseinszustand Rechenschaft zu geben und ihn zu analysieren sucht, wird sich dieser im eminenten Sinne persönliche Zustand in unpersönliche Elemente auflösen, die einander äußerlich sind und von denen jedes einzelne eine Gattungsvorstellung erweckt und durch ein Wort ausgedrückt wird. Wenn aber unsre Vernunft, ausgestattet mit der Raumvorstellung und der Fähigkeit, Symbole zu erzeugen, diese vielfachen Elemente dem Ganzen entnimmt, so folgt daraus noch nicht, daß sie auch darin enthalten gewesen wären[.] Denn im Schoß des Ganzen nahmen sie keinen Raum ein und verlangten sie nicht nach Ausdruck in Symbolen; sie durchdrangen sich gegenseitig und verschmolzen ineinander.« Ebd., S. 123. 356 Ebd., S. 84–85. 357 Deleuze: Das Bewegungs-Bild (1983); ders.: Das Zeit-Bild (1985). 358 Gilles Deleuze: »Über Das Bewegungs-Bild« (1983), in: ders.: Unterhandlungen, S. 70–85, S. 70–71. 359 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, Kap. I: »Thesen zur Bewegung. Erster Bergson-Kommentar«, S. 13–26. 360 Ebd., S. 13.

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»Schnitten«« rekonstruieren lässt, sondern sich »immer in dem Intervall zwischen ihnen«,

immer »hinter unserem Rücken« ergeben wird.361 Es ist dies die These, die Bergson in

Schöpferische Entwicklung in der berühmt gewordenen Formel »kinematographische

Illusion« zusammengefasst habe und die im Wesentlichen besage, dass der Film, da er »mit

unbeweglichen Schnitten die Bewegung rekonstruiert«, nicht anders vorgehe »als das älteste

Denken (die Zenonischen Paradoxien) oder die natürliche Wahrnehmung«.362 Dabei sei nicht

nur bemerkenswert, dass Bergson »einen derart modernen, gerade entstandenen Ausdruck

(»kinematographisch«) für diese uralte Illusion wählt«, sondern auch erstaunlich, dass

Bergson neben der Existenz von »unbeweglichen Schnitten« (das heißt von einzelnen

»Zeitpunkten« oder »Momentaufnahmen«, anhand derer Bewegung rekonstruiert wird) auch

»die Existenz von beweglichen Schnitten« (das heißt von »Durchschnittsbildern« oder

»Bewegungsbildern«, die die Bewegung unmittelbar wiedergeben) »einwandfrei entdeckt

hatte«, und zwar noch ehe man von der »offiziellen Erfindung des Films« sprechen konnte,

»nämlich in Matière et mémoire im Jahre 1896«.363 Damit sei Bergsons erste These zur

Bewegung (deren Grundlagen er, wie ich hinzufügen möchte, bereits in seinem Essai von

1889 formuliert hatte) »weitaus komplexer [...], als es zunächst schien«, impliziere sie doch

nicht nur eine Kritik am Prinzip des Kinematografischen (und konkret an der

chronofotografischen Analyse von Bewegung), insofern sie mit den »beweglichen Schnitten«

oder »Zeiteinstellungen« gleichzeitig »wie eine Prophezeiung die Zukunft oder das Wesen

des Films« vorweggenommen habe.364

Nun habe Bergson in Schöpferische Entwicklung aber auch eine zweite These zur Bewegung

vorgelegt, die auf der neuzeitlichen Idee basiere, die »Zeit als unabhängige Variable zu

fassen« und die Bewegung folglich »nicht mehr auf herausgehobene Momente [statische

Formen, Ideen oder Posen], sondern auf jeden beliebigen Moment zu beziehen«, wie in der

neuzeitlichen Astronomie, Physik, Geometrie oder Infinitesimalrechnung, die allesamt eine

361 Ebd. 362 Ebd., S. 14. Zu Bergsons Begriff des Kinematografischen, vgl. oben, Kap. 1.2.3. 363 Ebd.S. 14–15. Deleuze bezieht sich mit seinem Argument vor allem auf das erste Kapitel von Materie und Gedächtnis, das von der »Auswahl der Bilder« handelt und wo Bergson u.a. schreibt: »So kurz man die Wahrnehmung auch ansetzen mag, so erfüllt sie doch immer eine gewisse Zeit und bedarf folglich einer Anstrengung des Gedächtnisses, durch welche die einzelnen Momente ineinandergedehnt und verschmolzen werden. Selbst die ›Subjektivität‹ der Empfindungsqualitäten besteht, wie wir zu zeigen versuchen wollen, hauptsächlich in dieser Kontraktion des Wirklichen, die unser Gedächtnis leistet. [...] Aktuell ist unsere Wahrnehmung, weil sie aktiv ist, weil sie Bewegungen zur Folge hat, und nicht weil sie intensiver ist als die Erinnerung: die Vergangenheit ist nur Vorstellung, die Gegenwart ist bewegende Vorstellung. [...] Denn so flüchtig wir unsere reine Wahrnehmung auch ansetzen, sie nimmt doch eine gewisse konkrete Dauer ein, so daß unsere aufeinanderfolgenden momentanen Wahrnehmungen niemals wirkliche Momente der Dinge sind, wie wir bisher angenommen haben, sondern vielmehr Momente unseres Bewußtseins.« Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 18–19/56–57 (Herv. d. Verf.). 364 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 16.

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»sinnlich anschauliche Analyse der Bewegung vorzunehmen« suchten, dabei allerdings keine

»dialektische Ordnung von Stellungen« mehr voraussetzten, sondern nur eine »mechanische

Abfolge beliebiger Elemente«.365 Deleuze zufolge ist der Film nun »der jüngste Abkömmling

dieser von Bergson freigelegten Linie«, insofern er »die Bewegung als Funktion eines

beliebigen Moments reproduziert« und damit »nicht allein das Photo, sondern die

Momentaufnahme« als solche ins Zentrum des Interesses rückt, wobei »der beliebige Moment

regulär oder singulär, gewöhnlich oder auffallend« sein kann, wie Sergej Eisenstein anhand

seiner »immanenten Analyse der Bewegung« gezeigt habe366:

Die Augenblicke haben mit Posen nichts mehr zu tun, ja, sie wären als Posen schlechterdings nicht möglich. [...] Diese Produktion von Singularitäten (der qualitative Sprung) vollzieht sich nun über die Akkumulation des Gewöhnlichen (quantitativer Prozeß), so daß das Singuläre dem Beliebigen entnommen wird, es selber nur nicht-gewöhnliches oder nicht-reguläres Beliebiges ist. Eisenstein selbst machte deutlich, daß das »Pathetische« das »Organische« voraussetzt* als organisierte Gesamtheit beliebiger Augenblicke, durch das die Einschnitte hindurchgehen müssen.367

Indem Bergson »mit Nachdruck gezeigt« habe, dass »der Film vollständig dieser modernen

Auffassung von Bewegung [als Abfolge beliebiger Momente] zuzurechnen ist«, die eine

»totale Umkehr der Philosophie« nötig mache, habe er auf kein geringeres Ziel hingearbeitet,

als »der neuzeitlichen Wissenschaft die Philosophie zu geben, die ihr entspricht, die ihr fehlt

wie eine Hälfte der anderen«, wobei er wohlgemerkt vernachlässigt habe, »daß auch die

Künste diese Umkehr vollziehen müssen« und dass insbesondere der Film »bei der

Entstehung und Entwicklung dieses neuen Denkens eine wesentliche Rolle zu spielen

habe«.368

365 Ebd., S. 17. Bergson entwickelt diese These bereits in seiner »Einführung in die Metaphysik« von 1903, wo er schreibt: »Die moderne Mathematik ist im Grunde genommen eine Anstrengung, and die Stelle des Fertigen das Werdende zu setzen, die Erzeugung der Größen zu verfolgen, die Bewegung zu ergreifen, und zwar nicht nur von außen und in ihrem fertigen Resultat, sondern von innen in ihrer Tendenz zur Veränderung: kurz, sie ist eine Anschmiegung, die bewegliche Kontinuität in der Zeichnung der Dinge sich zu eigen zu machen. [...] Die moderne Wissenschaft entstand an dem Tage, an dem man die Bewegung als unabhängige Wirklichkeit anerkannte. Sie entstand an dem Tage, an dem Galilei, während er eine Kugel eine schiefe Ebene hinabrollen ließ, den festen Entschluß faßte, diese Bewegung von oben nach unten für sich und an sich selbst zu studieren, statt ihren Grund in den Begriffen des Oben und des Unten zu suchen, durch welche statischen Begriffe Aristoteles zur Genüge die Bewegung glaubte erklärt zu haben.« Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 214/217. 366 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 17–19. 367 Ebd., S. 19. *Deleuze verweist auf Sergej Eisenstein: »L’organique et le pathetique«, in: ders.: La non-indifférente nature, Bd. 1, Paris: Union générale d’éditions 1975, S. 47–100; dt.: »Das Organische und der Pathos in der Komposition des Films Panzerkreuzer Potemkin«, in: ders.: Schriften 2. Panzerkreuzer Potemkin, hg. v. Hans-Joachim Schlegel, München: Hanser Verlag 1973, S. 150–186. 368 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 21.

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Nichtsdestotrotz habe Bergson mit seiner zweiten These »eine andere Sicht des Films«

ermöglicht, die nunmehr aus seiner dritten These zur Bewegung folge, nach der der Film

»nicht mehr eine perfektionierte Apparatur für eine sehr alte Illusion, vielmehr zu

perfektionierendes Werkzeug der neuen Wirklichkeit« sei.369 Entsprechend Bergsons dritter

These, die er ebenfalls in Schöpferische Entwicklung darlege, sei Bewegung namentlich nicht

mehr als Aneinanderreihung von Momenten zu begreifen, sondern als »Ausdruck eines

Wandels in der Dauer oder im Ganzen«.370 Da aber nicht nur »das Zum-Ausdruck-Bringen«,

sondern auch »die Gleichsetzung von Ganzem und Dauer« problematisch sei,371 habe Bergson

die herkömmliche Begrifflichkeit, die er dem uralten »Vergleich des lebenden Organismus

mit einem Ganzen« entlehne, schlussendlich vollkommen umgekehrt:

[...] wenn das Lebewesen ein Ganzes ist, also mit dem Ganzen des Universums verglichen werden kann, dann nicht, weil es ein Mikrokosmos und ebenso geschlossen wäre wie – angeblich – das Ganze, sondern vielmehr, weil es auf eine Welt hin offen ist und weil die Welt, das Universum selber das Offene ist [...]. Wäre das Ganze zu definieren, dann durch die Relation. Denn die Relation ist keine Eigenschaft der Objekte, sondern deren Bestimmungen gegenüber stets äußerlich. So ist sie auch, in ihrer geistigen oder mentalen Existenz, vom Offenen nicht zu trennen. Die Relationen gehören nicht zu den Objekten, sondern zum Ganzen, sofern man es nicht mit einer geschlossenen Gesamtheit von Objekten verwechselt. Durch die Bewegung im Raum kommt es zu jeweils wechselnden Positionen der Objekte eines Ensembles. Durch die Relationen hingegen transformiert sich das Ganze oder verändert seine Qualität. Von der Dauer selber oder von der Zeit können wir sagen: sie ist das Ganze der Relationen. [...] Das Ganze [die Braut] erzeugt sich, bringt sich unaufhörlich in einer anderen Dimension ohne Teile hervor, als das, was das Ensemble [die Leuchtgas-Gusstücke in den Hohlformen der Junggesellen] von einem qualitativen Zustand zum anderen treibt, als das reine unablässige Werden, das durch solche Zustände hindurchgeht. In diesem Sinn ist es geistig oder mental.372

Ausgehend von den drei Ebenen »Ensembles«, »Translationsbewegung« und »Dauer«

respektive »Ganzes«, die sich aus Bergsons drei Thesen zur Bewegung ergeben, sei nun

endlich auch »jene so tiefe These aus dem ersten Kapitel von Matière et mémoire zu

begreifen«,373 die sich (wie Deleuze es in seinen Kino-Büchern vorführt) auf die Logik des

Films übertragen lässt, die sich gleichzeitig aber auch auf die Logik des Großen Glases

übertragen ließe – was an dieser Stelle allerdings zu weit führen würde und daher nur nach

369 Ebd., S. 21–22. 370 Ebd., S. 22. 371 Ebd. 372 Ebd., S. 24–25. Zur Definition von Braut und Junggesellen, vgl. oben, Kap. 2.1.3. 373 Ebd., S. 26.

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dem Prinzip der »blitzschnellen Belichtung« (exposition ultra-rapide)374 umrissen sein soll –

um »jene so tiefe These« Bergsons mit Deleuze (in Klammern die Begriffsbildungen bei

Deleuze/Duchamp) zusammenzufassen: »1. Es gibt nicht nur Momentbilder, das heißt

unbewegte Schnitte der Bewegung« (Momentaufnahmen/Horizont-Scharnier); »2. es gibt

Bewegungs-Bilder, bewegliche Schnitte der Dauer« (Durchschnittsbilder/Junggesellen-

Gussformen); »3. es gibt schließlich Zeit-Bilder, das heißt Bilder der Dauer,

Veränderungsbilder, Relationsbilder, Volumenbilder, jenseits noch der Bewegung ...«

(Verbindungen von aktuellen und virtuellen Bildern/die Braut als schöpferische

Wirklichkeit).375

Deleuzes Auseinandersetzung mit Bergson, die sich von seinen frühen Aufsätzen (»Bergson,

1859–1941« und »Der Begriff der Differenz bei Bergson«, beide 1956) über Le Bergsonisme

(1966), Differenz und Wiederholung (1968) und Logik des Sinns (1969) bis hin zum Anti-

Ödipus (1972), zu den Tausend Plateaus (1980) und zu Das Bewegungs-Bild (1983) und Das

Zeit-Bild (1985) nachverfolgen lässt, führte Deleuze (und mit ihm Guattari) vermittels einer

Etablierung der philosophischen Begriffe der Differenz, des Ereignisses, der Singularität, der

Schizo-Analyse, des Produktionsprozesses, der Anti-Genealogie, des Rhizoms, des

Bewegungs-Bildes, des Zeit-Bildes, etc. hin zu einer zutiefst topologischen Konzeption der

Philosophie,376 die man mit Oliver Marchart als »radikalen Relationismus« bezeichnen

könnte, in dem die »Relata [...] keinen ontologischen Primat gegenüber der Relation

beanspruchen« können, sondern vielmehr »erst durch den relationalen Zusammenhang, aus

374 Vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 43 (Übers. d. Verf. in Anlehnung an die Übers. v. Serge Stauffer in: Duchamp: Die Schriften, S. 37): »Gegeben sei: 1. der Wasserfall, | 2. das Leuchtgas, | wir werden die Bedingungen der momentanen Ruhe (oder allegorischen Erscheinung) einer Aufeinanderfolge (eines Ensembles) unterschiedlicher Tatsachen bestimmen, die sich gegenseitig durch Gesetze zu bedingen scheinen, um das Zeichen der Überlagerung herauszuarbeiten zwischen, einerseits, dieser Ruhe (die aller ungezählten Exzentrizitäten fähig ist) und, andererseits, einer Auswahl von Möglichkeiten, die durch diese Gesetze legitimiert sind und sie zugleich verursachen. | Für momentane Ruhe = den Ausdruck blitzschnell hereinholen [...] (die Bedingungen der) blitzschnellen Belichtung (= allegorischen Erscheinung) mehrerer Zusammenstöße, die sich einer nach dem anderen aneinanderzureihen scheinen [...].« Originalwortlaut: »Étant donnés: 1° la chute d’eau, | 2° le gaz d’éclairage, | nous déterminerons les conditions du Repos instantané (ou apparence allégorique) d’une succession (d’un ensemble) de faits divers semblant se nécessiter l’un l’autre par des lois, pour isoler le signe de la concordance entre, d’une part, ce Repos (capable de toutes les excentricités innombrables) et, d’autre part, un choix de Possibilités légitimées par ces lois et aussi les occasionnant. | Pour repos instantané = faire entrer l’expression extra-rapide […] (les conditions de) l’exposition extra-rapide (= apparence allégorique) de plusieurs collisions semblant se succéder rigoureusement chacune à chacune […].« 375 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 26. 376 Doris Schweitzer verweist in ihrer eingehenden Analyse von Deleuzes Raumbegriff auf den Zusammenhang zwischen Kritik und Raum, der Deleuzes Werk (ebenso wie jenes von Michel Serres) kennzeichne, vgl. Doris Schweitzer: Topologien der Kritik. Kritische Raumkonzeptionen bei Gilles Deleuze und Michel Serres, hg. v. Werner Gephart u. Daniel Witte, Berlin: LIT Verlag 2011.

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dem sie hervorgehen«, eine »Identität« gewinnen.377 Mit Marchart gesprochen liefert

Deleuzes Philosophie damit »ein positives, da operationalisierbares Gegenmodell zu jedem

Objektivismus«, dem der Poststrukturalismus »nur hinzufügen« wird, »dass jede Relation im

Fluss ist und kein Relatum ein für alle Mal fixiert werden kann«.378

3.2.3. Der Bergsonian turn: Bergson und die »Kunst der Immanenz«

In der Folge ihrer Rehabilitierung und Appropriation durch Deleuze hat Bergsons Philosophie

nach einem halben Jahrhundert der weitgehenden Diffamierung und Verdrängung innerhalb

der letzten Jahrzehnte und besonders seit der Jahrtausendwende eine bemerkenswerte

Renaissance erfahren. Auf dieses wiedererwachte Interesse an Bergsons Philosophie, das mit

der Konjunktur poststrukturalistischer und postmoderner Theorien und Praktiken ein breites

Fundament bekommen und sich ausgehend davon auch in einer schier unüberblickbar

gewordenen Reihe historischer und kulturwissenschaftlicher Studien zur Bedeutung und

Wirkungsgeschichte Bergsons niedergeschlagen hat,379 verweist John Mullarkey bereits in

seinem 1999 veröffentlichten Band The New Bergson:

377 Oliver Marchart: Das unmögliche Objekt: Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 52–53. 378 Ebd., S. 53. 379 Von den Monografien, die allein seit 2000 erschienen sind, seien beispielhaft nur die folgenden genannt (Nennung jeweils nach Datum der Ersterscheinung): Philippe Soulez: Bergson politique, Paris: Presses Universitaires de France 2000; Mirjana Vrhunc: Bild und Wirklichkeit. Zur Philosophie Henri Bergsons, München: Wilhelm Fink Verlag 2002; Keith Ansell Pearson: Philosophy and the Adventure of the Virtual: Bergson and the Time of Life, London: Routledge 2002; Frédéric Worms: Bergson dans le siècle, Paris: Presses Universitaires de France 2002; Jean-Luc Nancy: Bergson, Deleuze, la phénoménologie, Paris: Presses Universitaires de France 2004; Marc Rölli (Hg.): Ereignis auf Französisch: Von Bergson bis Deleuze, München: Wilhelm Fink Verlag 2004; Matthias Gillissen: Philosophie des Engagements: Bergson, Husserl, Sartre, Merleau-Ponty, Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber 2008; Kerstin Volland: Zeitspieler: Inszenierungen des Temporalen bei Bergson, Deleuze und Lynch, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009; Michael R. Kelly (Hg.): Bergson and Phenomenology, London: Palgrave Macmillan 2010; The European Legacy: Toward New Paradigms 16, Nr. 7: Bergson and European Modernism Reconsidered (Dezember 2011); Stéphane Madelrieux (Hg.): Bergson et James, cent ans après, Paris: Presses Universitaires de France 2011; Souleymane Bachir Diagne: Bergson postcolonial: L’élan vital dans la pensée de Léopold Sédar Senghor et de Mohamed Iqbal, Paris: Centre national de la recherche scientifique 2011; S. E. Gontarski, Laci Mattison, Paul Ardoin (Hg.): Understanding Bergson, Understanding Modernism, New York: Continuum 2012; Frédéric Worms: Bergson et la politique: de Jaurès à aujourd’hui, Paris: Presses Universitaires de France 2012; Johannes F. M. Schick: Erlebte Wirklichkeit: Zum Verhältnis von Intuition zu Emotion bei Henri Bergson, Berlin/Münster/Zürich/Wien/London: LIT Verlag 2012; Frédéric Worms, Camille Riquier (Hg.): Lire Bergson, Paris: Presses Universitaires de France 2013; Todd Cronan: Against Affective Formalism: Matisse, Bergson, Modernism, Minneapolis: University of Minesota Press 2013; Nadia Kisukidi: Bergson ou l’humanité créatrice, Paris: Centre national de la recherche scientifique 2013; Franz Bockrath: Zeit, Dauer und Veränderung: Zur Kritik reiner Bewegungsvorstellungen, Bielefeld: transcript Verlag 2014; Pierre-Alexandre Fradet: Derrida-Bergson: Sur l’immédiateté, Paris: Éditions Hermann 2014; Brigitte Sitbon (Hg.): Bergson et Freud, Paris: Presses Universitaires de France 2014; Paul-Antoine Miquel: Bergson dans le miroir des sciences, Paris: Éditions Kimé 2014; Delitz: Bergson-Effekte; Mullarkey/de Mille: Bergson and the Art of Immanence; Matthias Vollet, François Arnaud (Hg.): Bergson und die Wissenschaften, Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber 2015; David Kreps: Bergson, Complexity and Creative Emergence, Basingstoke, Hampshire: Palgrave MacMillan 2015; Jimena Cancales: The Physicist and the Philosopher. Einstein, Bergson, and the Debate That Changed

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Increasing interest in Bergsonian philosophy in the 1990s points to the fact that many now believe that the neglect of his work is both unfair to him and irresponsible to philosophy. The rising tide of essays, books, courses and conferences testifies to the new view that there is more to this philosopher than the numerous myths, prejudices and misreadings that have arisen around him since the high-point of his reputation. Without a doubt, the interest in Gilles Deleuze and what might be described as his contemporary implementation of Bergson’s thought is partly responsible for this resurgence.380

Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, einen Überblick zu all den

Autor/innen zu geben, die sich innerhalb der letzten Jahrzehnte mehr oder weniger explizit an

Bergsons Philosophie abgearbeitet und dabei nicht nur eine Vielzahl produktiver Relektüren

und neuer Perspektiven zutage gefördert, sondern zum Teil auch zur Verfestigung bereits

überholter Zuschreibungen beigetragen haben. Die zeithistorische Auseinandersetzung mit

Bergsons Philosophie geht jedenfalls so weit, dass im Rahmen der Konferenz Bergson and his

Postmodern and Immanent Legacies, die Mullarkey, Gavin Parkinson und Charlotte de Mille

2011 am Londoner Courtauld Institute of Art ausrichteten, ein »Bergsonian Turn« ausgerufen

wurde, der sich im Anschluss an Autoren wie Deleuze, Alain Badiou, Michel Henry, François

Laruelle und Michel Serres381 in einem zunehmenden Interesse am Prinzip der Immanenz

widerspiegle und mit dem nicht nur die Philosophie und Kunsttheorie, sondern auch die

Kunstgeschichte herausgefordert sei, ihre »umkreisenden Historien« (circuitous histories) zu

hinterfragen und sich stattdessen den Objekten selbst zuzuwenden.382

Our Understanding of Time, Princeton: Princeton University Press 2015; Giuseppe Bianco: Après Bergson. Portrait de groupe avec philosophe, Paris: Presses Universitaires de France 2015; Jimena Canales: The Physicist & the Philosopher: Einstein, Bergson, and the Debate that Changed our Understanding of Time, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 2015. 380 Mullarkey: »Introduction«, S. 1–2. 381 Auf Serres’ Auseinandersetzung mit Bergsons Philosophie, die, wie Doris Schweitzer gezeigt hat, seit Mitte der 1970er Jahre insbesondere im Zusammenhang mit einer »Topologisierung des Strukturbegriffs« erfolgte, kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit aus Zeitgründen leider nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu Schweitzer: Topologien der Kritik. Zu Serres’ »Topologisierung des Strukturbegriffs« (ebd., S. 232), vgl. im Besonderen Kap. III: »Von den Defiziten des algebraischen Strukturalismus zur topologischen Strukturanalyse« (ebd., S. 283–335), Kap. IV: »Topologien der Kritik« (ebd., S. 337–396) und Kap. V: »Das Kritische des Raums: Topologische Angriffe und Versöhnungen« (ebd., S. 397–447). Über die Bedeutung des für die Moderne charakteristischen »thermodynamischen Paradigmas« für Bergsons Philosophie, vgl. ebd., S. 363ff. Zu Serres’ Begriff der »topologischen ›gefalteten‹ Zeit«, den er in Abgrenzung von Bergson entwickelt, vgl. ebd., S. 421–425 sowie Michel Serres: Aufklärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour (1992), Berlin: Merve Verlag 2008, S. 93 (zit.n. Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 423): »Die klassische Zeit bezieht sich auf die Geometrie – keineswegs auf den Raum, wie Bergson so voreilig sagte, sondern vor allem auf die Metrik. Sobald sie sich dagegen von der Topologie inspirieren lassen, entdecken Sie, dass diese möglicherweise willkürlich erscheinenden Annäherungen oder Entfernungen ihre eigene Notwendigkeit aufweisen. Und ihre eigene Einfachheit [simplicité] im buchstäblichen Sinne des Wortes Falte [pli]: es geht lediglich um den Unterschied zwischen der Topologie – das Taschentuch ist gefaltet, zerknittert, zerrissen – und der Geometrie – dasselbe Taschentuch ist gebügelt, glatt.« 382 Vgl. http://www.thelondongraduateschool.co.uk/blog/bergson-and-his-postmodern-and-immanent-legacies (aufgerufen am 28.12.2015).

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Wenn de Mille und Mullarkey in ihrer Einführung zu dem aus der Konferenz

hervorgegangenen Band Bergson and the Art of Immanence unter Bezugnahme auf Bergsons

Methode der Intuition für eine neue »Ontologie der Kunst« plädieren, um dem »Sein seine

›Wahrnehmung‹ (aisthesis)« zurückzugeben, so zielen sie damit auf einen Kunstbegriff ab,

der das »Sein der Welt nicht in einem transzendenten Bereich« verortet, der »jenseits der

Sinne durch die (außergewöhnliche) Kraft der Intelligenz« freigelegt würde, sondern im

Gegenteil eine »Erweiterung unserer Wahrnehmungsfähigkeiten durch die Mittel der Kunst

oder der Philosophie« voranzutreiben sucht.383 Im Anschluss an Jean-François Lyotard, der

bereits 1979 postulierte, dass die »große Erzählung« in der Kultur der Postmoderne »ihre

Glaubwürdigkeit verloren« habe,384 gilt es damit aber auch »die klassischen Abgrenzungen

der verschiedenen wissenschaftlichen Felder« einer »Arbeit der Infragestellung« zu

unterwerfen: »Disziplinen verschwinden, an den Grenzen der Wissenschaften zeigen sich

Übergriffe, woraus neue Territorien entstehen«, so Lyotard: »Die spekulative Hierarchie der

Erkenntnisse macht einem immanenten, sozusagen ›flachen‹ Netz von Forschungen Platz,

deren jeweilige Grenzen nicht aufhören, sich zu verschieben.«385 Sozusagen sollte sich eine

ernstzunehmende Auseinandersetzung mit Bergsons Philosophie mit de Mille/Mullarkey

gesprochen nicht darauf beschränken, Bergsons Ideen weiterhin auf das zu reduzieren, was

Deleuze aus ihnen gemacht hat, indem er sie, wie de Mille/Mullarkey hervorheben, entgegen

Bergsons empiristischem Ansatz auf eine transzendentale Ebene zurückgeführt hat.386 Wie

Mullarkey 1999 betont, gilt es Bergson vielmehr »als einen zeitgenössischen Philosophen«

wiederzuentdecken und seine Ideen mit Fragen des gegenwärtigen Diskurses

kurzzuschließen387 – ein Anspruch, den wohlgemerkt bereits Deleuze geltend macht, indem er

1988 (im Rückblick auf seine eigene Auseinandersetzung mit Bergson) hervorhebt: »A

383 Charlotte de Mille, John Mullarkey [John ó Maoilearca]: »Introduction: Art’s Philosophy – Bergson and Immanence«, in: Mullarkey/de Mille: Bergson and the Art of Immanence, S. 1–13, S. 1, Originalwortlaut im Textzusammenhang: »The being of the world is not to be found in a transcendent realm discovered beyond the senses through the (exceptional) power of philosophical intellect (nous); reality is only in this world, and is re-discovered immanently by extending our perceptual faculties by means of art or philosophy (understood as a generic art, an art for the generality, for everyone and every faculty).« 384 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, aus dem Franz. v. Otto Pfersmann, Wien: Passagen Verlag 1999, S. 112 (Originaltitel: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris: Éditions de Minuit 1979). 385 Ebd., S. 116–117. 386 Vgl. de Mille/Mullarkey: »Introduction: Art’s Philosophy«, S. 3: »The ideas Deleuze imported from Bergson – multiplicity, the virtual, vitalism, immanence, the ontology of images, the method of problems, the emphases on becoming, creativity and fabulation, the critiques of negativity and possibility, of Kant and Plato, etc. – are most often passed off as Bergsonian without acknowledging both the specificity of Deleuze’s re-rendering (in his work on painting, music, cinema and literature), and thereby also the need to attend to what Bergson did differently with these original concepts. […] More needs to be done, however, especially given Deleuze’s much more transcendentalist approach (pace his critique of Kant) which compares less well with Bergson’s more empiricist stance.« 387 Mullarkey: »Introduction«, S. 12.

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›return to Bergson‹ does not only mean a renewed admiration for a great philosopher but a

renewal or an extension of his project today, in relation to the transformations of life and

society, in parallel with the transformations of science.«388

Die Herausforderung, vor die sich die Kunstgeschichte angesichts eines Bergsonian turn

gestellt sehen könnte, betrifft de Mille/Mullarkey zufolge dabei nicht nur die Frage der

Realisierbarkeit (Zugänglichkeit der Objekte), sondern insbesondere auch Fragen der

Methodologie und des Anspruchs, gehe es doch in erster Linie darum, den Fokus weg vom

»›vollendeten‹ Objekt« und hin zu »kreativen Prozessen als Teil der historischen Aktivität«

zu lenken, mit denen auch Aspekte wie die »Potentialität, Prozessualität und Provisionalität«

von Werken relevant würden.389 Die »Hinwendung« (turn) zu einer »experimentellen,

wahrnehmungsbasierten Kunstauffassung, die mehrere Sinne und das Gedächtnis adressiert«

und die »Eigenständigkeit des Kunst-Objekts« ins Zentrum ihres Interesses stellt, stehe dabei

in unmittelbarem Zusammenhang mit jener »Idee der ›Wendung‹« (turning), die Bergsons

Methode der »Intuition« zugrunde liege, insofern diese auf einer »Zurückweisung der

Gewohnheiten des Denkens« basiere,390 so de Mille/Mullarkey:

To put it in Bergsonian terms, for intuition, images are equal to us; but for (our) intellect, they must be subordinated to their referents, that is, to what we want images to be ›about‹, what we want them to represent – a mere means for our ends. Rather than allow the picture its own immanent being, our thoughts (or representations) must transcend it. Only intuition [as art historical practice and method of critical interpretation*] can reverse this attitude and actually perceive the picture or image as a material part of the Real and so in a new, vital manner: an end without means.391

Wie de Mille/Mullarkey mit Bergson hervorheben, steht eine Kunstgeschichte, die sich als

Praxis »kritischer Interpretation« versteht, sozusagen vor der Herausforderung, das

Kunstwerk nicht länger als »Vorgefertigtes« (tout fait), sondern als »im Werden Begriffenes«

(se faisant) in den Blick zu nehmen und die »Fähigkeit des Sehens« mit jenem »Akt des

Wollens« kurzzuschließen, dessen tendenzielle »Über-Determinierung« es zu hinterfragen

388 Deleuze: »Afterword: A Return to Bergson«, S. 115. 389 De Mille/Mullarkey: »Introduction: Art’s Philosophy«, S. 3–4. 390 Ebd., S. 4–6. Zur »Eigenständigkeit des Kunst-Objekts« (sovereignty of the art object) (ebd., S. 6), vgl. auch Mitchell: What Do Pictures Want? 391 De Mille/Mullarkey: »Introduction: Art’s Philosophy«, S. 6; *vgl. ebd., S. 7 (Herv. d. Verf.): »This collection [Bergson and the Art of Immanence], then, brings Bergsonian immanence and art historical practice together for the first time. […] It situates a trajectory of thinking, interpretation and inspiration that comes out of Bergsonian immanence, both directly through a reassessment of Bergson’s philosophy of history and through artists and thinkers who turned consciously to Bergson […]; and more indirectly through acknowledging the potential of the concept of immanence as a method of critical interpretation.«

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gelte.392 Mit Jae Emerling gesprochen müsste sich »eine kunsthistorische Methodologie, die

wirklich Bergsonianisch ist«, dementsprechend zunächst einmal bewusst machen, dass

Bergsons Werk im Hinblick auf die »Analyse des Verhältnisses von Bildern und Zeit«

buchstäblich als »kreative und transformative ›Kopernikanische Wende‹« zu betrachten ist.393

Wenn Bergson bislang zumeist nur in den Debatten um den historischen Avantgardismus und

im Zusammenhang mit einer Geschichte der Wahrnehmung zurate gezogen wurde, so sei

dies, wie Emerling betont, nicht nur auf die Tatsache zurückzuführen, dass die zeithistorische

»kritische kunsthistorische Praxis« unter dem Einfluss der Frankfurter Schule und des

Poststrukturalismus in eine Art »Zwickmühle« geraten sei, insofern sie ihre zentralen

Bezugspunkte in der Psychoanalyse und im Hegelianismus gefunden habe und sich diesen

gleichzeitig zu entziehen suchte, um die »epistemischen und ästhetischen Effekte des Bildes«

mit dem immer lauter gewordenen Ruf nach einer objektivierbaren »Kunstwissenschaft« erst

recht aus den Augen zu verlieren:

Conversations about mnemonic traces, archival practices, social history, the digital apotheosis, artistic survival, and melancholy as a congenital discursive condition all involve psychoanalytical and Hegelian modes. Simply put, they are renewed attempts to deal with the presupposition that ›art is a thing of the past‹. This discursive condition is only worsened by the persistent desire for Kunstwissenschaft, the desire for art history to be a social science: objective, historicist, transcendent, global. | These current debates over aesthetics and historiography evince that we have become inattentive to the inseparable epistemic and aesthetic effects of the image itself. As art historians work through their disillusionment with the anti-aesthetics of postmodernism and a related anxiety about a rearticulated formalism, Bergson awaits his untimely return.394

Was es bedeuten könnte, den Fokus der Kunstgeschichte und Kunsttheorie wieder vermehrt

auf das Objekt, das Kunstwerk oder den künstlerischen Prozess als solchen zu lenken, wird

besonders deutlich anhand der zentralen These aus Materie und Gedächtnis, in der Deleuze

die wesentliche »Umwälzung« in Bergsons Denken sieht und die er in Le Bergsonisme in der

These zusammenfasst, dass das wahrnehmende Subjekt genau genommen »nicht vom

Gegenwärtigen zum Vergangenen, von der Wahrnehmung zur Erinnerung, sondern vom

392 Ebd., S. 8. De Mille/Mullarkey beziehen sich hier auf eine Passage aus Henri Bergson: Creative Evolution, aus dem Franz. v. Arthur Mitchell, London: Macmillan 1912, S. 250. Im Originalwortlaut, auf die sich die vorliegende Übersetzung bezieht, lautet die Passage: »Pour que notre conscience coïncidât avec quelque chose de son principe, il faudrait qu’elle se détachât du tout fait et s’attachât au se faisant. Il faudrait que, se retournant et se tordant sur elle-même, la faculté de voir ne fît plus qu’un avec l’acte de vouloir.« Bergson: L’Évolution créatrice, S. 238. Die deutsche Übersetzung, die von der hier vorgeschlagenen abweicht, findet sich in Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 246. 393 Emerling: »Afterword: An Art Historical Return to Bergson«, S. 260–261. 394 Ebd., S. 261.

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Vergangenen zum Gegenwärtigen, von der Erinnerung zur Wahrnehmung« übergeht.395 Die

weit verbreitete Idee, dass man als Subjekt ausgehend von einer beliebigen Gegenwart kraft

einer Gedächtnisleistung auf eine Vergangenheit zugreifen könnte, die irgendwo – jedenfalls

außerhalb ihrer selbst – abgespeichert wäre, basiert demnach mit Bergson gesprochen auf

einem fundamentalen Irrtum – ist es doch vielmehr die Erinnerung, die Fähigkeit zur

Abstraktion und Projektion, ein Fundus von Begriffen und Bildern, vor deren Hintergrund die

gegenwärtige Wahrnehmung überhaupt erst an Konturen gewinnt:

Man definiert willkürlich die Gegenwart als das was ist, während sie einfach nur das ist, was geschieht. Nichts ist so wenig wie der gegenwärtige Augenblick, wenn man darunter jene unteilbare Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft versteht. Wenn wir uns diese Gegenwart als sein werdend denken, ist sie noch nicht; und wenn wir sie als seiend denken, ist sie schon vergangen. Wenn man dagegen die konkrete und vom Bewußtsein wirklich erlebte Gegenwart ansieht, kann man sagen, daß diese Gegenwart großenteils in der unmittelbaren Vergangenheit besteht. In dem Bruchteil der Sekunde, welche die kürzeste mögliche Wahrnehmung des Lichtes dauert, haben Billionen von Schwingungen stattgefunden, deren erste von der letzten durch ein unendlich teilbares Intervall getrennt ist. So besteht unsere Wahrnehmung, so momentan sie sein mag, aus einer unzählbaren Menge erinnerter Elemente, und in Wahrheit ist jede Wahrnehmung schon Gedächtnis. Praktisch nehmen wir nur die Vergangenheit wahr, die reine Gegenwart ist das unfaßbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt.396

Sich dem Objekt, dem Kunstwerk als solchem zuzuwenden würde folglich eben nicht

bedeuten, den Fokus allein auf das zu legen, was ist, denn das wäre mit Bergson gesprochen

nichts als die Vergangenheit, die »ganz von selbst, gleichsam automatisch erhalten« bleibt

und die in ihrem »Fortleben« und kontinuierlichen Anschwellen für das Bewusstsein die

»Unmöglichkeit« mit sich bringt, »denselben Zustand zweimal durchzumachen«.397 Vielmehr

würde es bedeuten, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was geschieht und was, wie

Deleuze es ausdrückt, »durch die Beschaffenheit des Gegenwärtigen selbst erbracht« wird,

insofern dieses »unaufhörlich verschwindet, vorwärts strebt und Gräben aufreißt«.398 Es

würde bedeuten, Denk- und Sehgewohnheiten hinter sich zu lassen, sich der Logik der

Deduktion und der Induktion zu widersetzen und das Kunstwerk mit Merleau-Ponty

gesprochen als topologisches »Milieu« zu begreifen, in dem »Beziehungen der

Nachbarschaft, der Einschließung etc.« wirksam sind und das damit nicht nur »konstitutiv für

das Leben«, sondern auch konstitutiv für jenes »wilde Prinzip des Logos« ist, das »dazu führt, 395 Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, S. 84. Vgl. Bergson: Materie und Gedächtnis, Kap. III: »Vom Weiterleben der Bilder. Gedächtnis und Geist«, S. 127–174. 396 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 145. 397 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 52. 398 Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, S. 93.

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die Probleme der klassischen Ontologie zu überwinden (Mechanizismus, Finalismus, in jedem

Falle: Artifizialismus)«.399 »Je tiefer ins Wesen der Zeit wir eindringen«, so Bergsons

folgenreiche These, »desto tiefer begreifen wir, daß Dauer Erfindung, Schöpfung von Formen

bedeutet, ununterbrochenes Hervortreiben von absolut Neuem.«400 Wie Emerling hervorhebt,

sehen wir uns sozusagen erst in Anbetracht der »Tiefe der Dauer« dazu ermächtigt, uns

»jenseits existierender abgetragener Narrative und Methodologien zu bewegen«, »zwischen

Geschichte und Werden zu experimentieren«, »Bildern und Zeichen zu begegnen« und ihrer

»Janusköpfigkeit« Rechnung zu tragen,401 sprich, ihrem historischen Gewordensein und

ihrem schöpferischen Werden. Eine »Rückkehr zu Bergson« als einem Denker, der mit

seinem Konzept der Dauer für die Wirklichkeit der Veränderung und für das Weiterbestehen

der Vergangenheit in der Gegenwart einsteht, könne daher nur im Sinne »einer Revision,

eines Wieder-Sehens (Wahrnehmung) und einer Transformation (Gedächtnis als Dauer)«

erfolgen,402 einer Revision, die sich, wie mit Bergson hinzugefügt sein soll, keineswegs als

»teleologische Deutung« oder »Vorwegnahme der Zukunft« versteht, sondern vielmehr als

»eine Art Sehen der Vergangenheit im Lichte der Gegenwart«, die als »Erzeugerin von

Wirkungen, in denen sie sich weitet und überwächst«, »unzweifelhaft schöpferisch« ist.403

Der vermeintliche Widerspruch, der darin liegt, sich dem Kunstwerk als unmittelbar

Gegebenem zuzuwenden und den Fokus zugleich auf das zu lenken, was im unaufhörlichen

Werden begriffen und damit »unzweifelhaft schöpferisch« ist, löst sich auf, sobald man das

Kunstwerk – wie Egenhofer es im Zusammenhang mit Jasper Johns’ Malerei vorschlägt –

nicht nur »als Objekt, als Vorhandenes« betrachtet, sondern als janusköpfiges »Bild-Objekt«,

das heißt, als »hergestellte[n] Schirm«, der in seiner aktuellen Verfasstheit »nicht von dem

Zeitraum der Handlungen, deren Protokoll er ist, abgelöst werden« kann.404 Denn in seiner

Funktion als Bild-Schirm eignet dem Objekt eine spezifische Form der Präsenz, in der

Vergangenheit und Gegenwart gleichsam ineinander verschränkt erscheinen und in der das

Objekt als solches in den Hintergrund rückt, um die Vergangenheit im Licht der Gegenwart

zum Bild gerinnen zu lassen, wie Egenhofer hervorhebt:

Aus der Perspektive des Bildes ist der Träger [in seiner materiellen, sprich räumlichen und zeitlichen Tiefendimension] selbst kein präsentierbares Ding, kein möglicher

399 Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 269. Vgl. dazu auch oben, Kap. 3.2.1. 400 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 57. 401 Emerling: »Afterword: An Art Historical Return to Bergson«, S. 261–262. 402 Ebd., S. 262. 403 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 91. 404 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 194–195.

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Gegenstand, sondern die Rückseite der Sichtbarkeit selbst oder des Scheins, den es als Bild generiert. Und diese konstitutive Verborgenheit des Trägers, die eines der rätselhaftesten Strukturmomente des Bildes überhaupt ist, zeigt an, dass der Bildträger nichts Vorhandenes im Sinn einer realistischen Ontologie ist und sein kann, sondern das Reale des Bildes, das in dessen Sichtbarkeit ebenso wie der bloßen Positivität des Objekts schon verdrängt, gebändigt, perspektivisch mensuriert worden ist.405

Die »Kunst der Immanenz« liegt so gesehen darin, das Bild-Objekt nicht als in sich

geschlossene Entität, sondern im Gegenteil als kontingenten Effekt einer Vergangenheit zu

begreifen, die mit der Gegenwart in Wechselwirkung steht und in ihrem ununterbrochenen

»Fortschreiten«, wie Bergson nicht müde wird zu betonen, erst jene reale »Dauer« zeitigt, die

»an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt«, indem sie sich »in die Dinge einbeißt

und ihnen das Mal ihrer Zähne zurückläßt«.406 Wenn das »Reale des Bildes« der ›Zahn der

Zeit‹ ist, so ist das »Bild-Objekt« mit Duchamp gesprochen also gleichsam das Positiv zum

Negativ, das Leuchtgas-»Gussstück«, das entsprechend dem Gesetz der Reflexion nur als

raumzeitlich Beschränktes sichtbar werden kann und dessen Grund oder Träger

nichtsdestoweniger unaufhörlichen Transformationen unterliegt.407

3.3. Bildtopologie: Prozessualität, Kontingenz und Transformismus

Wenn sich die Werke Bergsons und Duchamps im beginnenden 21. Jahrhundert nach wie vor

als virulent erweisen, so gerade deshalb, weil sie nicht auf einem selbstgerechten

Innovationsgedanken basieren, sondern vielmehr damit rechnen und darauf zählen, mit einer

kritischen Auseinandersetzung notwendig auch Theorien und Praktiken des Dissens

hervorzurufen. Dementsprechend könnte man sie als das sprichwörtliche Pferd betrachten, das

bestenfalls von hinten, von seiner problematischen Seite her aufzuzäumen ist. Es würde nicht

weit führen, Duchamp beim zu Wort nehmen wenn er behauptet: »Es gibt keine Lösung, weil

es kein Problem gibt.«408 Als produktiv erweist sich vielmehr die Annahme, dass es eine

Vielzahl von Problemen gibt, mit denen sich Duchamp im Zuge seines künstlerischen

Schaffens konfrontiert sah und mit denen er zur Überzeugung gelangte, dass jede Lösung ein

weiteres Problem und mit ihm eine Vielzahl weiterer Lösungen mit sich bringen würde.

Duchamps Oeuvre versteht sich damit im allerengsten Wortsinn als Provisorium, das heißt,

405 Ebd., S. 195. 406 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 52/85. 407 Vgl. oben, Kap. 2.1.3. 408 Zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 30.

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als Synopse von Übergangslösungen und Ausblicken, anhand derer er seine prototypische

Problemfigur – das Motiv der Braut – auf den unterschiedlichsten Ebenen analysierte und auf

eine Vielzahl möglicher Übersetzungen und Transformationen zurückführte, um sie mit der

Devise »Der Betrachter macht das Bild« gleichzeitig als Problemfigur zu bekräftigen und

einer Nachwelt zu überantworten, in der eine Vielzahl weiterer möglicher Übersetzungen und

Transformationen folgen würde. Analog dazu betrachtete Bergson seine Metaphysik der

Dauer als notwendig unabgeschlossenes Projekt, das infolge seines analytischen Charakters

nur darin bestehen konnte, die »immer unvollkommene Übersetzung« der zugrundeliegenden

Intuition durch eine unaufhörliche Variation von Symbolen stets aufs Neue weiter zu

vervollkommnen: »In ihrem ewig unbefriedigt bleibenden Bestreben, den Gegenstand zu

umfassen, um den sie verdammt ist zu kreisen, häuft die Analyse endlos die Gesichtspunkte«

und »geht so ins Unendliche weiter«, so Bergson: »Aber die Intuition, wenn sie möglich ist,

ist ein einfacher unteilbarer Akt.«409

Angesichts der Hoffnungslosigkeit des Versuchs, das Unmittelbare zu vermitteln, bedienen

sich Bergson und Duchamp beide des bemerkenswerten Kunstgriffs, ihre Werke als

wesentlich unvollendet zu definieren, ohne daraus jedoch einen Mangel zu machen – im

Gegenteil. Indem sie die Rezipienten ihres Werks als aktive Mit- und Gegenspieler in den

Werkprozess einbeziehen, verweisen sie auf jenes notwendige Auseinanderklaffen von Werk

und Analyse, durch das sich Werke, wie Lyotard mit seinem Konzept der »Paralogie«

verdeutlicht, überhaupt erst als gewinnbringend und fruchtbar erweisen können.410 Im

Gegensatz zur »Innovation«, die auf einem Prinzip des »Konsens« basiert und die »vom

System bestimmt oder jedenfalls benutzt [wird], um seine Effizienz zu verbessern«, beruht die

»Paralogie« auf einem Prinzip des »Dissens«, das dazu bestimmt ist, »die Ordnung der

›Vernunft‹ zu stören« und »den Zeitpunkt des Konsens auf später« zu verschieben, so

Lyotard: »Man muss eine Macht voraussetzen, die die Erklärungsfähigkeiten destabilisiert

und sich in der Verordnung neuer Normen des Begreifens manifestiert, [...] im Vorschlag

neuer Regeln des wissenschaftlichen Sprachspiels, die ein neues Forschungsfeld

abgrenzen.«411

Ein derartiges Prinzip des »Dissens« kennzeichnet nun aber auch Duchamps Zugang zu

Bergsons Philosophie, die er bezeichnenderweise nur als eine von vielen Quellen der

Inspiration zum Ausgangspunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit der Tradition und

409 Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 184. 410 Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen, Kap. XXIV: »Die Legitimierung durch die Paralogie«, S. 175–193. 411 Ebd., S. 176–177.

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Gegenwart der bildenden Künste nahm. Denn im Gegensatz zu den führenden Vertretern des

Fauvismus, Kubismus und Futurismus, die Bergsons Begriff der Dauer nach einem Prinzip

des »Konsens« und der »Innovation« in eine neue Bildsprache zu übersetzen suchten, stellt

sich das vielschichtige Oeuvre, das Duchamp ausgehend von seinen ersten Studien zum

Topos der Braut entwickelte, tatsächlich als Versuch dar, neue »Normen des Begreifens« zu

entwickeln und ein »neues Forschungsfeld« abzugrenzen. Dabei liegt die Sprengkraft von

Duchamps Einsatz vor allem darin, dass er auf einer gezielten Verschränkung

produktionsästhetischer, werkästhetischer und rezeptionsästhetischer Faktoren beruht. Wenn

diese Verschränkung auf begrifflicher Ebene bereits bei Bergson und namentlich in seinem

Bildbegriff angelegt ist, so bekommt sie bei Duchamp buchstäblich eine raumzeitliche

Tiefendimension. Während Bergson das Bild auf abstrakter Ebene im Zusammenspiel von

Materie und Gedächtnis verortet, wird dieses Zusammenspiel von Duchamp auf radikale

Weise konkretisiert: Bei Duchamp ist das Bild nicht mehr nur Bild und als solches sowohl

erinnert als auch wahrgenommen (Malerei, Skulptur, Fotografie, Film, ...), sondern auch in

seiner Materialität als Medium sichtbar (Ready-mades, Staubzucht, Schachteln,

Assemblagen, Rauminstallationen, ...), indem es sich gleichzeitig erst kraft einer

Gedächtnisleistung aktualisiert (Werkserien, Notizen, Handlungsanweisungen, ...). Damit

öffnet sich eine neue Perspektive auf Bergsons Philosophie, die vor dem Hintergrund von

Duchamps Werk einer erneuten Revision zu unterziehen ist. Denn was Duchamp am Motiv

der Braut und ihrer zahlreichen Erscheinungsformen, Elemente und Pendants vorgeführt hat,

ist nicht nur dass, sondern auch in welcher Form ein relationaler Begriff des Bildes Sinn

ergeben kann. Bei Duchamp erscheint Bergsons Bildbegriff sozusagen weniger

widergespiegelt als vielmehr auseinandergefaltet, ausgebreitet in Raum und Zeit, sichtbar

geworden in seinen 3+1 Dimensionen, in seiner Ausdehnung wie in seiner Flüchtigkeit, in

seiner unauslotbaren Tiefe wie in seiner notwendigen Begrenztheit als Horizont.

3.3.1. Das Modell des dreifaltigen Bildes: Symbolisches, Imaginäres und Reales

Das Schema, mit dem Bergson die »Bewegung des Denkens« veranschaulicht, basiert mit den

drei Kategorien »reine Erinnerung«, »Erinnerungsbild« und »reine Wahrnehmung« auf einem

dreistufigen Modell (Abb. 29),412 das in Analogie zur dreigliedrigen Struktur von Duchamps

Großem Glas auf die Prinzipien der Prozessualität (Domäne der Junggesellen), der

Kontingenz (Kleid der Braut) und des Transformismus (Domäne der Braut) zurückzuführen

412 Vgl. Bergson: Materie und Gedächtnis sowie oben, Kap. 2.1.2.

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und in Anlehnung an Lacans »Schema RSI« (1974/1975) gleichzeitig mit den drei Kategorien

»Symbolisches«, »Imaginäres« und »Reales« in Verbindung zu bringen ist (Abb. 79). Wie in

Lacans Schema RSI und in Duchamps Großem Glas sind die drei Bereiche in Bergsons

Modell nicht voneinander unabhängig, sondern vielmehr als Aspekte eines topologischen

Gefüges zu denken, die wie einem Borromäischen Knoten ineinander verschränkt sind und

sich gegenseitig bedingen, so dass sie eine unauflösliche Einheit bilden.413

BERGSON DUCHAMP LACAN

Intuition (reine Wahrnehmung) Domäne der Braut Reales

Wahrnehmungsbild (Erinnerungsbild) Horizont / Kleid der Braut Imaginäres

Intellekt (reine Erinnerung) Domäne der Junggesellen Symbolisches

Der Aspekt der »reinen Erinnerung« ist so gesehen mit der »Domäne der Junggesellen«

respektive mit dem Bereich des »Symbolischen« gleichzusetzen (Prozessualität), der Aspekt

des »Wahrnehmungsbildes« mit dem zentralen »Horizont« oder »Kleid der Braut« respektive

mit dem Bereich des »Imaginären« (Kontingenz), und der Aspekt der »reinen Wahrnehmung«

mit der »Domäne der Braut« respektive mit dem Bereich des »Realen« (Transformismus). In

seinem instrumentellen Charakter entspricht der »Intellekt« also dem perspektivischen System

der »Junggesellenmaschine« und dem dreigliedrigen Modell von »Signifikat-Signifikant-

Referenz« (Symbolisches). Das »Wahrnehmungsbild« versteht sich als kontingenter

»Horizont« in Analogie zum »Kleid der Braut«, das Duchamp als »Scharnier« definiert und

das wiederum mit jenem »Infra-mince« korrespondiert, vermittels dessen man Duchamp

zufolge »aus der zweiten Dimension in die dritte gelangen kann«,414 während es seine

Entsprechung bei Lacan im Phänomen des »Spiegelstadiums«415 findet (Imaginäres). Und die

»Intuition« ist als Wahrnehmung der Wirklichkeit der Veränderung mit der vierdimensionalen

Braut in Verbindung zu bringen, das heißt mit Lacan gesprochen, mit der »nichtreduzierbaren

und singulären Existenz und Präsenz« dessen, was »weder imaginär noch symbolisierbar« ist

(Reales).416

413 Lacan entwickelte sein »Schema RSI« in seinem Seminar 22 (19. November 1974 bis 13. Mai 1975). Das unveröffentlichte Seminar ist in der Niederschrift von Monique Chollet veröffentlicht in: http://www.ecole-lacanienne.net/fr/p/lacan/m/nouvelles/paris-7/stenotypies-version-non-j-l-seminaire-xxii-i-rsi-i-1974-1975-94 (aufgerufen am 28.12.2015). Lacans Skizzen zum Schema RSI finden sich in: http://www.valas.fr/Jacques-Lacan-RSI-1974-1975,288 (aufgerufen am 28.12.2015). Auf den drei Begriffen »Reales«, »Symbolisches« und »Imaginäres« basierte bereits Lacans »Schema R« (1957/1958), vgl. oben, Kap. 2.1.1. 414 Duchamp 1945 im Interview mit Denis des Rougement, zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 33. 415 Vgl. Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«. 416 Zu den Begriffen Bergsons und Duchamps, vgl. oben, Kap. 2.1.2. und Kap. 2.1.3. Zu Lacans Begrifflichkeit, die er im Zusammenhang seines Seminar 22 »Schema RSI« explizierte, vgl. http://www.ecole-

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Inwiefern die drei Aspekte – Symbolisches, Imaginäres und Reales / Intellekt,

Wahrnehmungsbild und Intuition / Domäne der Junggesellen, Horizont und Domäne der

Braut – als wesentlich ineinander verschränkt zu denken sind, soll bespielhaft anhand der

dreigliedrigen Logik jener »Experimentalsysteme« verdeutlicht werden, die Hans-Jörg

Rheinberger charakterisiert als »Strukturen, die wir uns ausgedacht haben, um Nicht-

Ausdenkbares einzufangen«, das heißt, als »Vorkehrungen zur Erzeugung von

unvorwegnehmbaren Ereignissen« und »Orte der Emergenz«.417 Im Experimentalsystem

scheint zunächst das Prinzip der Prozessualität vorherrschend zu sein – dann nämlich, wenn

von Bildern die Rede ist, die der Intellekt auf der Ebene des Symbolischen entwirft und die er

in seiner Funktion als Handlungsinstrument in konkrete Rahmenbedingungen übersetzt

(Apparatur). In einem weiteren Schritt kommt das Prinzip der Kontingenz zum Tragen – dann

nämlich, wenn von Bildern die Rede ist, die dem Verlauf einer Versuchsreihe entlehnt sind

und die es in ihrer Uneindeutigkeit festzuhalten gilt, ohne voreilige Schlüsse oder

Konsequenzen daraus zu ziehen (Experiment). Schließlich kommt im Kontext des

Experimentalsystems aber auch das Prinzip des Transformismus zum Tragen – dann nämlich,

wenn von Bildern die Rede ist, die nicht nur Erwartungen bestätigen, sondern unter

Umständen auch hinter diesen zurückbleiben oder sie übertreffen, von Bildern, die es

vermittels Intuition als solche anzuerkennen und fruchtbar zu machen gilt (Emergenz).

Wichtig ist dabei, dass das Experimentalsystem seinem Namen als solches nur gerecht wird,

solange es eine unauflösliche Einheit der drei Faktoren bildet und dabei auch keinen von

ihnen über oder unter die anderen stellt: Das Experiment hat seine Grundlage in der

Apparatur, die Emergenz hat ihre Grundlage im Experiment, die Apparatur wiederum hat ihre

Grundlage in dem, was sich bereits früher als Emergenz gezeitigt hat. Bezeichnenderweise

folgt auch Duchamps Großes Glas einer derartigen Logik: Der Horizont bekommt seine

Funktion als »Schirm« und »Scharnier« durch das Begehren der Junggesellen (Betrachter),

die Braut gelangt durch die uneindeutige Struktur des Horizonts zur Erscheinung (Bild), das

Begehren der Junggesellen wiederum wird durch die Emergenz der Braut entfacht

(Wirklichkeit). Übertragen auf Bergsons Bildbegriff bedeutet das: Das Bild entsteht in den

Augen des intentionalen Subjekts (Wahrnehmungsbild), die reine Wahrnehmung ist nur als

lacanienne.net/fr/p/lacan/m/nouvelles/paris-7/stenotypies-version-non-j-l-seminaire-xxii-i-rsi-i-1974-1975-94 (aufgerufen am 28.12.2015) sowie zusammenfassend https://de.wikipedia.org/wiki/Jacques_Lacan#Das_Reale.2C_das_Symbolische_und_das_Imagin.C3.A4re_.28RSI.29 (aufgerufen am 28.12.2015). 417 Rheinberger: »Man weiss nicht genau, was man nicht weiss«.

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eine Art unvorhergesehener Transformation des Wahrnehmungsbildes denkbar (Intuition), die

Intuition wiederum basiert auf einem intentionalen Bewusstsein, das sein eigenes Vorgehen

reflektiert (Intellekt).

Mit Christian Janecke ist damit hervorzuheben, dass eine der wesentlichen Stärken von

Bergsons Philosophie darin liegt, dass sie Bilder »noch weitgehend paritätisch und d. i.

entschieden transitorisch« denkt,418 wie auch Mirjana Vrhunc deutlich macht: »Es [das Bild]

ist nicht nur der Umschlag vom Ereignis zur Form. Es bewahrt in seiner Form das

Ereignishafte der Wirkungs- und Erfassungsprozesse und damit auch die Lebendigkeit

unseres Bewußtseinslebens auf.«419 So verstehen sich auch die vier Kapitel, in die Materie

und Gedächtnis gegliedert ist, als Darstellung jener transitorischen Natur von Bildern, die sich

analog zum Modell der Möbiusschleife versteht, wo innen und außen kontinuierlich

ineinander übergehen. Das erste Kapitel »Von der Auswahl der Bilder bei der Vorstellung« ist

einer Bestimmung der »Funktion des Leibes« als Handlungsinstrument gewidmet (Intellekt);

das zweite Kapitel »Vom Wiedererkennen der Bilder« befasst sich mit dem Zusammenhang

von »Gedächtnis und Gehirn« (Wahrnehmungsbild); das dritte Kapitel »Vom Weiterleben der

Bilder« untersucht das Verhältnis zwischen »Gedächtnis und Geist« (Intuition); und das vierte

Kapitel »Von der Abgrenzung und Fixierung der Bilder« ist schließlich dem Zusammenspiel

von »Wahrnehmung und Materie« gewidmet, das Bergson auf die Fähigkeit zurückführt, »in

einer Art Brechung der reinen Dauer durch den Raum« auf »gewisse Gewohnheiten des

Denkens, ja des Wahrnehmens zu verzichten« und das Bild als Bindeglied zwischen Intellekt

und Intuition zu begreifen.420 Das Fazit, das Bergson zieht, ist nicht nur, dass die »reine

Wahrnehmung [...] an der Materie, wie wir sie verstehen, wirklich teilnimmt«, sondern auch,

dass ein reflektiertes Wesen, das sich kraft seines Gedächtnisses »mehr oder weniger frei

bewegt«, unaufhörlich Bilder generiert und damit »jeden Augenblick etwas Neues« schafft,421

wie Bergson im Schlusssatz von Materie und Gedächtnis zusammenfasst: »Der Geist

entnimmt der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung zieht, und gibt sie ihr

als Bewegung zurück, der er den Stempel seiner Freiheit aufgedrückt hat.«422

418 Vgl. Christian Janecke: »Performance und Bild/Performance als Bild«, in: ders. (Hg.): Performance und Bild/Performance als Bild, Berlin: Philo & Philo Fine Arts 2004, S. 11–113, S. 54. 419 Vrhunc: Bild und Wirklichkeit, S. 165. 420 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 181. Vgl. ebd.: »In diesem Sinne ist die Aufgabe des Philosophen, wie wir sie auffassen, der des Mathematikers sehr ähnlich, der eine Funktion bestimmt, indem er vom Differential ausgeht. Der letzte Schritt der philosophischen Untersuchung ist eine Integration.« 421 Ebd., S. 222. 422 Ebd., S. 250.

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3.3.2. Der dreifaltige Horizont der Kunst: Produktion, Werk und Rezeption

Der relationale Bildbegriff, mit dem Bergson und Duchamp die rigide Grenze zwischen

Philosophie und Kunst von Grund auf in Frage stellen, zählt zu den wesentlichen

Anknüpfungspunkten jenes »postmodernen Wissens«, das mit Lyotard auf die tiefgreifenden

»Transformationen« zurückzuführen ist, »welche die Regeln der Spiele der Wissenschaft, der

Literatur und der Künste seit dem Ende des 19. Jahrhunderts getroffen haben«.423 Waren die

Spielregeln der Wissenschaft, der Literatur und der Künste dem modernen Wissensmodell

zufolge noch als Instrumentarien der Innovation zu begreifen, so haben sie mit den Theorien

und Praktiken der Postmoderne, wie Lyotard hervorhebt, sowohl ihre Kohärenz als auch ihren

Absolutheitsanspruch verloren, insofern die »große Erzählung« nicht mehr glaubwürdig ist

und sich »das Schwergewicht eher auf die Mittel der Handlung als auf ihre Zwecke verlegt«

hat.424 »Das postmoderne Wissen ist nicht allein das Instrument der Mächte«, so Lyotard: »Es

verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das

Inkommensurable zu ertragen. Es selbst findet seinen Grund nicht in der Übereinstimmung

der Experten, sondern in der Paralogie der Erfinder.«425 Insofern das postmoderne Wissen

eine grundlegende »Skepsis gegenüber den Metaerzählungen« impliziert und sich des

»Dispositivs der Legitimation« zu entledigen sucht,426 versteht es sich Lyotard zufolge als

Instrument, vermittels dessen es einen Ausweg aus den etablierten Hierarchien des Denkens

zu finden gilt – einen Ausweg, der mit den Prinzipien der »Paralogie« (von griechisch parà

»neben« und logos »Rede, Wort, Sinn«) und der »Inkommensurabilität« (von lateinisch in

»ohne« und mensura »Maß, Messen«) nur durch eine Logik des »Dissens« zu legitimieren ist,

die gerade der »Unvorhersehbarkeit von ›Entdeckungen‹« Rechnung trägt, wie Lyotard

betont: »Hinsichtlich eines Ideals von Transparenz bewirkt sie [die Unvorhersehbarkeit von

Entdeckungen] die Bildung von Undurchsichtigkeiten und verschiebt den Zeitpunkt des

Konsens auf später.«427

Wenn man nach Lyotard folglich eine »Macht« voraussetzen muss, die »die

Erklärungsfähigkeiten destabilisiert und sich in der Verordnung neuer Normen des Begreifens

manifestiert«,428 so wird diese Macht namentlich mit jenen tiefgreifenden Umwälzungen

423 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 13. 424 Ebd., S. 112. 425 Ebd., S. 16. 426 Ebd., S. 14. 427 Ebd., S. 177. 428 Ebd.

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greifbar, die sich seit den 1960er Jahren im Feld der bildenden Kunst in so verschiedenartigen

Strömungen wie Neodadaismus, Pop Art, Op Art, Happenings, Fluxus, Nouveau Réalisme,

Minimalismus, Konzeptkunst und Appropriation Art niedergeschlagen haben. Die

unterschiedlichen Medien, Verfahrensweisen und Intentionen, anhand derer sich diese

diversen Strömungen einordnen lassen, verweisen dabei allesamt auf ein neues Paradigma der

Unabgeschlossenheit, dem Duchamp den Weg geebnet hat und mit dem die Prinzipien der

Prozessualität, der Kontingenz und des Transformismus ins Zentrum des künstlerischen und

kunsttheoretischen Interesses rücken.429 So schreibt etwa Sol LeWitt, um nur eine von vielen

Positionen zu benennen, in seinen »Paragraphs on Conceptual Art«, mit denen er 1967 den

Begriff der Konzeptkunst prägte: »The idea becomes a machine that makes the art. This kind

of art is not theoretical or illustrative of theories; it is intuitive, it is involved with all types of

mental processes and it is purposeless.«430

LeWitts Zeilen bieten eine konzise Zusammenfassung jener Auffassung von Kunst, die

Duchamp entwickelt hat, indem er sich in seinem künstlerischen Schaffen nicht nur am

zeitgenössischen Kunstbegriff, sondern auch am zeithistorischen wissenschaftstheoretischen

Diskurs und am unvorhersehbaren Kontext der (späteren) Rezeption seiner Werke orientierte.

Gleichzeitig verdeutlichen sie, dass Duchamps Vermächtnis nicht nur – entsprechend der weit

verbreiteten Meinung – als dasjenige eines Strategen und Intellektualisten zu betrachten ist.

Denn wenn die »Idee oder Konzeption« mit LeWitt gesprochen »der wichtigste Aspekt der

Arbeit« ist, bedeutet das gerade nicht, dass sie deswegen auch nur irgendeine Form von

Absolutheitsanspruch erheben würde – im Gegenteil: Duchamps Zugang zur Kunst ist

vielmehr als »intuitiv« und »zweckfrei« im Sinne einer Beschäftigung »mit jeglicher Form

von mentalen Prozessen« zu betrachten. Damit wird klar, dass Duchamps Kunstauffassung

aufs Engste mit jener relationalen – sprich: prozessualen, kontingenten und

transformatorischen – Auffassung des Bildes korreliert, die Bergson auf ein irreduzibles

Zusammenspiel von Intuition und Intellekt, Wahrnehmung und Aktion, Indifferenz und

Präzision, Kreativität und Konsequenz, durée und tout fait zurückgeführt hat. An diesen

relationalen Bildbegriff knüpft auch Theodor W. Adorno an, indem er mit Bergson

hervorhebt, dass die »Vergegenständlichung, die aufmerksame Betrachtung bewirkt«, dem

»Beredten der Natur« schadet und dass »Kunstwerke [...] nur im temps durée ganz

429 Zur Duchamp-Rezeption im Kontext des Neo- und Post-Avantgardismus, vgl. oben, Kap. 3.1.2. und Kap. 3.1.3. 430 LeWitt: »Paragraphs on Conceptual Art«, S. 79.

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wahrnehmbar« sind.431 Der »Prozeßcharakter der Kunstwerke ist nichts anderes als ihr

Zeitkern«, durch den Werke »sich selbst verbrennen, ihr eigenes Leben dem Augenblick der

Erscheinung von Wahrheit drangeben und spurlos untergehen, ohne daß sie das im geringsten

minderte«,432 so Adorno:

Lebendig ist ästhetische Erfahrung vom Objekt her, in dem Augenblick, in dem die Kunstwerke unter ihrem Blick selbst lebendig werden. [...] Durch betrachtende Versenkung wird der immanente Prozeßcharakter des Gebildes entbunden. Indem es spricht, wird es zu einem in sich Bewegten. Was irgend am Artefakt die Einheit seines Sinnes heißen mag, ist nicht statisch sondern prozessual, Austrag der Antagonismen, die ein jegliches Werk notwendig in sich hat. Analyse reicht darum erst dann ans Kunstwerk heran, wenn sie die Beziehung seiner Momente aufeinander prozessual begreift, nicht durch Zerlegung es auf vermeintliche Urelemente reduziert. Daß Kunstwerke kein Sein sondern ein Werden seien, ist technologisch fassbar. Ihre Kontinuität ist teleologisch von den Einzelmomenten gefordert. Ihrer sind sie bedürftig und fähig vermöge ihrer Unvollständigkeit, vielfach ihrer Unerheblichkeit. Durch ihre eigene Beschaffenheit vermögen sie in ihr Anderes überzugehen, setzen darin sich fort, wollen darin untergehen und determinieren durch ihren Untergang das auf sie Folgende. Solche immanente Dynamik ist gleichsam ein Element höherer Ordnung dessen, was die Kunstwerke sind. [...] Immanent dynamisch sind aber nicht nur die einzelnen Werke; ebenso ihr Verhältnis zu einander. [...] Daher spottet Kunst der Verbaldefinition. Wodurch sie als Sein [das heißt genau genommen als Werden] sich konstituiert, ist seinerseits dynamisch als Verhalten, eines zur Objektivität, das sowohl von ihr zurücktritt, wie Stellung zu ihr bezieht und in dieser abgewandelt sie festhält.433

Wenn Adorno entgegen einem essentialistischen Werkbegriff vom Prozesscharakter des

Kunstwerks spricht, durch den es sich eindeutigen Zuschreibungen per definitionem entziehe,

so folgt er mit Egenhofer gesprochen jener »Bewegung der modernen Repräsentationskritik«,

die bereits mit dem Impressionismus einsetzte und die sich wesentlich durch die Negation der

»Beziehung auf ein Urbild« definiert,434 indem sie »den Bildschein an den existierenden

Körper des Werks, den materiellen Bildschirm zurückbindet« und dadurch eine »irreversible

Umstülpung des Weltverhältnisses des Werks« zur Folge hat: »Das Modell des

repräsentationalen Bildes [...] ist einer Pluralität extrovertierter Bezugnahmen auf die Welt

431 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 108–109 (Herv. d. Verf.). Adorno führt dazu weiter aus: »Angesichts des Schönen stellt analytische Reflexion den temps durée durch seine Antithese wieder her. Analyse terminiert in einem Schönen, so wie es der vollkommenen und selbstvergessenen bewußtlosen Wahrnehmung erscheinen müßte. Damit beschreibt sie subjektiv noch einmal die Bahn, welche objektiv das Kunstwerk in sich beschreibt: adäquate Erkenntnis von Ästhetischem ist der spontane Vollzug der objektiven Prozesse, die vermöge seiner Spannungen darin sich zutragen.« Ebd., S. 109. 432 Ebd., S. 264–265. 433 Ebd., S. 262–263 (Herv. d. Verf.). Adorno führt dazu weiter aus: »Wenn irgendwo, dann ähnelt hier die ästhetische Erfahrung der sexuellen, und zwar deren Kulmination. Wie in dieser das geliebte Bild sich verändert, wie darin Erstarrung mit dem Lebendigen sich vereint, ist gleichsam das leibhafte Urbild ästhetischer Erfahrung.« Ebd., S. 263. 434 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 11.

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diesseits der Bildebene gewichen, die für das Werk die Dimension seiner unabsehbaren

Zukunft ist.«435 Zu diesen Bezügen diesseits der Bildebene zählen nun nicht nur die

physiologischen Bedingungen, an welche die ästhetische Erfahrung als solche gekoppelt ist,

sondern auch die Bedingungen der Produktion und Präsentation des Werks, die Duchamp mit

seinem Konzept des Ready-made erstmals im vollem Umfang thematisierte und mit deren

Reflektion es zu einer symptomatischen »Spaltung der Werkpräsenz« kommt, wie Egenhofer

hervorhebt: »Die ästhetische Präsenz ist [nach Duchamp] der Schnitt, den der Blick des

Betrachtersubjekts, der an das Korn der Gegenwart, an die Aktualität der Empfindung

gebunden ist, durch die in sich ungleichzeitige Existenz, durch das Alter und Altern des

Kunstwerks legt.«436 Damit liefert der Werkprozess des Ready-made ein »radikales

Gegenmodell zum introvertierten oder intrinsischen Weltbezug des Bildes, zur ikonischen

Repräsentation und ihrer Destruktion, in die die Bildabstraktion noch vertieft ist«, so

Egenhofer: »Es ist das Modell eines dem Kommen und der irreduziblen Kontingenz der

Zukunft zugewandten Werks.«437 Wesentlich ist nun, dass die Präsenz des Werks jenseits

seiner repräsentativen Funktion, die mit dem Ready-made als solche exponiert und mit dem

Minimalismus schließlich auf die Spitze getrieben wurde, sowohl die »phänomenale

Gegenwart« als auch die »Zeittiefe der Produktion und Existenz des Werks«438 impliziert und

daher, wie Egenhofer betont, keineswegs mit dessen »Anschaulichkeit« gleichzusetzen ist,

sondern vielmehr auf eine raumzeitliche Tiefe und materielle Bedingtheit verweist, die als

solche unsichtbar bleibt und bleiben muss, insofern sie »die Gegenwart des Bildes und des

Bildbewusstseins« überhaupt erst konstituiert:

435 Ebd., S. 12. Im Zusammenhang mit dieser »Umstülpung des Weltverhältnisses des Werks« hebt Egenhofer vor allem die zentrale Bedeutung des Minimalismus (und namentlich der specific objects von Donald Judd) hervor: »Für die Frage nach dem Weltverhältnis des Werks und seine Umstülpung in der Moderne stellt der Minimalismus ein Schwellenmoment dar. Er markiert den Übergang zwischen dem intrinsischen, selbstkontrollierten und intentional-aktiven Weltverhältnis des Bildes, das sich im Element einer wie immer gebrochenen Ähnlichkeit, im Element der Idealität des Scheins auf ein Repräsentat öffnet, und dem extrinsischen, passiven Weltbezug der Spur, die realzeitlich, im Element der Kausalität auf den Moment ihrer materiellen Prägung, ihrer Produktion bezogen ist. [...] Das minimalistische Objekt ist als Produkt und Abdruck auf das Gesamt seines Herstellungsprozesses einschließlich seiner Präsentationsbedingungen bezogen, den es nicht bildlich zeigt, aber indexikalisch bezeugt.« Ebd., S. 13. 436 Ebd., S. 15. Egenhofer führt an dieser Stelle weiter aus: »Von Duchamp aus erweist sich daher die Schicht der ästhetischen Präsenz als in sich gespalten in eine Vorderseite – die phänomenale Gegenwart, die dem Blick der stets zukünftigen, aus der Sicht des Werks ›verspäteten‹ Betrachtersubjekte zugewandt ist – und eine Rückseite, die die Träger dieser Gegenwart berührt: den Träger, der die ›Fabrik‹ für die Herstellung, die Institution des Museums oder der Galerie und allgemein die Strukturen der kulturellen Öffentlichkeit für die Ausstellung des Werks ist – und der lebendige Körper für das perspektivische, auf einen Zeit- und Raumpunkt fluchtende Wahrnehmungsbewusstsein des Betrachtersubjekts.« Ebd. 437 Ebd., S. 14. 438 Ebd., S. 18.

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Bild meint die Seite der – auch im intersubjektiven Spiel vermittelten – Anschaulichkeit des Werks. Was ich Werk nenne, geht nicht auf in dieser Anschaulichkeit. Das Werk stellt die Beziehung des Bildes zur abgekehrten Dimension des Bildträgers her. Es berührt die Grenze der konstituierten Welt, in die es als Bild eingelassen ist und die sich in ihm reflektiert, indem es in der Dimension seiner Anschaulichkeit deren Genesis lesbar hält. Das Werkgeschehen trägt die Krise der anschaulichen Evidenz des Bildes aus. [...] Das Werk sagt sich aus durch die Gestalt seiner Existenz. Die Zeit seiner Existenz ist der Atem, der Antrieb seiner Sinnproduktion, in die alle seine formalen und materiellen Momente, einschließlich der referentiellen Anknüpfungen aufgenommen sind. Das schlechthin Unselbstverständliche dieser Existenz ist der Träger, der alle Verweisungen abbindet und opak werden lässt, ohne sie verschleiern zu müssen. [...] Das Werkgeschehen ist daher nicht mit dem Spiel des Sinns kongruent, es konstituiert das Feld dieses Spiels durch seinen Bezug auf die inkommensurable Dimension des Trägers.439

Wenn sich das Bild Egenhofer zufolge einzig auf die »Seite der unmittelbaren

Anschaulichkeit und Evidenz des Werks« bezieht, die »mit dem Gegenwartshorizonts [sic]

seiner Betrachter verschmilzt«, so entspricht das Bild, wie Egenhofer betont, nicht notwendig

einer »erinnerungslosen Wahrnehmungsaktualität«, insofern es auch den »zeitlichen Sprung

des repräsentationalen Bildes« in sich aufnehmen kann; was das Bild allerdings ausblendet, ist

die raumzeitliche »Dimension der Produktion und des Alters der Werke«, die den Bildträger

betrifft.440 Mit seinem Verweis auf das Werkgeschehen zielt Egenhofer also auf eine

»materialistische Kritik« des Bildes ab, die sich nicht auf die »Brechung seiner Idealität« und

den Nachweis seiner »irreduziblen Historizität« beschränkt, sondern auch »die

Widerständigkeit, die Reibung der Differenz« des Bildes in den Blick nimmt, mit der die

»Immanenz« jenseits der »Unendlichkeit einer erstarrten Gegenwart« notwendig im Sinne

einer »endlichen Immanenz« zu denken ist, die Beziehungen zum »Unendlichen oder

Inkommensurablen« unterhält und damit eine »Öffnung« auf das »Unkontrollierbare«, »auf

das Chaos oder das Außen« des Bildes impliziert.441

Wie Bergson deutlich macht, ist eine derartige Öffnung auf ein unkontrollierbares Außen nun

aber bereits im Bild selbst angelegt, insofern das Bild als solches nicht auf den Horizont

seiner Gegenwart oder eine Logik der Repräsentation reduziert werden kann. Vielmehr muss

man mit Bergson davon ausgehen, dass dem Bild selbst eine Art Werkgeschehen innewohnt,

dass es also nie nur Wahrnehmungsbild und als solches auf ein Prinzip der Evidenz

zurückzuführen ist, sondern in seinem Sichtbarwerden immer schon zwischen Materie und

Gedächtnis oszilliert, indem es einen »Geist« voraussetzt, der »der Materie die 439 Ebd., S. 20/25–26. 440 Ebd., S. 19–20. 441 Ebd., S. 22–23.

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Wahrnehmungen [entnimmt]« und »sie ihr als Bewegung zurück[gibt], der er den Stempel

seiner Freiheit aufgedrückt hat«.442 Daher versteht sich auch, inwiefern die ästhetische

Präsenz mit Egenhofer gesprochen als »Schnitt« zu begreifen ist, »den der Blick des

Betrachtersubjekts [...] durch die in sich ungleichzeitige Existenz, durch das Alter und Altern

des Kunstwerks legt«.443 Denn gerade der Schnitt ist es, der mit Deleuze gesprochen das

»Ereignis« des Bildes zeitigt, das als »Singularität« notwendig »zu einer anderen Dimension

als jenen der Bezeichnung, der Manifestation oder der Bedeutung« gehört444 und das

namentlich zu einer Aufspaltung in einen Bereich des Realen, einen Bereich des

Symbolischen und einen Bereich des Imaginären führt. Ist dieser »Schnitt« nun aber

tatsächlich mit dem Blick des Betrachtersubjekts gleichzusetzen? Ja und nein. Wie

Maximilian Kleiner hervorhebt, ist im Anschluss an Lacans »Schema R« (Abb. 26) das

»Reale als der Schnitt« zu betrachten, »der die psychische Realität in das symbolische und das

imaginäre Feld aufspaltet, ohne diese doch auseinander fallen zu lassen«.445 Dem ist vor dem

Hintergrund von Lacans »Schema RSI« (Abb. 79) allerdings hinzuzufügen, dass der Schnitt

mit gleichem Recht mit dem Symbolischen (dem Gedächtnis) gleichgesetzt werden kann, das

zu einer Aufspaltung in Reales und Imaginäres führt – oder eben, wie Egenhofer

argumentiert, mit dem Imaginären (dem Wahrnehmungsbild oder der ästhetischen Präsenz),

das eine Aufspaltung in Reales und Symbolisches bewirkt, indem es »das Alter und Altern«

ausblendet.

Wenn das Bild mit Deleuze als Singularität zu begreifen ist, in deren Einzugsbereich Reales,

Symbolisches und Imaginäres miteinander verschränkt sind, dann ist es mit Deleuze/Guattari

gesprochen auch als raumzeitliches »Gefüge« (agencement)* zu betrachten, das »nichts mit

442 Bergson: Materie und Gedächtnis, S. 250. 443 Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität, S. 15. Egenhofer führt an dieser Stelle weiter aus: »Von Duchamp aus erweist sich daher die Schicht der ästhetischen Präsenz als in sich gespalten in eine Vorderseite – die phänomenale Gegenwart, die dem Blick der stets zukünftigen, aus der Sicht des Werks ›verspäteten‹ Betrachtersubjekte zugewandt ist – und eine Rückseite, die die Träger dieser Gegenwart berührt: den Träger, der die ›Fabrik‹ für die Herstellung, die Institution des Museums oder der Galerie und allgemein die Strukturen der kulturellen Öffentlichkeit für die Ausstellung des Werks ist – und der lebendige Körper für das perspektivische, auf einen Zeit- und Raumpunkt fluchtende Wahrnehmungsbewusstsein des Betrachtersubjekts.« Ebd. 444 Vgl. Deleuze: Logik des Sinns, S. 76/78: »Es [das Ereignis] besteht aus Punkten der Wiederkehr, der Inflexion usw.; aus Verengungen, Knoten, Mittelpunkten, Zentren; aus Verschmelzungs-, Verdichtungs-, Siedepunkten usw.; Punkten der Tränen und der Freude, der Krankheit und der Gesundheit, Hoffnung und Angst, sinnlich genannten Punkten. [...]. Die Singularität gehört zu einer anderen Dimension als jenen der Bezeichnung, der Manifestation oder der Bedeutung. [...] Sie ist dem Individuellen und dem Kollektiven, dem Persönlichen und dem Unpersönlichen, dem Besonderen und dem Allgemeinen – wie auch ihren Gegensätzen gegenüber vollkommen indifferent. Sie ist neutral. Andererseits ist sie nicht ›gewöhnlich‹: Der singuläre Punkt widersetzt sich dem Gewöhnlichen. [...] Der Modus des Ereignisses ist das Problematische.« 445 Kleiner: »Im Zeichen des Knotens«, S. 100.

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Bedeuten zu tun [hat], sondern damit, Land – und auch Neuland – zu vermessen und zu

kartographieren«.446 Dem gemäß ist ein Bild per definitionem etwas Gemachtes

(Produktionsästhetik), das nicht nur notwendig als einzigartiges Phänomen und als Attraktor

in Erscheinung tritt (Werkästhetik), sondern auch notwendig eine Definitionslücke, einen

blinden Fleck, einen »Blick« impliziert (Rezeptionsästhetik). Der Anspruch, den

Deleuze/Guattari an ein Buch erheben, wenn sie sich »unter der Voraussetzung der

Diskontinuität, des Bruchs« von den distanzierten und hierarchischen Perspektiven des

Langzeitgedächtnisses lossagen und sich stattdessen auf das Kurzzeitgedächtnis verlassen, auf

das »Gesetz der Reflexion«, das »das Vergessen als Prozeß« mit einschließt und »nur noch

von Mannigfaltigkeiten, Linien, Schichten und Segmentaritäten« zu sprechen erlaubt, »von

Fluchtlinien und Intensitäten, von maschinellen Gefügen und ihren verschiedenen Typen, von

organlosen Körpern und ihrem Aufbau, ihrer Selektion«,447 dieser Anspruch – sich auf das

»Gesetz der Reflexion« zu verlassen – wäre damit nicht nur für das Kunstwerk, sondern auch

für das Bild als solches geltend zu machen. Ebenso wie das Rhizom, ebenso wie das Große

Glas versteht sich auch das Bild als solches als »Karte, die produziert und konstruiert werden

muß, die man immer zerlegen, verbinden, umkehren und modifizieren kann, die viele

Fluchtlinien, Ein- und Ausgänge hat« und die eine »zusammenhängende, in sich selbst

vibrierende Intensitätszone« darstellt, die »alle möglichen Arten des ›Werdens‹« umfasst.448

Die Schlussfolgerung, die Deleuze/Guattari in Bezug auf ihre eigene Schreibpraxis ziehen, ist

damit auch in Bezug auf die Theorie und Praxis der Bilder relevant: »Es gibt keine

Dreiteilung mehr zwischen einem Bereich der Realität (der Welt) [der Materie], einem

Bereich der Darstellung und Vorstellung (dem Buch) [dem Bild] und einem Bereich der

Subjektivität (dem Autor) [dem Gedächtnis].«449

446 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 14; *vgl. die Anmerkung von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé, ebd., S. 12, Anm. 1: »›Agencement‹ bedeutet im Alltagsfranzösisch soviel wie Einrichtung, Anordnung, Aufstellung oder Arrangement und wird hauptsächlich im handwerklichen Bereich verwendet. In anderen Übersetzungen von Deleuze/Guattari wurde ›agencement‹ zum Beispiel mit ›Verkettung‹ und ›Anordnung‹ übersetzt. ›Verkettung‹ erscheint sachlich falsch, da ›agencement‹ deutlich von ›Signifikanten-Ketten oder -Verkettungen‹ unterschieden wird; ›Anordnung‹ lässt im Deutschen zu sehr an Befehl denken.« 447 Ebd., S. 13–14/28. Vgl. ebd., S. 28: »Das Kurzzeitgedächtnis hängt nicht vom Gesetz der Kontiguität oder Unmittelbarkeit seines Gegenstandes ab. Es kann sich entfernen und viel später kommen oder wiederkehren, aber immer unter der Voraussetzung der Diskontinuität, des Bruchs oder der Mannigfaltigkeit. [...] Der Glanz eines schnellen Einfalls: man schreibt mit dem Kurzzeitgedächtnis, also mit kurzen Ideen, aber man liest lange Entwürfe immer mit dem Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis schließt das Vergessen als Prozeß mit ein: es ist nicht mit dem Augenblick, sondern mit dem kollektiven, zeitlichen und nervlichen Rhizom verbunden. Das Langzeitgedächtnis (Familie, Generation, Gesellschaft oder Zivilisation) kopiert oder übersetzt, aber was es übersetzt, wirkt in ihm weiter, aus der Distanz, zur Unzeit, ›unzeitgemäß‹, indirekt.« 448 Ebd., S. 36–37. 449 Ebd., S. 38.

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3.3.3. Jenseits der Domänen: Duchamps Spiel mit den Geschlechtergrenzen

Im Anschluss an de Mille/Mullarkey ist das Konzept der Bildtopologie als Grundlage eines

Kunstbegriffs zu verstehen, der das künstlerische Werk nicht in einem »transzendenten

Bereich« verortet, der »jenseits der Sinne durch die (außergewöhnliche) Kraft der Intelligenz«

zu erschließen ist, sondern durch eine Zusammenführung, Integration und Verschränkung

produktions-, werk- und rezeptionsästhetischer Faktoren auf eine »Erweiterung unserer

Wahrnehmungsfähigkeiten durch die Mittel der Kunst oder der Philosophie« abzielt.450

Inwiefern sich eine derartige Zusammenführung als produktiv erweisen kann, soll nun in

einem letzten Schritt exemplarisch anhand von Duchamps Großem Glas vorgeführt werden.

Im Anschluss an Deleuzes/Guattaris theoretisches Modell des Rhizoms gilt es damit der Frage

nachzugehen: Was bedeutet es im Hinblick auf das Große Glas, wenn es keine Dreiteilung

mehr zwischen einem Bereich der Braut, einem Bereich des Horizonts und einem Bereich der

Junggesellen gibt?

Mit Deleuze/Guattari gesprochen handelt es sich bei den drei Bereichen des Großen Glases

um »Plateaus« oder »zusammenhängende, in sich selbst vibrierende Intensitätszone[n]*«, die

nicht teleologisch organisiert sind und sich demensprechend »ohne jede Ausrichtung auf

einen Höhepunkt oder ein äußeres Ziel« ausbreiten, um »alle möglichen Arten des

›Werdens‹« hervorzubringen.451 Jeder der Bereiche bildet in sich eine »Mannigfaltigkeit«, die

»durch äußerst feine unterirdische Stränge« nicht nur mit den beiden anderen Bereichen,

sondern auch mit einer Menge anderer Mannigfaltigkeiten verbunden werden und so ein

»Rhizom« entstehen und wachsen lassen kann.452 Indem sie ein Rhizom bilden, sind die drei

Bereiche des Glases also nicht nur miteinander verschränkt, sondern auch mit einem

inkommensurablen »Außen«, das mit Deleuze/Guattari gesprochen »kein Bild, keine

Signifikation und keine Subjektivität« hat und folglich nur »von der Mitte her« zu denken ist,

450 De Mille/Mullarkey: »Introduction: Art’s Philosophy«, S. 1, Originalwortlaut im Textzusammenhang: »The being of the world is not to be found in a transcendent realm discovered beyond the senses through the (exceptional) power of philosophical intellect (nous); reality is only in this world, and is re-discovered immanently by extending our perceptual faculties by means of art or philosophy (understood as a generic art, an art for the generality, for everyone and every faculty).« 451 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 37. *Der Begriff der »Intensitätszone« entlehnen Deleuze/Guattari Gregory Bateson (vgl. ebd.), der mit »Plateau« eine Art »kontinuierlicher Intensitätsebene« bezeichnet, die sich durch das »allgemeine Fehlen von Höhepunkten« auszeichnet und damit auf einer »formalen Struktur« basiert, in der »Modifikationen der Intensität [...] durch die Dauer und den Fortschritt der Ausarbeitung dieser formalen Relationen bestimmt« werden (wie beispielsweise in der balinesischen Musik), vgl. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven (1972), aus dem Engl. v. Hans Günther Holl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 163. 452 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 37.

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ausgehend von dem »Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden«.453 Dementsprechend ist

Große Glas nicht einfach gegeben, vielmehr beruht es, wie mit Deleuze/Guattari

hervorzuheben ist, auf einer »Methode, mit der man es tatsächlich herstellen kann« und die

man mit Deleuze/Guattari als »RHIZOMATIK = POP-ANALSE« definieren könnte.454 Auf

die Frage: »Wie kann das Buch [das Große Glas] ein adäquates Außen finden, mit dem es im

Heterogenen ein Gefüge bilden kann, anstatt eine Welt zu reproduzieren?«455 wäre mit dem

Konzept der Bildtopologie zu antworten: mithilfe jenes Schnittes, der nach dem Modell der

Möbiusstruktur eine Aufspaltung in einen Bereich des Symbolischen (Produktionsästhetik),

einen Bereich des Imaginären (Werkästhetik) und einen Bereich des Realen

(Rezeptionsästhetik) bewirkt, ohne die drei Bereiche auseinanderfallen zu lassen. Wenn das

Werk, wie Deleuze/Guattari erklären (und wie Duchamp offenlegt), unweigerlich von einer

»schweren kulturellen Last beladen« ist, so gilt es diese also keineswegs zu negieren, sondern

vielmehr »aktiv [zu] benutzen« und sie damit im allerengsten Wortsinn zu appropriieren:

»Vergessen statt Erinnerung, Unterentwicklung statt Fortschritt zur Entwicklung,

Nomadentum statt Seßhaftigkeit, Karte statt Kopie.«456

Vergessen, Unterentwicklung, Nomadentum, die Karte ... als Methode? Um eine konkrete

Vorstellung von einer derartigen »RHIZOMATIK = POP-ANALYSE« zu entwickeln, liegt es

nahe, jenen »methodischen Leitfaden« zu Rate zu ziehen, den Deleuze in Le Bergsonisme

herausarbeitet, indem er Bergsons »Methode der Intuition« als strenges Regelwerk

charakterisiert, das die Grundlage der philosophischen »Präzision«* bildet.457 Denn obwohl

Bergson die Intuition als wesentlich »unzusammengesetzten Akt« definiert, schließt ihre

irreduzible »Einfachheit«, wie Deleuze betont, eine »qualitative und virtuelle Vielheit

(multiplicité)« ebenso wenig aus wie »unterschiedliche Richtungen [...], in denen sie sich

aktualisiert«:

Insofern umfaßt die Intuition mehrere Geltungsbereiche und eine Vielzahl von Blickpunkten, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen. Bergson unterscheidet hauptsächlich drei Handlungen, die für das Regelwerk der Methode maßgeblich sind:

453 Ebd., S. 38–39/42. 454 Ebd., S. 37/40. 455 Ebd., S. 40. 456 Ebd. 457 Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, S. 23–24. *Vgl. Bergson: »Einleitung (Erster Teil)«, S. 21: »Was der Philosophie am meisten gefehlt hat, ist die Präzision. Die philosophischen Systeme sind nicht auf die Wirklichkeit, in der wir leben, zugeschnitten. Sie sind zu weit für sie. [...] Ein richtiges System ist eben eine Gesamtheit von so abstrakten und infolgedessen unbestimmten Begriffen, daß man hierin neben dem Wirklichen alles Mögliche und selbst Unmögliches unterbringen kann. Eine Erklärung, die uns befriedigen soll, [...] paßt nur für das eine bestimmte Objekt, dem sie einzig und allein angemessen ist.«457

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Die erste bezieht sich auf das Stellen und das Hervorbringen von Problemen, die zweite auf das Aufdecken von Wesensunterschieden (différences de nature) und die dritte auf die Apprehension der wirklichen Zeit.458

Duchamps Großes Glas beruht nun im Wesentlichen ebenfalls auf diesen drei

Vermittlungsschritten, indem es sie mit den drei Bereichen zugleich exemplarisch

veranschaulicht. Man kann davon ausgehen, dass es Duchamp im Zuge seiner kunst- und

wissenschaftshistorischen Studien zunächst um »das Stellen und das Hervorbringen von

Problemen« ging, die er in seinen Notizen, Skizzen und Konstruktionszeichnungen

festgehalten hat und die sich im übertragenen Sinn in der zentralperspektivisch organisierten

Domäne der Junggesellen widerspiegeln, in der sich die Junggesellen gemäß dem »Gesetz der

Reflexion« mit ihrer eigenen Komplexität konfrontiert sehen. Mit dem komplementären

Methodenvokabular »Präzisionsmalerei, und Indifferenzschönheit« und dem Konzept des

»Infra-mince«, das sich mit all jenen Phänomenen beschäftigt, die an der Grenze der

Wahrnehmbarkeit zu verorten sind, geht es Duchamp sodann um das »Aufdecken von

Wesensunterschieden«, das sich im zentralen Horizont-Scharnier ausgedrückt findet – wobei

das Große Glas nicht nur einen dreigliedrigen Horizont enthält, sondern auch als Ganzes

einen Horizont darstellt, dessen uneindeutige Scharnier-Struktur mit dem Imaginären

korrespondiert, insofern es den Bereich des Symbolischen (das Stellen und Hervorbringen

von Problemen) und den Bereich des Realen (die Apprehension der wirklichen Zeit)

gleichzeitig voneinander trennt und miteinander verbindet. Schließlich geht es Duchamp aber

auch um die »Apprehension der wirklichen Zeit«, die er vermittels unterschiedlicher

Verfahren ins Spiel bringt (3 Maßnorm-Stoppagen, Staubzucht, Durchzugkolben, Einschüsse,

etc.) und die nicht nur mit der Transparenz des Werks und dem Blick auf die Wirklichkeit

hinter dem Bild zur Debatte gestellt wird, sondern auch mit dem Verweis auf den

unberechenbaren Rezeptionskontext, der seine Entsprechung in der Domäne der

vierdimensionalen Braut findet.

Inwiefern die unterschiedlichen Vermittlungsschritte, Mannigfaltigkeiten oder Plateaus des

Großen Glases nun sowohl in sich als auch miteinander ein Rhizom bilden und es wachsen

lassen, wird besonders anhand der Grünen Schachtel nachvollziehbar, die Duchamp als

integralen Bestandteil des Werks betrachtete und die nicht nur auf produktionsästhetischer,

sondern auch auf werkästhetischer und rezeptionsästhetischer Ebene einen relationalen –

prozessualen, kontingenten und transformatorischen – Bild- respektive Werkbegriff

widerspiegelt. Ebenso wie das Werk als Ganzes, das sich als komplexes System formaler,

458 Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, S. 25 (Anmerkungen im Text wurden entfernt).

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semantischer und ikonologischer Referenzen und Querverbindungen versteht, basiert

dementsprechend auch jeder der drei Bereiche des Großen Glases auf einem System von

Mannigfaltigkeiten, das nicht nur die bildimmanenten Referenzen und den Horizont der

Rezeption und Interpretation einschließt, sondern auch auf produktionsästhetischer Ebene

zum Tragen kommt. In der Domäne der Junggesellen werden etwa die 3 Maßnorm-Stoppagen

aufgegriffen, die Duchamp 1913 fabrizierte, indem er drei Fäden von je einem Meter Länge

aus einem Meter Höhe fallen ließ, um eine neue Längeneinheit zu schaffen, die auf einem

Moment der stetigen Transformation basiert. Die topologischen Zufallsformen der drei Fäden,

die Duchamp auf drei mit Glas unterlegte Leinwandstreifen klebte und von denen er jeweils

ein Lineal anfertigte, bilden in der Domäne der Junggesellen in verdreifachter Form das

rhizomatische System der neun »Kapillarröhrchen«459, das Duchamp 1914 im Gemälde

Réseau des stoppages (Netzwerk der Stoppagen) festgehalten hat (Abb. 80). Die opake

Struktur der »Haarsiebe«, die jenen Halbkreis aus »Schirmen« bilden, den das »Leuchtgas« in

einer Reihe von »Transformationen« durchläuft, bildet ebenfalls einen zeitlichen Prozess ab.

Konkret basiert sie auf jener Staubzucht (Abb. 31), die entstand, indem Duchamp die untere

Hälfte des Glases 1920 über vier Monate hinweg unberührt liegen ließ und den Staub, der sich

angesammelt hatte, daraufhin mit einer Schicht Firnis fixierte. In der Domäne der Braut

wiederum gibt es neben drei »Durchzugskolben«, deren Zufallsformen Duchamp durch das

Abfotografieren dreier Gazestücke bei Durchzug ermittelte (Abb. 81), auch die neun

»Einschüsse«, deren Position Duchamp mithilfe einer Spielzeugpistole ermittelte, mit der er

in Farbe getauchte Streichhölzer auf ein bestimmtes Ziel im Bereich der »Milchstraße«

schoss, und die er fixierte, indem er das Glas an den entsprechenden Stellen durchbohrte. Der

zentrale Horizont scheint auf den ersten Blick zwar keine weiteren Mannigfaltigkeiten in sich

zu beherbergen; dabei liegt seine Mannigfaltigkeit und Fähigkeit zur Vervielfältigung

schlichtweg in seiner »spieglerischen Funktion« begründet, insofern die drei Glasstreifen, aus

denen er sich zusammensetzt, zwischen Opazität und Transparenz oszillieren und damit als

Scharnier wirken, das je nach Lichtsituation und Umgebung die unterschiedlichsten

Mannigfaltigkeiten durch- oder aufscheinen lässt – wenn auch nur in der Dimension jenes

Hauchs von »Infra-mince«, der sie so vergänglich wie ungreifbar macht. Hinzu kommen die

vielfältigen technologischen, ikonologischen und semantischen Querverweise und Bezüge

(Hinterglasmalerei, Perspektivkonstruktion, Fotografie, Ready-made, Schokoladenreibe,

Motor, etc.), die den rhizomatischen Charakter des Großen Glases auf konzeptueller Ebene

unterstreichen. Von zentraler Bedeutung ist in dieser Hinsicht auch die Einbettung des Werks 459 Zu den einzelnen Elementen im Großen Glas, die in der Grünen Schachtel näher definiert sind, vgl. hier und im Folgenden Duchamp: Duchamp du signe, S. 39–102 sowie oben, Kap. 2.1.3.

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in einen Werkkomplex, der von ersten Skizzen und Gemälden zum Motiv der Braut über

zahlreiche Notizen und hunderte Schachteln und Reproduktionen bis hin zu Duchamps

Schaufensterarbeiten und zu seinem finalen Coup Étant donnés reicht. Ferner sind da

natürlich noch die Sprünge, die das Glas bei einem Transport erlitt und die Duchamp in sein

Werk integrierte, indem er es in mühevoller Kleinarbeit reparierte. Und nicht zuletzt sind

unter den Mannigfaltigkeiten, die dem Großen Glas seine Tiefendimension verleihen, die

unterschiedlichsten Rezeptionskontexte und Zugänge jener Betrachter zu nennen, in deren

Gedanken und Augen und Händen das Werk stets aufs Neue Gestalt annimmt.

Indem es sich als komplexes raumzeitliches Gefüge darstellt und als solches nur in seiner

Uneindeutigkeit und Veränderlichkeit in Erscheinung treten kann, liegt die Bedeutung des

Großen Glases (ebenso wie diejenige von Duchamps Oeuvre als Ganzem) mit Lyotard

gesprochen weniger in dem, was es ausdrückt, als vielmehr in einem »Rest an

Nichtkommentierbarem«, »als ginge es bei dem, was man über Duchamp sagt, weder um den

Versuch zu verstehen, noch darum zu zeigen, daß man verstanden hat, sondern vielmehr

darum zu versuchen, nicht zu verstehen, und zu zeigen, daß man nicht verstanden hat«:

Nein, nicht was Sie jetzt denken, keinesfalls ein Kommentar über die Unverständlichkeit im Allgemeinen oder im Besonderen als siebenhundertachtundzwanzigster moderner Text über die Modernität als Erfahrung des Nichts. Nein, man müßte vielmehr so gewissenhaft und beredt wie möglich sein, sich ans Motiv klammern, technisch argumentieren, wenn es sein muß, und dabei gleichzeitig spüren lassen, daß Kommentar und Kommentiertes – bzw. ihr ergebener Diener und Monsieur Marcel – in sich und in ihrer Beziehung zueinander inkonsistent sind. Also eine Inkonsistenz, die man sich erobert hat und die weder einer Enttäuschung entspringt noch als Kardinaltugend eines Märtyrers zur Schau gestellt wird. Der Nicht-Sinn ist im Gegenteil der kostbarste aller Schätze.460

Der Nicht-Sinn (non-sens) gibt keine bestimmte Richtung (sens) und keine eindeutige

Perspektive vor, vielmehr wirft er uns zurück auf eine fundamentale Orientierungslosigkeit,

auf ein System der Vorwegnahmen und Verzögerungen, das weder Anfang noch Ende hat, ja

das nicht einmal eindeutig als »Kunst« einzuordnen ist, weil es bei Duchamp, wie Lyotard

betont, »keine Gegenständlichkeit gibt«, sondern nur »Transformationen, Umverteilungen

von Energie«, »eine Vielfalt von Dispositiven, die Energieeinheiten ineinander umwandeln«,

ja »eine ganze Batterie von Verwandlungsmaschinen«: »Der transformer Duchamp möchte

nicht die gleichen Effekte einfach wiederholen, deshalb muß er viele dieser Dispositive sein

460 Lyotard: Die TRANSformatoren Duchamp, S. 11–12.

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und sich selbst häufig verwandeln. Im Wettbewerb der Erfinder um Patente will er stets den

ersten Preis gewinnen.«461

Wie ist dieser Nicht-Sinn, diese fundamentale Orientierungslosigkeit, die ihren

vollkommensten Ausdruck im losen Zettelwerk der Grünen Schachtel findet, auf den

sichtbaren Horizont des Großen Glases zu übertragen? Angesichts der Scharnierfunktion des

Horizonts und der Transparenz und/oder Spiegelfunktion des Glases, die diese

Scharnierfunktion verdoppelt, ist die Frage aufzuwerfen, ob die eindeutige Aufteilung in

einen oberen und einen unteren Bereich als solche absolut zu setzen ist und ob man nicht

vielmehr davon ausgehen muss, dass der Bereich der Braut und der Bereich der Junggesellen

wie die zwei Seiten einer Möbiusstruktur im ganz konkreten Sinn ineinander verschränkt zu

betrachten sind. Diese These ist insbesondere auch insofern naheliegend, als sich die Domäne

der Braut und die Domäne der Junggesellen in ihren Dimensionen maßgeblich unterscheiden,

um in letzter Konsequenz doch exakt zur Deckung zu kommen. Denn die beiden Bereiche

sind nicht etwa gleich groß, wie man vermuten könnte, wenn man vor dem Großen Glas steht

und der obere Bereich in seinem Hinaufragen auf fast zwei Meter achtzig etwas kleiner

erscheint. Tatsächlich ist der Bereich der Braut nicht nur etwas kleiner, sondern um genau so

viel kleiner, wie er durch das Kleid der Braut vergrößert wird – womit das Kleid der Braut in

einer logischen Wendung dem Bereich der Braut zuzurechnen ist. Der Dreh- und Angelpunkt

des Scharniers ist damit nicht etwa in der Mitte des Horizonts (auf der Bildebene) zu verorten,

sondern am unteren Saum des Brautkleids (zwischen Wahrnehmungsbild und Intellekt), dort,

wo der »Boxkampf« seinen Lauf nimmt, der die »elektrische Entkleidung« vorantreibt, indem

er jenes »Uhrwerk« oder »Pendel« (pendule) in Schwung bringt, jenen »Motor« oder jene

»treibende Kraft« (moteur), die der »weibliche Gehenkte« darstellt. Nimmt man das Scharnier

in Betrieb, so bekommt der Haken am linken oberen Bildrand, an dem der weibliche

Gehenkte hängt – in Analogie zu einer Reihe von Ready-mades (ready maids), die Duchamp

um 1915 in seinem Atelier aufhängte (Abb. 51) –, so bekommt der Haken also die Funktion

eines Auslösers, der durch die »2 Auslösemechanismen« (2 déclenchements) des

Boxkampfs462 betätigt wird und so zu den »2 Erscheinungsformen« (2 apparences) führt, die

der »kinematischen Entfaltung« respektive dem »kinematischen Erblühen« (épanouissement

cinématique) der Braut entsprechen und deren »Apparenz« Duchamp im Sinne der

»Apparition« der Braut463 einen dritten Punkt hinzufügt:

461 Ebd., S. 31. 462 Vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 96. 463 Zum Unterschied zwischen »Apparenz« und »Apparition«, vgl. ebd., S. 120–122 sowie oben, Kap. 2.1.3.

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1. die Entfaltung in der Entblößung durch die Junggesellen 2. die Entfaltung in der imaginativen Entblößung der begehrenden Braut 3. Von den zwei resultierenden graphischen Entwicklungen ihre Schlichtung [conciliation] finden, die ›die Entfaltung‹ ohne Unterscheidung der Ursache [sans distinction de cause] wäre. | Mixtur, physische Verbindung [composé] der 2 Ursachen (Junggeselle und imaginatives Begehren) nicht analysierbar durch die Logik. | Der letzte Zustand dieser nackten Braut vor dem Genuss, der sie tief sinken lassen würde (tief sinken lassen wird).464

Wenn Duchamp zwischen der (unfreiwilligen, rein mechanischen) »Entblößung durch die

Junggesellen« und der (freiwilligen) »imaginativen Entblößung der begehrenden Braut«

unterscheidet, so findet die »Entfaltung« der Braut ihren Höhepunkt erst in der Verbindung

beider Erscheinungsformen, wie Duchamp hervorhebt: »Von der Paarung [accouplement]

dieser 2 Erscheinungsformen der reinen Jungfräulichkeit – von ihrem Zusammenstoß hängt

die gesamte Entfaltung ab, übergeordnete Gesamtheit [ensemble supérieur] und Krone des

Bildes.«465 So gesehen ist die »gesamte Entfaltung« des Großen Glases nur im

Zusammenhang mit der Scharnierfunktion des Horizonts und dem ›Auslöser‹ zu verstehen,

der durch die zwei Auslösemechanismen des Boxkampfs betätigt wird – nennen wir sie in

Anlehnung an Bergson Intellekt (Entblößung durch die Junggesellen-Betrachter) und Intuition

(imaginative Entblößung der Braut-Wirklichkeit) – und so das Pendel in Schwung bringt, mit

dem die Zeit des Pendels ihren Lauf nimmt und die »kinematische Entfaltung« bewirkt: Und

endlich wird der weibliche Gehenkte seinem Namen in vollem Umfang gerecht und saust

hernieder, um sich im Moment der »blitzschnellen Belichtung« inmitten der Junggesellen

wiederzufinden und die »Paarung« zu vollziehen, den Zusammenstoß der zwei

»Erscheinungsformen«, mit dem die Entfaltung der Braut jenen Höhepunkt erfährt, der »nicht

analysierbar durch die Logik« ist (Abb. 82). Dass die Paarung nicht vermittels logischer

Schlussfolgerung zu entschlüsseln ist deckt sich auch mit der Tatsache, dass sie dank der

Transparenz des Glases unmittelbar nachvollziehbar ist – oder besser gesagt unmittelbar

nachvollziehbar wäre, wenn man das Werk aus dem statischen Rahmen befreien und die zwei

Glaspaneele übereinanderlegen könnte – wie es Duchamp aller Wahrscheinlichkeit nach

gemacht hat und wie es auch auf der Ebene der Reproduktion möglich ist. In dem Moment, da

das Pendel des weiblichen Gehenkten den Punkt seiner maximalen Beschleunigung erreicht,

den Ort, der Deleuze/Guattari zufolge »immer in der Mitte« ist und der »keine lokalisierbare

Beziehung« bezeichnet, sondern vielmehr »eine Pendelbewegung, eine transversale

464 Vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 63–64 (Übers. d. Verf.). 465 Vgl. ebd., S. 63.

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Bewegung, die in die eine und die andere Richtung geht«,466 in dem Moment vollzieht sich

der Zusammenstoß, die Paarung, bei der die Braut in ihrer Eigenschaft als »Motor« inmitten

des »Leiterwagens« oder »Schienengleiters« zum Liegen kommt. Die »Sex-Wespe« der Braut

findet sich im Kreis der Junggesellen wieder, während ihr »Reservoir an Liebes-Benzin« links

neben dem Wasserrad ebenfalls in den Leiterwagen eingebettet liegt, um »nach unten hin in

einer flüssigen Wolke zu enden«, aus der die »Sex-Wespe die nötige Dosis schöpfen wird, um

das Trommelrad zu begießen und die Filamentenmaterie zu nähren«, indem sie »durch

Osmose eine Sekretion von Liebes-Benzin« bewirkt und in ihrer »Vibrationseigenschaft die

Schwingungen des Zeigers« bestimmt (Abb. 83).467 Der »Puls-Zeiger« wiederum, der exakt

auf dem Leiterwagen aufsitzt und die »die Freiheit der Tiere im Käfig hat«, hält in seiner

»Vibrationsbewegung« über eine »Vagabundierleine« jenen »Zylinder-Sex« im

Gleichgewicht, der die Schaufeln des »Wasserrades« in Bewegung versetzt und das Hin und

Her des Leiterwagens auslöst, indem er den »den Luftzug über den Schaft (auf das

Wasserrad) überträgt«.468

Dem wäre mit Deleuze/Guattari hinzuzufügen: »und... und... und...«,469 gestaltet sich die

Situation und die Frage der Begrifflichkeiten Duchamp zufolge doch noch um vieles

diffiziler.470 Ohne an dieser Stelle weiter ins Detail zu gehen, ist jedenfalls bemerkenswert,

dass in der umfassenden Duchamp-Forschung meines Wissens bis dato nicht dem Umstand

Rechnung getragen wurde, dass die beiden Domänen buchstäblich ineinander verschränkt zu

betrachten sind – wie die zwei Seiten eines Möbiusbandes, dessen uneindeutige Oberfläche

die Unterscheidung zwischen einem ›oberen‹ und einem ›unteren‹ Bereich, sprich, zwischen

der Domäne der Braut und der Domäne der Junggesellen letztlich ad absurdum führt. Diese

Interpretation wird nicht zuletzt durch die Tatsache gestützt, dass Duchamp 1968 – viele Jahre

nach der Vollendung seines Glases und wenige Monate vor seinem Tod – im Rahmen einer

neunteiligen Werkserie zum Thema der »Liebenden«471 eine Radierung mit dem Titel La

mariée mise à nu ... (Die Braut nackt entblößt) anfertigte, die sich von den anderen acht

Radierungen (unter ihnen eine Reihe von Hommagen an Cranach, Rodin, Ingres, Courbet,

aber auch Bezugnahmen auf Illustrationen aus der zeitgenössischen Presse sowie auf frühere

466 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 42. 467 Vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 67–68. 468 Vgl. ebd., S. 67. 469 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 41. 470 Vgl. Duchamp: Duchamp du signe, S. 58–72. 471 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 871–885 (Kat.-Nr. 645–653). Die Radierungen, die Duchamp in einer Auflage von jeweils 30 Stück anfertigte, dienten zur Illustration des von Arturo Schwarz herausgegebenen Bandes The Large Glass and Related Works, Bd. 1, Mailand: Galerie Schwarz 1967, vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 870 (Kat.-Nr. 643).

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Werke Duchamps) vor allem dadurch abhebt, dass ihr Titel deutlich an jenen des Großen

Glases angelehnt ist.472 Das Bild, das auf der Vorlage einer Werbefotografie basiert, zeigt ein

nacktes Mädchen mit transparentem Schleier, das, wie Arturo Schwarz erklärt, auf einem

Beichtstuhl kniend seine Erstkommunion empfängt (Abb. 84).473 Stellt man das Bild auf den

Kopf, so drängt sich allerdings auch die Annahme auf, dass es sich hier um die Braut handelt,

die unter den Junggesellen inmitten des Leiterwagens nicht länger kniet, sondern zum Liegen

kommt, während sich ihr hauchdünner Schleier in Richtung jenes Saums ausbreitet, der den

äußersten (nunmehr untersten oder obersten) Rand des Brautkleids markiert und als Scharnier

fungiert, das die Braut und die Junggesellen gleichzeitig voneinander trennt und miteinander

verbindet (Abb. 85). Die Braut, die in der Radierung, wie Duchamp gegenüber Schwarz

erklärt, »endlich entblößt worden ist«474 und die in der Wendung um 180 Grad zum Liegen

kommt, erscheint nunmehr wie im Traum versunken, wie eingebettet in jene Dimension des

Imaginären, die als Schnitt, als Riss oder Abgrund zwischen Symbolischem und Realem

erscheint und mit der das Prinzip der Dreifaltigkeit, dem das kniende Mädchen zugewandt ist,

eine neue Bedeutung bekommt. Weit davon entfernt, sich als Ausdruck einer höheren Macht

zu verstehen, die ihren Ort in einem unergründlichen Außen hat, erscheint das Dreifaltige hier

gleichsam eingefaltet in ein Bewusstsein, das jenseits jeder kritischen Distanz, jenseits jeden

Maßstabs, jenseits aller Eindeutigkeit, jenseits von Raum und Zeit am unmittelbar Gegebenen

teilhat.

Wenn die Entfaltung der Braut als »übergeordnete Gesamtheit« ihren Höhepunkt erst in der

Paarung jener zwei Erscheinungsformen findet, die Duchamp auf die (am Objekt vollzogene)

»Entblößung durch die Junggesellen« und die (im Subjekt zu verortende) »imaginative

Entblößung der begehrenden Braut« zurückführt, so ist diese Paarung mit Bergson im Sinne

einer Überlagerung von Intellekt und Intuition zu verstehen, die mit Duchamp gesprochen zu

einer Entfaltung »ohne Unterscheidung der Ursache«, eben durch »Präzisionsmalerei, und

Indifferenzschönheit« führt. Auf einer derartigen Überlagerung beruht auch Bergsons

Methode der Intuition, insofern man, wie Bergson hervorhebt, nur auf der Basis einer

Reflektion objektiver Erkenntnisse, das heißt, »nur durch gesättigte Materialkenntnis zur

metaphysischen Intuition vordringen kann«, ohne dass sie deswegen »das Resumé oder die

Synthese dieser Erkenntnisse« wäre: »Sie [die Intuition] unterscheidet sich davon [von der

472 Vgl. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 879–880 (Kat.-Nr. 650). 473 Vgl. ebd., S. 880. 474 Duchamp in einem unveröffentlichten Interview mit Arturo Schwarz (1959–1968), zit.n. Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp, S. 880, Originalwortlaut: »The bride has finally been stripped bare here.«

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Synthese der Erkenntnisse], wie der Bewegungsantrieb sich von dem Weg unterscheidet, den

das bewegte Ding durchläuft, wie die Spannung der Feder sich unterscheidet von den

sichtbaren Bewegungen des Pendels.«475 »Kaum daß er ihren Impuls empfangen hat«, erklärt

Bergson, »muß der Philosoph die Intuition verlassen, muß nun, um ihre Bewegung

weiterzuführen, Begriff an Begriff drängend auf sich selbst vertrauen.«476 Wenn die Intuition

als Inbegriff einer dynamischen Sicht der Wirklichkeit folglich der Bewegungsantrieb oder

Impuls ist, vermittels dessen sich die Philosophie aus den Fesseln einer rein mechanischen

Sicht der Dinge zu befreien und die »Aufmerksamkeit von der praktischen uns

interessierenden Seite des Universums abzulenken [vermag], um sie auf das hinzulenken, was

praktisch zu nichts dient«, so bringt sie Bergson zufolge eine Tiefendimension ins Spiel, die

»zu einer vollständigeren Wahrnehmung der Wirklichkeit« führt,477 indem sie Vergangenheit,

Gegenwart und Zukunft als Aspekte einer übergeordneten Gesamtheit sichtbar werden lässt:

Durch die Philosophie können wir uns daran gewöhnen, die Gegenwart niemals von der Vergangenheit zu isolieren, die sie hinter sich herzieht. Durch sie gewinnen alle Dinge eine Tiefe, – noch mehr als Tiefe, etwas wie eine vierte Dimension, die es den früheren Wahrnehmungen erlaubt, mit den gegenwärtigen solidarisch zu bleiben, und die es der unmittelbaren Zukunft möglich macht, sich schon teilweise in der Gegenwart abzuzeichnen. Die Wirklichkeit erscheint dann in der Art ihres Seins nicht mehr in einem statischen Zustande, sondern sie erhält sich in der Kontinuität und der Veränderlichkeit ihres Strebens dynamisch. Alles, was in unserer Wahrnehmung unbeweglich und wie vereist war, erwärmt sich und kommt in Bewegung. Alles beseelt sich um uns, und alles belebt sich in uns. Ein großer Elan trägt die Wesen und die Dinge mit sich fort. Von ihm fühlen wir uns emporgehoben, fortgerissen, getragen. Wir leben mehr, und dieser Zuwachs an Leben bringt die Überzeugung mit sich, daß große philosophische Rätsel gelöst werden dürfen, weil sie aus einer erstarrten Schau des Wirklichen hervorgehen und nur der gedankliche Ausdruck einer gewissen künstlichen Abschwächung unserer Vitalität sind.478

Wenn ein derartiger »Zuwachs von Leben« Bergson zufolge eine »Befriedigung« mit sich

bringt, »die der der Kunst analog ist«, so ist er bezeichnenderweise der (nicht eben gängigen

und wohl vor allem seinem eigenen Erfolg geschuldeten) Meinung, dass die Befriedigung

durch die Philosophie »häufiger, anhaltender und dem Durchschnitt der Menschen mehr

zugänglich« ist als die Befriedigung durch die Kunst, die seines Erachtens zwar die

Wahrnehmung erweitert, »aber mehr an der Oberfläche als in der Tiefe«: »Sie [die Kunst]

475 Bergson: »Einführung in die Metaphysik«, S. 225. 476 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 247. 477 Bergson: »Die Wahrnehmung der Veränderung«, S. 158. 478 Ebd., S. 178–179 (Herv. d. Verf.).

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bereichert unsere Gegenwart, aber sie reicht nicht weit über diese hinaus.«479 Obschon diese

Behauptung, die Bergson 1911 im Rahmen eines Vortrags an der Universität Oxford

aufstellte, in ihrer Undifferenziertheit und insbesondere im Hinblick auf Bergsons Ignoranz

gegenüber der zeitgenössischen Kunst480 prinzipiell einer Revision bedarf, ist angesichts von

Duchamps kritischer Auseinandersetzung mit Bergsons Philosophie interessant, dass

Guillaume Apollinaire in seiner Funktion als einer der großen Kunstkritiker seiner Zeit 1912

zur Einschätzung gelangte, es könnte »einem derart von rein ästhetischen Belangen freien,

derart um Energie bemühten Künstler wie Marcel Duchamp vorbehalten bleiben, Kunst und

Volk wieder miteinander zu versöhnen.«481 – ebenso wie es Bergson vorbehalten war, die

Philosophie »dem Durchschnitt der Menschen mehr zugänglich« zu machen. Dass Apollinaire

mit seiner Einschätzung Recht behalten sollte, darf – Duchamps späterem Erfolg und seiner

Vorreiterrolle für den Neo- und Postavantgardismus zum Trotz – bezweifelt werden, zählt

Duchamp doch bis heute nicht gerade zu den Künstlern, denen die breite Masse geneigt ist

und von deren Werken sie sich eine gewisse Form von »Befriedigung« verspricht. Außer

Zweifel steht jedoch, dass Duchamp seit 1912 nicht nur ausdrücklich darauf abzielte, durch

seine Kunst einen »Zuwachs von Leben« zu bewirken, sondern auch – was Apollinaire 1912

nur ahnen konnte – aktiv darum bemüht war, sich von jeglichem elitären Anspruch zu

befreien und sich je nach Belieben seiner Kunst, dem Schachspiel, seiner Tätigkeit als

Kurator oder seiner bereitwilligen Mitarbeit am ›Mythos Duchamp‹ zu widmen. »Ich glaube

an die Bedeutung des ›Erotismus‹«, erklärte Duchamp 1966 im Interview mit Cabanne, »weil

es Erotik auf der ganzen Welt gibt, und alle Menschen sie verstehen.«482 So gesehen gibt es

eine bemerkenswerte Parallele zwischen Bergsons Methode der »Intuition« und Duchamps

»Erotismus«, den er – analog zu Bergsons unermüdlichem Festhalten am Prinzip der Intuition

– als »das einzige Mittel« anerkannte, »um Verborgenes ans Licht zu bringen, um gewisse

Dinge – nicht unbedingt erotischer Natur – die auf Grund der katholischen Religion und der

gesellschaftlichen Regeln verheimlicht werden, aufzudecken und sie allen zugänglich zu

machen«.483 Zu diesen ›Dingen‹, die Duchamp zutage fördern wollte, zählen neben einem

radikal erweiterten Kunstbegriff und einem tiefen Glauben an das »Primat der Veränderung

im Leben«484 gewiss nicht zuletzt die klassischen Geschlechterrollen, die Duchamp mithilfe

seines weiblichen Alter Ego Rrose Sélavy im Sinne einer paritätischen Konzeption von

479 Ebd., S. 178. 480 Vgl. oben, Kap. 1.2.2. 481 Apollinaire: Die Maler des Kubismus, S. 73. 482 Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, S. 136. Vgl. oben, Kap. 2.3.3. 483 Ebd. 484 Duchamp 1958 im Interview mit Laurence S. Gold, zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 67.

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Autorschaft zu unterwandern suchte, um seine eigene Identität als Künstler nach dem Motto

»Eros [Marcel Duchamp alias Rrose], das ist das Leben« in den Hintergrund zu stellen und

stattdessen ein Prinzip der Freiheit und der Methodenvielfalt ins Zentrum seiner

künstlerischen Auseinandersetzung zu rücken. So erklärte Duchamp 1963 im Interview mit

Francis Roberts:

Die Vorstellung vom Künstler als einer Art Superman ist noch verhältnismäßig neu. Dagegen bin ich angegangen. Seitdem ich meine künstlerische Tätigkeit stoppte, spüre ich in der Tat, daß ich gegen diese Verehrungshaltung bin, die die Welt einnimmt. ›Kunst‹ bedeutet etymologisch gesprochen ›machen‹. Jeder macht etwas, nicht nur der Künstler, und vielleicht wird es in kommenden Jahrhunderten das Machen geben ohne das Notiz-davon-Nehmen.485

Von Duchamps Kunst kann man vieles behaupten, aber auf keinen Fall, dass sie die

Wahrnehmung »mehr an der Oberfläche als in der Tiefe« erweitern und nicht weit über die

Gegenwart hinausreichen würde. Seit 1912 zielte Duchamp mit seinem Tun (und Nicht-Tun)

schließlich vor allem darauf ab, der Oberflächlichkeit des Visuellen, dem

Geschmäcklerischen eines retinalen Kunstbegriffs und dem Unterwürfigen eines überhöhten

Personenkults »Ideen« entgegenzusetzen, mit denen er den Horizont der ›Objektivität‹

transzendieren und »die Malerei einmal mehr in den Dienst des Geistes stellen« würde.486 In

gleichsam exemplarischer Weise realisiert Duchamp damit jenen Begriff der »Freiheit«, der

Bergsons Philosophie zugrunde liegt und den er bereits in seinem Essai von 1889 darauf

zurückführt, »daß jedes von uns erlebte Gefühl einen ästhetischen Charakter annehmen

kann«, wenn auch nur unter der Voraussetzung, dass es »nicht äußerlich verursacht« und

sozusagen auf die rein mechanische Seite der Wahrnehmung, sprich, auf einen bloßen

Automatismus beschränkt ist, sondern dass es vielmehr »mit unzähligen Empfindungen,

Gefühlen oder Vorstellungen geschwängert« ist, die »in ihrer Art etwas Einziges,

Undefinierbares« sind.487 Nur dadurch, »daß uns der Künstler mit einem Male in den

undefinierbaren Zustand hineinversetzt«, in dem er seinen Empfindungen, Gefühlen und

Vorstellungen Ausdruck verliehen hat, »wird die Schranke beseitigt, die Zeit und Raum

zwischen seinem und unserem Bewußtsein gezogen hatten«, konstatiert Bergson, indem er

hinzufügt: »und je ideenreicher, je gehaltvoller an Empfindung und Affekten das Gefühl ist,

in dessen Bannkreis er uns einführt, desto mehr Tiefe oder Erhebung wird das dargestellte

485 Zit.n. ebd., S. 155. 486 Duchamp im Interview mit James Johnson Sweeney, zit.n. ebd., S. 37: »Ich war an Ideen interessiert, nicht bloß an visuellen Produkten. Ich wollte die Malerei einmal mehr in den Dienst des Geistes stellen.« 487 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 20–21.

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Schöne besitzen.«488 Wenn Bergson 22 Jahre später zum Schluss kommt, dass die Kunst im

Vergleich zur Philosophie nicht weit über die Gegenwart hinausreicht, so vertritt er den

Standpunkt eines Philosophen, dessen Begriff des Schöpferischen bei einer breiten Masse

Anklang gefunden hat, während er noch nicht ahnen konnte, dass es einem Künstler wie

Duchamp vorbehalten bleiben sollte, unter dem Vorzeichen einer neuen Lebensphilosophie

eine neue Form von Kunst zu entwickeln, die nicht nur auf handwerklichem Können und

ästhetischer Feinsinnigkeit beruht, sondern sich auch abstrakter Begriffe und Konzepte,

literarischer Verfahren, historischer Studien, vorgefertigter Objekte, zeitlicher Prozesse,

zufälliger Begebenheiten, parawissenschaftlicher Experimente, unterschiedlichster Medien,

und ... und ... und ... bedient: eine Kunst im Zeichen des Erotismus und der Lebenskunst, die

die Wahrnehmung mehr in der Tiefe als an der Oberfläche erweitert und die in

produktionsästhetischer wie rezeptionsästhetischer Hinsicht weit über die Gegenwart

hinausreicht, indem sie mit Duchamp gesprochen dazu anregt, »die Dinge mit dem Geist so

[zu] erfassen, wie der Penis von der Vagina erfaßt wird« (Abb. 86).489 Wenn der

schöpferische Geist Duchamp zufolge einem Organ entsprechen soll, das die Objekte seines

Interesses buchstäblich in sich aufnimmt, indem es sich über sie stülpt und sie unmittelbar

erfasst, verschlingt und unsichtbar werden lässt, so kann man mit Duchamp nur von einer

Erkenntnis sprechen, die in einer Dimension jenseits des Sichtbaren und Berechenbaren,

jenseits der eindeutigen Kategorien und Maßstäbe erfolgt und die erst in der Vereinigung der

Gegensätze, im Moment des Erblühens, in der Tiefe der Dauer nachvollziehbar wird, in einem

Wort, »von der Mitte her«, ausgehend von dem »Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden«

und an dem Innen und Außen nicht länger zu unterscheiden sind. Nach Duchamp ist der Geist

kein Instrument, das über die Dinge verfügen und sie sich zu eigen machen kann, um sie nach

Belieben zu reproduzieren, sondern eine Zone des Genusses, eine Stätte des Werdens und ein

Ort der Emergenz, der sich dem Bereich des Sichtbaren und Berechenbaren entzieht. Der

Geist ist eben dort, wo man ihn zuletzt erwarten würde, inmitten der Materie, im Bereich des

Inkommensurablen, unter den Dingen, an die der Intellekt nie heranreichen wird.

488 Ebd., S. 21 (Herv. d. Verf.). 489 Duchamp 1956 im Interview mit Lawrence D. Steefel, Jr., zit.n. Duchamp: Interviews und Statements, S. 62.

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Abb. 1

Henri Bergson Porträt im Campbell Studio, 1913Les Archives de BergsonBibliothèque littéraire Jacques Doucet, ParisFoto: Georges Meguerditchian

Abb. 2

Marcel Duchamp Porträt für Obligation pour la roulette de Monte Carlo (Detail), 1924Kontaktabzug solarisiert, 5,6 x 8,4 cmMan Ray Trust, ParisFoto: Man Ray

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

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300

Abb. 3

Gruppenfoto anlässlich der Promotion littéraire École normale supérieure, 1878 Fonds photographique de l’École normale supérieure, Paris Foto: Pierre Petit

Abb. 4

»On écoute aux fenêtres le cours de M. Bergson«Zeitungsausschnitt aus Excelsior (14. Februar 1914)Les Archives de BergsonBibliothèque littéraire Jacques Doucet, ParisFoto: Georges Meguerditchian

Marcel DuchampPlay?, 1902Tinte auf Papier, 20,5 x 25,5 cmCollection Alexina Duchamp, Villiers-sous-Grez

Abb. 5 Abb. 6

Marcel Duchamp, Jacques Villon, Raymond Duchamp-Villon (von links nach rechts) in Villons Garten in Puteaux, ca. 1913Walt Kuhn, Kuhn family papers, and Armory Show recordsArchives of American Art, Smithsonian Institution, Washington D.C.Foto: unbekannt

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301

Albert Gleizes, Jean MetzingerDu »Cubisme«Paris: Figuière 1912

Abb. 7

Marcel DuchampPortrait de joueurs d’échecs / Porträt von Schachspielern, 1911Öl auf Leinwand, 108 x 101 cmThe Louise and Walter Arensberg CollectionPhiladelphia Museum of Art

Abb. 8

Henri BergsonL’Évolution créatriceParis: Alcan 1907

Abb. 9 Abb. 10

Marcel DuchampNu descendant un escalier n° 2 / Akt eine Treppe herabsteigend, Nr. 2, 1912Öl auf Leinwand, 146 x 89 cmThe Louise and Walter Arensberg CollectionPhiladelphia Museum of Art

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302

Étienne-Jules MareyÉtude sur la locomotion humaine / Studie über die menschliche Bewegung, ca. 1882

Musée Marey, Beaune

Marcel Duchamp Le roi et la reine entourés de nus vites / König und Königin, von schnellen Akten umgeben, 1912Öl auf Leinwand, 114,5 x 128,5 cmThe Louise and Walter Arensberg CollectionPhiladelphia Museum of Art

Abb. 12 Abb. 11

Marcel DuchampMécanisme de la pudeur/Pudeur mécanique / Mechanismus der Scham/Mechanische Scham, 1912Bleistift laviert auf Papier, 23,8 x 32,1 cmCentre National d’Art et de Culture Georges Pompidou, Paris

Abb. 13

Marcel DuchampVierge n° 1 / Jungfrau, Nr. 1, 1912Bleistift auf Papier, 32,6 x 25,2 cmA. E. Gallatin CollectionPhiladelphia Museum of Art

Abb. 14

Page 303: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

303

Marcel DuchampVierge n° 2 / Jungfrau, Nr. 2, 1912Bleistift auf Papier, 40 x 25,7 cmThe Louise and Walter Arensberg CollectionPhiladelphia Museum of Art

Abb. 15

Gottesanbeterinhttp://www.meinbezirk.at/donaustadt/magazin/gottesanbeterin-braun-mantis-religiosa-d92156.html (aufgerufen am 28.12.2015)

Abb. 16

Abb. 17

Marcel DuchampLe passage de la vierge à la mariée / Der Übergang von der Jungfrau zur Braut, 1912Öl auf Leinwand, 59,4 x 54 cmThe Museum of Modern Art, New York

Marcel DuchampMariée / Braut, 1912Öl auf Leinwand, 89,5 x 55 cmThe Louise and Walter Arensberg CollectionPhiladelphia Museum of Art

Abb. 18

Page 304: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

304

Pillendreherhttp://www.welt.de/reise/Fern/article130442615/Pillendreher-wittern-Kot-der-Elefanten-meilenweit.html (aufgerufen am 28.12.2015)

Abb. 19

Imaginalscheiben am Beispiel der Drosophilahttp://www.spektrum.de/lexikon/biologie/imaginalscheiben/33737 (aufgerufen am 28.12.2015)

Abb. 20

Francis PicabiaL‘Œil cacodylate / Das kakodylsaure Auge, 1921Öl und Collage auf Leinwand, 148,6 x 117,4 cmCentre National d’Art et de Culture Georges Pompidou, Paris

Abb. 21

Marcel DuchampRrose Sélavy, 1921Silbergelatineabzug, retuschiert und signiert, 21,9 x 17,4 cmThe Samuel S. White III and Vera White CollectionPhiladelphia Museum of ArtFoto: Man Ray

Abb. 22

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305

Abb. 23

Marcel DuchampBelle Haleine: Eau de Voilette / Schöner Atem: Schleierwasser, 1921

Privatsammlung, Paris

Marcel DuchampCover für View: The Modern Magazine V, Nr. 1 (März 1945)Vorder- und Rückseite, je 30,5 x 23 cm

Abb. 24

Abb. 25

Möbiusbandhttp://i.stack.imgur.com/KIBPj.jpg (aufgerufen am 28.12.2015)

Abb. 26

Jacques Lacan»Schema R«, 1957–1958in: ders.: Écrits, S. 553

Page 306: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

306

Abb. 27

Jacques Lacan»Register des tatsächlichen Sehens«, 1964in: ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 97/112(Zusammenstellung d. Verf.)

Abb. 28

Kleinsche Flaschehttp://organizationsandmarkets.com/2008/09/16/klein-bottle/ (aufgerufen am 28.12.2015)

Abb. 29

Henri BergsonSchema zur Darstellung der Bewegung des Denkens, 1896in: ders.: Materie und Gedächtnis, S. 127

Abb. 30

Henri BergsonKegel des Gedächtnisses und gegenwärtige Vorstellung, 1896in: ders.: Materie und Gedächtnis, S. 147

Page 307: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

307

Marcel DuchampÉlevage de poussière / Staubzucht, 1920Silbergelatineabzug vom Originalnegativ, 7,2 x 11 cmJedermann Collection, N. A., New YorkFoto: Man Ray

Abb. 31 Abb. 32

Zahnräderhttps://image.freepik.com/freie-ikonen/zwei-zahnrader_318-61978.jpg (aufgerufen am 28.12.2015)

Marcel DuchampLa mariée mise à nu par ses célibataires, même (Le grand verre) / Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar (Das Große Glas), 1915–1923Mischtechnik auf Glas in Stahlrahmen, 277,5 x 175,8 cm Nachlass von Katherine S. DreierPhiladelphia Museum of Art

Abb. 33

Marcel DuchampLe grand verre accompli / Das Große Glas vollendet, 1965Radierung auf Japanpapier, koloriert, 50 x 33 cmGraphische Sammlung, Staatsgalerie Stuttgart

Abb. 34

Page 308: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

308

Marcel DuchampLa mariée mise à nu par ses célibataires, même (Le grand verre) / Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar (Das Große Glas), 1915–1923Mischtechnik auf Glas in Stahlrahmen, 277,5 x 175,8 cmNachlass von Katherine S. DreierPhiladelphia Museum of Art

Abb. 35

Marcel DuchampLazy Hardware, 1945 Schaufenstergestaltung zur Präsentation von André Bretons Arcane 17 in Gotham Book Mart, New YorkMarcel Duchamp ArchivePhiladelphia Museum of ArtFoto: Maya Deren

Abb. 36

Marcel DuchampÉtant donnés: 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairage / Gegeben sei: 1. der Wasserfall, 2. das Leuchtgas, 1946–1966Rauminstallation, verschiedene Medien (Außenansicht)242,5 x 177,8 x 124,5 cmSchenkung der Cassandra FoundationPhiladelphia Museum of Art

Abb. 37

Marcel Duchamp Étant donnés: 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairage / Gegeben sei: 1. der Wasserfall, 2. das Leuchtgas, 1946–1966Rauminstallation, verschiedene Medien (Innenansicht)242,5 x 177,8 x 124,5 cmSchenkung der Cassandra FoundationPhiladelphia Museum of Art

Abb. 38

Page 309: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

309

Francis PicabiaL‘Œil cacodylate / Das kakodylsaure Auge (Detail), 1921Öl und Collage auf Leinwand, 148,6 x 117,4 cmCentre National d’Art et de Culture Georges Pompidou, Paris

Abb. 39

Marcel DuchampL.H.O.O.Q., 1919Zeichnung auf Postkarte, 19,7 x 12,4 cmPrivatsammlung, Paris

Abb. 40

Gustave CourbetL’Origine du monde / Der Ursprung der Welt, 1866Öl auf Leinwand, 46 x 55 cmMusée d’Orsay, Paris

Abb. 41 Abb. 42

Marcel DuchampÉtant donnés: 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairage / Gegeben sei: 1. der Wasserfall, 2. das Leuchtgas, 1946–1966Rauminstallation, verschiedene Medien (Detail)242,5 x 177,8 x 124,5 cmSchenkung der Cassandra FoundationPhiladelphia Museum of Art

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310

Marcel DuchampLa mariée mise à nu par ses célibataires, même (La boîte verte) / Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar (Die Grüne Schachtel), 1934Schachtel mit 93 Notizen, Fotos und Faksimiles, 33,2 x 28 x 2,5 cmExemplar 86/300 (Normalausgabe)Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

Abb. 43 Abb. 44

Albrecht DürerDer Zeichner des liegenden Weibes (Emotivität des Weibes), 1512–1525Holzschnitt, 7,5 x 21,5 cmin: ders.: Underweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen und gantzen corporen, Nürnberg 1525

Marcel DuchampFresh Widow, 1920/1964Fensterminiatur in Lack, Scheiben mit Leder beklebt, 77,5 x 45 cmReplik der Galerie Schwarz, Mailand, Exemplar 4/8Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

Abb. 45

Seite aus dem Katalog des Pariser Bazar de l’Hôtel de Ville, 1913abgebildet in: Vogt: »The Making of the Ready-made«, S. 44rechts unten: ein Flaschentrockner

Abb. 46

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311

Marcel DuchampThe, 1915Tinte auf Papier, 22,2 x 14,3 cmThe Louise and Walter Arensberg CollectionPhiladelphia Museum of Art

Abb. 47

Marcel DuchampRendez vous du dimanche 6 février 1916 /Rendezvous vom Sonntag den 6. Februar 1916 (Rückseite), 1916maschinengeschriebener Text auf vier zusammengeklebten Postkarten, 28,4 x 14,4 cmThe Louise and Walter Arensberg CollectionPhiladelphia Museum of Art

Abb. 48

Marcel DuchampRendez vous du dimanche 6 février 1916 /Rendezvous vom Sonntag den 6. Februar 1916 (Vorderseite), 1916maschinengeschriebener Text auf vier zusammengeklebten Postkarten, 28,4 x 14,4 cmThe Louise and Walter Arensberg CollectionPhiladelphia Museum of Art

Abb. 49 Abb. 50

Marcel DuchampPeigne / Kamm, 1916/1964Stahlkamm mit Inschrift, 16,6 x 3 cmReplik der Galerie Schwarz, Mailand, Exemplar 5/8Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

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312

Marcel DuchampIn Advance of the Broken Arm, 1915/1964 Schneeschaufel mit Inschrift, Holz, galvanisiertes Metall und Eisen, 132 x 35 x 11 cm Replik der Galerie Schwarz, Mailand, Exemplar 2/8Staatliches Museum SchwerinFoto: Gabriele Bröcker

Abb. 51 Abb. 52

Marcel Duchamp… Pliant … de voyage / Reisefaltobjekt, 1916/1964Schreibmaschinenhülle der Marke Underwood, Höhe: 23 cmReplik der Galerie Schwarz, Mailand, Exemplar 1/8Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

Abb. 53

Marcel DuchampApolinère Enameled / Emaillierter Apollinaire, 1916–1917Bleistift und Lack auf Karton und lackiertem Blech, 24,4 x 33,9 cmThe Louise and Walter Arensberg CollectionPhiladelphia Museum of Art

Rembrandt Harmenszoon van RijnPhilosoph bei der Meditation (Interieur mit Tobit und Anna), 1632Öl auf Leinwand, 28 x 34 cmMusée du Louvre, Paris

Abb. 54

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313

Marcel Duchamp»Readymade Réciproque« / »Reziprokes Readymade«Notiz aus La boîte verte / Die Grüne Schachtel, 1934Exemplar 86/300 (Normalausgabe)Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

Abb. 55

Henri Bergson

Paris: Alcan 1900

Abb. 56

Marcel DuchampTrébuchet / Stolperfalle, 1917

Replik der Galerie Schwarz, Mailand, Exemplar 4/8Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

Abb. 57

Marcel Duchamp»Notes générales pour un tableau hilarant« / »Allgemeine Notizen für ein Lachbild« Notiz aus La boîte verte / Die Grüne Schachtel, 1934Exemplar 86/300 (Normalausgabe)Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

Abb. 58

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314

Marcel DuchampPorte: 11, rue Larrey / Tür: Rue Larrey 11, 1927Holztür mit zwei Türrahmen, 220 x 62,7 cmCollection Fabio Sargentini, Rom

Abb. 59

Cover von Rongwrong, Nr. 1 (Juli 1917)herausgegeben von Marcel Duchamp, Henri-Pierre Roché und Beatrice WoodVorderseite, 28,1 x 30,3 cm

Abb. 60

Marcel DuchampFountain, 1917Urinal, signiert, Original verlorenin: The Blind Man, Nr. 2 (Mai 1917), S. 4Foto: Alfred Stieglitz

Abb. 61

Bud FisherMutt & Jeff, Jahr unbekannt (nach 1916)https://schulzlibrary.wordpress.com/tag/mutt-and-jeff/ (aufgerufen am 28.12.2015)

Abb. 62

Page 315: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

315

Marcel Duchamp

1966Schachtel mit 69 Notizen, Kollotypie und Pochoirkolorierung, 33,3 x 28,4 x 4 cmExemplar 108/150Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

Abb. 63

Grabstein der Familie Duchamp, Rouenhttp://passagejfv.eklablog.com/dimanche-2-octobre-2011-d-ailleurs-a2357557 (aufgerufen am 28.12.2015)

Abb. 64

Marcel DuchampDe ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy (La boîte-en-valise) / Von oder durch Marcel Duchamp oder Rrose Sélavy (Die Schachtel im Koffer), 1941Schachtel mit Miniaturen von Duchamps Werken, 69 Teile, 39 x 35 x 8 cmSerie A (mit späteren Ergänzungen)Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

Abb. 65

Marcel DuchampAusstellungsdisplay für First Papers of Surrealism, 1942kuratiert von André Breton und Marcel DuchampReid Mansion Building, New YorkFoto: unbekannt

Abb. 66

Page 316: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

316

Elias Elisofon»Duchamp descends staircase«, 1952in: Winthrop Sargeant: »Dada’s Daddy«, in: Life Magazine 32, Nr. 17 (28. April 1952), S. 100

Abb. 67

Jasper JohnsFlag, 1954–1955Enkaustik, Öl und Collage auf Stoff, auf Sperrholz montiert (drei Teile), 107,3 x 154 cmSchenkung von Philip Johnson zu Ehren von Alfred H. Barr jr.The Museum of Modern Art, New York

Abb. 68

Robert RauschenbergTrophy II (for Teeny and Marcel Duchamp), 1960Mischtechnik auf Leinwand, 90 x 118 x 5 cmSchenkung der T. B. Walker FoundationWalker Art Center, Minneapolis, Minnesota

Abb. 69

Jasper JohnsBühnenbild für Merce Cunninghams Walkaround Time, 1968

Foto: unbekannt

Abb. 70

Page 317: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

317

Jean TinguelyHomage to New York, 1960Selbstzerstörung einer Maschine aus Altmetall und anderen Materialien im Garten des New Yorker Museum of Modern Art Foto: unbekannt

Abb. 71

Donald JuddUntitled (DSS 39), 1963Öl auf Holz und Eisenrohr, 56,2 x 115,1 x 77,5 cmHirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington D.C.

Abb. 72

Hannah WilkeI Object: Memoirs of a Sugargiver, 1977–1978Ilfochrome Diptychon, jedes Bild 70 x 40,5 cmHannah Wilke Collection & Archive, Los Angeles

Abb. 73 Abb. 74

Stanley BrouwnThis Way Brouwn, 1963Filzstift und Stempel auf Papier, 24,4 x 31,8 cmOrt unbekannt

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318

Joseph KosuthOne and Three Chairs, 1965

The Museum of Modern Art, New York

Abb. 75

Sherrie LevineFountain (after Marcel Duchamp: A. P.), 1991Bronze, 66,1 x 36,8 x 35,6 cmWalker Art Center, Minneapolis, Minnesota

Abb. 76

Yasumasa MorimuraDoublonnage (Marcel), 1988

Exemplar 6/10Courtesy of the artist and Luhring Augustine, New York

Abb. 77

Mike KelleyArena # 7, 1990Decke und Stofftiere, 125 x 135 x 30 cmCourtesy of Skarskedt Gallery, London

Abb. 78

Page 319: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

319

Jacques Lacan»Schema RSI«, 1974–1975in: ders.: Seminar 22: »R. S. I.« (Sitzung vom 11. Februar 1975) http://www.valas.fr/Jacques-Lacan-RSI-1974-1975,288(aufgerufen am 28.12.2015)

Abb. 79

Marcel DuchampRéseau des stoppages / Netzwerk der Stoppagen, 1914Öl auf Leinwand, 147,7 x 197 cmAbby Aldrich Rockefeller Fund und Schenkung von William SislerThe Museum of Modern Art, New York

Abb. 80

Marcel DuchampPistons de courant d’air / Durchzugskolben, 1914

Collection Alexina Duchamp, Villiers-sous-Grez

Abb. 81

Duchamps Großes Glas mit Spiegelung der BrautBildbearbeitung: Caroline Ecker

Abb. 82

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320

Duchamps Braut als Motor im LeiterwagenBildbearbeitung: Caroline Ecker

Abb. 83

Marcel DuchampLa mariée mise à nu ... / Die Braut nackt entblößt ..., 1968Radierung auf Japanpapier, 50,5 x 32,5 cmExemplar 1/30Dieter Keller, Stuttgart

Abb. 84

Marcel DuchampLa mariée mise à nu ... / Die Braut nackt entblößt ... (um 180° gedreht), 1968 Radierung auf Japanpapier, 50,5 x 32,5 cmExemplar 1/30Dieter Keller, Stuttgart

Abb. 85

Marcel DuchampCoin de chasteté / Keuschheitskeil, 1954/1963Dentalkunststoff und Bronze, 5,6 x 8,5 x 4,2 cmReplik der Galerie Schwarz, Mailand, Exemplar 8/8Staatliches Museum SchwerinFoto: Gerald Freyer

Abb. 86

Page 321: Henri Bergson und Marcel Duchamp - akbild.ac.at

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– What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago: The University of Chicago Press 2005.

PAWLOWSKI, Gaston: Voyage au pays de la quatrième dimension, Paris: Fasquelle 1912.

PÖGGELER, Otto: »Heideggers Topologie des Seins«, in: ders.: Philosophie und Politik bei Heidegger, Freiburg/München: Alber 1974, S. 71–104.

PIAGET, Jean, INHELDER, Bärbel u.a.: Die natürliche Geometrie des Kindes (1948), aus dem Französischen von Rosemarie Heipcke, mit einer Einleitung von Hans Aebli, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1974.

– Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde (1948), aus dem Französischen von Rosemarie Heipcke, mit einer Einleitung von Hans Aebli, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1975.

PONT, Jean-Claude: La topologie algébrique des origines à Poincaré, Paris: Presses Universitaires de France 1974.

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ROMAINS, Jules: »Intuitions«, in: La Phalange (Juli–Dezember 1906), S. 175.

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– »La poésie immédiate«, in: Vers et prose (Oktober–Dezember 1909), S. 90–95.

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LEBENSLAUF

Sarah Kolb, Mag.a phil., geboren 1976 in Dornbirn, Österreich Ausbildung, Berufserfahrung und Forschungsstipendien (Auswahl): 2015 Dissertationsabschlussstipendium, Akademie der bildenden Künste Wien 2011 bis 2012 Duchamp-Forschungsstipendium, Staatliches Museum Schwerin seit 2011 Universitätsassistenz für Kunstgeschichte und Kunsttheorie, Universität

für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz 2009 Dissertationsstipendium, Akademie der bildenden Künste Wien 2007 bis 2008 Kuratorin, Vereinigung bildende Künstler/innen Wiener Secession 2006 bis 2007 IFK Abroad Fellow, Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg »Medien

und kulturelle Kommunikation«, Universität zu Köln 2006 Forschungsaufenthalte in New York und Philadelphia 2005 bis 2006 Junior Fellow, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften,

Wien seit 2005 Dissertationsstudium der Philosophie, bis 2007 Universität für angewandte

Kunst Wien, seit 2009 Akademie der bildenden Künste Wien 2005 bis 2006 Redakteurin und Archivarin, basis wien seit 2004 Publikationen, Vortragstätigkeit, Konferenzorganisation, Textredaktion 2001 Forschungsstipendium der Universität Wien, Paris 1998 bis 2002 Studium der Physik (erster Studienabschnitt), Universität Wien 1995 bis 2002 Studium der Philosophie mit Fächerkombination (Kunstgeschichte,

Physik, Medizin, Psychologie, Ethnologie, u.a.), Universität Wien; Diplom

Publikationen (Auswahl):

– Hg. gemeinsam mit Anne von der Heiden: Logik des Imaginären. Diagonale Wissenschaft

nach Roger Caillois (in Vorbereitung). – Hg. gemeinsam mit Anne von der Heiden: Roger Caillois: Der Fluss Alpheios, aus dem Franz. u. mit Anm. v. Rainer G. Schmidt (in Vorbereitung). – »»Verzögerung in Glas«. Perspektiven zur Kunst der Verschleierung«, in: Anne von der Heiden u.a. (Hg.): Fort-Da. Religion und Imagination (in Vorbereitung). – »Impossible! Bergson after Duchamp after Caillois«, in: Sjoerd van Tuinen (Hg.): Speculative Art Histories (in Vorbereitung). – Malerei im Dienste der Metaphysik. Marcel Duchamp und das Echo des Bergsonismus, hg. v. Gerhard Graulich u. Kornelia Röder, Schwerin: Staatliches Museum Schwerin 2015. – »Dem Werden auf die Pelle rücken. Bildtopologie bei Bergson, Duchamp und Lacan«, in: Ilka Becker u.a. (Hg.): Just not in time: Inframedialität und non-lineare Zeitlichkeiten in

Kunst, Film, Literatur und Philosophie, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 135–157. – »Präzisionsmalerei und Indifferenzschönheit: Bergson, Duchamp und der Topos der Intuition«, in: ST/A/R, Nr. 15 (Oktober 2007), S. 75–78. – »Living rooms«, in: Alexandra Berlinger, Wolfgang Fiel: tat ort. inwendig, Wien/New York: Springer Verlag 2007, S. 56–57. – »Virtualität ist eine Frage der Faltung. Über Windungen, Gedächtnislücken und Gedankensprünge«, in: Lucas Gehrmann (Hg.): Lebt und arbeitet in Wien, Wien: Kunsthalle Wien 2005, S. 169–171.

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ABSTRACT

Mit ihren diametral entgegengesetzten Werken haben Henri Bergson (1859–1941) und Marcel

Duchamp (1887–1968) beide einen radikal neuen Begriff des Schöpferischen entwickelt, der

bis heute für rege Kontroversen sorgt. Während Bergson im beginnenden 20. Jahrhundert den

Status eines richtiggehenden Pop-Philosophen hatte und seit dem Ersten Weltkrieg von vielen

Seiten eines halsbrecherischen Intuitionismus bezichtigt wurde, um erst durch Gilles Deleuze

in seiner Qualität als »Theoretiker der Differenz« rehabilitiert zu werden, genoss Duchamp

über Jahrzehnte hinweg des Status eines eigenbrötlerischen Exzentrikers, um erst Mitte des

20. Jahrhunderts zum »Jahrhundertkünstler« und Wegbereiter einer neuen Methodenvielfalt

hochstilisiert zu werden. Einer Reihe nachgewiesener historischer Berührungspunkte und

vielfältiger inhaltlicher und methodischer Verbindungslinien zum Trotz sind Bergson und

Duchamp bislang jedoch nur punktuell miteinander in Verbindung gebracht worden. Die

vorliegende Dissertation hat sich daher zum Ziel gesetzt, ihre Werke im Rahmen einer

vergleichenden Diskursanalyse gegenüberzustellen und unter Bezugnahme auf angrenzende

Themenfelder, Diskurse und Praktiken ein breites Spektrum von Parallelen, Korrespondenzen

und Interferenzen offenzulegen. Mit dem Konzept der ›Bildtopologie‹, das den Dreh- und

Angelpunkt der vergleichenden Diskursanalyse bildet, gilt es die Werke Bergsons und

Duchamps kurzzuschließen und neu im Diskurs der Gegenwart zu verorten.

With their diametrically opposed works, Henri Bergson (1859–1941) and Marcel Duchamp

(1887–1968) both developed a radically new notion of creativity that remains disputed to the

present day. Whereas Bergson was celebrated as a pop-philosopher at the beginning of the

20th

century, falling into disrepute as an intuitionist during the First World War only to be

rehabilitated as a »theorist of difference« by Gilles Deleuze, Duchamp held the status of a

solitary eccentric over many decades, and was only talked up as »artist of the century« and

forerunner of a new methodical pluralism as late as the 1950s. Despite an apparent historical

contiguity and a variety of interconnections as to content and methodology, Bergson and

Duchamp, however, have only been linked to each other on the margins. The present

dissertation thus aims to confront their works within the framework of a comparative

discourse analysis and to reveal a wide range of parallels, correspondences, and

interferences by taking into account adjoining topics, discourses and practices. The concept

of a ›topology of the image‹, which forms the pivotal point of the comparative discourse

analysis, thus attempts to short-circuit Bergson’s and Duchamp’s works and to give rise to a

new positioning in the fields of contemporary art and theory.