Heidegger Und Die Logik, Ed. Denker, Zabarowski [2006]

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Heidegger und die Logik

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ELEMENTASchriften zur Philosophie und

ihrer Problemgeschichte

herausgegeben von

Rudolph Berlinger † undWiebke Schrader

Band 79 - 2006

Amsterdam - New York, NY 2006

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Heidegger und die Logik

Herausgegeben von Alfred Denker und Holger Zaborowski

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ISBN-10: 90-420-2063-6ISBN-13: 978-90-420-2063-4©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2006Printed in the Netherlands

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 7

1. Der frühe Heidegger und die Logik der Philosophie – zwischen Neuscholastik und Neukantianismus Alfred Denker 9

2. Die formale Anzeige der Faktizität als Frage der Logik Eric Sean Nelson 31

3. Die formale Anzeige als Schlüssel zu Heideggers Logik der philosophischen Begriffsbildung Theodore Kisiel 49

4. Sein und Logos – Heideggers frühe Auseinandersetzung mit Parmenides Günther Neumann 65

5. Martin Heidegger und die Logik der Philosophiegeschichte am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit HegelDaniel Fidel Ferrer 89

6. Heidegger und das Rationalitätsprinzip Harald van Veghel 99

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7. Heidegger und die Logik – Offenheit als Ort der Wandlung Constance Kolka 119

8. Sprache als Ab-Grund. Zu Heideggers „Erschütterung der Logik“ Peter Trawny 133

9. Wahrheit, Sein und Zeit. Zu Heideggers Vorlesung aus dem Winter-semester 1925/26 Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21) Holger Zaborowski 161

10. Das phänomenologische Leitmotiv in Heideggers Seinsfrage Herman Philipse 185

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Vorwort

Martin Heidegger hat sich auf seinem Denkweg immer wieder mit Fragen der Logik auseinandergesetzt. Die Beiträge dieses Bandes gehen dem Verhältnis Heideggers zur Logik in seinen verschiedenen Phasen nach und zeigen, inwiefern es möglich ist, Heideggers gesamten Denkweg, wie Theodore Kisiel behauptet hat, als den Denkweg eines „Logikers“ zu bezeichnen.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf die Tagung „Heidegger und die Logik“ zurück, die im Mai 2002 in Freiburg i. Br. stattfand. Für die Veröffentlichung wurden die Beiträge überarbeitet und teilweise ins Deutsche übersetzt.

Wir danken dem Verlag Princeton University Press für die freundliche Genehmigung, den Text Herman Philipses „Das phänomenologische Leitmotiv in Heideggers Seinsfrage“ ins Deutsche übersetzen und in diesem Band veröffentlichen zu dürfen. Für Hilfe und Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage danken wir Frau Rosemarie Rückert und Herrn Daniel Fidel Ferrer. Außerdem danken wir Frau Professor Wiebke Schrader herzlich für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe „Elementa“ und Herrn Fred van der Zee vom Verlag Rodopi für die gute Zusammenarbeit.

Freiburg i. Br., den 20. Juli 2005 Alfred Denker und Holger Zaborowski

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1. Der frühe Heidegger und die Logik der Philosophie – zwischen Neuscholastik und Neukantianismus

Alfred Denker, Pont de Cirou, Frankreich

„Was vernünftig ist, das ist nicht nur wirklich, und was nur wirklich ist, das ist noch nicht vernünftig.“1

Das Thema meines Vortrages ist das Problem der Logik der Philosophie in Heideggers frühen Schriften. Im ersten Teil werde ich Rickerts Philosophie so darstellen, dass ihre Bedeutung für Heidegger sichtbar wird. Der zweite Teil ist Heideggers philosophischer Grundanschauung und seiner Auseinandersetzung mit Rickert und Lask gewidmet. Im dritten Teil werde ich versuchen, die Grundrisse Heideggers philosophischer Position anhand seiner Dissertation und des Schlußkapitels seiner Habilitationsschrift zu skizzieren.

1. Rickerts Begriff der Philosophie Für Rickert – neben Windelband der zweite Hauptvertreter des badischen Neukantianismus – ist Kants kopernikanische Wende das entscheidende Ereignis in der Geschichte der Philosophie: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.“2

1 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften.Dritte und vierte verbesserte und ergänzte Auflage, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1921, S. XVIII. 2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XVI.

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Rickert versteht seine philosophische Aufgabe dann auch als eine systematische Weiterbildung des Kantischen Kritizismus. Er definiert die Philosophie als die Universalwissenschaft des Weltganzen und bestimmt damit das methodische Wesen der Philosophie als theoretische Erkenntnis.3 Damit grenzt er sie scharf von allen Einzelwissenschaften, die sich in ihrer Forschung auf einen Teil der Wirklichkeit beschränken, ab. Der Gegenstand der philosophischen Erkenntnis ist die Welt als das Ganze. Als kritischer Philosoph kann Rickert sich nicht sofort an die Arbeit der Welterforschung machen; zuvor sollen die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis eingehend untersucht werden. Diese erkenntnistheoretische Grundlegung der Philosophie hat Rickert in seiner Habilitationsschrift Der Gegenstand der Erkenntnis durchgeführt: „Zum Begriff des Erkennens gehört außer einem Subjekt, das erkennt, ein Gegenstand, der erkannt wird. Unter ‚Gegenstand’ darf man zunächst nichts anderes verstehen, als das, was dem erkennenden Subjekt entgegensteht, und zwar in dem Sinne, dass das Erkennen sich danach zu richten hat, wenn es seinen Zweck erreichen will. Dieser Zweck besteht darin, wahr oder ‚objektiv’ zu sein. Unsere Frage lautet: was ist der Gegenstand der Erkenntnis, oder wodurch erhält das Erkennen seine Objektivität?“4

Bestimmend für Rickerts Erkenntnisbegriff ist erstens die Zweiheit von Subjekt und Gegenstand, von Ich und ihm immanenten Nicht-Ich, von Bewußtsein und Bewusstseinsinhalt. Das erkenntnistheoretische Subjekt ist das, was übrig bleibt, wenn wir von allem Inhalt des Bewusstseins abstrahieren. Von diesem Subjekt können wir nichts weiter sagen, „als dass es sich seines Inhalts bewusst ist“ und „dass es das einzige ist, das niemals Objekt, Bewusstseinsinhalt werden

3 Heinrich Rickert, „Vom Begriff der Philosophie“, in: derselbe, Philosophische Aufsätze, hg. von Rainer Bast, UTB (Mohr Siebeck), Tübingen 1999, S. 3. 4 Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen und Leipzig 1904, S. 1.

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kann“.5 Das erkenntnistheoretische Bewusstsein ist die reine Form aller immanenten Objekte.6 Ein von diesem Bewusstsein unabhängiges Wirkliches ist eine Unmöglichkeit. Wir können es nicht einmal denken, weil „alles Sein ‚Sein’ im Bewußtsein ist“.7 Deshalb kann die Abbildtheorie der Wahrheit nicht richtig sein. Nach dieser Theorie wäre Wahrheit die Übereinstimmung der Vorstellung mit dem transzendenten Seienden, das außerhalb des Bewusstseins und unabhängig von ihm sein soll. Das Bewusstsein könnte aber, wie Rickert behauptet, niemals die Übereinstimmung seiner Vorstellung mit dem, was kein Bewusstseinsinhalt ist, feststellen.8 Die Abbildtheorie führt zu einer Verdoppelung der Wirklichkeit und damit letztendlich nur zu einer unendlichen Regression.9

Erkennen ist Streben nach Wahrheit. Wahr sind an erster Stelle nicht unsere Vorstellungen, sondern die Urteile: „Erkennen ist Urteilen.“10 Damit wird die Urteilslehre zum Herzstück der Logik und der Erkenntnistheorie und damit auch der Philosophie im Ganzen. Gerade diese Entscheidung Rickerts, das Wesen der Wahrheit in das Urteil zu verlegen, hat entscheidende Folgen für seinen Philosophiebegriff und wird später für Heidegger immer problematischer werden:

1. Die erkenntnistheoretische Grundlegung der Philosophie ist bestimmend für Rickerts Urteilslehre. Urteile sind Verbindungen von Vorstellungen, welche durch eine Bejahung oder Verneinung wahr oder falsch werden.11 Rickert benutzt das Beispiel der Vorstellung eines grünen Baumes: „Ich stelle einen grünen Baum vor und fälle das Urteil: der Baum ist grün. Da meint die von uns bekämpfte Ansicht, das Wesen dieser Erkenntnis bestehe darin, dass ich den Baum grün vorstelle, und dass das Urteil deshalb wahr ist, weil der Baum grün 5 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 24f. 6 Siehe Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 148. 7 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 29. 8 Vgl. Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Freiburg 1899, S. 29. 9 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 193. 10 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 84 u. 102f. 11 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 92f.

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vorgestellt wird. Diese Auffassung stimmt überein mit der Lehre, nach der das Urteil die Zerlegung oder Zusammenfügung der beiden Vorstellungen Baum und grün ist. Ich urteile, dass der Baum grün ist, wenn ich ihn als grün seiend vorstelle. Das Urteil gibt in der Form der ‚prädikativen Verbindung’ denselben Gedanken, den ich durch die Wahrnehmung bereits in der Form der ‚attributiven Verbindung’ erhalten hatte. Der Unterschied zwischen Vorstellung und Urteil wäre demnach ein rein formaler. Im Grunde enthalten beide dasselbe. Bei einer Einsicht in die wahre Natur des Urteils ist diese Auffassung unhaltbar. Ich stelle niemals einen Baum als grün vor, sondern ich stelle nur einen grünen Baum vor. Als grün seiend beurteile ich den Baum, und dies Urteil entsteht nicht durch Auseinanderlegen oder Zusammensetzen der Vorstellungen, sondern durch Anerkennung der Forderung, die vorgestellte Beziehung von Baum und grün zu bejahen. Nur auf dem Sollen also und nicht auf dem Sein kann die Wahrheit des Urteils beruhen.“12

Der Gegenstand der Erkenntnis ist das transzendente Sollen und diese Transzendenz ist nicht real, sondern ideal. Das transzendente Sollen ist vom Begriff des Urteils unabtrennbar.13 Wenn jemand fragt, ob der Baum grün ist, dann fühle ich mich genötigt, das Urteil „Der Baum ist grün“, zu bejahen. Der Gegenstand der Erkenntnis soll unabhängig vom erkennenden Subjekt sein14 und kann demzufolge nur das Reich der geltenden Werte sein: „Nur der Wert, der vollkommen in sich ruht, der als solcher ganz unabhängig ist von jeder Beziehung auf ein Sein und vollends auf ein Subjekt, an das er sich wendet, ist der transcendente Gegenstand: das Wesen des Transcendenten geht ganz auf in seiner unbedingten Geltung.“15 Das Urteil, dass ein Wahrheitswert absolut gilt, kann nicht falsch sein, weil

12 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 121f. 13 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 32. 14 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 125. 15 Heinrich Rickert, „Zwei Wege der Erkenntnistheorie: Transcendentalpsychologie und Transcendentallogik“, in: Kant-Studien 14 (1909), S. 210.

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es die Möglichkeitsbedingung eines jeden Urteils ist.16 Die Urteilsnotwendigkeit ist ein Imperativ.17 Damit begründet Rickert theoretisch das Primat der praktischen Vernunft.18

Das erkenntnistheoretische Subjekt ist ein urteilendes Bewusstsein überhaupt, welches das Seiende auf Grund des transzendenten Sollens bejaht.19 Damit wird Wirklichkeit eine Form des Denkens: „Dass etwas wirklich ist, kann nur gedacht werden.“20 Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist das wahre Urteil „Etwas ist.“. Das transzendente Sollen und seine Anerkennung ist begrifflich früher als das immanente Sein und damit die Bedingung der Möglichkeit des Seins überhaupt. Auf Grundlage seiner Urteilslehre kommt Rickert zu einer prinzipiellen und scharfen Scheidung von Form (Wert) und Material (Sein).21 Wenn das Reich der Werte dem Reich des Seins transzendent ist, dann ergibt sich die Frage, wie beide Reiche miteinander verknüpft werden können. Wie ist die Verbindung zwischen dem Erkenntnisprodukt (dem Urteil) und den immanenten Seienden, über die das Urteil etwas aussagt, möglich? Diesen Übergang vom Sollen zum Sein bildet die Kategorie:22 „Die Kategorie bedeutet also die Anerkennung des Sollens als Akt im Gegensatz zum anerkannten Sollen oder dem Urteilsprodukt.“23 In jeder Erkenntnis sind drei formale Faktoren voneinander zu scheiden: 1. Die Norm ist die Form des Sollens oder des Gegenstandes der Erkenntnis. 2. Die Kategorie ist die Form des Urteilsaktes, der das Transzendente durch die

16 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 138. 17 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 140. 18 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 106 u. 145. Vgl. dazu auch Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, S. V. Auch in dieser Hinsicht kommt Rickert sehr in die Nähe von Fichte. Siehe dazu auch die „Einleitung“ von Rainer Bast zu Rickerts Philosophischen Aufsätzen, S. XXII. 19 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 150. 20 Heinrich Rickert, Die Grundprobleme der Philosophie. Methodologie, Ontologie, Anthropologie, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1934, S. 36.21 Vgl. Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 188. 22 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 172. 23 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 173.

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Anerkennung erfasst und das Erkenntnisprodukt entstehen lässt. 3. Die transzendentale Form ist die Form des fertigen Erkenntnisprodukts und dadurch zugleich die Form der Wirklichkeit. Die höchste, erste und leerste Kategorie ist die Kategorie der Gegebenheit. Die Wirklichkeit ist uns gegeben als eine Mannigfaltigkeit von mannigfaltigen, individuellen „diesen“.24 Daraus folgt, dass alles, was ist, immer schon in einer kategorialen Ordnung steht. Zu dieser Kategorie der Gegebenheit müssen neue Kategorien hinzutreten, die das gegebene Mannigfaltige zu einer in sich zusammenhängenden Welt ordnen.25 Diese Kategorien nennt Rickert die konstitutiven; sie bestimmen das immanente Sein im Ganzen. Sie verbinden das mannigfaltige Individuelle zu einer geordneten Erfahrungswelt, welche der Gegenstand der Wissenschaft ist. Die Erfahrungs- oder Seinswissenschaften untersuchen bestimmte Teile der Erfahrungswelt und arbeiten mit methodologischen Kategorien. Kausalität ist eine konstitutive Kategorie, weil Gesetzmäßigkeit die methodologische Grundkategorie der Naturwissenschaften ist. Die Erfahrungswelt ist aber umfangreicher als die Natur. Die Naturwissenschaft strebt danach, das Individuelle unter allgemeine Gesetze zu bringen.26 Die historische oder Kulturwissenschaft hat ein anderes methodologisches Prinzip: Sie ist nicht auf Bildung allgemeiner Begriffe und auf die Aufstellung von Naturgesetzen gerichtet, sondern versucht, das Individuelle und Besondere in seiner Eigenart zu verstehen. Rickert übernimmt von Windelband die Terminologie des nomothetischen Verfahrens der Naturwissenschaft und des ideographischen Verfahrens der Kulturwissenschaft. Die Naturwissenschaft ist erklärend; die Kulturwissenschaft verstehend. Im Gegensatz zu Windelband verwendet er diese Unterscheidung als klassifikatorisches Prinzip der wissenschaftlichen Methoden und nicht

24 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 180. 25 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 199; vgl. dazu auch Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 34. 26 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 31f.

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als Ordnungsprinzip der Wissenschaften.27 Die Naturwissenschaft ist wertfrei. Die Kulturwissenschaft befasst sich dagegen mit den Kulturwerten; sie untersucht, welche Werte für eine Kultur bestimmend sind.28 Die Frage nach der absoluten Geltung dieser Werte ist dagegen ein philosophisches Problem. Die Philosophie überlässt damit den Seinswissenschaften das Sein und fragt nach dem Sinn.29

2. Damit kommen wir zur zweiten Folge von Rickerts erkenntnistheoretischer Grundlegung der Philosophie. Als Erkenntnistheorie kann sie nur als Wissenschaftslehre entfaltet werden. Sie untersucht die Möglichkeitsbedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnis und versucht, diese systematisch zu ordnen. Die Seinswissenschaften befassen sich nur mit Teilen des Weltganzen und können ihre eigenen Voraussetzungen nicht erkenntnistheoretisch einholen. Die Frage nach der Möglichkeit von Naturerkenntnis ist kein naturwissenschaftliches Problem.30 Da das Weltganze eine unendliche Mannigfaltigkeit von „diesen“ umfasst, kann die empirische Forschung prinzipiell niemals abgeschlossen werden. Deshalb kann die systematische Einheit der Philosophie als Gesamtinterpretation des Weltganzen nur eine regulative Idee sein. Jede Philosophie kann nicht mehr sein als ihre Zeit in Gedanken erfasst.31

3. Die dritte Folge ist, dass die Frage nach der Geltung der Werte nur in der Philosophie beantwortet werden kann. Sie wird damit Weltanschauungslehre. Als Lehre bleibt sie Wissenschaft und soll streng von einer Weltanschauung unterschieden werden: „Weltanschauung im eigentlichen, strengen Sinn ist vor- und außerwissenschaftlich; sie geht vom ‚ganzen’ (nicht nur theoretischen) Menschen aus und dient diesem als Orientierung für sein persönliches 27 Siehe dazu Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 38, 42 u. 50. 28 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 51f. 29 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 235. Vgl. dazu auch Bast, „Einleitung“, S. XXII-XXIII. 30 Vgl. dazu Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 62f u. 227.

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Gesamtleben.“32 Die Philosophie soll nach einem umfassenden System von objektiven Kulturwerten in engster Fühlung mit den Kulturwissenschaften streben. Sie wird damit Sinndeutung.33 Die Wirklichkeit wird erklärt, der Wert verstanden und der Sinn gedeutet: „Der Sinn des Aktes oder der Wertung ist weder ihr psychisches Sein noch der Wert, sondern die dem Akte innewohnende Bedeutung fürden Wert und insofern die Verbindung und Einheit der beiden Bereiche. Dementsprechend wollen wir jetzt das dritte Reich als das des Sinnes bezeichnen, um es gegen jedes Sein abzugrenzen, und ebenso das Eindringen in dieses Reich ausdrücklich ein Deuten nennen, damit dieses Verfahren nicht mit einem objektivierenden Beschreiben oder Erklären oder mit einer subjektivierenden Wirklichkeitsauffassung verwechselt wird.“34 Das Reich des Sinnes verbindet das Reich des Seins mit dem Reich des Wertes. Weil gerade die Kategorie Sein und Sollen verbindet, kann die Frage nach dem Sinn von Sein nur in einer Kategorienlehre beantwortet werden. 4. Das Fundament der Rickertschen Transzendentalphilosophie ist die Erkenntnistheorie. Der Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Theorie ist das erkennende Subjekt und nicht wie in der Lebensphilosophie der ganze Mensch in seiner Faktizität.35 Aber gerade im Laufe seiner Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis wird sich zeigen, dass das erkennende Subjekt prinzipiell als praktisches Subjekt gedacht werden muß, weil es ohne Streben nach Wahrheit und Anerkennung des transzendentalen Sollens überhaupt keine Erkenntnis geben kann.36 Die letzte Basis des Wissens ist, wie Rickert behauptet, „das Gewissen“.37 Wenn wir Rickerts Philosophie in ihrer Grundstruktur betrachten, können wir auch schon die Stellen entdecken, an denen Heideggers Kritik später ansetzen wird. Das Verhältnis von transzendentaler und konkreter 31 Rickert, Philosophische Aufsätze, S. 16f. 32 Bast, „Einleitung“, S. XII. 33 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 67. 34 Rickert, Philosophische Aufsätze, S. 28; siehe dazu auch S. 29f. 35 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 109. 36 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 234.

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Subjektivität bleibt problematisch. Dadurch bleibt auch die Methode des philosophischen Deutens in der Luft. Kann die Wissenschaft wirklich das Faktum sein, von dem die Philosophie auszugehen hat? Mit diesen Fragen kommen wir zum zweiten Abschnitt.

2. Heidegger und der Drang zur Philosophie Heideggers Briefen vom 12. Dezember 1913 und vom 27. Februar 1917 an Rickert können wir entnehmen, dass Heidegger weder auf dem engen katholischen noch auf Rickerts transzendental-philosophischem Standpunkt stand.38 Aber damit wissen wir noch nicht, welches seine philosophischen Grundanschauungen waren. Er hat, wie bekannt, im Sommer 1911 sein Theologiestudium abgebrochen und danach Naturwissenschaft, Mathematik, Geschichte und Philosophie studiert. Obwohl diese Entscheidung eine Zäsur auf seinem Denkweg bedeutet, war die Philosophie von Anfang an die prägende Macht in Heideggers Leben. Er gehörte zu den Menschen, deren Leben durch den Drang zur Philosophie beseelt wird.

Jeder Philosoph philosophiert von seiner mitgegebenen Weltanschauung oder Faktizität aus. Heidegger war immer bestrebt, seine „Weltanschauung“ apologetisch und rational zu rechtfertigen. Diesen apologetischen Zug finden wir schon in seinen frühesten Veröffentlichungen.39 Der springende Punkt ist, dass Heidegger als Theologe innerhalb der katholischen Weltanschauung steht und stehen kann; als Philosoph dagegen wird er in die Faktizität der menschlichen Existenz als solche versetzt. Eine Berufung auf die Offenbarung ist damit unmöglich geworden; die Philosophie tritt an die Stelle der Theologie als Fundamentalwissenschaft.

37 Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, S. 231. 38 Martin Heidegger – Heinrich Rickert, Briefe 1912-1933 und andere Dokumente. Aus den Nachlässen hg. von Alfred Denker, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2002, S. 11f. und 42. 39 Für eine ausführliche Analyse der „theologischen“ Frühschriften Heideggers verweise ich auf meinen Aufsatz „Martin Heidegger zwischen Herkunft und Zukunft: Die Anfänge seines Denkweges“; in: Studia Phaenomenologica 1 (2002), S. 275-322.

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Heideggers katholische Weltanschauung ist in ihrem Wesen augustinisch. Als geheimnisvolle Fuge gab der logos der Welt seine Einheit und machte sie zu einem geordneten Ganzen. Innerhalb der Welt als göttlicher Schöpfung kam jedem Seienden seine eigene Stufe und Stelle zu. Der logos war nicht nur ein ontologisches Ordnungsprinzip; er war auch als moralisches Prinzip für das menschliche Leben maßgebend. Als ungeschriebene Grundregel des Lebens galt das Maßhalten in allem.

Die Schöpfung umfasst drei Bereiche: Der erste Bereich ist die von Gott wohlgeordnete Natur. Die kausale Gesetzmäßigkeit gibt der Natur ihre Einheit und Ordnung. Der zweite Bereich ist die Wahrheit. Weil die Natur in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen wirkt, kann der menschliche Geist diese entdecken. Die Gesetze des Denkens sind ewig und allgemeingültig, d.h. sie gelten auch für Gott. Der dritte Bereich ist das Reich der Freiheit und der Sittlichkeit. Das Sittengesetz ist ebenso ewig und allgemeingültig wie das Naturgesetz, obwohl die menschliche Freiheit es uns erlaubt, gegen das Sittengesetz zu verstoßen. Welt, Geist und Freiheit sind drei gleichursprüngliche Seinsbereiche, die wir nicht aufeinander reduzieren können. Damit ist natürlich auch Rickerts Primat der praktischen Vernunft für Heidegger annehmbar geworden. Alle drei verweisen auf Gott als die erste Ursache und den letzten Zweck allen Seins. Als höchstes Seiendes ist Gott transzendent gegenüber den anderen drei Bereichen. Gott gewährt die Beziehung zwischen den Seinsregionen.

Im Herzen von Heideggers Weltanschauung deutet sich schon ein Problem an, mit dem er sich später befassen wird. Da die Schöpfung nicht nur ein geordnetes Ganzes ist, sondern auch von einer Stufenreihe (das Anorganische, das Organische, das Leben, der Mensch) geprägt wird, gibt es Wissenschaften von den verschiedenen Stufen, aber nicht von den Übergängen zwischen den Stufen. Die Physik untersucht die tote Natur, die Biologie die lebendige. Jede Wissenschaft studiert eine bestimmte Stufe des Seienden und hat deshalb auch bestimmte Grenzen. Dies bedeutet aber auch, dass keine Wissenschaft ihre eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen

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einholen kann. Die Frage, was Physik oder Biologie ist, ist kein naturwissenschaftliches Problem. In der Nachfolge von Rickert und Husserl wird Heidegger die Philosophie als Wissenschaftslehre definieren und sie damit gerade für die Grenzprobleme zuständig machen. Philosophie ist als die Urwissenschaft Fundamentalontologie. Heidegger steht philosophisch in der aristotelisch-neuscholastischen Tradition von Carl Braig.40 Braig entwickelte eine Fundamentalontologie. Sie ist die Wissenschaft vom Sein als solchem und versucht, die Frage, was das Seiende sei, indem es sei, zu beantworten. Das allgemeine Sein „ist die allererste Bestimmtheit, die ein Seiendes haben muß, um zu sein, gleichsam der Schatten von Wirklichkeit, welcher sein Wesen vor sich her wirft. Wir meinen damit die erstmögliche Aussage, gleichsam den Faden, an welchem wir die sonstigen Prädicate des Dinges aufreihen. Wir meinen das Mindestmaß von Einwirkung eines gänzlich Unbekannten auf seine Umgebung, wenn wir ‚gerade noch’ von ihm sagen: Es ist wenigstens.“41 An jedem Seienden unterscheiden wir Wesenheit, das, was es mit all seinen Eigenschaften ist, und Wirklichkeit, mit welcher das Seiende ist. Alle Seiende stehen in einem Wechselverhältnis. Die sogenannte Eidologie versucht, das allgemeine Wesensbild im Seienden zu entdecken. Die Nomologie untersucht die Weise des Wirkens im Seienden. Die Teleologie legt den Zielpunkt des Wirkens und dessen Ergebnis dar. Alle Realitäten der Dinge sind nur, weil und insofern die Bestimmtheit des Seins in ihnen ist.42

Dieser eine Seinsbegriff kann vom Denken vielfach, aber nur so oft ausgesagt werden, wie es Seiende gibt. Es kann keine Definition des Seins geben, da der Seinsbegriff weder aus höheren Begriffen ableitbar noch aus niederen Begriffen darstellbar ist: „Der Seinsbegriff ist somit ein einziger; sein objektiver Inhalt aber, die

40 Vgl. Martin Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1978, S. 15.41 Carl Braig, Vom Sein. Abriß der Ontologie, Herder’sche Verlagsbuchhandlung, Freiburg 1896, S. 19. 42 Braig, Vom Sein, S. 23.

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Seinsbestimmtheit, ist nicht ein- sondern vieldeutig, und zwar analogisch.“43 Heidegger verband Braigs Ontologie mit der Seinslehre und Psychologie des Aristoteles. Die Seele ist für Aristoteles im bestimmten Sinne alles. Er gründete die Bereiche des Seins auf dem reinen Sein Gottes, das die Möglichkeitsbedingung des Seins des Seienden und des Erkennens ist. Dieses reine Sein ist das Licht, durch das alles ist und wir alles sehen. „Die logischen und metaphysischen Prinzipien sind gegründet in der Seinswirklichkeit Gottes“, und deshalb „fallen die Grundgesetze des Denkens mit den Seinsgesetzen des denkenden Wesens zusammen“.44

Die entscheidenden Differenzen in den philosophischen Grundanschauungen von Rickert und Heidegger können wir jetzt vorsichtig andeuten. Rickert strebt als „Jünger“ Kants nach einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Philosophie. Der Einheitspunkt seines offenen Systems ist das erkenntnistheoretische Subjekt, das genauso wie Kants transzendentale Apperzeption die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung und damit auch jeder Wissenschaft ist. Alles, was ist, kann nur insoweit sein, als es für dieses Subjekt gegeben und damit bewusstseinsimmanent ist. Heidegger dagegen ist Ontologe. Das Herzstück seiner philosophischen Grundüberzeugung ist Gott als Ursprung der Schöpfung und ihrer Ordnung. Der Mensch steht inmitten des Seienden im Ganzen. Seine Seele ist in bestimmtem Sinne alles und lässt den Menschen beim Seienden sein. Als Vermögen der Transzendenz macht die Seele die Gotteserfahrung möglich. Heidegger lehnt Rickerts These der Bewusstseinsimmanenz alles Seienden ab, weil Gott als das Transzendente schlechthin dann für den Menschen unerreichbar sein würde. Philosophisch wird damit für Heidegger das Realitätsproblem zu einem Problem von entscheidender Bedeutung.

In seinen ersten rein philosophischen Texten, „Das Realitätsproblem in der modernen Philosophie“ und „Neuere 43 Braig, Vom Sein, S. 24. 44 Braig, Vom Sein, S. 5 und Carl Braig, Vom Denken. Abriß der Logik,Herder’sche Verlagsbuchhandlung, Freiburg 1896, S. 9.

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Forschungen über Logik“, versucht Heidegger, seine Position innerhalb des philosophischen Diskurses seiner Zeit zu bestimmen. Mit Husserl und Rickert verteidigt er die These, dass die Philosophie strenge Wissenschaft sein soll. Hinsichtlich des Realitätsproblems konstatiert er einen Zwiespalt zwischen philosophischer Erkenntnistheorie einerseits und naturwissenschaftlicher Praxis andererseits. Die Erfolge der Naturwissenschaften widerlegen die philosophische Behauptung, dass eine Bestimmung des Realen unmöglich sei. Damit stellt sich das Realitätsproblem in seiner ganzen Dringlichkeit. Wie ist eine Bestimmung der Außenwelt möglich? Heidegger bringt hier den kritischen Realismus von Külpe gegen den Neukantianismus ins Spiel. Der kritische Realismus wurde in Auseinandersetzung mit Kants transzendentalem Idealismus entwickelt.

Nach Kants Erkenntnistheorie müssen wir annehmen, dass das Ding an sich unabhängig von uns existiert, obwohl wir es nicht näher bestimmen können. Wir können ja nur die Dinge erkennen, soweit und solange sie uns in der Anschauung als Erscheinung gegeben sind. Kants These, dass das Ding an sich unsere Sinnlichkeit modifiziere, ist nach Külpe eine dogmatische und unberechtigte Annahme, da wir keine Bestimmung des Dinges an sich geben können. Wir können es dann natürlich auch nicht als die Ursache der Modifikationen unserer Sinnlichkeit begreifen.45 Külpe geht einen anderen Weg und versucht, das Realitätsproblem mit Hilfe der Induktion zu lösen. Er leitet ebenso wie Rickert die Prinzipien der Wissenschaften aus ihren faktischen Methoden ab und reduziert damit eigentlich die Wissenschaftslehre auf eine empirische Wissenschaft.46 Nach Heidegger gründet die logische Wahrheit dagegen auf der ontologischen Wahrheit. Das Seiende ist, da es Abbildung der göttlichen Ideen ist, das Maß unseres Erkennens. Wir erkennen das Seiende nicht in seiner Individualität, sondern seinem Wesen nach: „Nur also, wo empirische und rationale Momente zusammenwirken, gibt es einen guten Klang.“47 Der Garant 45 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 9. 46 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 14f. 47 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 13.

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des guten Klanges und der Übereinstimmung von Denken und Sein ist hier noch Gott. Der Ausgangspunkt seiner „Neueren Forschungen“ ist Husserls und Rickerts Widerlegung des Psychologismus.48 Der Kardinalfehler des Psychologismus sei, dass man „die Unterscheidung von psychischem Akt und logischem Inhalt, von realem in der Zeit verlaufenden Denkgeschehen und dem idealen außerzeitlichen Sinn, kurz die Unterscheidung zwischen dem, was ‚ist’, von dem, was ‚gilt’, übersehen hat“.49 Die Denkgesetze, die in der Logik studiert werden, sind keine Kausalgesetze; es sind Regeln, die gelten. Heidegger definiert die Logik als Theorie der Theorie oder Wissenschaftslehre.50

Sie befasst sich mit den Möglichkeitsbedingungen des Wissens. Damit ändert sich auch sein Verhältnis zu Kant. Er zählt jetzt trotz seiner kritischen Grundtendenz nicht mehr zu den Psychologisten.51

Wissenschaft ist die Erkenntnis des sinnlichen Seienden. Philosophie ist als Metaphysik Erkenntnis der transzendenten Seienden und als Logik Erkenntnis des theoretischen Seienden, d.h. des Geltens. Rickert hatte als erster Philosoph das Reich des Seins und das Reich des Geltens streng voneinander unterschieden. Das Reich des Geltens umfasst die mathematischen und die logischen Objekte. Das Reich des Seins umfasst die Natur, das Psychische und das Übersinnliche (Gott, Seele und Freiheit). Heidegger übernimmt Rickerts und Lasks doppelte Erweiterung von Kants Kategorienlehre. Lask bezeichnet die Verbindung zwischen kategorialer Form und gegebenem Material als Sinn: „Erkennen bedeutet also Umschließen des Materials mit Form. Im Urteil wird demgemäß vom alogischen Material als Subjekt die kategoriale Form

48 Heidegger arbeitete schon im Herbst 1911 an diesem Aufsatz. Im Sommer muss er sich sehr ausführlich mit logischen Problemen beschäftigt haben, was schon aus der von ihm zitierten Literatur hervorgeht. Da er auch das 1912 erschienene Buch von Lask Die Lehre vom Urteil zitiert, kann er die Arbeit erst 1912 abgeschlossen haben. Auf jeden Fall kannte er Lasks Arbeiten schon, als er ab 1912 an Rickerts Seminarübungen teilnahm. 49 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 22. 50 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 23. 51 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 22.

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(Prädikat) ausgesagt.“52 Die Identität von Subjekt und Prädikat, d.h. der Vorstellungsinhalt, ist der Sinn des Urteils. Das Urteil gilt oder gilt nicht vom Seienden. Alles, was ist, erfahren wir schon in kategorialer Form. Dies impliziert, dass wir Sein immer nur als Sinn erfahren können. Die Urfaktizität ist nach Heidegger denn auch, dass es Sinn gibt. Alle Seienden sind ó -immanent. Die Formen müssen erfüllt werden und darum ist „Form ohne Inhalt leer und Inhalt ohne Form nackt“.53 Die wichtigste Eigenschaft der Formen ist, dass sie auf ihre Materie hinweisen und von ihr hingelten. Sie sind eine Beziehung, die gilt und nicht ist, ein reines „Hin“. Die Urbeziehung des „Geltens von“ begründet den Formbegriff. Gelten ist die höchste Kategorie im logischen Bereich. Umgekehrt muss die Form das Material umschließen, und ist das Material an sich bedeutungslos. Die Urbeziehung des Materials ist das „Betroffen-werden“ von der Form: die Betroffenheit.54 Dies bedeutet, dass das Sein als Kategorie von allem Seienden gilt und nur als logische Form erlebt werden kann. Sein ist nicht; es gilt nur vom Seienden, das ist. Das sinnliche Material ist als Gegenteil von Form ein irrationaler Rest, der nicht ins Denken aufgehoben werden kann. Dieser hiatus irrationalis macht jede Form eines Panlogismus unmöglich. Das, was letztendlich prinzipiell unerklärbar und unverständlich bleibt, ist, dass es Sinn gibt. Heidegger strebt nach einer Synthese der Kategorienlehren von Aristoteles und Kant, damit er die Harmonie von Denken und Sein erklären kann. Nur dort, wo beide Momente zusammenwirken, kann es einen guten Klang geben. In Kants Logik ist das Urteil diejenige Handlung des Verstandes, durch welche die Mannigfaltigkeit der gegebenen Vorstellungen unter eine Apperzeption überhaupt gebracht wird. Kant betont den logischen Charakter der Kategorien; sie gelten nur für das Denken und nicht für das Seiende (Ding an sich). In der Kategorienlehre von Aristoteles sind die Kategorien metaphysische 52 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 33. 53 Emil Lask, Gesammelte Schriften. Bd. 2: Die Logik der Philosophie,J.C.B. Mohr, Tübingen 1923, S. 74. 54 Lask, Die Logik der Philosophie, S. 174.

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Prinzipien: Sie gelten zuerst vom Seienden und erst dadurch vom Denken. Kant hypostasiert die Kategorien zu logischen Entitäten; Aristoteles vermeidet dagegen gewissermaßen die Annahme des mysteriösen Dinges an sich. Dies bedeutet, dass Kants kritische Philosophie ontologisch begründet und die Ontologie des Aristoteles kritisch eingeschränkt werden muß. Heideggers zweiter Schritt über Kant und Rickert hinaus ist in Nachfolge von Lask die Anwendung der Kategorien auf die Kategorien des sinnlichen Seienden, um eine „das All des Denkbaren mit seinen beiden Hemisphären Seiendes und Geltendes umspannende Kategorienlehre“ zu entwickeln.55 Kants transzendentale Logik der konstitutiven Seinskategorien soll durch eine Logik der reflexiven Kategorien, welche die Seinskategorien als gegebenes Material mit neuen Formen umschließen, ergänzt werden. Diese reflexiven Kategorien stehen auf einer höheren Stufe und ermöglichen die Erkenntnis der Seinskategorien. Jede Kategorie kann auf diese Weise das Material für eine neue und höhere reflexive Kategorie werden. Es entsteht so eine doppelte Reihe, die den Sinn und damit das „Hinweisen auf“ und „Hingelten von“ der Kategorien ermöglicht. Das in der Anschauung gegebene Material wird durch die Umschließung mit der Kategorie zu einer objektiven Vorstellung, die als objektive Vorstellung vom Seienden gilt. Diese objektiven Vorstellungen können von reflexiven Kategorien, die in der Subjektivität des Menschen entspringen, umschlossen werden: „Die Subjektivität ist die Schöpferin der reflexiven Sphäre. […] Die reflexive Region verdankt der Subjektivität ihr ‚Sein’.“56 Gerade an dieser Stelle wird Heidegger später Husserl und nicht Rickert und Lask folgen. Das Gegebensein der nackten Formen, d.i. Rickerts Kategorie der Gegebenheit, bleibt nach Heidegger unvollständig, solange die subjektive Seite nicht einbezogen wird.57 Die logischen nackten Formen sind uns in dem, was Husserl die kategoriale Anschauung nennt, gegeben. Gerade weil die reflexiven Kategorien keinen substantiellen Inhalt haben, müssen 55 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 24. 56 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 25f. 57 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 404.

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sie durch unser Bewusstsein mit den Seinskategorien verbunden werden. Jedes Erlebnis des sinnlich Gegebenen umfasst drei Elemente: a. der leere Akt, d.h. das Haben der nackten logischen Form; b. der erfüllende Akt, d.h. das Erleben des von der nackten Form umschlossenen Materials; und c. der beide Akte verbindende synthetische Akt.58 Mit seiner Analyse des Erlebnisses fängt Heidegger an, die intentionale Struktur des Bewusstseins zu untersuchen. Der Mensch ist nicht nur theoretisch auf das Seiende gerichtet, sondern z.B. auch in der unbedingten Hingabe des Glaubens an Gott, im alltäglichen Umgang mit den Gebrauchsgegenständen und im interpersonalen Zusammensein. Damit wird auch Rickerts erkenntnistheoretische Grundlegung der Philosophie für Heidegger fragwürdig.

3. Die Unvordenklichkeit der Faktizität In seiner Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismusbehauptet Heidegger mit Rickert, dass die Wirklichkeit alles umfasst, was Gegenstand werden kann, und dass sie deshalb umfangreicher als die Naturwirklichkeit ist. In einem folgenreichen Satz schreibt er, dass „das Wirkliche als solches nicht bewiesen, sondern nur aufgewiesen werden kann“.59 Das reine Gegebensein schließt schon die Beziehung auf das menschliche Subjekt ein. Der Sinn von Sein ist faktisch gegeben und kann von uns nur hingenommen werden. Alles, was ist, wird vom erkennenden Subjekt sofort unter die (Rickertsche) Kategorie der Gegebenheit subsumiert. Das Aufweisen des Wirklichen ist der Vorläufer der späteren formalen Anzeige. Gegebensein heißt immer Gegebensein für uns und verweist damit auf Intentionalität. Das, was gegeben ist, unterstellt einen Geber, d.h. hier noch immer den Schöpfergott. In der Habilitationsschrift finden wir diese Struktur wieder als modus essendi activus. Das passive Moment

58 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Bd. II/2: Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis, Max Niemeyer, Tübingen 1913, § 6, 8 und 11. 59 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 165.

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des Gegebenseins bleibt auf Heideggers ganzem Denkweg bewahrt; für ihn ist das „Es gibt“ das größte Wunder. Heidegger entwickelt am Ende seiner Dissertation eine Urteilslehre, die entscheidend für seine spätere Lask- und Rickertkritik wird. Das Urteil „Der Einband ist gelb.“ hat den Sinn, dass das Gelbsein des Einbandes gilt.60 Das Gelbsein des Einbandes ist eine Identität, die nicht physisch wirklich ist. Der Buchbinder kann die Seiten des Buches in einen gelben Band einbinden, aber nicht in ein Gelbsein. Die Existenzform der Identität im Urteil, hier das Gelbsein des Einbandes, ist das Gelten. Das Gelbsein des Einbandes gilt, aber existiert nicht wirklich im Reich des Physischen, Psychischen oder Metaphysischen. Das Gelten ist der Sinn des Urteils, das wahr oder falsch sein kann. Jedes wahre Urteil bedeutet Erkenntnis und all unsere Erkenntnis ist ein Urteil. Aus dem Wesen des Urteils ergibt sich notwendig eine Zweigliedrigkeit. Zwischen beiden Gliedern besteht eine Relation und damit ergeben sich drei Urteilselemente: Subjekt, Prädikat und Kopula. Der Einband (Subjekt) ist (Kopula) gelb (Prädikat). Der Sinn des im Kopula ausgesagten Seins ist Gelten. Vom Einband gilt das Gelbsein. Hiermit bekommt das Urteil eine bestimmte Richtung. Das Gelbsein gilt vom Einband, aber das Einbandsein gilt nicht vom Gelbsein. Heidegger lässt hier das Problem des Verhältnisses des Begriffes „Einband“, von dem im Urteil das Prädikat „Gelbsein“ gilt, zu dem physisch realen Buch außer Betracht, weil das ein erkenntnistheoretisches und kein logisches Problem ist. Die Lösung dieses Problems hatte er aber schon in Husserls Logischen Untersuchungen in der Lehre der drei Elemente von Erkenntnisakten gefunden. Am Schluss der Dissertation skizziert er ein Untersuchungsprogramm, das schon seit längerer Zeit bestimmend für seine philosophische Entwicklung war und an dem er mindestens bis Sein und Zeit arbeiten wird. Der Gesamtbereich des Seins soll in seinen verschiedenen Wirklichkeitsweisen beschrieben werden, wobei

60 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 175. Heidegger hat dieses Beispiel Husserls Logischen Untersuchungen entnommen.

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deren Eigenart scharf herausgehoben und die Art ihrer Erkenntnis und die Tragweite derselben streng bestimmt werden sollen.61 Obwohl Heidegger sich immer eingehender mit der modernen Logik beschäftigte, blieb er anfänglich der aristotelisch-scholastischen Philosophie, die von jeher realistisch dachte, treu. Heidegger verfasste für den Druck seiner Habilitationsschrift ein neues Schlusskapitel, „Das Kategorienproblem“, in dem seine immer mehr wachsende Unruhe zum Ausdruck kommt. Das Motto von Novalis ist schon vielsagend: „Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge.“62 In mancherlei Hinsicht zieht Heidegger hier die Bilanz seiner bisherigen philosophischen Entwicklung. Die beiden wichtigsten philosophischen Schulen, der Neukantianismus und die Neuscholastik, sind ihm zu einseitig. Deshalb wird er versuchen, sie in einer höheren Einheit aufzuheben.63 Dies ist nur möglich in einer metaphysischen Grundlegung. Die Philosophie ist als die strengste Wissenschaft die Urwissenschaft. Sie soll eine Kategorienlehre ausarbeiten, welche drei Bedingungen erfüllt: 1. Die Gegenstandsgebiete müssen unterschieden und gegeneinander abgegrenzt werden; 2. Das Problem des Urteils muss gelöst werden; und 3. Die Geschichte muss in die Kategorienlehre aufgenommen werden. Um die erste Aufgabe zu erfüllen, ist es notwendig, die „die einzelnen Gegen-standsbereiche grundlegend charakterisierenden Bestimmungselemente“ mit „den reflexiven Kategorien“ zu verbinden, so dass die verschiedenen Gegenstandsgebiete in einem „prinzipiellen Zusammenschluß“ betrachtet werden können.64 Dieser Zusammenschluss kann nur auf der Grundlage von dem, was Heidegger den lebendigen Geist nennt, entwickelt werden. Mit dem Begriff des lebendigen Geistes versucht er, die Tiefendimension des menschlichen Daseins zu erschließen, und setzt sich damit von Rickerts erkenntnistheoretischer Grundlegung der Philosophie ab.

61 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 186f. 62 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 399. 63 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 403f. 64 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 400.

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Nicht das blut- und leblose Subjekt, sondern der Mensch in seiner vollen Faktizität und in seiner konkreten historischen Individualisierung soll der Ausgangspunkt der Philosophie sein.65

Weil die Kategorien der Natur- und Kulturwissenschaft in einen prinzipiellen Zusammenschluss gebracht werden müssen, braucht Heidegger ein verbindendes Kettenglied zwischen beiden. Dieses Kettenglied ist der lebendige Geist, welcher sowohl natur- als kulturwissenschaftlich untersucht werden kann. Überdies ermöglicht der lebendige Geist auch die Erfahrung der mystischen Einheit mit Gott. Der lebendige Geist ist „sinnvolle und sinnverwirklichende Tat“ und eröffnet so auch die praktische Dimension des menschlichen Daseins.66 Der Geist ist der Vorläufer der faktischen Lebenserfahrung als Ursprungsdimension des Seins und damit auch des späteren Da-seins als Ereignis des Seyns. Heidegger behauptet, dass die Kategorienlehre des Duns Scotus durch seine Bedeutungslehre schon implizit auf den lebendigen Geist angelegt sei.67 Um die Bedeutungsformen, die modi significandi,analysieren zu können, war Duns Scotus genötigt, auch die Sphäre der Bewusstseinsakte in seine Überlegungen aufzunehmen. Die Notwendigkeit, die Bedeutungslehre auf die fundamentale Problemsphäre der Subjektivität zurückzuführen, führt zu einer erkenntnistheoretischen Untersuchung des Verhältnisses des objektiven modus essendi und der subjektiven modi significandi undintelligendi. Bei Duns Scotus vermisst Heidegger aber dasjenige, „was mit der Fassung des Erkenntnisproblems an sich zusammenhängt, einmal die bewußte Hineinarbeitung des Urteilsproblems in das Subjekt-Objekt-Verhältnis und dann die In-Beziehung-Setzung der Kategorie zum Urteil“.68

65 Vgl. dazu auch Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 1: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 81979, S. XVIII. 66 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 406. 67 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 401. 68 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 402.

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Heideggers prinzipielle Kritik des Neukantianismus ist, dass er die Kategorien auf reine Denkfunktionen reduziert. Das Problem der immanenten und transzendenten Gültigkeit der Kategorien kann nur in einer Urteilslehre gelöst werden. Dies bedeutet, dass der logische Sinn nicht nur auf seine Struktur hin untersucht werden muss, sondern auch in seiner ontischen Bedeutung: „Dann allererst wird eine befriedigende Antwort möglich sein, wie der ‚unwirkliche’ ‚transzendente’ Sinn uns die wahre Wirklichkeit und Gegenständlichkeit verbürgt.“69 Die Kluft zwischen Sein und Gelten kann nur überbrückt werden, wenn deutlich gemacht werden kann, wie das menschliche Subjekt die Kategorien auf das in der sinnlichen Anschauung gegebenen Material anwenden kann. Die Einmaligkeit und Individualität der Bewusstseinsakte muss mit der universalen Gültigkeit des an sich seienden Sinnes in einer lebendigen Einheit zusammengeschlossen werden. Die Möglichkeit dieser Synthese muss im Subjekt begründet sein. Solange Heidegger mit dem Neukantianismus innerhalb der logischen Sphäre des Geltens und des Seins bleibt, kann dieses Problem nicht gelöst werden. Nur wenn die Perspektive translogisch wird, können wir weiterkommen. Mit Hilfe der Metaphysik als Fundamentalphilosophie des lebendigen Geistes versucht Heidegger, einen Durchbruch in „die wahre Wirklichkeit und die wirkliche Wahrheit“ zu forcieren.70

Der lebendige Geist ist als solcher historischer Geist. Deshalb muss das Problem der Geschichte eine entscheidende Rolle in der Kategorienlehre spielen. In jedem Zeitalter wird das Sein des Seienden anders erfahren. Nur wenn wir die historischen Objektivationen des lebendigen Geistes untersuchen, können wir seine Struktur aufdecken. Das Beleben und dadurch das erneute Erleben vergangener Gestalten des lebendigen Geistes ermöglichen uns, die Vergangenheit in ihrer ursprünglichen Lebendigkeit zu verstehen. Dieses Flüssigmachen ist der Vorläufer der späteren Wiederholung. Mit dem Begriff des lebendigen Geistes will Heidegger eine

69 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 406. 70 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 406.

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Philosophie der tatvollen Liebe und verehrenden Gottinnigkeit entwickeln, die „das Problem des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit, Veränderung und absoluter Geltung, Welt und Gott, das sich wissenschaftstheoretisch in Geschichte (Wertgestaltung) und Philosophie (Wertgeltung) reflektiert“, lösen kann.71

Sein philosophisches Programm wird Heidegger in den entscheidenden Jahren von 1916 bis 1919 ausführen. Der erste Schritt ist – unter dem Einfluss von Husserl, der 1916 als Rickerts Nachfolger nach Freiburg kam – die Neubestimmung der Faktizität. Der Gegenstand der Philosophie ist dann nicht länger der Geist, sondern die Ursprungsdimension des Bewusstseins, welche nur phänomenologisch erforscht werden kann und für jede Seinswissenschaft unerreichbar bleibt. Damit erhält die Philosophie als strenge Wissenschaft zweitens ihre eigene Methode. Sie ist weder nomothetisch noch ideographisch noch deutend. Die Logik der Philosophie ist die Phänomenologie.

71 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 410.

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2. Die formale Anzeige der Faktizität als Frage der Logik*

Eric Sean Nelson, Lowell, USA

„Die reine Logik ist ein Extrem. Eine verkappte Vergewaltigung des lebendigen Geistes. [...] Die reine Logik verwehrt der

Philosophie den Zusammenhang mit den Grundströmungen des persönlichen Lebens und der Fülle der Kultur und des Geistes.“1

„Das Ausbleiben der vollen Grunderfahrung, d.h. derjenigen, die die immanente Explikation der Aufgabe mitergreift,

drängt eine radikale Problematik der Logik zurück, so daß die Philosophie eigentlich seit der Zeit nach Aristoteles

das Problem der eigentlichen Logik nicht mehr verstanden hat.“2

1. Einleitung Martin Heideggers Hinwendung zu Themen, Fragen und Problemen, die sich aus der Philosophie der menschlichen Existenz und aus der Lebensphilosophie ergeben, scheint auf den ersten Blick wenig versprechend für die Frage nach der Logik in seinem Denken zu sein. Aber diese Wendung seines Denkens am Ende des Ersten Weltkrieges erfolgte vor dem Hintergrund seines frühen Interesses an der Logik, das heißt vor allem vor dem Hintergrund seines Studiums des Kategorischen und Einzelnen (haecceitas) im mittelalterlichen Denken aus der Perspektive der Transzendentalphilosophie. In Heideggers frühesten Vorlesungen finden wir den Versuch, eine Logik des Einzelnen zu entfalten, die er kurz danach als eine

* Aus dem Englischen übersetzt von Alfred Denker und Holger Zaborowski.1 Martin Heidegger – Heinrich Rickert, Briefe 1912-1933 und andere Dokumente. Aus den Nachlässen hg. von Alfred Denker, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2002, S. 58. 2 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, hg. von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1985, S. 21.

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hermeneutische Logik des faktischen Lebens, d.h. als eine formale Anzeige der Faktizität, entfalten sollte.

Dieses Projekt eröffnete einen Zugang zur Erfahrung des Kategorischen im Einzelnen. Obwohl die Bedeutung dieses Projekts intensiv erforscht worden ist, muss die Spannung zwischen der gewissermaßen leeren Dimension der formalen Anzeige und der Konkretheit der Faktizität noch eingehend untersucht werden. In meinem Aufsatz werde ich die Entwicklung der Methodologie der formalen Anzeige der Faktizität als einen Versuch, die traditionelle Logik zu destruieren und eine Logik zu entwickeln, die der Faktizität, Konkretheit und Einzelheit des Lebensereignisses selbst, d.h. dem Welten der Welt, genügt, betrachten.

2. Eine Frage des Verstehens: Faktizität und Hermeneutik Die Frage der Hermeneutik ist eine Frage der Sprache und als solche auch eine Frage der Logik. Phänomenologie ist der Versuch, die Logik oder den logos der Phänomene zu artikulieren. Dazu müssen wir von den Phänomenen zunächst angegangen werden.3 Welche Rolle spielen Sprache und Logik in der Hermeneutik der Faktizität? Wenn wir nach der Faktizität fragen, können wir die Frage nach dem problematischen Wesen der Sprache nicht vermeiden, d.h. insofern die Sprache immer Abstraktionen und vergessene Traditionen beinhaltet, tut sie gerade der Faktizität, die sie deuten soll, Gewalt an. Aber wenn wir nach der Sprache fragen, fragen wir auch nach der Faktizität selbst, d.h. nach der Faktizität des logos, des Ansprechens und Angesprochenwerdens. Wie genau findet der Mensch sich selbst in

3 Heidegger unterscheidet in seinen frühen Vorlesungen (Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, hg. von Hans-Helmuth Gander, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1985, S. 31f., 42 und Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, hg. von Käte Bröcker-Oltmans, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21995, S. 10, 27, 31) und in Sein und Zeit(Niemeyer, Tübingen 161985, S. 37, 408) ständig zwischen Besprechen und Ansprechen. Ich habe den Begriff des Ansprechens eingehender in meinem Aufsatz „Ansprechen und Auseinandersetzung: Heidegger und die Frage nach der Vereinzelung von Dasein“ (in: Existentia, Vol. 10 (2002), S. 113-122, diskutiert.

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und durch Sprache in seiner Faktizität? Die Frage nach dem faktischen Leben bei Heidegger ist eigentlich die Frage nach der hermeneutischen Transformation der Phänomenologie, welche durch die Auseinandersetzung mit der Faktizität notwendig geworden ist.

Warum ist Verstehen in seiner Notwendigkeit, explizierend und interpretierend zu sein, in sich hermeneutisch? Warum spricht das Leben die „Sprache der Welt“? Wie Rudolf Makkreel vorgeschlagen hat, ist die Hermeneutik der Diskurs des Indirekten und damit die Deutung dessen, was sich meines unmittelbaren und anschaulichen Zugangs zu den Phänomenen verweigert und sich dieses Zugangs entzieht.4 Es ist die indirekte Annäherung des Blickes, des Sehen-Lassens, durch die Vermittlung der Sprache. Es ist das Sehen, das auf Sprache verwiesen ist. Die Faktizität dieses Sehens führt zur hermeneutischen Transformation der Phänomenologie, weil sie das ist, was die durchschnittlichen Prozesse des alltäglichen Verstehens erschüttert und in Frage stellt. Das Indirekte des Verstehens deutet deshalb eine Relation zur Alterität, Kontingenz, Pluralität, Einzelheit und zur Faktizität des Lebens an, insofern diese nicht von der Rationalität der Metaphysik und der Wissenschaften konzeptualisiert, subsumiert, vermittelt und organisiert werden können. Wir können die Faktizität nicht definitorisch setzen. Sie entzieht sich jedem natur- und geisteswissenschaftlichen Zugang und verweist auf den verwickelten Zusammenhang des Ganzen und des Einzelnen (haecceitas), der nicht einfach eine Einheit eines Systems oder Teil einer zweckmäßigen Totalität ist. Diese Gegenbewegung innerhalb der Faktizität (Ruinanz) ruft den hermeneutischen Zirkel hervor, der die eigentliche Bewegung des Verstehens ist. Der Zirkel des Verstehens bewegt sich umwegig, weil es immer Gegenbewegungen zwischen dem unendlich Einzelnen und dem unendlichen Ganzen gibt. Dieser ist eine eröffnende Beziehung, die durch Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit charakterisiert ist. Dieser Zirkel ist daher nicht wie der spekulative Zirkel geschlossen, sondern ein Zirkel, der, weil er vom Anderen

4 Rudolf Makkreel, „The Feeling of Life: Some Kantian Sources of Life-Philosophy“; in: Dilthey-Jahrbuch 3 (1985), S. 83-104.

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unendlich angestoßen wird, eine Empfindlichkeit für das, was ein anderes und anders ist, hervorruft. Dies ist die wirkliche Bedeutung der Phänomenologie für Heidegger, weil Phänomenologie ein gründliches Sehenlassen des Anderen und Angesprochenwerden vom Anderen im Ansprechen ist. In der Sprache von Sein und Zeit: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.“5 Nach Heidegger bedeutet die Hermeneutik des faktischen Lebens, dass „das Leben immer in seiner eigenen Sprache sich anspricht und sich antwortet.“6

Die Frage nach der Faktizität ist schon eine Frage des Verstehens und seiner Möglichkeiten und Grenzen. Die Frage des Verstehens, die von Dilthey und Husserl gestellt wurde, zwang Heidegger, zu einer Auseinandersetzung mit und zu einem Ansprechen der Faktizität des Verstehens weiterzugehen. Wenn die Phänomenologie sich von ihrer eigenen Fraglichkeit und Endlichkeit verwirrt erfährt, d.h. von ihrem durch die Vermittlung der Sprache bedingten perspektivischen Charakter, dann wird die Frage nach der Faktizität wichtig. Egal ob „Faktizität“ in ihrer kognitiven, emotionalen oder voluntativen Dimension beurteilt wird, bezeichnet sie das, was dem Verstehen widersteht und es gewissermaßen umkehrt. Sie umfasst die Merkmale des verstehenden „Selbst“. Entweder weil sie „immer schon“ vor-verstanden und so vorausgesetzt ist oder weil sie die Unheimlichkeit des Lebens in seiner Verfallenheit erschließt, kann die Faktizität nicht einfach verstanden werden. „Faktizität“ ist sowohl ein Versprechen als auch eine Bedrohung. Einerseits ist sie die Erschlossenheit von dem, was man gewöhnlich vor der Verwandlung durch eine bestimmte Lehre als empirisch, wirklich und materiell versteht. Faktizität verweist so auf eine Frage, die vor den Systemen des Empirismus, Realismus und Materialismus angesiedelt ist. Andererseits verweist die Faktizität nicht nur auf das Anfängliche und Ursprüngliche in der Erfahrung. Die Rückkehr zur Faktizität bedeutet eine Steigerung des Lebens, aber ist nicht eine Rückkehr zum unmittelbaren oder

5 Heidegger, Sein und Zeit, S. 34. 6 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, S. 42.

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immanenten Grund der Erfahrung, auf den eine Lehre oder Theorie aufgebaut werden können. Faktizität zeigt an, was Heidegger später die Grundlosigkeit des Grundes nennen sollte. Faktizität ist deshalb eine Bedrohung der Selbst-Auslegung der Erfahrung und damit auch der Möglichkeit der Erkenntnis. Faktizität verweist deshalb auf die Materialität, welche das Denken stört, den Schmerz des Körpers, die Abweisung, die die Emotionen verwirrt, den Widerstand, der den Willen erniedrigt, die Überreste und historischen Ruinen der Welt, die nicht in wissenschaftliche und metaphysische Systeme integriert werden können, genauso wie auf die Zusammenbrüche, die Nützlichkeit und pragmatischen Nutzen in Frage stellen. Zweckmäßiges Verhalten sieht sich dem Unzweckmäßigen und Widerspenstigen in der Erfahrung der Faktizität ausgesetzt.

Die Faktizität zeigt so den problematischen Charakter von Voraussetzungen über Intelligibilität, Bedeutsamkeit und Zweckmäßigkeit. Es ist ein unendlicher Reichtum, die „Tiefe des Fleisches der Welt“, die nicht als Figur thematisiert werden kann, die sich dem Verstehen entzieht und die damit das Verstehen mit seiner Endlichkeit konfrontiert. Es ist das factum brutum oder die Gegebenheit (die als gegeben damit noch nicht notwendig verstanden ist) des „dass ich bin“, die die Geworfenheit der Geburt und den Tod, der das Leben verfolgt, bedeutet.7 Faktizität ist einerseits ein Thema der Deutung und Interpretation. Andererseits ist sie auch das, was jeder Artikulation, jeder Zueignung und allen anderen Verhaltensweisen des Menschen widersteht und diese potentiell untergräbt.

7 Obwohl Faktizität in Beziehung auf Heideggers Denken eingehend untersucht wurde, hat Giorgio Agamben in einem bemerkenswerten Aufsatz gezeigt, wie die Verfallenheit auch zur Faktizität in Beziehung steht. Die Bedeutung kommt in Heideggers Interpretation von Augustinus zum Vorschein, in der Faktizität als das Geschaffene in Bezug auf die Nicht-Ursprünglichkeit und Verfallenheit des Menschen und so als Fetisch und Idol im Gegensatz zu allem, was Gott gemacht und getan hat, ausgelegt wird (Giorgio Agamben, Potentialities, Stanford University Press, Stanford 1999, S. 185-204).

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Verstehen, betrachtet als die Gestimmtheit des menschlichen Verhaltens, wird meistens verstanden als ein Vollzug von Intentionalität in einer Umwelt. Dieser Vollzug aber setzt potentiell die Intentionalität ihren eigenen Grenzen und Brüchen in „Grenzsituationen“ wie etwa der Angst, der Langeweile oder dem Vorauslaufen zum Tode als dem, was nicht erwartet und zugeeignet werden kann, aus. Das Bewusstsein ist in diesen Erfahrungen der Unheimlichkeit, die den Strom der gewöhnlichen Erfahrungen unterbrechen, nicht einfach das „Bewusstsein von etwas“. Das „Selbst“ in seiner Selbstbekümmerung kann in der Selbstsicherheit des Bewusstseins keine ausreichende Geborgenheit finden. Das Dasein findet sich selbst bekümmert und ängstlich in seiner Welt, d.h. das Sein des Daseins ist die Sorge und Angst als die Grundbefindlichkeit des Daseins. Als das „Wie“ eines Seienden, das in einer Welt lebt, verbirgt und erschließt die Intentionalität abhängig von ihrem Formalisierungsniveau Phänomene. Die phänomenologische Reduktion kann Phänomene sowohl sichtbar als auch unsichtbar machen. Deshalb konnte Heidegger 1920 in einem Brief an Rickert behaupten, dass das Prinzip der Intentionalität „zu vielen Verkehrungen führt und das Vorurteil nährt, es müsse bei jedem Verhalten a priori eine Intentionalität entdeckt werden können“.8

Heidegger geht es um das, was in einer Phänomenologie, die bestimmten Ideen von Bewusstsein, Subjekt und Erkenntnis verpflichtet ist, verdeckt und verborgen bleibt. Deshalb sieht er die Notwendigkeit, den Begriff der Intentionalität der Husserlschen Phänomenologie zu radikalisieren. Das Verständnis von Intentionalität soll von intellektualistischen und mentalistischen Voraussetzungen befreit werden, um im Einzelnen ihren kategorischen Charakter zu erfassen. Diese Interpretation der Intentionalität und der Faktizität folgt aus seiner frühen Kritik von Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen,in der Heidegger argumentiert, dass die faktische Lebenserfahrung der

8 Heidegger – Rickert, Briefe, S. 52.

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genuine Grund der phänomenologischen Interpretation sei.9 Der Phänomenologie geht es dann nicht mehr um die Reduktion von etwas auf sein ideales Wesen, seine ideale Bedeutung oder Gültigkeit, sondern um das Erschließen von Faktizität. Sie anerkennt nun die zeitliche und perspektivische Haltung eines Seienden, das in einer Umwelt existiert. Aber diese Phänomenologie der Faktizität ist nicht deshalb identisch mit der blassen Faktizität, weil das Verstehen schon eine Beziehung zur Faktizität ist, die durch die Logik der formalen Anzeige artikuliert werden soll. Diese Bezogenheit ist nicht identisch mit der Faktizität, insofern als die entleerten und formalen Bezüge zwischen Bedeutung und Faktizität eröffnet und expliziert werden sollen. Heidegger fordert entsprechend nicht die Deformalisierung der Phänomenologie und lässt die Phänomenologie nicht mit der immanenten und unmittelbaren Konkretheit des Lebens zusammenfallen.

Eine derartige Deformalisierung wäre nicht angemessen, weil sie sich, statt eine formale Anzeige zu sein, in der Faktizität einer besonderen Verstehensweise verlieren würde. In seiner Antwort auf die transzendentale Phänomenologie deutet Heidegger zuerst auf die radikale Formalisierung der Intentionalität hin. Darum wird „Intentionalität“ nicht einfach in der Anerkennung der Faktizität ihres Vollzuges durch den Phänomenologen ein „hermeneutischer Begriff“. Dies ist der Fehler der intuitionistischen Kritik an Husserl, wie etwa die Kritik Jaspers’ und Schelers, die unmittelbar vom Transzendentalen zum „Konkreten“ übergehen, weil das Konkrete immer davon abhängig ist, wie das Objekt prinzipiell, d.h. logisch, verstanden wird. Dieser Bereich der formalen Anzeige oder des hermeneutischen Vorlaufens bedarf der weiteren Formalisierung der Intentionalität in die Frage, „wie“ ein Seiendes ist oder „was“ seine Seinsweise ist. Diese Formalisierung soll die unreduzierbare „Bezogenheit“ der Phänomene erschließen, ohne in den Empirismus, Intuitionismus oder Realismus zurückzufallen. Der Phänomenologe

9 Martin Heidegger, Wegmarken, GA 9, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21996, S. 35.

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beginnt genau durch die formale Anzeige oder das hermeneutische Vorlaufen, die konkrete Mannigfaltigkeit anzuerkennen und sich für diese zu öffnen. Die Anerkennung dieser Mannigfaltigkeit in der Faktizität und Einzelheit kann weder durch Kontemplation noch durch Einbildung allein erreicht werden. Darum muss in Sein und ZeitExistenz aus seiner Neutralität und Indifferenz statt aus einer konkreten Wirklichkeit verstanden werden: „Es […] kann jedoch nicht heißen, das Dasein aus einer konkreten möglichen Idee von Existenz konstruieren. Das Dasein soll im Ausgang der Analyse gerade nicht in der Differenz eines bestimmten Existierens interpretiert, sondern in seinem indifferenten Zunächst und Zumeist aufgedeckt werden. Diese Indifferenz ist nicht nichts, sondern ein positiver phänomenaler Charakter dieses Seienden.“10

Die Phänomenologie der Intentionalität ist demzufolge – richtig verstanden – der „Weg“ der formalen Anzeige des Faktischen. Sie ist nicht die Faktizität selbst, sondern eine Beziehung zur Faktizität, die es möglich macht, diese zu erschließen. Dieses Vorlaufen ist empfangend und für die Erschlossenheit des Faktischen, des Nicht-Intendierten und des „Ereignisses“, das das menschliche Verhalten orientiert und bestimmt, offen. In einem Sinne ist Husserls phänomenologische Reduktion daher wie die formale Logik selbst zu konkret und bleibt der Welt, die sie in ihrer Faktizität erschließen soll, verhaftet. Die formale Logik ist noch nicht formal genug.11 Die Reduktion ist mehr als unvollständig, weil sie mit einer bestimmten Haltung und Stimmung, die ihre eigene historische Struktur und Lage haben, verbunden ist. Intentionalität soll zum „Wie“ des Verhaltens des faktischen In-der-Welt-seins12 formalisiert werden, so dass es in der Analyse der Vollzüge von individuellen und konkreten Verstehensweisen deformalisiert werden kann.13 Ohne diese zweifache Bewegung bleibt die Phänomenologie den unzureichenden

10 Heidegger, Sein und Zeit, S. 43. 11 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, S. 20.12 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 22. 13 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 24.

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Haltungen des Idealismus und des Realismus verhaftet – zwischen dem Entleben des Lebens in Abstraktion und dem bloßen Leben der Konkretheit. Phänomenologie ist „hermeneutisch“ in ihrer formalen Anzeige des „Wie“ des faktischen Lebens, des Daseins und der Existenz.14

3. Formale Anzeige Heidegger setzt sich ausführlich in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1925 mit dem Titel Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs mit der Bedeutung von Husserls Denken auseinander.15

Nach Heidegger versagte Husserls Phänomenologie in ihrer Grundabsicht, zu den Sachen selbst zu gehen, weil sie nach dem „Sein des Seienden, in dem Bewusstsein und Vernunft konkret sind“ und „der Seinsbestimmung des konkreten Seienden, genannt Mensch“ zu fragen versäumte.16 Heidegger verbesserte Husserl nicht dadurch, dass er eine Philosophie der Intuition und konkreten Faktizität ausarbeitete, sondern indem er eine Phänomenologie (1) der „kategorialen Anschauung“, (2) der „formalen Anzeige“ und (3) des „hermeneutischen Vorlaufens“ der Faktizität entwickelte. Ausgehend von Husserls Begriff der kategorialen Anschauung entwickelte er auf dem Boden seiner Überlegungen zur Methode der formalen Anzeige die Hermeneutik von Sein und Zeit. Beispiele von formalen Anzeigen sind Heideggers Gebrauch von Worten wie Leben, Sein, Existenz und Dasein. Der Inhalt dieser Anzeigen kann auf verschiedene Weisen bestimmt werden und ist tatsächlich in konkreten Existenzweisen unterschiedlich bestimmt. Während Generalisierung durch eine Reihe von Instanzen geschieht, bedarf die formale Anzeige nur einer Instanz,

14 Heidegger, Ontologie, GA 63, S. 16. 15 Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, hg. von Petra Jäger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 31994. 16 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 147f. Siehe auch Martin Heidegger, „Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung. 10 Vorträge (Gehalten in Kassel vom 16.IV.21 - IV.1925)“; in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992-93), S. 177.

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um die „kategorialen Strukturen“, die immer irgendwie existenzial erfüllt sind, zu erreichen. Husserl unterschied die Wissenschaften, die die theoretische Auslegung der natürlichen Haltung sind, von der Phänomenologie, die einen eigenen Bereich, nämlich den Bereich der Bedeutungs- und Wesensdeutung, für sich beansprucht. Bedeutung und Wesen, die für Husserl verschieden sind, sind nicht einfach partikulare Gegebenheiten, sondern haben durch das, was Husserl kategoriale Anschauung nennt, universelle Bedeutung.17 Dies bedeutet, dass das Gegebene in seinem Intendiertsein immer schon in einer kategorialen Ordnung steht oder dass die kategorialen Strukturen selbst in ihrer Anschauung gegeben sind. Form ist dementsprechend nicht etwas, in das ein bestimmter Inhalt hineingezwängt würde, sondern ein „Wie“ oder eine „Weise“, in der einem Objekt begegnet wird.18 Nach Heidegger hat die kategoriale Anschauung zwei wesentliche Charaktere: „Die Entdeckung der kategorialen Anschauung ist der Nachweis, erstens daß es ein schlichtes Erfassen des Kategorialen gibt, solcher Bestände im Seienden, die man traditionellerweise als Kategorien bezeichnet. […] Zweitens ist sie vor allem der Nachweis, daß dieses Erfassen in der alltäglichsten Wahrnehmung und jeder Erfahrung investiert ist.“19 Die kategoriale Anschauung zeigt, dass das Kategoriale immer schon in jedem Erfassen des Gegebenen immanent ist und dass diese implizite Bedeutung die alltägliche Erfahrung charakterisiert. Intentionalität ist so vielmehr die immanente Strukturierung oder Strukturiertheit des Erlebens selbst als etwas, in

17 Vgl. für Heideggers Übernahme der kategorialen Anschauung Steven Crowell, Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning, Northwestern Uni-versity Press, Evanston 2001; Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, University of California Press, Berkeley 1993; John van Buren, The Young Heidegger, Indiana University Press, Bloomington 1994.18 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, S. 18.19 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriff, GA 20, S. 64.

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das das Erleben gezwängt wird, und die Selbst-Auslegung des Verhaltens.20

Kategoriale Anschauung und phänomenologisches Sehen sind so schon implizit im alltäglichen natürlichen Verhalten enthalten. Das natürliche Verhalten ist das Verhalten des alltäglichen Lebens, das an sich schon intentional ist. Das „natürliche Aufgehen in die Dinge“ ist das gewöhnliche Verhalten des Menschen zu seiner Welt, das später von Husserl im Kontext seiner Analyse der Lebenswelt ausführlicher beschrieben werden sollte und das von Heidegger in der Analyse des Man, das die Alltäglichkeit beherrscht, interpretiert wurde. Dieses Verhalten umfasst nicht nur gewöhnliche Meinungen wie die, dass der Gegenstand von der Weise seiner Gegebenheit unabhängig ist, sondern auch die, dass er als ein kausal Seiendes wissenschaftlich behandelt werden müsse. Die formale Anzeige wird im Gegensatz zu Husserls Generalisierung und Formalisierung entwickelt.21 Während Generalisierung und Formalisierung auf Universalität gerichtet sind, behauptet Heidegger, dass die formale Anzeige ursprünglicher sei, weil sie nichts mit Universalität und mit dem Theoretischen zu tun habe.22 Die formale Anzeige ist in dem Sinne vorläufig, als sie den Gegenstand nicht bestimmt, sondern diesen in der Schwebe und unbestimmt hält.23 Daher erstellt die formale Anzeige nicht eine Ordnung, sondern schützt die Freiheit des Vollzugs vor der Vergegenständlichung, vor dem Verschwinden des Phänomens24 und damit vor der „falschen Konkretheit“ des indifferenten Aufgehens in das Phänomen.25 Sowohl gegen die falsche Abstraktion als auch gegen die Konkretheit verteidigt Heidegger die formale Anzeige als

20 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriff, GA 20, S. 36f. und 46f. 21 Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, hg. von Matthias Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1995, S. 57-62. 22 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 59. 23 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 64. 24 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 64. 25 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 30.

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konkreter, weil sie formaler und leerer sei.26 Die formale Anzeige ist das Absehen von dem Anspruch auf endgültiges und vollständiges Verstehen, um einen offenen und freien Zugang zur Sache selbst zu ermöglichen.27 Heidegger geht methodisch von der Faktizität über die formale Anzeige zum kategorischen, existenzialen Charakter der Faktizität.28

Die Methode der formalen Anzeige, für die die formale Logik niemals formal genug sei, erschließt das „Selbst“ nicht als Bewusstsein, Ego oder Spontaneität, sondern als weltlich, als stets verweisend und als angewiesen, nicht als uninteressiert, sondern als Sorge, nicht als allgemein und universal, sonder als „je“ einzelnes, eigenes29 und meiniges.30 Dieses konkrete weltliche Selbst kann nur angezeigt werden, insofern zu jedem einzelnen sein eigener und möglicherweise eigenster Vollzug gehört. Existenz kann nicht unmittelbar oder universal gezeigt werden. Existenz kann nur im Vollzug der Fragwürdigkeit der Faktizität und in der Destruktion der Faktizität erhellt werden, weil sie selbst nur eine Möglichkeit des faktischen Lebens ist.31

Während Husserl die Reduktion als die Ausklammerung der Welt betrachtete, betont Heidegger, wie die Wahrheit der Ausklammerung genau in dem „das Sein des Seienden gegenwärtig Machen“ liegt.32

Die in Husserls Reduktion wirksame Idealisierung übersieht nicht nur

26 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 33. 27 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 67. 28 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 20. 29 Das Eigentliche ist zurückbezogen auf das Eigene, d.h. zu den uns verfügbaren Möglichkeiten, die „in unserer eigenen Zeit und Generation“ vorhanden sind (Martin Heidegger, „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation“, hg. von Hans Ulrich Lessing; in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 248). 30 Heidegger, „Diltheys Forschungsarbeit“, S. 168. Siehe zur Logik der Einzelheit und besonders zur Einzelheit und Jemeinigkeit in Sein und Zeit François Raffouls hervorragende Interpretation in seinem Buch Heidegger and the Subject, Humanities Press, New Jersey 1998, S. 215-21. 31 Heidegger, „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation“, S. 245f. 32 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 135f.

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das Wirkliche, sondern auch die Einzelheit der Vereinzelung.33

Faktizität als Wirklichkeit und Vereinzelung werden in Husserls Ausklammerung derart vernachlässigt, dass er sie nur in Unterordnung unter einem idealen Wesen und nicht als ein „Wie“ oder eine Weise des Seins des gemeinten Seienden, des faktischen Lebens des Daseins (Existenz), betrachten kann. Einerseits legt dies nahe, dass Heidegger die Intentionalität im Lichte von Diltheys Prinzip der Phänomenalität interpretierte: Dies führt zur Faktizität, d.h. zur Komplexität und Einzelheit, der Welt, statt von ihr wegzuführen. Andererseits blieb für Heidegger Diltheys Idee der Phänomenalität selbst unzureichend, weil sie auch nicht zur Seinsfrage führte: Dilthey stellte nach der Frage nach der konkreten menschlichen Existenz in ihrer Faktizität nicht die Frage nach dem Sein des Seienden, das für sich selbst eine Frage ist.34

Nach Heidegger blieb Husserls Darstellung der Reduktionen wegen ihrer unbefragten theoretischen Voraussetzungen unzureichend: „Durch diese doppelte Reduktion (die transzendentale und die eidetische) wird aus der zunächst gegebenen individuellen Vereinzelung eines Erlebnisstromes das sogenannte reine, d.h. nicht mehr konkrete individuelle, sondern reine Feld des Bewußtseinsherausgehoben.“35 Das Problem ist nicht nur, dass Husserl nicht nach dem Sein des betreffenden Seienden fragt, sondern dass er nach Heidegger fraglos eine definitive Antwort auf diese Frage voraussetzte. Heideggers Kritik ist, dass Husserl „Sein“ auf der Grundlage eines mathematischen wissenschaftlichen Modells, das Idealität und Reinheit viel eher als Faktizität, Unreinheit oder Komplexität betrifft, versteht, obwohl Sein eine leere Formalisierung ist, die für ihn weder eine wirkliche Kategorie noch real oder ideal ist: „Rein ist dieses Sein, weil es als ideales, d.h. nicht reales Seinbestimmt ist.“36 So kann Husserl in seiner Betonung der Idealität statt der Faktizität sich nicht auf das wirkliche Sein des betreffenden

33 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 150-52.34 Heidegger, „Diltheys Forschungsarbeit“, S. 158f. u. 151. 35 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 137. 36 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 146.

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Seienden beziehen.37 Heidegger behauptet, dass durch die Ausklammerung der Faktizität Husserl nicht einmal beginnen konnte, die Seinsfrage zu stellen. Heidegger weist jedoch die Rolle des Denkens und der Reflexion nicht zurück, um anschaulich das „Leben als solches“ zu feiern. Leben kann nur immanent oder passiv von sich selbst aus in seinem kategorialen Charakter erfasst werden – d.h., um die Terminologie von Sein und Zeit zu nutzen, in seinem ontologisch-existentialen Charakter. Heidegger stimmt mindestens in einem Punkt mit Husserls und Rickerts Kritik der Lebensphilosophie überein. Die Lebensphilosophie war blind für den und flüchtete vor dem kategorialen Charakter des Lebens, insofern sie implizit davon ausging, dass die Frage nach dem Seienden, um das es ihr ging, durch die Anthropologie, Biologie oder Psychologie beantwortet werden könne.

Für Heidegger ist die Frage des Daseins eine Frage des kategorialen (existenzialen) Charakters seiner Existenz und so eine ausgezeichnete philosophische Frage.38 Aber anders als Husserl und Rickert sah Heidegger den Wert der Lebensphilosophie, obwohl sie das Problem des Lebens nicht radikal genug durchdachte. Für Heidegger besteht die Aufgabe der Hermeneutik des faktischen Lebens darin, das Leben gerade durch eine Interpretation seiner immanenten Logik ursprünglicher als die Lebensphilosophie zu erfassen.39 Die lebensphilosophische Beruhigung der Unruhe des Lebens untergräbt die Möglichkeit des Anderen und Neuen.40 Denn die Lebensphilosophie konnte die fundamentale Unruhe der 37 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 146-48.38 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, hg. von Walter Biemel, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21995, S. 213. 39 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 50. Obwohl Dilthey schon versuchte, eine logische Artikulation des Lebens in den „Kategorien des Lebens“ zu entwickeln, behauptet Heidegger, dass dieser Versuch unzureichend war, insofern Dilthey die fundamentale Unruhe des Lebens nur so weit akzeptierte, als er sie beruhigen und sublimieren konnte (Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 38-50).40 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 52-54.

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Geschichte und des Lebens,41 d.h. seine immanente Ruinanz und Fragwürdigkeit, nicht thematisieren.42 Das Leben wird nicht nur als Stabilität, Sicherheit und Gewissheit, sondern auch als Zerstreuung, Ferne, Ruinanz erfahren.43 Die Unruhe zeigt die fundamentale Bewegtheit des Lebens.44

Die Lebensphilosophie ist dem Leben, das sie erhellen soll, verfallen. Sie bleibt so eine unerhellte Leidenschaft – ohne Leidenschaft für das Prinzip –, die sich selbst nicht zur Erhellung und Reife bringen kann. Sie ist wie eine „Botanik der Pflanzen“ eine Tautologie, die nichts über den kategorialen Charakter des Lebens, das sie thematisiert,45 oder seinen ontologischen Rang,46 d.h. über den logischen Charakter des Lebens, durch eine Interpretation der Kategorien des Lebens besagt. Heidegger selbst nutzte 1921/22 so die Terminologie der „Kategorien des Lebens“, die früher von Dilthey entwickelt wurde, dass der logos dem Leben, seiner antwortenden Selbst-Thematisierung von sich selbst aus wie auch der dem Leben inhärenten Tendenz, von sich selbst wegzufallen, sich selbst fern zu sein und sich selbst zu ruinieren, inhärent ist.47 Diese Untersuchung der interpretierenden Kategorien des faktischen Lebens gibt uns wichtige Hinweise für das Verständnis seiner späteren Analytik der existenzial-existentiellen Strukturen des Daseins in Sein und Zeit.48

Phänomenologie ist für Heidegger eine Untersuchung, wie das Phänomen in seinem Ansprechen und Angesprochensein sich selbst

41 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 30-54. 42 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, S. 2.43 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, S. 103. 44 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, S. 93.45 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, S. 216. 46 Heidegger, Sein und Zeit, S. 46. 47 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, Kap. 2. 48 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, S. 86f.

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zeigt: „Die Welt begegnet immer in einer bestimmten Weise des Angesprochenseins, des Anspruchs (logos).“49 Begegnung setzt immer Bedeutungszusammenhänge voraus, so dass es keine reine Wahrnehmung eines reinen Dinges gibt. Begegnung ist Angesprochenwerden und das Ansprechen der Phänomene „als“ etwas oder etwas anderes. Heidegger wird die Phänomenologie Mitte der zwanziger Jahre in seiner Aristotelesinterpretation weiterentwickeln, in der er logos als Ansprechen auslegte.50 Schon in seinen frühesten Schriften über Logik und Hermeneutik thematisiert Heidegger die Frage nach der Sprache. Phänomenologie kann nicht allein auf reiner Anschauung basieren, da Anschauung niemals ausreicht.51 Die Phänomenologie erfordert die kategorial-hermeneutische Arbeit der Sprache und des Ausdrucks, weil sie ein Begegnenlassen ist, das schon die vorgegebenen Strukturen der Bedeutung und des Sinnes voraussetzt. Ausdruck scheint gegenüber Anschauung sekundär zu sein, aber der Ausdruck strukturiert schon die Erfahrung, und die Erfahrung bedarf daher des Verstehens und der Auslegung statt eines unmittelbaren Zugangs vermittels der Anschauung.52 Das faktische Leben spricht die Sprache der Welt sogar, wenn es mit sich selbst spricht.53 Sorge ist Sorge für das „tägliche Brot“54, und doch ist es kein Kampf ums Dasein, der für gegenständliches Seiendes

49 Heidegger, „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation“, S. 241. 50 Heidegger, „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation“, S. 253. Heideggers frühe Aristoteles-Auslegung wird auch detailliert entfaltet in seiner Vorlesung Einführung in die phänomenologische Forschung vom Wintersemester 1923/24, GA 17, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1994, S. 13-41 und in Platon: Sophistes, GA 19, hg. von Ingeborg Schüßler, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1992, S. 16-155. 51 Heidegger – Rickert, Briefe, S. 52. 52 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 74. 53 Heidegger, „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation“, S. 243. 54 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, S. 90.

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charakteristisch ist.55 Sorge ist „Kampf“ nur als eine Kreuzung und ein Zwischen. Sorge ist so die vox media, die ihren Ursprung in dem logos und Anspruch der Faktizität hat. Für Heidegger ist Phänomenologie grundsätzlich ein Sehen-lassen,d.h. eine Antwort darauf, wie die Welt sich zeigt, indem man sie sich zeigen lässt. Dies geschieht durch das hermeneutische und apophantische „Als“: die Welt und die Seienden sind als Welt und als bestimmte Seiende dem Dasein erschlossen.56 Der frühe Heidegger betonte schon den empfangenden und antwortenden Charakter der hermeneutischen Phänomenologie. 1919/20 zeigte er, wie das Verhältnis zu den Phänomenen ein Verhältnis der Hingabe weit eher als ein Setzen oder Konstituieren sei.57 Wir können nur Zugang zum Leben gewinnen, indem wir uns ihm übergeben.58 Die wahre philosophische Haltung ist daher ein Eros, in dem man sich selbst für das Leben los lässt.59

Diese Phänomenologie der Hingabe und des Sich-selbst-los-lassens für das Leben, um die Logik des Lebens immanent von ihm selbst aus zu entwickeln, bedeutet schon eine Distanzierung vom Paradigma der traditionellen Logik. Heideggers Interesse für den Eros und die Leidenschaft hinter der Intentionalität und dem logischen Prinzip (vielleicht ist die ursprüngliche Bedeutung der Sorge diese Leidenschaft für die Faktizität) zeigt seine Skepsis über die theoretische Orientierung des bisherigen Denkens.

Diese Vertiefung der Intentionalität ist sowohl eine Abweisung ihrer versinnlichten Auslegung als auch ihrer positiven Transformation. Für Heidegger ist Intentionalität ein phänomenaler

55 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, S. 134. Sowohl in seinem frühen, als auch in seinem späteren Denken kritisiert Heidegger den Begriff des „Kampfes ums Dasein“. 56 Für die Differenz des hermeneutischen und apophantischen „Als“ vgl. vor allem Heidegger, Logik, GA 21, S. 135-61. 57 Vgl. auch Kisiels Bemerkungen zur Phänomenologie als Hingabe in: Kisiel, Genesis, S. 28. 58 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, S. 263. 59 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, S. 263.

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Charakter der Grundbewegtheit des Lebens oder der Sorge.60

Intentionalität ist eine Gerichtetheit der (bewegten und bewegenden) Bewegung des Lebens. Das befindliche und gestimmte Verhalten der Sorge ist so ein vor-theoretisches Vor-Verständnis, das Verstehen und Interpretation bestimmt und durch Verstehen und Interpretation entfaltet wird. Heidegger wird deshalb diesen Teil seines philosophischen Projekts Mitte der zwanziger Jahre Existential-Ontologie nennen. Diese soll durch eine Analyse der fundamentalen, aber nicht-transzendentalen Konstitution der menschlichen Existenz eine Grundlage für das Verständnis der Geschichte und der Natur, für Interpretation und Auslegung bieten.61

60 Heidegger, „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation“, S. 247. 61 Vgl. z.B. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles,GA 61, S. 173.

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3. Die formale Anzeige als Schlüssel zu Heideggers Logik der philosophischen Begriffsbildung

Theodore Kisiel, DeKalb, USA

1. Unterwegs zu einer hermeneutischen Logik Der „Urpositivist“ Rudolf Carnap behauptet, dass Heidegger die „Logik“ aus seiner Philosophie des Sein und des Nichts vollständig verwiesen habe. Diese Behauptung muss aber eingeschränkt werden, und zwar durch die Unterscheidung zwischen der formalen Logik (des apophantischen „als“), die Carnap bevorzugt, und der transzendentalen Logik der Applikation auf den jeweiligen Zusammenhang (dem hermeneutischem „als“), die Heidegger nach dem Vorbild des „urphänomenologischen“ Neukantianer Emil Lask für seine hermeneutische „Logik der philosophischen Begriffsbildung“ zu entfalten sucht. In seinem Vergleich zwischen Carnaps und Heideggers Position verweist Michael Friedman zu Recht auf die wichtige Rolle, die Emil Lask für Heideggers Entwicklung der transzendentalen (hermeneutischen, ontologischen, phänomenologischen) Logik der Begriffsbildung gespielt hat. Entscheidend für Lasks Argument ist seine Ablehnung der metaphysischen Deduktion der Kategorien Kants von den logischen Urteilsformen. Denn die transzendentale (materielle) Logik basiert nicht auf der formalen Logik – sondern umgekehrt die formale Logik auf der transzendentalen Logik. „For Lask, what is fundamental is the concrete, already categorized real object of experience: the subject matter of formal logic only arises subsequently in an artificial process of abstraction, by which the originally unitary categorized object is broken down into form and matter, subject and predicate, and so on.”1

1 Michael Friedman, „Overcoming Metaphysics: Carnap and Heidegger“; in: Origins of Logical Empiricism. The Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Band 16, hg. von Ronald N. Giere und Alan W. Richardson, Min-neapolis 1996, S. 45-79, insb. S. 58. Über Heideggers Rezeption von Lasks Denken, vgl. Theodore Kisiel, „Why Students of Heidegger Will Have to Read Emil Lask“; in: Theodore Kisiel, Heidegger’s Way of Thought: Critical and Interpretative Signposts, hg. von Alfred Denker und Marion Heinz, Con-

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Theodore Kisiel 50

Der junge Heidegger arbeitet zwar dieses Fundament des „konkreten, schon kategorisierten [d.h., schon kontextualisierten, schon räumlich-zeitlich ausgelegten] ursprünglich einheitlichen Objekts“ durch ein Vorgehen heraus, das hermeneutischer war, als es das Vorgehen des „urphänomenologischen“ Lask sein konnte. Lasks transzendental-materielle Logik entdeckt ihr „Objekt“ (ihre Sache)letztlich in einem a priori kategorisierten Reich von intentional strukturiertem Sinn (Intelligibilität, Wahrheit), das er als eine „Panarchie des Logos“ bezeichnet und Heidegger in eine „Hermeneutik der Faktizität“ verwandeln wird.

2. Hermeneutische (jeweilige, distributive) Universalien Hinter Windelbands berühmter Unterscheidung zwischen den nomothetischen (Hauptbeispiel: mathematische Physik) und idiographischen (Hauptbeispiel: Geschichtswissenschaft) Wissenschaften steht der Unterschied zwischen zwei Arten von Universalien, dem abstrakt generischen Universal des „alles“, mit dem die formale Logik sich beschäftigt, und dem konkret distributiven Universal des „jedes“, das je nach dem historischen bzw. hermeneutischen Kontext variiert. Die philosophische Tradition hat diese historisch-jeweiligen Universalien als die analogen Universalien des Seins bezeichnet. Heidegger wird die hermeneutisch variierenden Universalien in Sein und Zeit die Existenzialien der temporalen Ontologie des Da-seins nennen, das immer „je meines, je-weils“ sein soll. Heideggers Ontologie des Da-seins ist in der Tat eine Ontologie von „okkasionellen Ausdrücken“ (um mit Husserl zu sprechen) des Da-seins, die von den Variablen der temporal individualisierenden Zusammenhänge abhängig sind. Die analytische Tradition nennt die okkasionellen Ausdrücke (Demonstrativpronomina wie ich, hier, jetzt, dieses, nach Husserl auch Impersonalien wie „es gibt“) „indexicals“. Die indizierenden

tinuum, New York/London 2002, S. 101-136. Für eine deutsche Fassung desselben vgl. Theodore Kisiel, „Heideggers Dankesschuld an Emil Lask: Sein Weg vom Neufichteanismus zu einer Hermeneutik der Faktizität“; in: Studia Phaenomenologica, Bd. 1 (2001), S. 221-247.

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Existenzialien des Da-seins werden nach Heidegger durch die hermeneutisch-phänomenologische „Methodologie” der „formalen Anzeige“ gebildet. Die formale Anzeige wird daher zum Schlüssel zu seiner transzendentalen „Logik der Philosophie“, die den schon hermeneutischen „Logos des Lebens“ (nach Lask die „Panarchie des Logos”) begrifflich expliziert.

3. Die formale Anzeige als Geheimwaffe: Eine Entstehungsgeschichte Mehr als ein Rezensent meines Buches The Genesis of Heidegger’s „Being and Time“ hat darauf aufmerksam gemacht, dass das eigentlich Neue und Überraschende in dieser Geschichte des Entstehens des Begriffszusammenhangs, der später den Buchtitel Sein und Zeit tragen sollte, die stillschweigende Herrschaft des „bisher unbekannten“ Themas der „formalen Anzeige“ gewesen sei. Von der Habilitationsschrift über den doctor subtilis Duns Scotus, in der sich die scotistische „spekulative [formale] Grammatik der haecceitas“ als Vorläufer der „Hermeneutik der Faktizität“ erwies,2 bis zu Sein und Zeit, wo die „formale Anzeige“ einige Male ohne jede weitere Erklärung auftaucht,3 ist die „formale Anzeige“ dauernd da. Aber fast wie eine „Geheimwaffe“ im methodischen Arsenal Heideggers bleibt sie zumeist im Hintergrund der Entstehungsgeschichte von Sein und Zeit.4 Im Hinblick auf diesen versteckten Aspekt des Weges von der Habilitation bis zu Sein und Zeit schreibt Heidegger an seinen Schüler Karl Löwith im Zusammenhang mit der ontischen Fundierung der Ontologie am 20. August 1927: „Die Probleme der Faktizität bestehen für mich ebenso wie in den Freibürger Anfängen – nur sehr viel radikaler und jetzt in den Perspektiven, die auch in Freiburg für mich 2 Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s „Being and Time“, Califor-nia University Press, Berkeley 1993, S. 19-38. 3 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Max Niemeyer, Tübingen 71953, S. 53; 114; 116f.; 179; 231; 313-315; es findet sich aber auch „vorläufige Anzeige“ (S. 14; 16; 41). 4 Theodore Kisiel, „Die formale Anzeige. Die methodische Geheimwaffe des frühen Heidegger“; in: Heidegger – neu gelesen, hg. von Markus Happel, Königshausen & Neumann, Würzburg 1997, S. 22-40.

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leitend waren. Daß ich mich mit Duns Scotus und dem Mittelalter und dann zurück mit Aristoteles ständig beschäftigte, ist doch kein Zufall. [...] Ich mußte zuvor extrem auf das Faktische losgehen, um überhaupt die Faktizität als Problem zu gewinnen. Formale Anzeige, Kritik der üblichen Lehre vom Apriori, Formalisierung und dergleichen ist alles noch für mich da [in Sein und Zeit], wenn ich auch jetzt nicht davon rede.“5

Immer wieder glänzt die formale Anzeige gewissermaßen durch ihre Abwesenheit. Im Herbst 1924 schrieb Heidegger für eine neu gegründete Zeitschrift einen umfangreichen Artikel mit dem Titel „Der Begriff der Zeit“, der sich der Struktur und dem Inhalt nach als die allererste Fassung von Sein und Zeit erweist. Gleichzeitig schrieb Heidegger an Löwith, dass er wegen der Länge des Artikels „Wichtiges beiseite lassen mußte, so vor allem die ‚formale Anzeige’, die für ein letztes Verständnis unentbehrlich ist“. Damit, dass dieses verwickelte Thema immer wieder zurückgehalten wurde, hat es eine eigene Bewandtnis. Die ausführlichste Darstellung der formalen Anzeige vollzieht sich in den ersten Stunden der Vorlesung vom Wintersemester 1920/21, die den Titel Einleitung in die Phänomenologie der Religion trägt. Das Hauptwort der Vorlesung ist eigentlich, wie Heidegger von Anfang an erklärt, „Einleitung“. Phänomenologische Philosophie ist Ein-leitung in die faktische Lebenserfahrung in einer solchen Weise, dass sie diese Grunderfahrung nie verlässt, sondern sich durch das Verfolgen ihrer Wegspuren immer tiefer in die fragliche Struktur und Bewegtheit dieser Grunderfahrung versenkt. Die Vorlesung des Wintersemesters 1920/21 ist daher keine Einleitungsvorlesung für Anfänger, die vielleicht interessante Inhalte über die Religion erwarten, sondern eine Vorlesung für Fortgeschrittene über die Probleme des Anfangspunktes und der Methode der Philosophie und deshalb über die Logik ihrer Begriffsbildung. Aber die Anfänger blieben in der Vorlesung auch 5 Drei Briefe Martin Heideggers an Karl Löwith; in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers, hg. von Dietrich Papenfuss und Otto Pöggeler, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1990, S. 36f.

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nach der mahnenden Ankündigung der ersten Stunde, als der schon berühmte Lehrer Heidegger auf die Problematik der formalen Anzeige und der philosophischen Begriffsbildung immer tiefer eingeht und über den Unterschied zwischen Generalisierung und Formalisierung, über das langweilige klassische Problem der Universalien überhaupt, über die subtilen Unterscheidungen zwischen Objekt, Gegenstand und Phänomen, über die unentrinnbare vermittelte Einheit in der Mitte der faktischen Lebenserfahrung, die immer zugleich aktives Erfahren und passives Erfahrenes ist, über den formal anzeigenden Begriff des „Historischen“, der diese vox media am Kern der Erfahrung verständlich machen wird, oder über die Notwendigkeit vorläufiger Vorgriffe spricht. So intensiv und zielstrebig war Heidegger in den ersten Stunden mit diesen „so abstrakten Betrachtungen“6 beschäftigt, dass die Anfänger, die schon lange in Verwirrung geraten waren, sich an das Dekanat wandten, um sich über den Mangel an religiösen Inhalten zu beschweren. Daher brach Heidegger seine Behandlung der phänomenologischen Formalisierung abrupt und ärgerlich ab und fing in der nächsten Stunde mit der „Phänomenologischen Explikation konkreter religiöser Phänomene im Anschluß an Paulinische Briefe“ ohne Vorankündigung und echte Vorbereitung an. So ist es in der Nachschrift von Oskar Becker eindeutig berichtet: „Infolge von Einwänden Unberufener abgebrochen am 30. November 1920.“7 Die Vorlesung vom Wintersemester 1920/21 wird daher zu einem cursus interruptus, der voreilig in seinem „Urdrang“ unterbrochen und zu einem ganz anderen Höhepunkt gebracht wurde als zu dem, der

6 Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, hg. von Matthias Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1995, S. 62. 7 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 339. Die Herausgeber berichten, dass eine Anfrage an das Archiv der Universität über die Art dieser Einwände keinen Aufschluss geben konnte. Aber der Aufschluss ist schon anekdotisch von Becker selbst bezeugt: „So habe dann einer der Hörer sich beschwert: er habe eine Vorlesung über Phänomenologie der Religion belegt und bekomme nun über Religion nichts zu hören“ (Otto Pöggeler, „Oskar Becker als Philosoph“; in: Kantstudien 60 [1969], S. 300f.).

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ursprünglich angestrebt war. Heidegger wird nie wieder zu einer ausführlichen Diskussion der formalen Anzeige zurückkehren. Heidegger aber – immer noch der Meisterlehrer – machte sofort seine Verluste wieder gut, indem er die Kraft seines formalisierenden Ansatzes zur Schematisierung von Erfahrungsstrukturen durch zwei Begriffsschemata bildlich illustrierte. In beiden Schemata zeigt er mit Hilfe der phänomenologischen Intentionalität, was es heißt, ein Christ zu werden, zuerst mit Bezug auf die griechischen Strukturen des ersten Briefes des Apostels Paulus an die Thessalonicher und im Sommersemester 1921 mit Bezug auf die lateinischen Termini der Confessiones des Augustinus.8

Die zwei Diagramme zeigen die „vorzeichnende Kraft“ zur Schematisierung von Erfahrungsstrukturen, die formal anzeigende Vorgriffe wie Intentionalität und Ex-sistenz haben können. In Sein und Zeit wird dies folgendermaßen ausgedrückt: „Die angesetzte Existenzidee ist die existenziell unverbindliche Vorzeichnung der formalen Struktur des Daseinsverständnisses überhaupt.“9

In der formalen Anzeige findet der Pädagoge Heidegger also eine phänomenologische „Bilderhermeneutik“ oder – tiefer ergründet – eine schematisierende Dia-Grammatik, die grammatikalische Strukturen wie die Mitte (vox media) der Intentionalität und ihre Entsprechungen, den Doppelgenitiv, das Reflexivverbum und transitiv-intransitiv verbale Beziehungen in ihrer kreislaufenden Bewegung, umrisshaft darstellt. Eine formal-anzeigende Ontologie des Seins wird daher zu einer Gramma-Ontologie der Zeit, die ihren abgründigen Ausgangspunkt von formal-anzeigenden ausrufenden Impersonalien wie „Es er-eignet sich!“, „Es zeitigt sich!“ und „Es weltet!“ nimmt. Denn die Zeit selbst ist zugleich die endgültige Formalität und die abgründige Faktizität der menschlichen Lebenserfahrung. Dies gilt auch für den späten Heidegger nach der so genannten „Kehre“, wie wir nun sehen werden.

8 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 96; 273. 9 Heidegger, Sein und Zeit, S. 313.

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4. Unterwegs zur Kehre Das vielseitige Thema der formalen Anzeige, das ich hier zusammengefasst habe, ist aber überhaupt nichts „Neues und Überraschendes“ für echte Kenner der „Heidegger-Literatur“. Es wird in der Forschungsliteratur in einem 1959 erschienenen Aufsatz10 und vier Jahre später im letzten Kapitel des längst zu einem Klassiker gewordenen Buches über Der Denkweg Martin Heideggers von Otto Pöggeler als die wahrhafte „Logik“ des ganzen Denkwegs eingeführt und in seiner Bedeutung betont.11 Weil Pöggelers Kenntnis der formalen Anzeige auf seinen Bonner Lehrer Oskar Becker zurückgeht, „der mir Heideggers frühe Vorlesungen vermittelte“12, sollte man mit ihm wohl genauer über die Arbeiten der zweiten Generation von Heidegger-Studenten sprechen. Wenn man nun Beckers Abhandlung Mathematische Existenz liest, die 1927 zusammen mit Heideggers Sein und Zeit in Husserls Jahrbuch erschien, so merkt man sofort, wie beeinflusst der Logiker Becker von Heideggers Hermeneutik derFaktizität war, deren Faktizität sinnvoll ist und „nur in ihrer Jeweiligkeit treffen kann“. Es handle sich hier um eine besondere Art von Begriffen, um formal-anzeigende Begriffe, „deren ‚Allgemeinheit’ in ihrer Bezogenheit auf das ‚Jeweilige’ liegt. Man kann diesen ‚formal-angezeigten’ Seinssinn auch ‚Wesen’ nennen“, das aber grundverschieden vom Husserlschen Eidos sei.13

Man entdeckt weitere Spuren einer formal-anzeigenden Logik in den Berichten von Husserl-Schülern wie Günther Stern (Anders) und

10 Otto Pöggeler, „Sein als Ereignis. Martin Heidegger zum 26. September 1959“; in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13 (1959), S. 597-632. 11 Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Neske, Pfullingen 1963, 21983, 31990. Das Schlusskapitel trägt den Titel „Die Frage des Sagens“ und ist in zwei Abschnitten gegliedert: „Der Weg zur Sprache“ (S. 269-280) und „Topologie des Seins“ (S. 280-296). 12 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers („Nachwort zur dritten Auflage“, 31990), S. 338. 13 Oskar Becker, „Mathematische Existenz“; in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8 (1927), S. 622f. Die formale Anzeige taucht wieder auf in Beckers Unterscheidung einer historischen Zeit der „einmaligen Jeweiligkeit“ und einer naturhaften Zeit des wiederholten Gleichens (S. 660-674).

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Ludwig Landgrebe über Heideggers Seminare über Husserls erste logische Untersuchung, die in der Erörterung von „okkasionellen Ausdrücken“ wie „ich-jetzt-hier“ und „es gibt“ ihr Zentrum fand,14

also in den sprachlichen Zeichen der Jeweiligkeit des Da-seins. So promoviert Stern 1924 bei Husserl mit einer Arbeit über Die Rolle der Situationskategorie bei den „Logischen Sätzen“, und Landgrebe wird ein Buch über Faktizität und Individuation schreiben. In der jetzigen Sprachwissenschaft heißen okkasionelle Ausdrücke oft „shifters“, die sich je nach der Situation bzw. der Okkasion ändern. In der Sprache der Deiktik heißen sie „indexicals“, „indicators“ oder – genauer – „intermittent indicators“, die in jedem Fall je etwas anders bedeuten. Darunter sind nicht nur die Adverbien des Orts (hier, dort, da15) und der Zeit (jetzt, dann, damals16), sondern auch die Tempora des Verbums aufgelistet!17 Dies erinnert uns daran, dass als Charaktere der „hermeneutisch indizierenden Sätze“18 zuerst die „Temporalien“19

der „Temporalität“20 genannt sind, ehe die „Zeit als Existenzial des Daseins“21 bezeichnet wird. Gegenüber der ersten Generation von Heidegger-Schülern hat Pöggeler 1963 den Vorteil eines Ausblicks auf den gesamten Denkweg Heideggers und sieht damit die Wirkungen der formal-anzeigenden Begrifflichkeit bis in die Kehre – bis zum Sprachgeschehen vom unverfügbaren Er-eignis des Seins, d.h. bis

14 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, Niemeyer, Tübingen 51980, S. 26-28.15 Heidegger, Sein und Zeit, S. 119. 16 Heidegger, Sein und Zeit, S. 421ff. 17 Paul Ricoeur, Oneself as Another, Übersetzung von Soi-même comme un autre (1990) von Kathleen Blamey, Chicago 1992, S. 30. Das Buch ist eine gute Zusammenfassung des Problems der Jeweiligkeit und Andersheit von Aristoteles über Kant bis zu Heidegger und Levinas. 18 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, hg. von Walter Biemel, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1976, S. 410; 243; 199; 409. 19 Heidegger, Logik, GA 21, S. 243. 20 Heidegger, Logik, GA 21, S. 199; 409. 21 Heidegger, Logik, GA 21, S. 409.

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zum „Geheiß, das je und je das Denken in den Anspruch nimmt“22 und so den Ort des Denkens eröffnet, und bis zum Sagen des Ortes und einem er-örternden topologischen Denken, das Pöggeler auch als eine Sammlung der topoi oder loci der eigenen Zeit versteht. Leitsätze wie „Dichterisch wohnet der Mensch“ und Leitworte einer Überlieferung wie logos, physis oder aletheia, die je nach der Zeit einer eigenen geschichtlichen Be-sinnung unterworfen sind. Aber bereits in Sein und Zeit, wo die Existenzialien als Wer-Bestimmtheiten schon formal-anzeigenden Charakter haben, fordert Heidegger eine Umorientierung der Grammatik, damit die Sprache die „je und je aufbrechende Welt“ artikulieren kann.23 Bereits in Sein und Zeit wirkt ein „hermeneutischer“ logos (Logik, Grammatik, Rhetorik, Poetik), da Hermeneutik hier die „Einweisung in die Einmaligkeit einer Situation und Konstellation“, d.h. in das Er-eignis des Seyns, bedeutet.24 Die Sprache des Seyns wird durch eine „formal-anzeigende Hermeneutik“ – um eine Wort Pöggelers zu nutzen25 – ausgelegt bzw. entborgen. Auf der Bahn der Unverborgenheit folgt der Denker dem Wink oder der Spur des dichterischen Wortes, das selbst den Weg bahnt: „Das Wort winkt hin zu dem zu Denkenden und weist ein in ein Wahrheitsgeschehen.“26 Die Spur verweist dagegen auf das schon abwesende Entfernte, „das sich aber als Fußspur der Erde eingeschrieben hat“27. So wie das dichterische Wort ein konkretes Universal ist, ist der formal-anzeigende Begriff keine Gattungsallgemeinheit, sondern ein jeweiliges Universal, das je nach der Situation immer schon irgendein konkretes Da-sein anzeigt, ohne es faktisch voll erschließen zu können. Pöggeler vergleicht die Existenzialien mit Kierkegaards

22 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 294. 23 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 271. 24 Otto Pöggeler, „Einleitung“; in: Wilhelm Dilthey, Das Wesen der Philosophie, hg. von Otto Pöggeler, Felix Meiner, Hamburg 1984, S. XXVII. 25 Otto Pöggeler, „Heideggers logische Untersuchungen“; in: Martin Heidegger, Innen- und Außenansichten, hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, S. 75-100. 26 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 291. 27 Pöggeler, „Heideggers logische Untersuchungen“, S. 97.

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indirekter Mitteilung, die sich existenzial auf die religiöse Entscheidung bezieht, ohne sie existenziell zu vollziehen.28 In Sein und Zeit zeigt sie sich im Übergang von der formal-existenzialen Entschlossenheit zum existenziellen Entschluss zur je eigenen Situation. Der formal-anzeigende Begriff „sagt nicht direkt aus, worauf er sich bezieht, er gibt nur ein Anzeige, einen Hinweis darauf, daß der Verstehende von diesem Begriffszusammenhang aufgefordert ist, eine Verwandlung seiner selbst in das Da-sein in ihm zu vollziehen“29. Solche Begriffe enthalten „nur die Anweisung zu einer eigentümlichen Aufgabe“30 – über den Tod, die Entschlossenheit, die Geschichte, usw. – ohne direkt auszusagen, worauf sie beziehen. Weil sie immer nur den Anspruch einer Verwandlung ansprechen lassen, aber nie selbst die Verwandlung verursachen können, sind die Begriffe anzeigend. Sie zeigen immer in das Dasein hinein, d. h. mein Da-sein, unser Da-sein. „Weil sie bei dieser Anzeige zwar ihrem Wesen nach je in eine Konkretion des einzelnen Daseins im Menschen hineinzeigen, diese aber nie in ihrem Gehalt schon mitbringen, sind sie formal [...].“31 Wenn aber die Begriffe generisch und abstrakt und nicht jeweilig und „je nach dem“ Kontext interpretiert sind, „dann ist der Interpretation die bodenständige Kraft genommen, weil der Verstehende der Anweisung nicht Folge gibt, die in jedem philosophischem Begriff liegt“32. Jene Interpretation je nach der eigenen Faktizität ist zwar keine „nachträgliche sogenannte ethische Anwendung der Begriffenen, sondern [...] vorgängiges Aufschließen

28 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 272. Der ausdrückliche Vergleich wird aber erst in späteren Schriften durchgeführt: Pöggeler, „Einleitung“, S. XXVI und Pöggeler, „Heideggers logische Untersuchungen“, S. 84. 29 Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1983, S. 430; 428; S. 425-435; 441; 491. In dieser Vorlesung Heideggers finden sich die letzten expliziten Erwähnungen der „formalen Anzeige“. 30 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 425. 31 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 429. 32 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 431.

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der Dimension des Begreifbaren“33. Die Begriffe und Fragen des Philosophierens sind der Wissenschaft gegenüber eigener Art. Denn im Unterschied von wissenschaftlichen Begriffen sind alle philosophischen Begriffe formal anzeigend, enthalten deshalb „nur die Anweisung zu einer eigentümlichen Aufgabe“34. Die begrifflichen Fragen dienen dem, was dem Philosophen aufgegeben ist: nicht den Menschen und seine Welt zu beschreiben oder zu erklären, „sondern das Da-sein im Menschen zu beschwören“35. Philosophie sei daher keine Wissenschaft, sondern eine anweisende, auffordernde Protreptik bzw. eine „formal anzeigende Hermeneutik“ der Je-weiligkeit des Da-seins.

5. Hermeneutik nach der Kehre Damit sind wir nicht so weit von der Verwandlung bzw. der Er-örterung der Hermeneutik nach der Kehre, die nun mit dem Namen des Gottes Hermes verbunden wird, der die Botschaft des Geschickes bringt, entfernt. Hermeneuein ist jetzt „ein Spiel des Denkens, das verbindlicher ist als die Strenge der Wissenschaft“36. Es heißt „nicht erst das Auslegen, sondern vordem schon das Bringen von Botschaft und Kunde“37 und „jenes Darlegen, das Kunde bringt, insofern es auf eine Botschaft zu hören vermag“38. Auf der einen Seite ist es „das Bringen einer Kunde“ und auf der anderen Seite „das Verwahren einer Botschaft“39. Diese vox media (Mitte) ist der hermeneutische „Bezug“, dessen Grund-zug die Sprache ist. Das Wort „Bezug“ möchte daher sagen, „der Mensch sei in seinem Wesen gebraucht, gehöre als der Wesende, der er ist, in einen Brauch, der ihn beansprucht“40. „Der Mensch west als Mensch im Brauch, der den Menschen ruft, die

33 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 428f. 34 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 425. 35 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 258. 36 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Neske, Pfullingen 1959, S. 121. 37 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 122. 38 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 121. 39 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 126. 40 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 125.

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Zwiefalt zu verwahren, [...] die selber das Walten des Brauches und das Entfalten der Lichtung ihrer Unterscheidung ist.“41

Was das heißen soll, wird nur klar durch die Be-sinnung auf die Sprache und das Gespräch von der Sprache her. Als ein geschichtliches spricht das Gespräch aus der denkenden Anerkennung des Gewesenen oder – wie man sagt – des Gebrauches. Was Brauch heißt, kann nur durch das Gespräch als Sprechen von der Sprache, vom Wesen der Sprache her und sein entsprechendes Sagen und nie durch ein Sprechen über die Sprache erreicht werden. Der Brauch heißt im Griechischen ethos, die Gewohnheit einer Wohnung. Es taucht zum ersten Mal bei Heidegger im Sommersemester 1924 im Zusammenhang mit der Rhetorik (bzw. „Urpolitik“)42 des Aristoteles auf, wo das ethos eines Redners eine der drei Vertrautheiten (pisteis) der zugespitzten Sprechsituationausmacht, zusammen mit dem pathos der Hörer und dem Aufzeigen der Rede (logos). Diese werden in Sein und Zeit zu den drei gleichursprünglichen Weisen des In-Seins des Da-seins. Und schon im Sommersemester 1924 werden die letzten zwei gleichursprünglich verstanden. Die aristotelische Bestimmung des Menschseins als logonechein wird zum Beispiel aus ihrer verbalen Mitte heraus verstanden als zugleich „Sprache haben“ und „von der Sprache gehabt“ werden (von ihr gelebt werden). Aber ethos bedeutet noch nur die Haltung und Verhaltung des Redners, wie er sich entwirft, die Heidegger 1924 in ihrem ontologischen Sinne als das Entschlossensein zur jeweiligen Handlungssituation (kairos) versteht. Im Wintersemester 1928/29 ist das ethos die Grund-Haltung schlechthin, die „Form“ des jeweiligen Sich-Haltens in der Welt, das wir je eine Weltanschauung nennen.43

41 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 126. 42 Vgl. Theodore Kisiel, „Heideggers Einsetzung der rhetorischen Politik in seine urpraktische Ontologie (Die Franzosen besetzen das Ruhrgebiet, 1923-25)“; in: Metaphysik der praktischen Welt. Perspektiven im Anschluß an Hegel und Heidegger, hg. von Andreas Großmann und Christoph Jamme, Rodopi, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 165-175. 43 Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, hg. von Otto Saame und Ina Saame-Spiedel, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1996, S. 379; 390; 397.

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Erst der späte Heidegger wird – Heraklit folgend– eine Kehre zum welthaften ethos als „Aufenthalt, Ort des Wohnens“ vollziehen:44

„Dieses Wohnen ist das Wesen des ‚In-der-Welt-seins’, [...] des In-Seins.“45 So formuliert er dann: „Erst dieser Aufenthalt gewährt die Erfahrung des Haltbaren. Den Halt für alles Verhalten verschenkt die Wahrheit des Seins. ‚Halt’ bedeutet in unserer Sprache die ‚Hut’. [...] sie behaust die Ek-sistenz in der Sprache. Darum ist die Sprache zumal das Haus des Seins und die Behausung des Menschenwesens.“46

Als Aufenthalt des Seyns reicht Es uns die Zeit und schickt Es uns das Sein. Innerhalb dieses geworfenen Verhältnisses, „der in der Schickung des Seins geborgenen Zuweisung“47, ist die Ek-sistenz immer noch als ein Entwerfen des Verhaltens unterwegs in der Mittedes Aufenthalts: „Eine Wegrichtung einschlagen [...] heißt in unserer Sprache sinnan, sinnen. Sich auf den Sinn einlassen, ist das Wesen der Besinnung.“48 Als geschichtliche Besinnung nimmt sie nicht nur den jeweiligen Aufenthalt in Betracht, sondern auch den überlieferten Brauch der Sprache. Die denkerische Aufgabe der Besinnung ist die Aufgabe einer Topologie des Seins, die das Maß des eigenen Wohnungsortes von seinen sprachlichen topoi her bestimmt. Diese sprachliche Topo-logie ist wie die frühere Dia-Grammatik des Seins und wie die Hermeneutik der Faktizität immer noch um die Mitte des Er-eignisses herum strukturiert. Als Sinnesfeld erinnert die Topologiewieder an Lasks „Panarchie des Logos“, die uns zeigt, wie weit wir uns in unserer Be-Sinnung von der traditionellen Logik entfernt haben.

6. Zusammenfassung: Heideggers Weg bis zu den Beiträgen

44 Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den Humanismus, Francke, Bern 1947, S. 106; danach S. 111; 115; 114. 45 Heidegger, Brief über den Humanismus, S. 111. 46 Heidegger, Brief über den Humanismus, S. 115. 47 Heidegger, Brief über den Humanismus, S. 114. 48 Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Neske, Pfullingen 1954, S. 68; vgl. dazu auch Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 53.

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In dem Sorgen für den Sinn als das vorstrukturierte Woraufhin der Zeit,49 das sich im Ver-hältnis der Ek-sistenz und im Be-zug der Sprache vollzieht, wo die beiden Relationen aus ihrer vox media heraus verstanden sind, findet man immer noch im Hintergrund der Er-örterung die Strukturen von Hermeneutik wie auch von Phänomenologie, obwohl der späte Heidegger beide Titel fallen lässt, „um meinen Denkweg im Namenlosen zu lassen“50. Unterwegs zu Sein und Zeit ging Heidegger durch eine Reihe von formalen Anzeigen hindurch. Jede in dieser Reihe ist eine formelle Vertiefung der Prästruktion der Intentionalität als eines reinen Sich-Richtens-auf: 1920-22 Intentionalität; mit einem zusammenfassenden Zeitigungssinn erst 1922 ergänzt: Da-sein (1923); In-der-Welt-sein (1924); Zu-sein (1925); Ex-sistenz (1926); Transzendenz (1927-29). Dieser Aufzählung können wir nach Sein und Zeit Inständigkeit (1931); Brauch (1936-38); Ver-hältnis (1946); Zu-gehörigkeit (1952) oder Be-zug (1954) hinzufügen. Das, in dem sie immer wieder formal anzeigen, ist die Mitte, „das Herz“ und „das Zwischen“ des Er-eignisses der abgründigen Faktizität der einmaligen Zeit des Da-seins: Es er-eignet sich. Es weltet. Es gibt. Es zeitigt sich. Es braucht. Es schickt. Es reicht. Das nicht als Substanz verstehbare „Es“ dieser Impersonalien zeigt formal die Faktizität schlechthin in ihrer ur-sprünglichen Be-wegung an. „Daß es überhaupt so etwas wie Zeitlichkeit gibt, ist das Urfaktum im metaphysischen Sinne.“51 Die Faktizität schlechthin als das Produkt der „eigentümlichen inneren Produktivität“ dieser Zeitlichkeit ist „gerade ein eigentümliches Nichts: die Welt“52. Das Urfaktum der Zeitlichkeit ist daher überhaupt kein factum brutum, sondern „die Urgeschichte schlechthin“53, „das Urereignis“54. Der Impersonalsatz „Es er-eignet 49 Heidegger, Sein und Zeit, S. 152. 50 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 121. 51 Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, hg. von Klaus Held, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1978, S. 270; siehe dazu auch S. 272; 274. 52 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, S. 272. 53 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, S. 270. 54 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, S. 274.

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sich.“ tritt schon im Kriegsnotsemester 1919 auf als principium individuationis, d.h. als Prinzip der Faktizität als solcher.55

Was diese Impersonalien formal anzeigen, ist im Grunde genommen jeweils die abgründige Faktizität der einmaligen Zeit des Da-seins, des Volks in seiner bodenständigen Sprache oder des epochalen Zeitalters. Was könnte im faktischen Leben – oder im dichterischen Wohnen – formaler sein als die Zeit? Und was könnte mit Bezug auf die anzeigende Funktion im faktischen Leben konkreter, unmittelbarer und uns näher sein als die Zeit? Die formale Anzeige wird eigentlich auf diese „fernste Nähe“ angewandt, um die Begriffe und die grammatischen Strukturen zu bilden, welche die vermutlich „unsagbare“ Unmittelbarkeit unseres jeweiligen Lebens (individuum est ineffabile) artikulieren und auslegen. Denn die Zeit ist die letzte Formalität des Seins und zugleich die unmittelbarste Nähe des Da-seins, der Urwurf seiner Faktizität. Die Beiträge sprechen von der „Anzeige des Zeit-Raumes“56 und von der „Anzeige der Wesung der Wahrheit“57, weil die Zeit „die erste Anzeige des Wesens der Wahrheit [ist] im Sinne der entrückungsmäßig offenen Lichtung des Spielraums, in dem das Seyn sich verbirgt und verbergend sich erstmals eigens in seine Wahrheit verschenkt”58. „Der Zeit-Raum ist in seinem Wesen als Augenblicksstätte des Ereignisses zu entfalten“59, das sich „je und jäh“ ereignet. Das Da-sein in der äußersten Ausmessung seiner Zeitlichkeit

55 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, S. 270. 56 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1989, S. 254; 284f.; 299; 323; 343; 433. Vgl. auch Theodore Kisiel, „Gibt es eine formal anzeigende Hermeneutik nach der Kehre?“; in: Kultur – Kunst – Öffentlichkeit. Philosophische Perspektiven auf praktische Probleme,Festschrift für Otto Pöggeler zur 70. Geburtstag, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Elisabeth Weisser-Lohmann, Fink, München 2001, S. 173-179.57 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 343. 58 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 433. 59 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 323.

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Theodore Kisiel 64

ist „jenes „Zwischen“, das dem „Ereignis“ Augenblick und Stätte bietet und so dem Sein zugehörig werden kann“60. Die Augenblicksstätte gründet das Seyn in seiner Einzigkeit, d. h. „das Seyn braucht das Da-sein, west gar nicht ohne diese Ereignung“61. Daraus folgt, „daß das Da-sein vom Seyn ereignet ist und daß das Seyn als Ereignis selbst die Mitte alles Denkens bildet“62.

60 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 285. 61 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 254. 62 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 299.

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4. Sein und Logos – Heideggers frühe Auseinandersetzung mit Parmenides

Erster Teil: Seinsfrage, Wahrheitsphänomen und das Problem des Zusammenhangs der beiden Teile des Parmenideischen

Lehrgedichtes in der Interpretation von Sein und Zeit 1

Günther Neumann, Konstanz

EinleitungParmenides und das Thema „Sein und Logos“ wird beim frühen Heidegger in einer Aristoteles-Vorlesung behandelt, und zwar im Rahmen einer Interpretation der Aristotelischen Eleaten-Kritik im ersten Buch der Physik. Es handelt sich um die frühe Freiburger Vorlesung vom Sommersemester 1922 mit dem Titel Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, die von mir als Band 62 der Gesamtausgabe herausgegeben wurde. Die knappen Ausführungen zu Parmenides und zum logos-mäßigen Ansprechen und Besprechen des Seienden in seinem Sein im so genannten Natorp-Bericht vom Herbst 1922, der zu Heideggers Berufung nach Marburg führte, beruhen insbesondere auf dieser Vorlesung. Im Hinblick auf die zentrale Faktizitätsproblematik heißt es hier zum Zusammenhang von Ontologie (Sein) und Logik (Ansprechen): „Die Problematik der Philosophie betrifft das Sein des faktischen Lebens im jeweiligen Wie des Angesprochen- und Ausgelegtseins. Das heißt, die Philosophie ist als Ontologie der Faktizität zugleich kategoriale Interpretation des Ansprechens und Auslegens, das heißt Logik.“2 An späterer Stelle 1 Die Veröffentlichung des zweiten Teils „Das Problem des Zusammenhangs von Sein und logos im Ausgang von der in der Freiburger Vorlesung vom Sommersemester 1922 gegebenen Interpretation der Aristotelischen Eleaten-Kritik“ kann aus editorischen Gründen erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Für den mündlichen Vortrag konnte mit der freundlichen Genehmigung des Nachlaßverwalters, Herrn Dr. Hermann Heideggers, die genannte Vorlesung herangezogen werden. 2 Martin Heidegger, „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles“, hg. von Hans-Ulrich Lessing; in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 235–274,

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heißt es unter direkter Bezugnahme auf das Parmenideische Lehrgedicht: „Das noein als Vermeinen schlechthin und das phanai [Heidegger-Typoskript: legein], Ansprechen, sind im gleichen erstmals gesehen, und zwar in eins mit dem Sein.“3 Mit den Formulierungen „zugleich“ (nicht in zeitlichem Sinne) oder „in eins“ ist das angesprochen, was in dem berühmten „Satz des Parmenides“ (Frgm. B 3) die „Selbigkeit“ von Denken (noein) und Sein (einai)genannt wird und in diesem Beitrag noch näher erörtert wird. Da die Textbasis zu Heideggers unmittelbarer Auseinandersetzung mit Parmenides selbst in den genannten Texten doch gering ist, wird im (hier veröffentlichten) ersten Teil zunächst eine Orientierung von Sein und Zeit aus vorgenommen, wobei insbesondere auch die Marburger Vorlesung Die Grundbegriffe der antiken Philosophie vom Sommersemester 1926 dem unmittelbaren Umkreis von Sein und Zeitzuzurechnen ist. Parmenides und die Vorsokratiker4 haben hier bekanntlich noch nicht jenen ausgezeichneten Rang und Vorrang vor Platon und Aristoteles wie im späteren Denken Heideggers. Die gegebenen Hinweise auf das spätere Denken können im Rahmen dieser Untersuchung aber nur der Aufgabe dienen, die thematisierte (frühere) Parmenides-Auslegung gerade in der Gegenüberstellung mit der späteren Deutung schärfer akzentuieren und abheben zu können. In einem ersten Schritt wird untersucht, ob und inwieweit bei Parmenides die Seinsfrage zur Abhebung gebracht ist und Sein aus hier S. 246f. Eine Neuausgabe des Textes mit sämtlichen handschriftlichen Zusätzen aus dem im Besitz Heideggers verbliebenen Typoskript wurde von mir herausgegeben: Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, GA 62, hg. von Günther Neumann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2005, Anhang II, S. 341-419, hier S. 364. Eine Einzelausgabe des in den Anhang dieses Buches aufgenommenen Textes des Natorp-Berichtes erfolgte im Reclam-Verlag: Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, hg. von Günther Neumann, Reclam, Stuttgart 2003. 3 Ebd., S. 266 (GA 62, S. 394). 4 Im späteren Denken noch Anaximander und Heraklit. In der Parmenides-Vorlesung vom Wintersemester 1942/43 heißt es einmal: „Anaximander, Parmenides und Heraklit sind die einzigen anfänglichen Denker.“ (Martin

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dem Horizont der Zeit verstanden ist. Der zweite Schritt wendet sich unter Heranziehung zentraler Stellen des Parmenideischen Lehrgedichtes dem für Heidegger am Leitfaden des Daseins ursprünglicher zu fassenden Wahrheitsphänomen (in dessen eigensten Zusammenhang mit dem Sein) zu. Im Ausgang hiervon wird – vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Interpretationsansätze – in einem dritten Schritt das Problem des Zusammenhangs der beiden Teile und damit der das Lehrgedicht im Ganzen tragende Ansatz der Interpretation erörtert.

1. Seinsfrage und das Problem der Zeit Im Unterschied zur Phänomenologie Husserls stellt Heidegger sein eigenes Denken von Anfang an entschieden in die Geschichte der abendländischen Philosophie.5 Bevor die Frage nach dem Sinn von Sein erneut gestellt werden könne, müsse aus Gründen eines heute ermangelnden Verständnisses, wie es im Vorwort von Sein und Zeitheißt, der Sinn der Frage wieder geweckt werden.6 Der § 1 erläutert die Gründe für dieses fehlende Verständnis, um aus diesen einsichtig

Heidegger, Parmenides, GA 54, hg. von Manfred S. Frings, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21992, S. 10, vgl. S. 2.) 5 Die „Geschichtslosigkeit“ der an der Idee „absoluter und strenger Wissenschaftlichkeit“ ausgerichteten Phänomenologie, wie sie in Husserls Logos-Aufsatz „Philosophie als strenge Wissenschaft“ (1911) (in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911-1921) (= Husserliana Bd. XXV), hg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Kluwer, Dordrecht/Boston/Lancaster 1987, S. 3-63) programmatisch zum Ausdruck kommt, wurde von Heidegger (oder auch Wilhelm Dilthey) scharf kritisiert (vgl. Martin Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, hg. von Käte Bröcker-Oltmans, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21995, S. 75; Martin Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung,GA 17, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1994, S. 64 ff., 88 ff.; Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, hg. von Petra Jäger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 31994, bes. S. 164 ff.). 6 Eine ausführliche und eingehende Erläuterung zu der für die weiteren Ausführungen grundlegenden Exposition der Seinsfrage gibt Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von „Sein und Zeit“, Bd. 1, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1987.

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zu machen, dass die Wiederholung der Seinsfrage keine beliebige sein kann, sondern dass die Sache selbst die ursprünglichere Wiederholungerzwingt. Die Seinsfrage ist für Heidegger nicht über den bei Platon und Aristoteles erreichten Stand hinaus gekommen.7 „Sie hat das Forschen von Plato und Aristoteles in Atem gehalten, um freilich von da an zu verstummen – als thematische Frage wirklicher Untersuchung.“8 Wenn die Seinsfrage „heute in Vergessenheit gekommen“ ist,9 dann ist damit zugleich gesagt, dass sie früher einmal „mehr oder minder ausdrücklich“10 im Wissen aufgeschlossen war. Hinsichtlich der auszuarbeitenden Grundfrage (Fundamentalfrage) nach dem Sinn von Sein werden von Heidegger drei Strukturmomente herausgehoben: Das in der Seinsfrage Befragte ist das Seiende, das in der Seinsfrage Gefragte ist das Sein, und die Hinsicht, nach der wir eigentlich fragen, wenn wir das Befragte nach dem Gefragten fragen, 7 Aristoteles ist für Heidegger zugleich vollendender Höhepunkt und Wendepunkt (zum Abfall) der antiken Philosophie. In der Vorlesung DieGrundbegriffe der antiken Philosophie heißt es: „Wissenschaftlicher Höhepunkt der antiken Philosophie: Aristoteles. Er hat nicht alle Probleme gelöst, aber er ist an die Grenzen vorgestoßen, die mit dem Problemansatz der griechischen Philosophie überhaupt gegeben sind. Er vereinigt positiv die Grundmotive der vorangehenden Philosophie, nach ihm Abfall.“ (Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, hg. von Franz-Karl Blust, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1993, S. 22; vgl. ferner Heidegger, Ontologie, GA 63, S. 76; Martin Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, hg. von Ingeborg Schüßler, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1992, S. 11f.) Die Beurteilung der Rangfolge innerhalbder griechischen Philosophie deckt sich für den frühen Heidegger im wesentlichen mit der Position Hegels (vgl. auch Martin Heidegger, Holzwege, GA 5, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 22003, S. 323f.) in dessen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke [in 20 Bdn.], auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1969-1979, Bd. 19, S. 132 f.; ferner Bd. 18, S. 190). 8 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Max Niemeyer, Tübingen 151979, § 1, S. 2 (= Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann 1977, S. 3). 9 Heidegger, Sein und Zeit, S. 2 (= GA 2, S. 3).

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der Sinn von Sein, ist das Erfragte.11 Der Sinn von Sein verweist auf „die ontologische Analytik“ des seinsverstehenden Daseins (und vertiefend auf die Explikation der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit) „als Freilegung des Horizontes für eine Interpretation des Sinnes von Sein überhaupt“.12 Damit ist gesagt, dass mit der Aufklärung des vollen Sinnes von Sein als solchem auch das Seiende in seinem Sein ursprünglich interpretiert ist, aber das Umgekehrte nicht der Fall ist. Es lässt sich demnach in der Seinsfrage eine „Rangordnung“ herausheben, die zunächst die Seinsfrage in Abhebung gegenüber einem nur ontischen Fragen betrifft: „Sofern die Frage nach dem Seienden im Ganzen und in seinen Hauptbezirken schon ein gewisses Begreifen dessen, was das Seiende als solches sei, voraussetzt, muß die Frage nach dem on he on der Frage nach dem Seienden im Ganzen vorgeordnet werden.“13 Um nun aber zu verstehen, was das Seiende als ein solches wesenhaft bestimmt, „muß das Bestimmende selbst hinreichend faßbar, das Sein als solches, nicht erst das Seiende als solches, muß zuvor begriffen werden“.14 Während die griechische Philosophie bis zur Frage nach dem on he on15, dem Seienden als solchen, vorstieß, blieb die Frage nach dem Sein als solchen (die Seinsfrage im engeren und eigentlichen Sinne, die nach dem Sinn von Sein fragt) ungestellt, sie kam in der griechischen Auslegung nicht ans Licht. Es lässt sich aber noch fragen, ob auch schon im Anfang der griechischen Philosophie, d. h. bei Parmenides, nicht nur die Frage nach dem Seienden im Ganzen, sondern schon nach dem Seienden als solchen in gewisser Weise in den Blick kam. 10 Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 31997, S. 16. 11 Heidegger, Sein und Zeit, S. 6 (GA 2, S. 8f.); zur Fragestruktur vgl. auch Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, § 10 a; Heidegger, Prolegomena, GA 20, § 16. 12 Heidegger, Sein und Zeit, § 5 (Titel). 13 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1991, § 40, S. 222. 14 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, S. 223. 15 Vgl. Aristoteles, Met. 1003a21ff., 1025b3ff., 1060b31ff.

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Das ist für Heidegger in der Tat, wie auch die weiteren Ausführungen belegen, der Fall. In der Vorlesung über Platon: Sophistes vom Wintersemester 1924/25 heißt es ausdrücklich: „Bei Parmenides freilich findet sich schon ein erster Vorstoß: Er betrachtete das Seiende als ein solches, d. h. es wird ontisch das ganze Seiende weggestellt und gesagt, daß es ist.“16 Ähnlich heißt es in der von Heidegger redigierten Einleitung des Encyclopaedia Britannica-Artikels: „Aber macht nicht gerade die griechische Philosophie seit ihren entscheidenden Anfängen das ,Seiende‘ zum Gegenstand des Fragens? Gewiß, aber nicht um dieses oder jenes Seiende zu bestimmen, sondern um das Seiende als Seiendes, das heißt hinsichtlich seines Seins zu verstehen.“17

Mit der Frage nach dem Sinn von Sein kam bereits das Problem der Zeit mit in den Blick. Bei Parmenides blieb für Heidegger aber nicht nur „die fundamentale ontologische Funktion der Zeit“18 verborgen, sondern das Problem der Zeit wurde überhaupt nicht „ausdrücklich genannt und analysiert“.19 Aristoteles war es, der „zum ersten Mal und für lange Zeit hinaus das vulgäre Zeitverständnis eindeutig in den Begriff gebracht“ hat.20 Die Zeit des vulgären Zeitverständnisses, das für Heidegger ein echtes, aber abkünftiges Phänomen ist und auch noch Kants, Bergsons und Husserls Zeitauffassung zugrunde liegt, ist das reine Nacheinander der Jetztfolge als der unumkehrbaren Abfolge von ständig „vorhandenen“, zugleich ankommenden (noch nicht) und vergehenden (nicht mehr) „Jetzt“.21 Der vulgäre Zeitbegriff entspringt

16 Heidegger, Sophistes, GA 19, S. 436. 17 In: Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie, (Husserliana Bd. IX), hg. von Walter Biemel, Nijhoff, Den Haag 21968, S. 256. 18 Heidegger, Sein und Zeit, S. 26 (= GA 2, S. 35). 19 Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 68. 20 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, S. 329. 21 Vgl Heidegger, Sein und Zeit, § 81; vgl. auch Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, S. 324ff.; Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, S. 200 f.; Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, hg. von Walter Biemel, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21995, §§ 19ff.; Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, hg. von Klaus Held, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21990, S.

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der (Leit-)Frage nach dem Seienden als solchen. Aristoteles’ Frage nach dem Wesen der Zeit geht aus von der Frage, ob die Zeit zum Seienden oder zum Nichtseienden gehört (Phys. IV 10, 217b31f.). Die Zeit ist für Aristoteles zwar nicht so vorhanden wie die Dinge und deren Bewegung selbst, aber doch irgendwie mitvorhanden. Wenn Heidegger in § 6 von Sein und Zeit ausführt, „daß die Zeit selbst [...] als ein Seiendes unter anderem Seienden genommen“ wird,22 trifft das zwar im weiteren Sinne auch auf Aristoteles zu, insofern die Zeit im Horizont von Sein als Vorhandensein und Nichtvorhandensein bestimmt wird, aber noch ganz unmittelbar (weil begrifflich noch undifferenziert) wird bei Parmenides, der auch im vorangehenden Absatz explizit genannt wird, die Zeit selbst als (ständiges) Vorhandensein gefasst. Die Zeit wird selbst ontisch verstanden. Dass aber das Sein des Seienden schon im Anfang der griechisch-abendländischen Philosophie aus dem Gesichtskreis der Zeit verstanden ist, wenn auch ungewusst, lässt sich bereits bei Parmenides zeigen. Sein (als Seiendheit des Seienden) ist für Parmenides pures Vorhandensein als ständige Anwesendheit. Anwesenheit aber ist (be)ständige, fort- und immerwährende Gegenwart, zeigt somit einen zeithaften Charakter. Wenn aber bei Parmenides nicht nur die fundamentale ontologische Funktion der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit übersprungen wird, sondern die beständige Anwesenheit das Gegenstand- oder Vorhandensein des Seienden ganz unmittelbar ist, dann kann es notwendig kein Werden geben. Gerade die auf dem Wege der Wahrheit stehenden Zeichen, semata, an denen sichtbar wird, sich selbst zeigt das Sein (Frgm. B 8, V. 2ff.), machen offenbar,

263f. Vgl. dazu Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1992; ders., „Der Zeitbegriff Heideggers“; in: Mesotes (Zeitschrift für den philosophischen Ost-West-Dialog), Supplementband Martin Heidegger, Wien 1991, S. 22-34. 22 Heidegger, Sein und Zeit, S. 26 (= GA 2, S. 35). Vgl. Heidegger, DieGrundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 235 (Nachschrift Mörchen): „Das Zeit-Phänomen war für Parmenides nicht rein als solches gegenwärtig, sondern war für ihn ein Seiendes. So wurde noch lange die Zeit identifiziert mit dem Himmel, der Sonne, wonach sie gemessen wird.“

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dass die Interpretation des Seins des Seienden „mit Hilfe der Zeit und ihrer Charaktere vollzogen wird, so zwar, daß einzig das Jetzt ist und solches, was im Jetzt ist. Jetzt aber ist in jedem Jetzt immer ständig. Sein ist ständige Anwesenheit.“23 Die in den beiden Teilen des Lehrgedichts aufweisbaren zeithaften Charaktere sind es, die „als Kriterium für [den] Unterschied der verschiedenen Seinsmodi“ (wahrhaftes Sein - scheinhaftes Sein) dienen.24

2. Der Satz des Parmenides und die existenzial-ontologische Interpretation des Wahrheitsphänomens Die aus der herrschenden Vergessenheit „neu zu entfachende gigantomachia peri tes usias“25 hat ihren Anfang in der vorplatonischen Philosophie. Die Seinsfrage wurde nicht nur imAnfang der griechisch-abendländischen Philosophie gestellt, sondern ist selbst als deren Anfang zu betrachten. Wie oben dargelegt, ist es unter den vorplatonischen Denkern Parmenides, der in der begrifflichen Erfassung des Seins des Seienden den entscheidenden „Vorstoß“ erringt.26 Eine bemerkenswerte Stelle findet sich in § 6 von Sein und Zeit. Entsprechend der griechischen Wesensbestimmung des Menschen als des zoon logon echon27 ist der logos bzw. das legein,

23 Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 67. 24 Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 68. 25 Heidegger, Sein und Zeit, S. 2 (= GA 2, S. 3); vgl. Platon, Sophistes246a4f. 26 Vgl. auch Heidegger, Sein und Zeit, S. 100, 212 (= GA2, S. 134, 282); ferner Heidegger, Sophistes, GA 19, S. 436; Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 60. 27 Vgl. Aristoteles, Politik 1253a9ff. Später, in der schon im Horizont des sich entfaltenden seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denkens stehenden Vorlesung Einführung in die Metaphysik vom Sommersemester 1935, fasst Heidegger die (erst)anfängliche Eröffnung des Wesens des Menschseins bei Parmenides und Heraklit gegenüber der am Ende (dieses Anfangs) vorherrschenden Definition („anthropos zoon logon echon: der Mensch, das Lebewesen, das die Vernunft als Ausstattung hat“) in der von ihm frei gebildeten formelhaften Zusammenfassung: „physis logos anthropon echon: das Sein, das überwältigende Erscheinen, ernötigt die Sammlung, die das Menschsein (acc.) innehat und gründet“ (Martin Heidegger, Einführungin die Metaphysik, GA 40, hg. von Petra Jaeger, Vittorio Klostermann,

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das Reden als das An- und Besprechen des Seienden in seinem Sein, der daseinsmäßige Leitfaden für die Seinsauslegung, die sich aber bei den Griechen „ohne jedes ausdrückliche Wissen um den dabei fungierenden Leitfaden“ und deshalb erst recht „ohne Kenntnis oder gar Verständnis der fundamentalen ontologischen Funktion der Zeit“ vollzieht.28

In diesem Zusammenhang setzt sich Heidegger mit der neukantianischen Aristoteles-Kritik auseinander.29 Die Platonische „Dialektik“30, die Aristoteles nicht mehr verstanden haben soll, wird deshalb „überflüssig“, weil Aristoteles sie „auf einen radikaleren

Frankfurt am Main 1983, § 54, S. 184). Zur Wurzelbedeutung von legein,logos als „sammeln“, „Sammlung“, auf die sich Heidegger nun bezieht, vgl. unten Anm. 62. Es ist noch darauf zu verweisen, dass die römische „Übersetzung“ von zoon logon echon als animal rationale (vgl. L. Annaei Senecae ad Lucilium epistulae morales, recognovit L.D. Reynolds, Tom. I, Oxford 1965, Ep. 41, 8) eine geschichtliche Umdeutung im Sinne der rechnenden ratio bedeutet (vgl. Parmenides [GA 54], S. 96ff.; zum Zeitwort reor vgl. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, hg. von Petra Jaeger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1997, S. 148f.). 28 Heidegger, Sein und Zeit, S. 26 (= GA 2, S. 35). 29 Vgl. u. a. Jonas Cohn, Theorie der Dialektik. Formenlehre der Philosophie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1965 (Nachdr. der Ausgabe Leipzig 1923); Nicolai Hartmann, Platos Logik des Seins,Walter de Gruyter, Berlin 21965 (Nachdr. der 1. Aufl. von 1909); Paul Natorp, Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus,Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 31961 (Nachdr. der 2., durchges. Aufl., Leipzig 1922). Vgl. dazu von Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins I (s. Anm. 6), S. 265. 30 Die Einsicht, dass der logos (bzw. das legein) existenzial im Dasein rückverwurzelt ist, ermöglichte Heidegger in der großen Marburger Vorlesung über „Platon: Sophistes“ (GA 19) eine radikalere Interpretation der Dialektik Platons (vgl. Markus J. Brach, Heidegger – Platon. Vom Neukantianismus zur existentiellen Interpretation des „Sophistes“,Königshausen & Neumann, Würzburg 1996). Der Zugang zur Platonischen Philosophie erfolgt dabei (gegen die übliche Philosophiegeschichte, die von den Vorsokratikern und Sokrates zu Platon und dann zu Aristoteles fortschreitet) zunächst „am Leitfaden der aristotelischen Philosophie“ (Heidegger, Sophistes, GA 19, S. 11), da Aristoteles in der Ausarbeitung des ontologischen Problems weiter vorgestoßen ist als Platon. Heidegger folgt „dem alten Satz der Hermeneutik, daß man beim Auslegen vom Hellen ins Dunkle gehen soll“ (ebd.).

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Boden stellte“ und als philosophische Grundwissenschaft „aufhob“.31

Im Zuge dieser Kritik folgt eine unmittelbare Anknüpfung an und Berufung auf den entscheidenden Anfang bei Parmenides. Das ursprüngliche Verstehen der einfachsten Seinsbestimmungen vollzieht sich nicht in einem dialegesthai, sondern im noein als dem „schlichte[n] Vernehmen von etwas Vorhandenem in seiner puren Vorhandenheit, das schon Parmenides zum Leitfaden der Auslegung des Seins genommen“ hat.32 Parmenides ist es, der in seinem Lehrgedicht das (in Platons Dialektik übersprungene) noein als das schlicht aufdeckende Vernehmen erstmals thematisch in den Blick nimmt. Das Fragment B 333 (B 5 nach der 3. und 4. Auflage) des Parmenides greift Heidegger zu Beginn des wichtigen, die Wahrheitsproblematik erörternden § 44 auf: „Die erste Entdeckung des Seins des Seienden durch Parmenides ‚identifiziert’ das Sein mit dem vernehmenden Verstehen von Sein: to gar auto noein estin te kai einai.“34 Heidegger setzt „identifiziert“ bewusst in

31 Heidegger, Sein und Zeit, S. 25 (= GA 2, S. 34). 32 Heidegger, Sein und Zeit, S. 25f. (= GA 2, S. 34f.). 33 Nach der 6. Auflage (weitere Auflagen dann unverändert) von Hermann Diels/Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, nach der heute üblicherweise zitiert wird. Die von Heidegger damals benutzte 3. bzw. 4. Auflage wird bei Abweichungen in Klammern mit angegeben: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. I, Weidemanns, Berlin 31912; Berlin 41922 (Abdruck der 3. Aufl. mit Nachträgen). Als derzeit verlässlichste Textausgabe (mit wohldurchdachter französischer und englischer Übersetzung) ist der erste Band der von Pierre Aubenque herausgegebenen Études sur Parménide (Paris 1987) zu nennen. 34 Heidegger, Sein und Zeit, S. 212 (= GA 2, S. 282). Nach Heidegger kommt derselbe Satz und die Bestimmung des Seins noch „schärfer“ in Fragment B 8, V. 34 zum Ausdruck. In der Vorlesung Die Grundbegriffe der antiken Philosophie heißt es: „Sein schärfer bestimmt und erneut die obige These aufgenommen: Identität von Sein und Denken. ‚Dasselbe ist vernehmendes-besinnendes Erfassen des Seienden und das, weswegen [huneken] das Erfaßte ist, was es ist’ (V. 34)“ (GA 22, S. 69, vgl. S 235). Dass Fragment B 8, V. 34 das Wesen des Seins „schärfer“ oder „deutlicher“, „eingehender“ fasst als Fragment B 3, daran hält Heidegger (bei allen Unterschieden zur früheren Deutung) auch noch später fest (vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 147; Martin Heidegger, Was heißt

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Anführungszeichen, womit er zum einen auf die überlieferte Interpretation des Satzes anspielt, zum anderen sich kritisch davon abgrenzt, um zugleich den Sinn des to auto als ein Problem anzuzeigen, das allererst ein ursprünglicheres Verstehen des Zusammengehörens von Denken und Sein erforderlich macht. In der Vorlesung Die Grundbegriffe der antiken Philosophieverweist er in seiner „Interpretation des Lehrgedichtes des Parmenides“ (§ 22) auf den „Idealismus“: „Identität von Denken und Sein! Idealismus. Seiendes ist nicht das, was erklärt.“35 Im Rahmen seiner Auslegung der Geschichtlichkeit der Philosophie als der Produktion der Subjektivität des absoluten Subjekts übersetzt und interpretiert Hegel das Fragment B 8, V. 34f. folgendermaßen: „‚Das Denken und das, um weswillen der Gedanke ist, ist dasselbe [...].’ Das ist der Hauptgedanke. Das Denken produziert sich; was produziert wird, ist ein Gedanke; Denken ist also mit seinem Sein identisch, denn es ist nichts außer dem Sein, dieser großen Affirmation.“36

Denken?, Max Niemeyer, Tübingen 1954, S. 146ff.; Martin Heidegger, „Moira (Parmenides VIII, 34-41)“; in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2000, S. 237ff., 245). Insgesamt schließt sich Heidegger von den bis zu etwa zehn verschiedenen in der Literatur genannten Übersetzungsvarianten (vgl. z. B. Jochen Schlüter, Heidegger und Parmenides, Bouvier, Bonn 1979, § 53; Jürgen Wiesner: „Überlegungen zu Parmenides B 8,34“; in: Études sur Parménide (s. Anm. 33), Bd. II, S. 170-191) dem auf Simplicius zurückgehenden Grundtypus (huneken = hu heneka)an, indem er das huneken nicht als „daß“ (huneken = hoti), sondern in ur-sächlichem Sinne übersetzt. 35 Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S 66. 36 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I; in: Werke (s. Anm. 7), Bd. 18, S. 289f.; vgl. auch ders.: Werke 2: Jenaer Schriften (1801-1807), S. 411 (Gott als „die absolute Identität“ von Sein und Denken); vgl. Heidegger, „Moira“; in: GA 7, S. 241; Heidegger, Was heißt Denken?, S. 149. Zu verweisen ist auch auf Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807), in der er sagt, „daß das Sein Denken ist“ (Werke 3, S. 53). Es ist auffällig und sicherlich kein Zufall, dass – wie auch in Berkeleys bekannter Formulierung „esse = percipi“ (vgl. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 240, 242) – gegenüber Parmenides’ Fragment B 3 die Wortstellung nun umgedreht ist, „das Sein Denken ist“. Was sich nach Heideggers späterer Deutung gegenüber dem neuzeitlichen Primat des ego cogito in Parmenides’ Satz noch ausspricht, ist das Verwiesen- und

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Gegenüber modernen „anti-idealistischen“ Deutungen und Übersetzungen des Satzes des Parmenides bemerkt Hans-Christian Günther zu Recht: „Unser Verständnis des parmenideischen Gedankens kann sich nur in der Antwort auf und im Rückgang hinter die Hegelsche Deutung als dem Rückgang in den Ursprung des in der Hegelschen Deutung Gedachten vollziehen.“37

Wenn Heidegger in obigem Zitat gemäß dem hier nur stichwortartig überlieferten Text auf den „Idealismus“ verweist und anfügt „Seiendes ist nicht das, was erklärt.“, ist zu betonen, dass noch immer Parmenides und nach ihm Platon als antike Vorwegnahmen Kants und des Deutschen Idealismus angesehen wurden, zumal im Vergleich zu Aristoteles, der als Vorläufer des Mittelalters einen „Realismus“ vertreten habe.38 Gegenüber einem (naiven) Realismus ist der schon angesprochene Rückgang hinter den Idealismus als Durchgang durch ihn unabdingbar, zumal der Idealismus, wie es im Zusammenhang der Erörterung des dreifachen Realitätsproblems in § 43 von Sein und Zeit heißt, „einen grundsätzlichen Vorrang“ hat, insofern in ihm (mag er im Resultat noch so der existenzial-ontologischen Erfahrung entgegengesetzt und unhaltbar sein) doch zum Ausdruck kommt, „daß Sein nicht durch Seiendes erklärt werden Eingewiesensein des Denkens (noein) in das Anwesen von Anwesendem. „Beide gehören zusammen, nämlich so, daß das zuerst genannte noein sein Wesen darin hat, in das Anwesen von Anwesendem eingewiesen zu bleiben“ (Heidegger, Was heißt Denken?, S. 148). Die Tonart, die das Zusammengehören von noein und einai nun als Zu-gehören des In-die-Acht-nehmens zum An-wesen von Anwesendem hört, zeigt sich aber erst in Heideggers seinsgeschichtlichem oder Ereignis-Denken (vgl. auch Ivo De Gennaro, Logos - Heidegger liest Heraklit, Duncker & Humblot, Berlin 2001, § 12 [Der tautologische Bezug von Denken und Sein], S. 119; Jean Beaufret, Parménide. Le Poème, PUF, Paris 1996, S. 70). 37 Hans-Christian Günther, „Der Satz des Parmenides von der Identität von Denken und Sein“; in: Studi Italiani di filologia classica 15 (1997), S. 135-175; hier S. 173f. 38 Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 145f. Zu erwähnen ist wiederum Hegel, der in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II „die falschesten Vorurteile“ kritisiert, „daß Aristotelische und Platonische Philosophie sich geradezu entgegengesetzt seien: diese sei

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kann“.39

Kurt Riezler verweist in seiner von Sein und Zeit inspirierten Parmenides-Interpretation darauf, daß das to auto die ursprüngliche Zusammengehörigkeit und Verwiesenheit, das „Verhältnis des nicht ohneeinander, weil nur ineinander und durcheinander Sein“ besagt, nicht aber „die Identität eines gesetzten Einfachen mit sich selbst (A = A)“40. Diese ursprüngliche Verwiesenheit geht, wie Riezler weiter erläutert, auch über das Verhältnis „der bloßen ‚Korrelation’“ hinaus: „Die Korrelation setzt A und B als getrennte Leerstellen und verknüpft ihre Werte oder Inhalte in gegenseitiger Abhängigkeit.“ Eine ausführliche Auslegung des to auto (und anderer zentralen Textstellen des Lehrgedichtes) gibt von Heideggers bislang erschienenen Schriften erstmals die Freiburger Vorlesung Einführung in die Metaphysik vom Sommersemester 1935.41 Das ursprünglich Einige der Einheit ist nicht Selbigkeit als „bloße Gleich-gültigkeit“, nie „Einerleiheit“ im Sinne des Zur-Deckung-Kommens, sondern „Zusammengehörigkeit“ des Unterschiedenen im Einigen der Einheit.42 Das te kai verweist (nach dieser späteren Deutung) darauf, dass „Sein und Denken im gegenstrebigen Sinne einig, d. h. dasselbe sind als zusammengehörig“.43 Auf dem Boden der neuzeitlichen

Idealismus, jene Realismus, und zwar Realismus im trivialsten Sinne“ (Werke 19 [s. Anm. 7], S. 133). 39 Heidegger, Sein und Zeit, S. 207 (= GA 2, S. 275). 40 Parmenides, Übersetzung, Einführung und Interpretation von Kurt Riezler, bearbeitet und mit einem Nachwort von Hans-Georg Gadamer, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 32001, S. 60. 41 Es ist des weiteren die noch nicht erschienene Freiburger Vorlesung DerAnfang der abendländischen Philosophie (Anaximander und Parmenides)vom Sommersemester 1932 (vorgesehen als GA 35) zu nennen, die sich nach Auskunft Jochen Schlüters, der „Einsicht in eine ziemlich zuverlässige Nachschrift“ hatte, eingehend mit Parmenides’ Lehrgedicht befasst (Schlüter, Heidegger und Parmenides, S. 2). 42 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 147. 43 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 147. Es ist nochmals ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass sich ab etwa 1930 die seinsgeschichtliche Erfahrung vom Wesen des Seins (Seyns) als ein immanenter Wandel der bislang transzendental-horizontal angesetzten Seinsfrage Bahn zu brechen beginnt. Die Freiburger Vorlesungen zwischen

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Subjektivität erhält jener Satz des Parmenides die „großartigste Variation“ in Kants oberstem Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori: „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände derErfahrung [...]“ (Kritik der reinen Vernunft, A 158, B 197). „Das ‚zugleich’ ist die Kantische Auslegung des to auto, des ‚das Selbe’.“44

Das noein als das schlicht aufdeckende Vernehmen des Seienden in seinem Sein verweist auf das Wahrheitsphänomen, das für Heidegger in § 44 von Sein und Zeit am Leitfaden des seinsverstehenden Daseins ursprünglicher zu fassen ist: „Wenn Wahrheit aber mit Recht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit Sein steht, dann rückt das Wahrheitsphänomen in den Umkreis der fundamentalontologischen Problematik.“45 Heideggers grundlegende Einsicht, daß die Griechen sich über das Wesen der Wahrheit in einem

1930 und 1936 stehen somit schon im Horizont des sich entfaltenden seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denkens, lassen aber, wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann erläutert, „den Wandel zum seynsgeschichtlichen Denken nur allmählich und in zurückhaltender Weise sehen“ (Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers „Beiträgen zur Philosophie“, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1994, S. 17; vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1989, S. 59f.; ferner Heideggers Brief an Elisabeth Blochmann vom 20. Dezember 1935, in: Martin Heidegger / Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918-1969, hg. von Joachim W. Storck, Marbach a. N. 1989, S. 87). Das „gegenstrebig“ Einige von Sein (des Seienden) und Denken deutet voraus auf das („spielt zu“), was Heidegger dann in den Beiträgen als den Gegenschwung (Gegenwendigkeit als „die Kehre im Ereignis“) von ereignendem Zuwurf des Seins in seiner Wahrheit und ereignetem Entwurf fasst (Heidegger, Beiträge, GA 65, S. 251, 261f., 407 ff.). Innerhalb der sechs Fügungen des Ereignisses haben „alle Vorlesungen über „Geschichte“ der Philosophie“ (Heidegger, Beiträge, GA 65, S 169, vgl. S. 176) und somit auch die Schriften über Parmenides ihren fugenmässigen Ort in erster Linie in der zweiten Fügung Das Zuspiel, weil sich in ihnen dem Denken der erste Anfang der meta-physischen Antworten auf die (Leit-)Frage nach dem Sein (Seiendheit) des Seienden und der mögliche andere Anfang wechselweise zuspielen. 44 Heidegger, Was heißt Denken? Tübingen 1954, S. 148f. 45 Heidegger, Sein und Zeit, S. 213 (= GA 2, S. 283).

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privativen Ausdruck (a-letheia46) aussprechen, daß die jeweilige faktische Entdecktheit des Seienden „gleichsam immer ein Raub“ist,47 ist auch leitend für seine Deutung des Parmenideischen Lehrgedichtes, insbesondere für das Problem des Zusammenhangs der beiden Teile.

3. Das Problem des Zusammenhangs der beiden Teile des Lehrgedichtes Der Zusammenhang der beiden Teile des Lehrgedichtes bildete ein zentrales Problem in der Philosophiegeschichte. Eine Anmerkung in § 44 b) von Sein und Zeit verweist auf die bahnbrechende Untersuchung von Karl Reinhardt, deren Bedeutung für die damalige Parmenides-Forschung heute kaum mehr nachvollzogen werden kann.48 Hier heißt es: „K. Reinhardt hat, vgl. Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie (191649), zum erstenmal das vielverhandelte Problem des Zusammenhangs der beiden Teile des parmenideischen Lehrgedichts begriffen und gelöst, obwohl er das ontologische Fundament für den Zusammenhang von aletheia und doxa und seine

46 Dass die privative Deutung von a-letheia als Un-verborgenheit nicht nur der Etymologie entspricht, sondern vor allem auch den ursprünglich im Griechischen empfundenen Wortsinn trifft, kann heute schon fast als die communis opinio gelten (vgl. z. B. aletheia und alethes; in: Lexikon des frühgriechischen Epos, begr. von Bruno Snell, vorber. u. hg. vom Thesaurus Linguae Graecae, Bd. 1, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979, Sp. 476f.). Vgl. auch Holger Helting: „a-letheia-Etymologien vor Heidegger im Vergleich mit einigen Phasen der a-letheia-Auslegung bei Heidegger“; in: Heidegger Studies 13 (1997), S. 93-107. 47 Heidegger, Sein und Zeit, S. 222 (= GA 2, S. 294). 48 Hans-Georg Gadamer schreibt 1936 in seiner Rezension von Kurt Riezlers Parmenidesdeutung: „In der Tat ist Parmenides seit Reinhardts revolutionierendem Buch (1916) in den Vordergrund des philosophischen Interesses an den Vorsokratikern gerückt. [...] Seitdem kommt jede Interpretation nicht mehr in Betracht, die die doxai broton nicht in einer den Sinn dieser ganzen Philosophie bestimmenden Weise mit der verkündenden aletheia verknüpft, sondern in ihr Darstellung, Kompromiß, Hypothese, Kritik und Polemik oder sonst etwas Zweitrangiges und Nachtragshaftes erblickt“ (Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 6, J.C.B. Mohr [Paul Siebeck], Tübingen 1985, S. 30). 49 Bonn 1916; 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1959.

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Notwendigkeit nicht ausdrücklich aufweist.“50

Mit Reinhardts Interpretation hatte sich Heidegger bereits in der Vorlesung Die Grundbegriffe der antiken Philosophie51 vom Sommersemester 1926 (und in der Aristoteles-Vorlesung vom Sommersemester 1922) ausführlicher auseinandergesetzt. Reinhardts Untersuchung ist, wie der Autor in der Einleitung vorausschickt, vom hermeneutischen Ansatz geleitet, „daß Parmenides einmal zu Worte komme“, er auch „einmal für sich allein gehört“ werde, „ohne Rücksicht auf den Streit der Schulen und den Fortschritt des Gedankens“.52

Zu diesem Ansatz gehört die hermeneutische Vorgabe, „daß diese Lehre ein völlig in sich geschlossenes, in sich selbst ruhendes Ganzes ist“. Die Alternative, über die man bisher in der Deutung des zweiten Teils nicht hinaus kam, war die zwischen Hypothese und Polemik (Bericht, Doxographie, Eristik).53 Die von Reinhardt für unangemessen gehaltene Interpretation aus dem „Fortschritt des Gedankens“ trifft vor allem für die „Hypothese“ zu, die die Kosmogonie des zweiten Teils aus dem Horizont der modernen Physik als deren Vorstufe deutet. Die Weltordnung, wie sie im zweiten Teil beschrieben wird, ist für Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff zwar keine „absolute Wahrheit“, aber doch „eine in sich geschlossene und durchaus wahrscheinliche“ Hypothese, die „in einer probehaltigen Weise Realität“ hat.54

50 Heidegger, Sein und Zeit, S. 223, Anm. 1 (= GA 2, S. 295, Anm. 20). 51 Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, § 21 (Problem des Verhältnisses der zwei Teile des Lehrgedichts des Parmenides). 52 Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie,S. 4. 53 Vgl. Reinhardt, Parmenides..., S. 5ff., 26ff. Ein kurzes Referat gibt Heidegger in GA 22, S. 63. 54 Lesefrüchte; in: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie 34 (1899), S. 203-230; hier S. 204 f. Der Deutung des zweiten Teils als eine Art von hypothetischer, problematischer oder wahrscheinlicher (plausibler) Physik schließen sich u. a. an: Theodor Gomperz, Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie, Bd. I., Berlin/Leipzig 41922 (Nachdr. Berlin 1973), S. 150; Friedrich Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. I: Das Altertum, hg. von Karl Praechter, 12., umgearb. u.

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Nach Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob (1911) können dagegen die Elemente der empirischen, geteilten Welt aufgrund ihres im ersten Teil des Lehrgedichts, der Metaphysik, explizit ausgesprochenen Scheincharakters keine Hypothesen sein, sondern „bloße Fiktionen“.55 Die Beurteilung als Bericht oder Doxographie wurde vor allem von Hermann Diels vertreten: „Somit ist der zweite Teil des Gedichtes [...] nichts als eine kritische Uebersicht über die strittigen Ansichten der bisherigen Denker, eine Doxographie, die wie im Peripatos lediglich den propädeutischen Zwecken der Schule dienen soll.“56

Reinhardt hat für Heidegger „diese Auffassungen mit stichhaltigen Beweisen als unmöglich aus dem Felde geschlagen und zugleich positiv auf eine neue Möglichkeit hingewiesen“, wenngleich bei ihm das existenzial-ontologische Fundament des „Wahrheitsproblem[s] im eigensten Zusammenhang mit [dem] Seinsproblem“ nicht zur Aufweisung kam. 57

Die im Proömium eingeführte namenlose Göttin, thea (Frgm. B 1, V. 22), deutet Heidegger als „die Göttin der Wahrheit“.58 Die

erw. Aufl., Berlin 1926 (Nachdr. Basel/Stuttgart 1967), S. 85; Wilhelm Windelband, Geschichte der abendländischen Philosophie im Altertum, 4. Aufl. bearb. v. Albert Goedeckemeyer, München 1923, S. 42; Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Teil I, 1. Abt., 1. Hälfte. 7., unveränd. Aufl., Darmstadt 1963 (Nachdr. der 6. Aufl., hg. von Wilhelm Nestle, Leipzig 1919), S. 725. 55 Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, Aalen 1986 (Neudr. der 9./10. Aufl. Leipzig 1927), S. 236f. 56 Hans Vaihinger, Parmenides Lehrgedicht. Griechisch und deutsch, Berlin 1897, S. 63, vgl. S. 101; u. a. übernommen von John Burnet, Early Greek Philosophy, 3rd ed. London 1920, S. 184ff. 57 Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 63f. 58 An dieser Deutung hält er auch noch in seiner Parmenides-Vorlesung vom Wintersemester 1942/43 (GA 54, S. 6 ff, 240 ff.) und späteren Texten fest (Moira [1952]; in: GA 7, S. 239f.; Was heißt Denken? Tübingen 1954, S. 126). In § 1 der Parmenides-Vorlesung verweist Heidegger darauf, dass die Redewendung von einer Göttin ,der‘ Wahrheit mißverständlich ist, da sie die Vorstellung erweckt, dass unter deren göttlichem Schutz und Segen daneben noch „die Wahrheit“ stehe. Vielmehr ist sie selbst - „die Wahrheit“ - die Göttin (GA 54, S. 5). Sie ist vor allem auch nicht eine (nachträgliche) Personifikation, „eine poetische Umkleidung abstrakter Begriffsarbeit“ (GA

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Textstelle lautet: „Daß die Göttin der Wahrheit, die den Parmenidesführt, ihn vor beide Wege stellt, den des Entdeckens und den des Verbergens, bedeutet nichts anderes als: das Dasein ist je schon in der Wahrheit und Unwahrheit: Der Weg des Entdeckens wird nur gewonnen im krinein logo, im verstehenden Unterscheiden beider und Sichentscheiden für den einen.“59 Das krinein logo ist ein Ausschnitt aus Fragment B 7, V. 5 (B 1, V. 36 nach der 3. und 4. Auflage) und verweist auf das verstehend-aufschließende Dasein. In der Vorlesung vom Sommersemester 1935 gibt Heidegger eine Übersetzung von Fragment B 7, V. 2 bis B 8, V. 1 (B 1, V. 33–36 nach der 3. und 4. Auflage): „Und gar nicht soll dich die recht gerissene Gewohnheit in die Richtung dieses Weges zwingen, daß du dich verlierst im nicht-sehenden Gaffen und im lärmvollen Hören und in der Zungenfertigkeit, sondern entscheide scheidend [krinai], in dem du in eins gesammelt [logo] vor dich hinstellst die Aufweisung des vielfachen Widerstreits, die von mir gegeben.“60

Der logos ist das sammelnd-eröffnende Vernehmen der zugesprochenen Aufweisung durch den Menschen, um sie so wissend zu übernehmen und zu bewahren, und steht hier (als das „auslesende ,Lesen‘“) „im engsten Verband mit krinein, dem Scheiden als Entscheiden im Vollzug der Sammlung auf die Gesammeltheit des Seins“.61 Heidegger hört hier auf die Wurzelbedeutung von legein als „lesen, sammeln“62.

7, S. 253; vgl. auch unten Anm. 64). Hans-Christian Günther deutet die Göttin gegenüber der communis opinio, daß sie bewußt namenlos geblieben sei, unter Berufung auf Proklos als Nymphe Hypsipyle, die Göttin von der hohen Tür, womit (nicht im Widerspruch zu Heideggers grundsätzlicher Deutung) das Übergängliche und über alles Hinausragende der göttlichen Weisung zum Ausdruck gebracht würde (ders., Aletheia und Doxa. Das Proömium des Gedichts des Parmenides. Berlin 1998, S. 58f.). 59 Heidegger, Sein und Zeit, S. 222 f. (= GA 2, S. 294f.). 60 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 182. 61 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 182. 62 Gegenüber dem eher rezeptiv-aufnehmenden noein ist im Vollzug der abhebenden Sammlung (legein) ein eher aktives Moment mitzuhören. Ausgehend von der Grundbedeutung „(ver)sammeln, aus-, auflesen, (aus)wählen“ entstand über „zusammenzählen, aufzählen“ die spätere

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Er wendet sich im späteren Denken mehr und mehr dem Zuspruch (Wink) der Sprache zu, indem er auf ihre Wurzelbedeutungen hört, in denen noch ein ursprüngliches Verständnis verwahrt ist. In der Übersetzung ist für den Weg der doxa unschwer das herauszuhören, was Heidegger in Sein und Zeit als die Uneigentlichkeit des Verfallensbezeichnet und näher charakterisiert als „Das Gerede“ (§ 35), „Die Neugier“ (§ 36), „Die Zweideutigkeit“ (§ 37), d. h. das faktische „Verlorensein in die Öffentlichkeit des Man“.63

Das Da-sein ist in der existenzial-ontologischen Interpretation Heideggers je schon in der Wahrheit und in der Unwahrheit, weil es in Bedeutung „aufzählen, erzählen, sagen“ (zum Wortstamm lego vgl. z. B. Lexikon des frühgriechischen Epos [s. Anm. 46]. Bd. 2. Göttingen 1982, Sp. 1649ff.; Pierre Chantraine, Dictionnaire étymologique de la langue grecque. Histoire des mots, Paris 1980, S. 625f.). Dagegen bildet nach einer klassischen Analyse des Aristoteles (De anima III 4, 429a13 ff.) das Wahrnehmen das Modell für das noein. Es ist (429a15 f.), wie Gadamer übersetzt, „‚im Sein aufgehen’, nichts für sich zu sein als nur die Offenheit für das, was ist“ (Gadamer, Gesammelte Werke Bd. 7, J.C.B. Mohr [Paul Siebeck], Tübingen 1991, S. 28). Zum Modell der sinnlichen Wahrnehmung für das noein, den nus vgl. Kurd von Fritz, „Die Rolle des nus“; in: Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, hg. von Hans-Georg Gadamer, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1968, S. 246-363, bes. S. 263ff.; Parmenides. Die Fragmente. Griechisch-deutsch, hg., übers. u. erl. von Ernst Heitsch. 2., durchges. u. erw. Aufl. Artemis, München/Zürich 1991, S. 99ff.; Jürgen Wiesner, Parmenides. Der Beginn der Aletheia, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1996, S. 43ff.; Ernst Tugendhat, „Das Sein und das Nichts“; in: ders., Philosophische Aufsätze, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992, S. 36-66; hier S. 45f.). Jedoch ist auch das noein (wie das Wahrnehmen) nicht „rein passiv“. Tugendhat verweist in Anm. 6 des genannten Aufsatzes in einer Stellungnahme zu der zitierten Untersuchung von K. von Fritz darauf, daß noein nicht „Erkennen bedeutet, sondern daß es bei Homer so viel wie ‚Bemerken’ heißt (das Englische ‚to notice’ paßt besser)“. Heideggers spätere Übersetzung des Fragments B 3 kommt dem ziemlich nahe: „das nämlich Selbe In-die-Acht-nehmen ist so auch Anwesen des Anwesenden“ (Heidegger, Was heißt Denken? Tübingen 1954, S. 147; Moira [1952]; in: GA 7, S. 251). Noein und legein spielen in Parmenides’ Lehrgedicht ineinander, was freilich einer eingehenden Textanalyse bedarf (vgl. Günther: Der Satz des Parmenides... (s. Anm. 37), S. 154ff.; zum Wandel der Auslegung des Parmenideischen Gedichtes innerhalb des Heideggerschen Denkweges ab 1935 vgl. Jochen Schlüter: Heidegger und Parmenides).

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seiner faktischen Geworfenheit vor die beiden Grundmöglichkeiten des existierenden In-der-Welt-seins, die Eigentlichkeit und die Uneigentlichkeit (schärfer gefaßt als das Verfallen), gebracht ist. Der Offenbarungscharakter der göttlichen Weisung im Proömium des Lehrgedichtes64 verweist darauf, dass wir vor die Ent-scheidung des Entdeckens oder Verbergens des Seienden in seinem Sein gebrachtsind, wenn auch das existenzial-ontologische Fundament der geworfen-entworfenen Erschlossenheit des Daseins (als die ursprüngliche Wahrheit) noch ungenannt bleibt. Die beiden Wege65

sind nach Heideggers Deutung also die der aletheia und der doxa (des

63 Heidegger, Sein und Zeit, § 38, S. 175 (= GA 2, S. 233), vgl. auch § 27. 64 Parmenides’ Fahrt ist nicht „bildlich“ im eigentlichen Sinne, sondern der Versuch, die noch nie genannte denkerische Erfahrung gerade durch überbietendes Aufheben vorgegebener Redemuster und Topoi erstmals ins nennende Wort zu heben (vgl. Günther, Aletheia und Doxa [s. Anm. 58], S. 22ff.). Vgl. schon Reinhardt: „Die mythologische Einkleidung [...] ist, streng genommen, überhaupt keine Einkleidung, denn da gibt es nichts, was in abstracto formuliert nachträglich erst mit einer künstlichen und transparenten Körperlichkeit umkleidet worden wäre, sondern gerade die abstraktesten Gedanken konnten ihren Weg zur Mitteilung [...] nur durch die alte mythologische Ausdrucksweise finden [...]“ (ders., Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie [s. Anm. 49], S. 67; vgl. auch oben Anm. 58). 65 Heidegger spricht in Sein und Zeit (S. 222 [GA 2, S. 294]) wie auch in der Vorlesung vom Sommersemester 1926 (Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 64; 66) die (möglichen) Wege ausdrücklich an als „beide Wege“ oder „zwei Wege“. In seiner Auslegung des Lehrgedichtes vom Sommersemester 1935, die schon im Horizont des sich entfaltenden seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denkens steht, zu dessen „Vorboten“ (von Herrmann, Wege ins Ereignis [s. Anm. 43], S. 16) die Frage nach dem Nichts in der Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (in:Martin Heidegger, Wegmarken, GA 9, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21996, S. 103-122) vom 24. Juli 1929 gehört, spricht er dagegen explizit von einem „Dreiweg“: „Vernehmung ist Durchgang durch die Kreuzung des Dreiwegs. Das kann sie nur werden, wenn sie von Grund aus Ent-scheidung ist für das Sein gegen das Nichts und somit Auseinandersetzung mit dem Schein“ (Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 177, vgl. § 43; vgl. auch Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1954, S. 108; Martin Heidegger, Seminare,GA 15, hg. von Curd Ochwadt, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1986, S. 403).

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Scheins, des Geredes, des Verfallens an das „Man“), wobei letzterer für ihn aber nicht als eine „völlige Verborgenheit“66 zu verstehen ist, sondern selbst noch „als zugehörig zur Wahrheit“.67

Der Weg des Scheins, dem wir zunächst und gewöhnlich verfallen sind, kann nicht überwunden werden durch eine „immanente“ Widerlegung, Aufdeckung innerer Widersprüche, „sondern erst, wenn er in seinem Ursprung verstanden ist“68, das heißt, wenn allererst der Schein als Schein durchsichtig gemacht ist. Der Weg der Wahrheit ist der Weg gegen den Schein zu den Phänomenen. Heidegger kann sich auch auf Aristoteles als Gewährsmann berufen (Met. I 5, 986 b 31): „Er (Parmenides) war gezwungen, dem zu folgen, was sich an ihm selbst zeigte.“69 Was die Phänomenologie „sucht und will“, nämlich das Sein, die phainomena als den Gegenbegriff zum Schein zu

66 Heidegger, Sein und Zeit, S. 222 (= GA 2, S. 294) (Hervorh. G. N.). Der „Schein“ ist im Sinne von § 7 A von „Sein und Zeit“ primär verstanden als „bloßer Schein“ (nicht als „Erscheinung“), d. h. als „privative Modifikation von Phänomen“ (Heidegger, Sein und Zeit, S. 29 [= GA 2, S. 39]) als dem Sich-an-ihm-selbst-zeigen. Der privative Charakter steht auch dann in Vordergrund, wenn etwa in der Benennung (onoma onomazein; Frgm. B 8, V. 38, 53) als dem (wie es im Lehrgedicht heißt), „was die Sterblichen gesetzt haben, in der Überzeugung, daß es wahr sei“ (Frgm. B 8, V. 39, vgl. V. 53ff.), etwas „erscheint“, d. h. indiziert wird, was an ihm selbst nicht ist, somit „auch Erscheinung zum bloßen Schein“ wird (Heidegger, Sein und Zeit, S. 30 [= GA 2, S. 41]). Vgl. auch Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie GA 22, S. 64: „Der Weg des Scheins: Schein ist, was nur so aussieht wie, aber nicht ist. Schein ist der Gegenspieler zu dem, was sich zeigt.“67 Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 64. Vgl. auch Kurt Riezlers Interpretation (Parmenides [s. Anm. 40], S. 44): „Worin anders soll diese Auszeichnung liegen, als daß in diesem so als Schein entworfenen Schein die Wahrheit noch erschaubar bleibt? Oder etwa gar in irgendeiner Art von Brauchbarkeit? [...] Auch mit Wahrscheinlichkeit, die wahr sein kann, aber nicht gewiß ist, hat das Scheinwesen der doxa nichts zu tun: die Wahrheit ist erst seit Descartes Gewißheit. Hier ist sie die ,Unverborgenheit‘ des on als hen, in der doxa durch die Trennung des Einen in Vieles verhüllt (Martin Heidegger: a-letheia. Negation des Verborgenseins).“ 68 Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 64. 69 Heidegger, Sein und Zeit, S. 213 (= GA 2, S. 282).

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erfassen und zu begreifen, „war schon von Anfang an in der abendländischen Philosophie lebendig“.70 Das Zwanghafte verweist darauf, dass das faktische Verfallen, in dem das Dasein zunächst und zumeist existiert, nicht als ein „Versäumnis“ des Menschen anzusehen ist.71 Da die Wahrheit (Entdecktheit des Seienden) dem (in gewisser Weise) „auch schon Entdeckten gegen den Schein und die Verstellung“ immer erst „abgerungen werden muß“72, stehen die beiden Teile des Lehrgedichtes in einem ausgezeichneten wechselseitigen Bezug. Zusammenfassend können wir festhalten: Die beiden Teile des Parmenideischen Lehrgedichtes stehen, wie es erstmals Karl Reinhardt in seiner Deutung überzeugend herausgearbeitet hat, in einem wechselseitigen Bezug und sind nur aus dieser Einheit und Ganzheit heraus interpretierbar. Die privative Deutung des Wahrheitsphänomens trägt Heideggers Auslegung des Lehrgedichtes im ganzen. Der Wahrheitsbesitz, die pistis alethes (Frgm. B 1, V. 30 und B 8, V. 28) als das vertrauende Vertrautsein mit dem Unverborgenen, muß dem Schein, dem das menschliche Dasein (die „Sterblichen“, brotoi) in seiner Faktizität zunächst und zumeist verfallen ist, im verstehenden Unterscheiden der beiden Wege und Sichentscheiden für den einen immer erst und immer neu abgerungen

70 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, S. 28 (Hervorh. G. N.), vgl. S. 319. 71 Man könnte hier in existential-ontologischer Interpretation (der Weisung der Göttin der Wahrheit) auf den Rufcharakter des Gewissens (Heidegger, Sein und Zeit, § 56f.) verweisen, das mich als uneigentliches (verfallendes) „Man-selbst“ trifft und über mich kommt. Die Analyse des Rufcharakters des Gewissens in Zusammengehörigkeit mit der Entschlossenheit als seinem genuinen Hören besitzt eine besondere Nähe zu dem, was im seinsgeschichtlichen oder Ereignis-Denken als der kehrige (in sich gegenschwingende) Bezug von sich-ereignendem Zuruf (Zuspruch, Zuwurf) der Wahrheit des Seins und ereignetem Ent-sprechen (Entwurf) gefaßt wird. Vgl. dazu Ingeborg Schüßler, „Gewissen und Wahrheit. Heideggers existenziale Analytik des Gewissens (Sein und Zeit §§ 54-62)“; in: Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke, hg. von Klaus Held und Jochem Hennigfeld, Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, S. 327–349. 72 Heidegger, Sein und Zeit, S. 222 (= GA 2, S. 294).

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werden. Das ist aber nur möglich, wenn der Schein in seinem Ursprung verstanden ist, der Schein als Schein durchsichtig gemacht ist.

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5. Martin Heidegger und die Logik der Philosophiegeschichte am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Hegel*

Daniel Fidel Ferrer, Central Michigan University, Mount Pleasant,USA

„Je größer eine Umwälzung sein muß, um so tiefer wird sie in ihrer Geschichte ansetzen.“1

Martin Heidegger liest die Werke anderer Philosophen in einer sehr originellen und nie unschuldigen Weise. Dies zeigt sich insbesondere an seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Hegels, die im Folgenden in ihren verschiedenen Phasen untersucht werden soll. Eine der ersten Begegnungen Heideggers mit dem Denken Hegels läßt sich auf das Wintersemester 1910/11 datieren, in dem Heidegger ein Seminar bei Carl Braig mit dem Titel „Einleitung in die katholische Dogmatik: Gotteslehre“ besuchte. Etwas mehr als 50 Jahre später, im Jahr 1963, erinnert sich Heidegger daran, dass er auf seinen Spaziergängen mit Braig Hegels Bedeutung für die spekulative Theologie der Tübinger Schule diskutiert habe. Im Wintersemester 1914/15 besucht Heidegger Rickerts Seminar „Übungen zur philosophischen Systematik im Anschluß an Hegel“ und im Wintersemester 1915/16 eine Vorlesung zu „Die deutsche Philosophie von Kant bis Nietzsche“. Im 1916 für den Druck verfassten Schlusskapitel seiner Habilitationsschrift Die Kategorien und Bedeutungslehre des Duns Scotus stellt Heidegger die These auf, dass eine „prinzipielle Auseinandersetzung“ mit Hegel notwendig sei.2

Damit beginnt gewissermaßen Heideggers intensive philosophische Auseinandersetzung mit Hegel, die mindestens bis zu dem Seminar über Hegels Differenzschrift in Le Thor im Jahr 1968 dauern sollte, in dem Heidegger noch einmal auf die Bedeutung der

* Aus dem Englischen übersetzt von Alfred Denker und Holger Zaborowski.1 Martin Heidegger, Nietzsche I, Neske, Pfullingen 51989, S. 235. 2 Martin Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1978, S. 353

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Auseinandersetzung mit Hegel hinwies: „In unserem Fall handelt es sich um Hegel: wir müssen also eine Auseinandersetzung mit Hegel beginnen, damit Hegel zu uns spricht.“3

Während Heidegger berühmte Abhandlungen über Kant und Nietzsche publizierte, hat er zu seinen Lebzeiten keine umfangreiche Untersuchung über Hegel veröffentlicht. Aber trotzdem ist der Einfluss Hegels, den er im Zusammenhang mit seiner kritischen Kant-Lektüre neu entdeckte, unverkennbar. Am 10. Dezember 1925 schreibt Heidegger an Karl Jaspers: „Mir machen die Hegel und Kant Übungen ungewöhnlich viel Freude, und ich bin froh, daß ich jetzt erst an diese Sachen komme, wo relativ mindestens die Möglichkeit da ist, etwas zu verstehen.“4 In einem späteren Brief teilt er Jaspers mit: „Ich bin dankbar dafür, daß mich das Schicksal davor bewahrte, mir Kant und Hegel durch irgend eine der jetzt käuflichen Brillen zu verderben. Ich glaube, den Weltgeist in der Nähe dieser beiden zu spüren.“5 Heidegger bezieht sich hier auf sein Marburger Hegel-Seminar „Phänomenologische Übungen für Fortgeschrittene (Hegel,Logik I. Buch)“.

Zwischen 1915 und 1968 hat Heidegger siebzehn Lehrveranstaltungen zu Hegel angeboten: Im SS 1916 die Vorlesung „Der Deutsche Idealismus“; im WS 1925/26 das Seminar „Phänomenologische Übungen für Fortgeschrittene (Hegel, Logik I. Buch)“; im SS 1927 das Seminar „Die Ontologie des Aristoteles und Hegels Logik“; im SS 1929 das Seminar „Idealismus und Realismus“; im SS 1929 die Vorlesung „Der Deutsche Idealismus (Fichte, Hegel, Schelling) und die philosophische Problemlage der Gegenwart (GA 28)“; im WS 1930/31 die Vorlesung „Hegels Phänomenologie des Geistes (GA 32)“; im SS 1934 das Seminar „Arbeitsgemeinschaft für Fortgeschrittene über Hegel, Jenenser Realphilosophie 1805/6“; im

3 Martin Heidegger, Seminare, GA 15, hg. von Curd Ochwadt, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1986, S. 286. 4 Martin Heidegger / Karl Jaspers, Briefwechsel 1920-1963, hg. von Walter Biemel und Hans Saner, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1990, S. 57. 5 Heidegger / Jaspers, Briefwechsel, S. 59.

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WS 1934/35 das Seminar „Übungen für Anfänger: Hegel, Über den Staat“ und das Seminar „Übungen für Fortgeschrittene: Hegel, Phänomenologie des Geistes“; im SS 1935 das Seminar „Übungen für Fortgeschrittene: Hegel, Phänomenologie des Geistes (Fortsetzung)“; im WS 1939/40 das Seminar „Hegels Metaphysik der Geschichte“; im SS 1942 das Seminar „Hegel, Die Phänomenologie des Geistes; im WS 1942/43 das Seminar „Hegel, Phänomenologie – Aristoteles, Metaphysica Theta 10“; im SS 1943 das Seminar „Hegel, Philosophie des Geistes“; im WS 1955/56 das Seminar „Zu Hegels. Logik. Die Logik des Wesens“; im WS 1956/57 das Seminar „Zu Hegels Logik(Über den Anfang der Wissenschaft)“; am 24. Februar 1957 den Vortrag in Freiburg „Die Onto-Theo-logische Verfassung der Metaphysik“ und schließlich im Jahr 1968 das Seminar in Le Thor „Hegel: Differenzschrift“. Hegel war auch sonst ein Denker, zu dem sich Heidegger oft geäußert hat. So ist etwa in Heideggers und Eugen Finks Seminar zu Heraklit aus dem WS 1966/67 Hegel derjenige moderne Philosoph, auf den am häufigsten Bezug genommen wird. Allein schon die Fülle der Lehrveranstaltungen Heideggers zu Hegel legt die Vermutung nahe, dass Hegels System als die Vollendung der Metaphysik im Zentrum des philosophischen Interesses Heideggers gestanden hat. Heidegger wollte aber nicht nur an den Anti-Hegelianismus Nietzsches, Marx’, Kierkegaards oder Feuerbachs anknüpfen, sondern sich selbst intensiv und kritisch mit Hegels Denken „auseinandersetzen“. In den meisten seiner Arbeiten über Hegel beschrieb Heidegger seinen Dialog mit Hegel als „Aus-einander-setzung – Scheidung“. Dabei handelt es sich nicht um eine Kontroverse über irgendwelche philosophischen Probleme oder eine Polemik, sondern eher um einen Kampf um die Grundfragen der Philosophie. Was aber heißt „Auseinandersetzung“ im Sinne Heideggers? Es ist zunächst bemerkenswert, dass Heidegger wie auch Hegel eine positivistische Interpretation der Philosophiegeschichte ablehnt. Philosophie kann niemals ein objektiver Gegenstand der Erkenntnis werden, weil für beide Philosophie nur im Vollzug möglich ist:

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„Philosophie ist Philosophieren.“6 Daher müssen auch wir Heideggers Interpretation der Philosophiegeschichte mit- und nachvollziehen. Denn Heidegger sagt selbst: „Einen Denker achten wir nur, indem wir denken. Dies verlangt, alles Wesentliche zu denken, was in seinem Gedanken gedacht ist.“7 In seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche formuliert er daher folgendes Programm: „Auseinandersetzung ist echte Kritik. Sie ist die höchste und einzige Weise der wahren Schätzung eines Denkers. Denn sie übernimmt es, seinem Denken nachzudenken und es in seine wirkende Kraft, nicht in die Schwächen, zu verfolgen. Und wozu dieses? Damit wir selbst durch die Auseinandersetzung für die höchste Anstrengung des Denkens frei werden.“8 Die Aufgabe der Auseinandersetzung liegt also darin, dass wir selbst denken, nicht dass wir Experten für das Werk Hegels werden. Heidegger möchte selbst, in seiner eigenen Zeit in der Geschichte, das denken, was ein anderer Philosoph gedacht hat. Es gibt für ihn daher keine ungeschichtliche Interpretation der Philosophie, jede Philosophie ist das Kind ihrer Zeit. Deshalb versucht er, einen Weg zu einem „denkenden Gespräch zwischen Denkenden“ zu finden, ohne dass er die Problematik eines solchen Gespräches übersähe: „Das Verfehlende ist in der Zwiesprache drohender, das Fehlende häufiger.“9 Es geht ihm um ein Zwiegespräch mit Kant oder Hegel, nicht aber um die objektive Darstellung ihres Denkens. „Das Gespräch mit einem Denker kann nur von der Sache des Denkens handeln.“10 Deshalb lehnt Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit 6 Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik (Welt – Endlichkeit – Einsamkeit), GA 29/30, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21992, S. 5f. 7 Martin Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit, GA 42, hg. von Ingrid Schüßler, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1988, S.14. 8 Heidegger, Nietzsche I, S. 13. 9 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1991, p. XVII. 10 Ma rtin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Max Niemeyer, Tübingen 1969, S. 80.

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Kant den Versuch, „den Kant an sich“ zu entdecken, ab und überlässt dies der Kant-Philologie. Für die Kant-Philologie läuft diese Methode aber auf ein willkürliches Hineininterpretieren hinaus. In der Vorrede zur zweiten Auflage von Kant und das Problem der Metaphysik schreibt Heidegger: „Unablässig stößt man sich an der Gewaltsamkeit meiner Auslegungen. Der Vorwurf des Gewaltsamen kann an dieser Schrift gut belegt werden.“11

Heidegger ging es aber nicht um „Gewaltsamkeiten“. Die Voraussetzung der Auseinandersetzung mit einem Denker lag nämlich in der philosophischen Verwandtschaft mit ihm. Im Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag “Zeit und Sein” heißt es: „Obgleich Hegel der Sache nach dem Anliegen Heideggers in gewisser Weise entfernter ist als jede andere metaphysische Position, legt sich dennoch der Anschein einer Selbigkeit und somit die Vergleichbarkeit beider Positionen fast zwangsläufig nah.“12

Heidegger bezieht sich zustimmend auf Hegels seinem eigenen Denken verwandte Methode der Auseinandersetzung, denn Hegel schrieb in der Differenzschrift: „Der lebendige Geist, der in einer Philosophie wohnt, verlangt, um sich zu enthüllen, durch einen verwandten Geist geboren zu werden.“13 Deshalb stellt er folgende Forderung auf: „Wenn wir zu einer Auseinandersetzung mit Hegel kommen wollen, dann geht an uns die Forderung, mit ihm ‚verwandt’ zu sein.“14 Heidegger ist aber nicht Hegels Nachfolger, noch ist Hegel Heideggers Vorgänger. Wiederum in Anlehnung an Hegel sagt Heidegger daher: „Denn in der Philosophie gibt es weder Vorgänger noch Nachgänger, das heißt nicht, daß jedem Philosophen jeder andere gleichgültig sei, sondern es besagt umgekehrt, dass jeder wirkliche Philosoph mit jedem anderen gleichzeitig ist, und zwar gerade dadurch, dass er im Innersten das Wort seiner Zeit ist.“15

11 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, S. XVII. 12 Heidegger, Zur Sache des Denkens, S. 28. 13 Martin Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, hg. von Ingtraud Görland, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 31997, S. 45. 14 Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, S. 44. 15 Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, S. 45.

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In der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie von 1927 findet sich eine für unser Thema wichtige explizite Charakterisierung der phänomenologischen Methode: „Diese drei Grundstücke der phänomenologischen Methode: Reduktion, Konstruktion, Destruktion, gehören inhaltlich zusammen und müssen in ihrer Zusammengehörigkeit begründet werden. Konstruktion der Philosophie ist notwendig Destruktion, d.h. ein im historischen Rückgang auf die Tradition vollzogener Abbau des Überlieferten, was keine Negation und Verurteilung der Tradition zur Nichtigkeit, sondern umgekehrt gerade positive Aneignung ihrer bedeutet.“16

Daher wirkt Heideggers Interpretation Hegels auf den ersten Blick wie eine „Aufhebung“ der Tradition. Es ist aber, wie Heidegger selbst sagt, eine „positive Aneignung“, die die Tradition nicht von einem höheren Standpunkt aus als überholt kritisiert und hinter sich lässt. Es ist gewissermaßen ein „Rückgang“17. Es gibt drei wichtige explizite Äußerungen Heideggers, die uns zeigen, wie er seinen Rückgang auf Hegel verstanden hat. Im Jahr 1916 sagt er: „Die Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit, deren allgemeinste Richtpunkte nur angedeutet werden konnten, insonderheit eine von ihren Grundtendenzen geleitete Kategorienlehre steht vor der großen Aufgabe einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit dem an Fülle wie Tiefe, Erlebnisreichtum und Be-griffsbildung gewaltigsten System einer historischen Weltanschauung, als welches es alle vorausgegangenen fundamentalen philosophischen Problemmotive in sich aufgehoben hat, mit Hegel.“18 1919 kommt er zu folgender Einschätzung: „Dann stehen wir mit der Front gegen Hegel, d.h. vor einer der schwierigsten Auseinandersetzungen.“19 Und 1946 16 Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 31997, S. 31. 17 Martin Heidegger, Wegmarken, GA 9, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21996, S. 368 u. 376. 18 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 410-11. 19 Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, hg. von Bernd Heimbüchel, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21999, S. 97.

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formuliert er folgendes Urteil: „Trotz des flachen Geredes vom Zusammenbruch der Hegelschen Philosophie bleibt dies Eine bestehen, dass im 19. Jahrhundert nur diese Philosophie die Wirklichkeit bestimmte, obzwar nicht der äußerlichen Form einer befolgten Lehre, sondern als Metaphysik, als Herrschaft der Seiendheit im Sinne der Gewißheit. Die Gegenbewegungen gegen diese Metaphysik gehören zu ihr. Seit Hegels Tod (1831) ist alles nur Gegenbewegung, nicht nur in Deutschland sondern in Europa.“20

Heidegger war der Ansicht, dass Hegels System „aufgehoben“ werden müsse, aber Heideggers eigenes Denken war Hegel nicht nahe. Heidegger versucht in seiner Interpretation anderer Philosophen immer, das Ungedachte aufzudecken. Dies war gerade in Bezug auf Hegel sehr schwer, da Hegels philosophisches System ein in sich geschlossenes System ist. Schon im Paragraphen 82 von Sein und Zeithat Heidegger im Rahmen seiner Destruktion der Geschichte der Ontologie versucht, Hegels Begriff der Zeit zu kritisieren. In seinen späteren Arbeiten finden sich eher allgemeine Bemerkungen zum Deutschen Idealismus, die Heidegger Distanz zum Idealismus wie auch zur Metaphysik zeigen. Heidegger argumentierte: „Der letzte und zugleich gewaltigste Versuch dieses Durchdenkens der Kategorien, d.h. der Hinsichten, nach denen die Vernunft das Seiende als solches denkt, ist die Dialektik Hegels, die er in einem Werk gestaltet hat, das den echten und gemäßen Namen ‚Wissenschaft der Logik’ trägt. Dies besagt: das Sichwissen des Wesens der Vernunft als das Denken des ‚Seins’, in welchem Denken sich die Einheit und die Zusammengehörigkeit der Bestimmungen des Seins zum ‚absoluten Begriff’ entfalten und sich darin begründen.“21 Zu dieser Zeit – im Jahr 1939 – kann Heidegger Hegels Wissenschaft der Logik im Rahmen seiner inzwischen ausgearbeiteten Geschichte des Seyns und damit in einem größeren Kontext interpretieren. 1962 sagte er: „Diese

20 Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2000, S. 74.21 Heidegger, Nietzsche, Bd. I, S. 529f.

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Vorstellung vom Sein als des schlechthin Abstrakten wird im Prinzip auch noch nicht aufgeben, sondern nur bestätigt, wenn das Sein als das schlechthin Abstrakte in das schlechthin Konkrete der Wirklichkeit des absoluten Geistes aufgehoben wird, was im gewaltigsten Denken der neueren Zeit, in Hegels spekulativer Dialektik sich vollzogen hat und in seiner ‚Wissenschaft der Logik’dargestellt wird.“22

Wie Alfred Denker gesagt hat, ist Hegel für Heidegger sowohl Höhe- als auch Tiefpunkt der Philosophiegeschichte und deshalb ist eine „[…] geschichtliche Auseinandersetzung mit Hegel“23

notwendig. Heideggers Zugang zu Hegel zeigt sich an der Bemerkung, man müsse „Hegels Systematik in den beherrschenden Blick bringen und doch ganz entgegengesetzt denken.“24 Denn Heidegger zeigt die Möglichkeit eines Übergangs und eines neuen Anfangs nach Hegel. Dennoch gibt es eine Reihe von schwerwiegenden Differenzen zwischen Hegel und Heidegger: Die Hauptthese von Sein und Zeit ist, dass Zeit das Wesen des Seins sei. Dies ist das Gegenteil von Hegels Standpunkt. Hegels Idee, dass der reine Begriff die Zeit tilge, ist für Heidegger ein Irrtum. Daraus ergibt sich, dass Heidegger Hegels Auffassung der Zeit und der Ewigkeit und seine dialektische Methode ablehnt. Damit ist eng verbunden, dass Heidegger Hegels Gottesbegriff (Gott als absoluter Geist), sein Wahrheitsverständnis, sein Verständnis der Philosophie als einer absoluten Wissenschaft sowie seinen Systemanspruch nicht akzeptieren kann. Sowohl Hegel als auch Heidegger wollen die Geschichte der Philosophie begreifen, aber ihre Meta-Geschichten der Philosophie gehen in verschiedene Richtungen. Warum aber hat Heidegger so wenige seiner Arbeiten über Hegel publiziert? Warum hat er seine Vorlesungen über Hegel nicht

22 Heidegger, Zur Sache des Denkens, S. 6. 23 Alfred Denker, Historical Dictionary of Heidegger's Philosophy,Scarecrow, Lanham 2000, S. 105.24 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1989, S. 176.

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überarbeitet? In einem Brief an Elisabeth Blochmann schreibt er: „In die Vorlesung habe ich nur eine kleine Zahl aufgenommen, aber auch für diese war das meiste zu schwer.“25 Vielleicht kann man vermuten, dass diese Vorlesungen nicht nur für Heideggers Studenten zu schwierig waren, sondern dass Heidegger selbst nicht zu einem befriedigenden Abschluss seiner Hegel-Studien gekommen ist. Warum aber blieb Hegel im Hintergrund seines Denkens? Vielleicht weil Hegel für Heidegger der „gewaltigste Denker der neueren Zeit” ist, der die Geschichte der Metaphysik vollendet hat und den wir überwinden müssen: „Diese Überwindung Hegels ist der innerlich notwendige Schritt in der Entwicklung der abendländischen Philosophie, der gemacht werden muss, wenn sie überhaupt noch am Leben bleiben soll.“26 Soll ein Denken nach dem Ende der Metaphysik möglich sein, dann ist es notwendig, an Hegel „vorbei“ zu denken. Dieser Übergang ist der Übergang zurück in die Philosophie und der Anfang des anfänglichen Denkens.

25 Martin Heidegger – Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918-1969, hg. von Joachim W. Storck, Deutsche Schiller-Gesellschaft, Marbach am Neckar 1989, S. 40. 26 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, hg. von Ingtraud Görland, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 31995, S. 254.

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6. Heidegger und das Rationalitätsprinzip

Harald van Veghel, Tilburg, Niederlande

In seiner Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik merkt Heidegger 1928 an: „[die] unentwegt von den Philosophieprofessoren vorgetragene Logik spricht den Hörer nicht an, sie ist nicht nur bis zur Öde trocken, sie läßt den Hörer am Ende ratlos stehen. [...] Diese technische und schulmäßige Logik verschafft aber auch keinen Begriff der Philosophie; die Beschäftigung mit ihr läßt den Studenten außerhalb der Philosophie stehen, wenn sie ihn nicht gar davon abdrängt.“1

Heidegger nimmt Abstand von einem solchen Hörer: Das, was den Hörer anspricht, ist kein Kriterium, gerade nicht „heute“, d.h. im Jahr 1928, „wo die innere Auflehnung gegen die Wissenschaft, der Sklavenaufstand gegen die Rationalität und der Kampf gegen den Intellektualismus zum vornehmen Ton gehört“.2 Solche Aussagen Heideggers sind zu beachten, gerade weil auch Heidegger oft dazu benutzt wird, sich von jeder Logik, Wissenschaftlichkeit oder Rationalität fern zu halten, oder wenn er umgekehrt – aber auf Grund des gleichen Urteils – als irrational beiseite geschoben wird. Wie verhält sich Heidegger zur philosophischen Rationalität? Ich werde kurz drei Stadien seines Wegs erläutern. Zuerst werde ich versuchen, einen Einblick in die Position der frühen Arbeiten zu geben. Ich kann hier nur auf einige Stellen hinweisen und wähle als Ausgangspunkt die Einleitung in die Phänomenologie der Religion,eine Vorlesung von 1920/21.3 Die Antwort auf die Frage, wie Heidegger sich hier zur philosophischen Rationalität verhält, muss sein: gar nicht oder jedenfalls dem Augenschein nach gar nicht. Die

1 Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, hg. von Klaus Held, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1978, S. 5. 2 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe, GA 26, S. 5. 3 Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Bewußtseins, GA 60, hg. von Mathias Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1995, 1-160.

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Frage nach dem möglichen rationalen Gehalt seiner Philosophie ist hier, was Heidegger angeht, nicht sachdienlich. Anschließend gehe ich auf die Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz und auf den Aufsatz „Vom Wesen des Grundes“ von 1928 ein.4 Jetzt ist die philosophische Rationalität Thema, und sie wird vom Rationalitätsprinzip bestimmt, von dem Satz vom Grund. Das Rationalitätsprinzip ist Ausgangspunkt bei der Bestimmung der philosophischen Rationalität, aber nur Ausgangspunkt, nur eine Station auf dem Weg zur tatsächlichen Begründung der Philosophie. Am Schluss behandle ich die Vorlesung Der Satz vom Grund von 1955/565, in der das Rationalitätsprinzip wieder Ausgangspunkt des Gedankengangs ist, aber jetzt nicht nur eine Station auf dem Weg, sondern die Mitte und Triebfeder, die Heidegger immer weiter in die Gründe der Metaphysik und in die Gründe des Denkens treibt.

1. Rationalität und Irrationalität – eine Verkennung im notorisch Unbestimmten (1920/21)Im methodischen Teil seiner Einleitung in die Phänomenologie der Religion finden wir eine Ausarbeitung der berühmten formalen Anzeige, nach Theodore Kisiel die Geheimwaffe des frühen Heidegger, die bestimmend ist für die Weise, in der Heidegger die phänomenologische Methode aufnimmt. Für das Thema dieses Aufsatzes ist am wichtigsten, dass Heidegger diese von ihm umgeprägte phänomenologische Formalisierung ganz außerhalb der Unterscheidung von Rationalität und Irrationalität stehen lassen will. So lesen wir in seiner Einführung in die Phänomenologie der Religion– unter Verweis auf Otto: „Es ist heute [...] üblich, mit dem Gegensatz des Kategorienpaares rational und irrational zu arbeiten. Die heutige Religionsphilosophie ist stolz auf ihre Kategorie des Irrationalen und hält mit ihr den Zugang zur Religiosität für gesichert.

4 Martin Heidegger, „Vom Wesen des Grundes“; in: Wegmarken, GA 9, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1976, 123-177. 5 Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, hg. von Petra Jaeger, Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 1997.

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Aber mit diesen beiden Begriffen ist nichts gesagt, solange man den Sinn von rational nicht kennt. Der Begriff des Irrationalen soll ja aus dem Gegensatz zu dem Begriff des Rationalen bestimmt werden, der sich aber in notorischer Unbestimmtheit befindet. Dieses Begriffspaar ist also völlig auszuschalten. Das phänomenologische Verstehen liegt seinem Grundsinn nach völlig außerhalb dieses Gegensatzes, der, wenn überhaupt, nur ein sehr beschränktes Recht hat.“6

Diese Behauptung scheint mir aber unbefriedigend zu sein. Gerade die notorische Unbestimmtheit der Rationalität würde auch kein Wissen darüber zulassen, ob Heidegger nun ganz außerhalb der Unterscheidung von rational oder irrational steht oder nicht. Man muss unterstellen, dass Heidegger schon an einen bestimmten Begriff von Rationalität gedacht hat, wenn er bei dieser Bemerkung auf Otto verweist. Dieser schrieb einige Jahre zuvor in seinem Buch Das Heilige: „Wir meinen mit ‘rational’ in der Idee des Göttlichen dasjenige, was von ihr eingeht in die klare Faßbarkeit unseres begreifenden Vermögens, in den Bereich vertrauter und definibeler Begriffe. Wir behaupten sodann, daß unter diesem Bereiche lauterer Klarheit eine dunkle Tiefe liege, die nicht unserem Gefühl, aber unseren Begriffen sich entziehe und die wir insofern ‘das Irrationale’ nennen.“7

Von dieser Definition des Rationalen aus gesehen darf es uns jedenfalls nicht befremden, dass der Begriff des Irrationalen nicht definiert ist: Das Irrationale ist ja das Undefinierte schlechthin, das, was übrig bleibt, wenn wir das Rationale herausgehoben haben. Bei Otto findet man Beispiele für viele Angelegenheiten, die als irrational gedeutet werden können, wie etwa das Zufällige, Blinde, Willkürliche, der Drang, der Instinkt und die dunklen Kräfte des Unterbewussten, die mystischen Tiefen und Regungen der Seele und das Zutrauen zu Eingebungen, Ahnungen, Tiefblicken, Sehertum und Okkultismus. Man muß fürchten, dass Heideggers Bemerkung, er stehe ganz

6 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 78f.7 Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Leopold Klotz Verlag, Gotha 1929, S. 79.

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außerhalb der Unterscheidung von rational und irrational, oft so interpretiert wird: Es sei jedenfalls auch nicht rational, außerhalb dieser Entscheidung zu stehen, und deshalb sei Heideggers Philosophie mit dem Okkulten, Willkürlichen, Dunklen usw. zu verbinden. Solch assoziatives Denken möchte ich hier ausschließen. Ich möchte nur unterstellen, dass Heidegger, wenn er die Unterscheidung von rational und irrational insgesamt ablehnt, vielleicht nicht die Unbestimmtheit des Begriffs der Rationalität, sondern gerade die unbefriedigende Bestimmung meint – nämlich als Vermögen der vertrauten und definierten Begriffe, die dem Sinn von Heideggers formaler Anzeige tatsächlich entgegen laufen, und das, weil er mit solchen Definitionen nicht weiter kommt. Sehen wir Rationalität im Sinne Ottos als das klar Definierbare und zum Beispiel das dunkle Ahnen als Irrationalität, dann stehen Heideggers formale Anzeigen tatsächlich außerhalb dieser Bestimmungen. Sie sind nicht das eine und nicht das andere. Sie sind nicht dunkel, sondern eher präzise, nicht gefühlsmäßig ahnend ausgesprochen, sondern den Begriffen wird absichtlich, wie Heidegger sagt, eine gewisse Labilität gelassen.8

Dem Anschein nach ist die Frage nach der eventuellen Rationalität der Methode Heideggers irrelevant. Und dennoch hat er schon eine Entscheidung getroffen. Bei Otto geht es um die Frage, inwieweit die Philosophie oder – genauer – die Metaphysik auf den Grund der Religion gelangen kann. Die Antwort Ottos ist, dass noch unter dem Grund der Metaphysik, werde dort auch ein metaphysischer Begriff Gottes entwickelt, eine Tiefe liegt, die nicht rationalen Ursprungs ist und auch nicht rational angeeignet werden kann, die aber für eine rationale Untersuchung offen steht. Heidegger wählt hier also eine andere Richtung. Der Weg Ottos in die Tiefe der Rationalität, wo sich noch wieder eine andere Tiefe öffnet, wird von Heidegger nicht begangen. Eine rationale (d.h. wissenschaftliche, objekt-orientierte) Einstellung bringt für den Begriff der Religion überhaupt nichts. Daraus kann man jedoch nicht

8 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S.82

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schließen, dass eine Begründung der Rationalität oder der Metaphysik für ihn keine Relevanz hätte. Dass Heidegger diesen Weg nicht wählt, hat vor allem mit einer Kritik der metaphysischen oder wissenschaftlichen Einstellung zur Religion zu tun, mit der man die Religion und die religiösen Inhalte als Objekt betrachtet. Mit solch einer Einstellung kommt man an die Religion nicht heran. Die Religion ermittelt nicht primär Erkenntnis solcher Inhalte, sondern wird gelebt. Dasselbe gilt aber für eine wirkliche Begründung der Philosophie, der philosophischen Rationalität oder der Wissenschaft. Auch hier gilt, dass der Ursprung nicht betrachtet werden kann mit Vernunftmitteln, die schon lange vom Ursprünglichen abgefallen sind – auch hier gilt es zu verstehen, woraus die Philosophie lebt: „Mit der Bezeichnung der Philosophie als erkennendes, rationales Verhalten ist gar nichts gesagt; man verfällt so dem Ideal der Wissenschaft. Es wird hierdurch gerade die Hauptschwierigkeit verdeckt.“9

Diese Hauptschwierigkeit ist gerade, die wirklichen Ursprünge der Philosophie zu finden – hier in der faktischen Lebenserfahrung. Mit anderen Worten: Auch wenn hier Rationalität noch kein Thema ist, sind das philosophische und das wissenschaftliche Denken und deren Grundlegung sicher Thema – nur dass für eine solche Grundlegung andere Wege gesucht werden müssen als solche, die man am Maßstab der Rationalität oder Irrationalität bemessen kann. Die Frage nach dieser Grundlegung ist für Heidegger gerade von größter Bedeutung. Von dieser Frage her hat er immer die Philosophen und die Philosophie betrachtet: von dem her, was sie antreibt, motiviert, von dem Apriori her, dem zuerst Gegebenen, den Grundschichten: Philosophie als Urwissenschaft, damit fängt er sein öffentliches Leben als Philosoph an.10 Ich zitiere hier nur die ersten Sätze aus einer der ersten Vorlesungen Heideggers, der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie: „’Grundprobleme der Phänomenologie’ – das brennendeste und nie austilgbare, das ursprüngliche und endgültigste Grundproblem der Phänomenologie ist sie selbst für sich selbst. Sie ist 9 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 8. 10 Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, hg. von Bernd Heimbüchel, Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M 21999, S. 7f.

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die Urwissenschaft, die Wissenschaft vom absoluten Ursprung des Geistes an und für sich – ‚Leben an und für sich’.“11

Zwar hat sich manchmal die Formulierung geändert, nicht aber die Richtung seiner Fragestellung. Solange Sein und Zeit noch normativ für die Heidegger-Auslegung ist, können wir die zweimalige Proklamation der Aufgabe der Philosophie in dieser Hauptarbeit nicht übersehen: „Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“12

Ich kann hier nicht die vielen Belege in Heideggers Arbeiten anführen, die zeigen, dass Begründung ein führendes Thema seines Denkens ist. Man soll nur auf die Titel seiner Arbeiten achten: Grundprobleme der Phänomenologie, Grundbegriffe der Metaphysik, Anfangsgründe der Logik, Grundbegriffe der antiken Philosophie, Der Satz vom Grund. Und das nicht, weil die Frage nach dem Grund seine zentrale und einzige Frage wäre, sondern weil Heidegger alle Fragen, die er aufnimmt, als Grundfragen behandelt: die Frage nach der Wahrheit, Freiheit, dem Wesen, dem Sein.13 Die Richtung, in die Heidegger fragt, geht zum Ursprung, Anfang, Grund hin, sucht zurück – in seiner Spätphilosophie hat er diese Betrachtungsweise als Schritt zurück quasi methodisch neben Hegels sich progressiv entwickelnde Dialektik gestellt.14

11 Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, hg, von von Hans-Helmuth Gander, Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M 1992, S. 1. 12 Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M 1977, S. 51 u. 575f. 13 Gerd Haeffner, Heideggers Begriff der Metaphysik, Johannes Berchmanns, München 1981, S. 69: „Inwiefern aber – so kann man fragen – ist das Grund-Denken etwas spezifisches Metaphysisches? Denn auch da, wo Heidegger sein eigenes Denken entschieden von dem der Metaphysik absetzt, spielt das Wort ‚Grund’ eine entscheidende Rolle. So spricht Heidegger etwa vom Grund der Metaphysik; er spricht von der Metaphysik als Grund; er spricht vor allem vom Sein-selbst als abgründigem Grund.“ 14 Martin Heidegger, „Die Onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“; in: Martin Heidegger, Identität und Differenz, Neske, Pfullingen 91990, S. 39.

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Ich brauche diese vielleicht ziemlich weit ausschweifende Betrachtung des Themas der Begründung in der Philosophie Heideggers, um die Frage, wie Heidegger sich zur philosophischen Rationalität verhält, besser situieren zu können. Denn die Unbestimmtheit, mit der er die Rationalität als eine wissenschaftliche Einstellung zur Wirklichkeit beiseite schiebt, kann nicht das letzte Wort sein, sobald Heidegger sich präziser auf eine Definition der Rationalität einlässt. Heidegger geht dann vom Rationalitätsprinzip aus, dem Satz vom Grund, wie er von Leibniz institutionalisiert ist: nihil est sine ratione,was man auf Deutsch übersetzen kann mit „Nichts ist ohne Grund“, wobei man wie im Lateinischen zugleich vom Grund der Existenz und vom Vernunftgrund sprechen kann. Von diesem Rationalitätsprinzip her ist rationales Denken ein Denken, das die Gründe unterstellt, ohne welche nichts ist. Rationales Denken ist Denken, das begründet und das die prinzipielle Möglichkeit der Begründung voraussetzt. Was unbegründbar ist, kann auch nicht sein. Vernunftgrund und Seinsgrund hängen zusammen, wenn sie nicht auch zusammenfallen, bei Leibniz z.B. in Gott. Wie könnte Heidegger diese Auffassung der Rationalität als ein Denken, das von Anfang an auf Gründe ausgerichtet ist, als irrelevant beiseite lassen? Von der Grundhaltung seiner Philosophie und vom Rationalitätsprinzip her bewegt sich Heidegger mindestens in der Nähe des Auftrags der philosophischen Rationalität. Und das wird dort deutlich, wo er das Rationalitätsprinzip eigens thematisiert.

2. Das Rationalitätsprinzip: eine Station unterwegs zur Freiheit – 1928In seiner Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz behandelt Heidegger ausführlich die Frage nach den Gründen der Logik. Soviel wird hier unmittelbar klar: dass Heidegger bei dem ganzen Gebilde der Logik nur an den Grundlinien interessiert ist – was Logik ist, darüber entscheidet hier Leibniz mit völliger Selbstverständlichkeit – und ausgehend von Leibniz zu zeigen versucht, dass die Logik keine Disziplin ist, die in sich selbst als

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einem tautologischen Universum ruhen kann. Sie soll bis zu ihren Wurzeln verfolgt werden, wenn sie nicht dem Sklavenaufstand gegen Rationalität und Wissenschaftlichkeit verfallen möchte: „Die Logik soll anders, soll philosophisch werden!“15 Die Kritik an der Logik ist nur die Vorstufe der Arbeit an ihr: „Ihr Inhalt mag noch so abgestorben sein – er ist einmal einer lebendigen Philosophie entsprungen; es gilt, ihn aus der Versteinerung zu lösen.“16

Erneut ist hier die Richtung unmittelbar deutlich: Es geht darum, die Logik auf das ursprünglich Philosophische in ihr zurück zu führen, und das heißt bei Heidegger (jetzt noch), sie auf das Metaphysische zurück zu führen: Die Logik als Bereich der Frage nach der Wahrheit kann nicht verstanden werden ohne die Verbindung mit der Frage nach dem Seienden, über das Wahrheit ausgesagt werden soll. Dieser Zurückgang in die metaphysischen Gründe der Logik hat also nichts zu tun mit einer Flucht aus dem wissenschaftlichen und auf die Wirklichkeit bezogenen Denken in die dünne Luft der spekulativen Philosophie. Die Denkrichtung ist eher umgekehrt: aus einer Logik, die sich in ihrer eigenen inneren Konsistenz beruhigt, zu einer Verbindung des Denkens mit dem, was es gedacht haben will – zuerst das Seiende.

Dann führen die Fragen Heidegger weiter: „Das wahre Denken sucht in der Anmessung an das, worüber es denkt, im Seienden selbst das, worauf es sich stützt und gründet. Alles wahre Denken be-gründet sich und hat bestimmte Möglichkeiten der Begründung. Wiederum ist zu fragen: Woran liegt es, daß die Wahrheit des Denkens und dieses selbst so etwas wie einen Grund haben muß – und haben kann? Was heißt überhaupt Grund? Wie stehen Grund und Dasein zueinander? Wie hängen in Bezug auf das Denken Grund, Wahrheit, Gesetzlichkeit, Freiheit zusammen?“17 Logik als Frage nach der Wahrheit steht in einem Begründungszusammenhang. Und diese Begründung ist kein immanent logisches, sondern ein metaphysisches Problem. In der Erschließung dieses metaphysischen Problems kann 15 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe, GA 26, S. 6. 16 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe, GA 26, S. 8. 17 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe, GA 26, S. 25-6.

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man Schichten erkennen: Heidegger nennt sie hier „Stationen des Rückgangs“: „Grund, Satz vom Grunde, Denkgesetz, Urteil, Aussage, Wahrheit, intentionales Verhalten, ontische Transzendenz, ontologische Transzendenz, Ontologie, Seinsproblem überhaupt, Metaphysik.“18

Was für Heidegger also fundamental ist, das ist die Bewegung zum Grund, wofür der Satz vom Grund ein Indiz ist: Hier weist die Logik über sich selbst hinaus, in die tieferliegenden metaphysischen Gründe. Wenn die Logik von der Frage nach der Wahrheit beherrscht wird, dann ist sie oder wird sie auch immer von der Frage nach dem Seienden beherrscht sein – und so werden wir weiter getrieben zu der Frage, wieso eigentlich das Seiende uns in seiner Wahrheit zugänglich ist. Das Rationalitätsprinzip wird hier schon im Problemansatz überschritten. Es ist vor allem ein Indiz. Erst nach der Rückführung auf die Transzendenz kommen wir zum Seinsproblem. Damit bleibt auch die Frage nach der Rationalität des metaphysischen Denkens eine Vorstufe. Das ‘rationem reddere’ muß zurückgeführt werden auf Existenz und Transzendenz, um zu den metaphysischen Grundfragen zu kommen. Die Rationalität, definiert vom Rationalitätsprinzip her, ist nur eine Station, um zum eigentlichen Grund der Philosophie zu geraten. Heidegger traut es sich dabei zu, die verbotene Frage zu stellen: Warum das Warum? Bei Kant schwindelt es uns noch bei dieser Frage, die für ihn keine Frage ist, die das Dasein sich selbst stellt, aber von der wir uns vorstellen können, dass der absolute Grund, Gott, sie sich stellt: „Man kann sich des Gedanken nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: daß ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns [...].“19

18 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe, GA 26, S. 203. 19 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 613/B 641.

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Heidegger aber traut sich nicht nur, diese Frage zu stellen, sondern auch, sie zu beantworten: „Warum fragen wir, nicht etwa nur faktisch, sondern dem Wesen nach, qua Dasein, nach dem Warum? Warum gibt es so etwas wie ein Warum und Darum? Weil Dasein existiert, d.h. weil Transzendenz sich zeitigt! Transzendieren aber ist das ekstatische Zu-sich-sein in der Weise des Umwillen-seiner. Das Umwillen, als primärer Charakter der Welt, d.h. der Transzendenz, ist das Urphänomen von Grund überhaupt. Weil wir sind in der Weise des transzendierenden Existierens, in der Weise des In-der-Welt-seins,und dieses Zeitigung ist, deshalb fragen wir nach dem Warum.“20

Das Schwindeln Kants, dass alles ohne Halt schwebt, wird von Heidegger in die Existenz zurückgenommen: Es ist das Schwindeln und Schweben, das zur Freiheit gehört, die sich weder auf anderes Seiendes, noch auf feststehende, apriori gegebene Wahrheiten stützen kann, sondern sich selbst nur in der Zeit verstehen kann, in der es ihr immer schon ‘um etwas geht’. Und damit lässt Heidegger das Rationalitätsprinzip auch zurück, nämlich im Bereich der ausgeführten Philosophie, bei der man immer noch fragen muss, woraus sie lebt. Der Satz vom Grund kann nicht das Erste für das Denken sein, weil er eine Forderung des ausgeprägten Denkens ist, die wieder die Frage nach einem weiteren ‘Woher’ nicht nur offen lässt, sondern herbei zwingt. Man müsste schließen, dass seine Philosophie zu dieser Zeit nicht vom Rationalitätsprinzip beherrscht sei, dass für ihn der Satz vom Grund nicht zum Grund kommt. In dem Aufsatz „Vom Wesen des Grundes“ finden wir diesen Zusammenhang nochmals in Hauptlinien ausgeführt. Heidegger fängt an bei Aristoteles und dessen Frage nach den ‚aitia’ und ‚archai’, den

20 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe, GA 26, S. 276. Oder bei seiner Diskussion mit Cassirer in Davos: „[...] nur in der Einheit des Verstehens von Sein und Nichts springt die Frage des Ursprungs vom Warum auf. Warum kann der Mensch nach dem Warum fragen, und warum muß er fragen? Dieses zentrale Problem des Seins, des Nichts und des Warum sind die elementarsten und die konkretesten. Diese Probleme sind es, auf die die ganze Analytik des Daseins orientiert ist.“ (Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1991, S. 284).

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Ursachen und Prinzipien. Er nennt kurz im Überblick die ganze Geschichte der philosophischen Begründung (Leibniz, Kant, Schelling und Schopenhauer), um dann wieder auf Leibniz zurückzukommen, dort auf die Weise, in der jener das Prinzip der Identität mit dem Satz vom Grund verbindet. Leibniz gibt ihm den Hinweis, dass die Logik als System des Denkens nicht in sich ruhen kann: „Die ‚Wahrheiten’ – wahre Aussagen – nehmen ihrer Natur nach Bezug zu etwas, aufGrund wovon sie Einstimmigkeiten sein können. [...] Der Wahrheitwohnt demnach ein wesensmäßiger Bezug inne zu dergleichen wie ‚Grund’. Dann bringt aber das Problem der Wahrheit notwendig in die ‚Nähe’ des Problems des Grundes.“21 Und: „Die Satzwahrheit ist in einer ursprünglicheren Wahrheit (Unverborgenheit), in der vorprädikativen Offenbarkeit von Seiendem gewurzelt, die ontischeWahrheit genannt sei.“22

Damit aber haben wir den Bereich des Rationalitätsprinzips schon verlassen. Heidegger geht weiter von der Voraussetzung der ontischen Wahrheit zu der Voraussetzung, die dem zugrunde liegt, dass Seiendes uns überhaupt in seiner Wahrheit zugänglich ist, dass wir es in seinem Sein verstehen können – die ontologische Wahrheit, der als Voraussetzung die begriffliche Ausprägung nicht unbedingt zugehört – in dem Sinne geht es hier um eine „vor-ontologische Wahrheit“. Ich führe diese Stadien nicht weiter aus, weil es mir hier vor allem um die Schichten der Fragestellung geht. In der vorontologischen Wahrheit ist das Verstehen des Seins des Seienden vorausgesetzt. Das heißt aber, dass auch ihre Differenz vorausgesetzt ist, der Unterschied von Sein und Seiendem. Die Möglichkeit dieser ontologischen Differenz nun, das Seiende in seinem Sein verstehen zu können und das Seiende damit übersteigen zu können, ist verwurzelt in der Transzendenz des Daseins. Damit wird die Frage nach dem Wesen des Grundes für Heidegger zum Transzendenzproblem.23 Heidegger fügt hinzu, was er

21 Martin Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 130. 22 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 130. 23 „Diesen Grund der ontologischen Differenz nennen wir vorgreifend die Transzendenz des Daseins. [...] Die Frage nach dem Wesen des Grundes wird zum Transzendenzproblem.” (Wegmarken, GA 9, 135) Vgl. James Henry

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mit Transzendenz meint: „[...] solches, was dem menschlichen Daseineignet, und zwar nicht als eine unter anderen mögliche, zuweilen in Vollzug gesetzte Verhaltungsweise, sondern als vor aller Verhaltung geschehende Grundverfassung dieses Seienden.“24

Von da aus hat Heidegger noch einen langen Weg zu gehen: Die Transzendenz des Daseins wird vollzogen in der Welt. Dem Begriff der Welt wird anhand seiner Geschichte nachgegangen, bei Paulus, Johannes, Augustinus, Thomas von Aquin, Baumgarten und Kant, um ihn als transzendentalen Begriff zu gewinnen, unterschieden vom Begriff der Welt als Ansammlung von allem, was es gibt: „Seiendes, etwa die Natur im weitesten Sinne, könnte in keiner Weise offenbar werden, wenn es nicht Gelegenheit fände, in eine Welt einzugehen.“25

Und mit diesem Welteingang des Seienden kann Heidegger eine „Urgeschichte“ schreiben, die Geschichte der Transzendenz, „d.h. wenn Seiendes vom Charakter des In-der-Welt-seins in das Seiende einbricht, besteht die Möglichkeit, dass Seiendes sich offenbart“.26 Er hat dann noch einen Schritt zu gehen: die Transzendenz ist als Freiheit zu verstehen. Demzufolge ist die Freiheit nicht wie bei Kant eine Art der Begründung, sondern jede Begründung muss aus der Freiheit verstanden werden. Die Freiheit ist der Ursprung von Grund überhaupt.27

Jetzt hat Heidegger also das „Warum des Warums“ bis ins Äußerste verfolgt: „Der Satz [vom Grund] besagt: alles Seiende hat seinen Grund. Durch das Vorstehende wird zunächst aufgehellt, warum das so ist.“28 Heidegger sucht und findet den Boden, der noch unter jedem philosophisch gelegten Boden – sei es das ‚aition’, sei es

Buchanan, „Heidegger and the Problem of Ground. An Evaluation“; in: Philosophy Today 17 (1973), S. 232-45, hier S. 233: „[...] the problem of ground expresses itself in Heidegger as a problem of transcendence, and it is Heidegger’s reinterpretation of transcendence as primordially grounded which distinguishes his thought from that of the Metaphysical Tradition.”24 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 137. 25 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 159. 26 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 159. 27 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 165. 28 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 172.

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die ‚arché’, sei es Gott oder die Vernunft – liegt und der auch noch hinter der Forderung, die Gründe anzugeben, liegt, und zwar in der Freiheit: „Sodann ist bezüglich des Satzes vom Grunde deutlich geworden, daß der ‚Geburtsort’ dieses Prinzips weder im Wesen der Aussage noch in der Aussagewahrheit, sondern in der ontologischen Wahrheit, d.h. aber in der Transzendenz selbst liegt. Die Freiheit ist der Ursprung des Satzes vom Grunde.“29

Damit ist entschieden, dass 1928 der Satz vom Grund für Heidegger eine Grundschicht ist, die zwar unter der Logik, aber über der eigentlichen philosophischen Grundlegung gesucht werden muss – nur ein Indiz, das die Richtung anzeigt, in die er selber nicht geht: zum Grund des Denkens. Bei diesem Grund nun wird das Denken auf sich selbst zurückverwiesen – nach dem Gang durch die Welt und durch das Seiende, das sich in der Welt bekundet, und bei dem Sein, das bei diesem Welteingang des Seienden in seinem Sinn verstanden sein muss, wird das Dasein immer auf seine eigene Freiheit verwiesen: „[...] weil das Sein (Seinsverfassung), das begründet, als transzendentale Verbindlichkeit für das Dasein in dessen Freiheit gewurzelt ist.“30 Das gleiche Verhältnis finden wir auch in Sein und Zeit, wo Heidegger von dem Sinn von Sein spricht: „Und wenn wir nach dem Sinn von Sein fragen, dann wird die Untersuchung nicht tiefsinnig und ergrübelt nichts, was hinter dem Sein steht, sondern fragt nach ihm selbst, sofern es in die Verständlichkeit des Daseins hereinsteht.“31 Jede Begründung ist selber gegründet in dem Seinsverständnis des Daseins, das zwar dem Sein, das es versteht, überantwortet ist, aber dennoch keinen anderen Grund in dem Sein finden kann, als den Sinn, in dem es das Sein versteht. Bei dieser Analyse gleicht Heidegger schon mehr dem früher von ihm verschmähten Otto, der von einer Tiefe, die noch unter der Rationalität liegt, sprach. Nur ging Otto von einer anderen Definition der Rationalität aus – als einer Welt der definierbaren Begriffe. Bei Heidegger werden diese zu den begründeten Begriffen. Aber gerade 29 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 172. 30 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 173. 31 Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 202.

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bei dieser Auffassung der Rationalität kann natürlich die Frage aufkommen, ob es hier noch eine klare Abgrenzung zwischen oben und unten geben kann. Wie kann man beim „Warum des Warums“ das erste und zweite Warum klar voneinander trennen? Es ist natürlich eine sonderbare Dynamik, in die Heidegger hier hineingeraten ist. Kann man das Warum oder Woher des Satzes vom Grunde andeuten, ohne dessen Wirkung verhaftet zu sein? Wie bekannt ist, wird Heidegger sich dreißig Jahre später erneut mit dem Rationalitätsprinzip auseinandersetzen. Er gesteht dann zu, er habe den Satz vom Grund – das großmächtige Prinzip – in seiner Macht unterschätzt.

3. Das Rationalitätsprinzip – das principium grande1955/56 versucht Heidegger erneut, den Satz vom Grund zu ergründen. Die Bedeutung, die das Prinzip jetzt für ihn hat, kann kaum überschätzt werden: Es ist das Prinzip, das das moderne Denken leitet, Grundlage der wissenschaftlichen und technischen Welt.32 Ich will von dieser ganzen erneuten Interpretation des Rationalitätsprinzips nur grob zwei bestimmende Grundlinien herausheben. Die erste Grundlinie ist die Einordnung des Prinzips in Heideggers Deutung des modernen Denkens. Die zweite ist die Bewegung, mit der er von der inneren Dynamik des Prinzips selbst aus diesem Denken herausgeführt wird. Die Einordnung des Prinzips in das moderne Denken ergibt sich vor allem anhand von Leibniz. Heidegger deutet auf dessen späte Formulierung des Satzes als philosophischen Grundsatz hin. Erst von ihm wird der Satz vom Grund als der philosophische Grundsatz erkannt. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von der „Incubation“ des Satzes. Er wird also verglichen mit einer Krankheit, die erst nach einer langen Zeitspanne eines unsichtbaren Wucherns ausbricht. Erst unsere Zeit wird völlig vom Rationalitätsprinzip

32 Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 47.

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beherrscht, aber damit ist gerade die Möglichkeit eines Verständnisses des Prinzips verringert und nicht erweitert.33

Jetzt steht auch Heideggers Leibniz-Interpretation im Rahmen dieser geschichtlichen Verschärfung der Frage. Leibniz wird auf Kant hin gelesen. Das ist nicht die Richtung, die jener selbst nimmt – von dem Satz, dass nichts ohne Grund ist, zu dem Grund, von dem alles getragen wird, die ultima ratio rerum, Gott. Denn dieser Gott kommt selber nur ins Spiel als Folge der Frage nach dem Grund – als Produkt der philosophischen Rationalität, die für alles die Gründe nennen will. Wenn wir so das Rationalitätsprinzip lesen, dann darf das Prinzip in erster Linie nicht verstanden werden von einem transzendenten Grund her, Gott, sondern von seinem transzendentalen Grund her, dem Subjekt: Seiendes ist nur Seiendes, insofern es auf dem Boden eines Denkens beruht. Das ist mit dem Satz vom Grund zuerst ausgesagt.34

Für Heidegger führt der Satz vom Grund ihn so ins Herz der kantischen Philosophie und zu seinem alten Streit mit den Neukantianern: Die Philosophie Kants ist nicht nur eine Logik, sondern vor allem eine Metaphysik: Es ist die vernünftige, rationale Begründung, die nicht nur für das Denken grundlegend ist, sondern die darüber entscheidet, was ist und was nicht ist.35 Auf diese moderne Problematik bezogen wählt Heidegger eine andere Formulierung des Rationalitätsprinzips, die er die strenge Formulierung nennt, nämlich des Rationalitätsprinzips als des ‚principium reddendae rationis sufficientis’. Hier wird die reflexive Bewegung des Prinzips deutlich.36

33 Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 82. 34 Vgl. Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 113f. 35 „Das Großmächtige des Satzes vom Grund entfaltet darin seine Macht, daß das principium reddendae rationis – dem Anschein nach nur ein Prinzip des Erkennens – zugleich und gerade als Grundsatz des Erkennens das Prinzip wird für jegliches, was ist“ (Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 47). 36 Heidegger entnimmt sie einer frühen Leibniz-Formulierung: „duo sunt prima principia omnium ratiocinationum, principium nempe contradictionis [...] et principium reddendae rationis“ (Gerhardt VII, 309, angeführt in Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 34). In Leibniz’ Rede vom „sufficere“ kann Heidegger auch noch den Bezug auf das primäre Verhältnis des Subjekts zur Wirklichkeit, nämlich das Verhältnis des Machens und

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Leibniz spricht von ,rationem reddere’, das heißt „Grund geben“, aber Heidegger übersetzt hier buchstäblich mit „zurückgeben“, um dann dieses „Zurück“ auszumünzen: „Rationem reddere heißt: den Grund zurückgeben. Weshalb zurück und wohin zurück? Weil es sich in den Beweisgängen, allgemein gesprochen im Erkennen um das Vorstellen der Gegenstände handelt, kommt dieses ‘zurück’ ins Spiel. Die lateinische Sprache der Philosophie sagt es deutlicher: das Vorstellen ist repraesentatio. Das Begegnende wird auf das vorstellende Ich zu, auf es zurück und ihm entgegen praesentiert, in eine Gegenwart gestellt. Gemäß dem principium reddendae rationis muß das Vorstellen, wenn es ein erkennendes sein soll, den Grund des Begegnenden auf das Vorstellen zu und d.h. ihm zurückgeben (reddere).“37

Heidegger hat das Rationalitätsprinzip zuerst folgendermaßen interpretiert: Nichts ist ohne die (Kantisch verstandene) Vernunft. Sein ist, nach diesem Ausgangspunkt, wissenschaftlich erforschbar und objektivierbar. Was sich nicht so begründen lässt, davon darf man auch nicht behaupten, dass es ist. Es kann höchstens geduldet werden im privaten Lebensbereich, als die kleinen Angewohnheiten, die das Leben versüßen, aber kann sich nicht als Wirkliches behaupten – es wird ins Exil der Schwärmerei vertrieben. Dass Seiendes nur als seiend gelten kann, wenn es als Objekt für ein Subjekt gegeben ist, sagt nichts anderes als das Rationalitätsprinzip selbst: nihil est sine ratione, nichts ist ohne Grund. Das Rationalitätsprinzip ist somit das Resümee der ganzen modernen Philosophie. Aber es sagt, so verstanden, noch mehr: Auf eigene Weise wird auch hier die

Herstellens, hören: „Daß in der Gegend des Satzes vom Grund die Sprache wie von selbst von einem efficere, sufficere, perficere, d.h. von einem mannigfaltigen facere, machen, von einem her- und zu-stellen spricht, ist gewiß kein Zufall“. (Der Satz vom Grund, GA 10, S. 50) Schon früher hat er dieses Verhältnis des „Herstellens“ als das für das angeblich unbezogene theoretische Erkennen bestimmende Verhältnis, thematisiert. Vgl. Der Satz vom Grund, GA 10, § 15, 93-97 und Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 31995, § 11 u. S. 140-58. 37 Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 34.

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Urverbindung sichtbar zwischen Denken und Sein, wie sie von Parmenides formuliert worden ist, von Heidegger übersetzt als „Das nämlich Selbe ist Vernehmen sowohl als auch Sein.“38

Damit sind wir in den Bereich des zweiten Hauptpunktes gekommen, den ich Heideggers später Interpretation des Rationalitätsprinzips entnehme. Das Rationalitätsprinzip ist eine Aussage über das Seiende, eine ontologische Aussage. Es sagt: Jedes Seiende ist begründet. Hinzugefügt ist: Es sagt etwas aus über den Grund, in dem jedes Seiende gegründet ist – was ist, ist gegründet in der Vernunft. Und jetzt kann noch einmal der Akzent verlagert werden: Was immer ist, ist begründet, und zwar in der Vernunft. So gelesen sagt das Rationalitätsprinzip etwas darüber aus, was Sein heißt – Sein bedeutet, in der Vernunft gegründet zu sein. Also kann Heidegger sagen: „Der Satz vom Grund ist ein Sagen von Sein.“39

Das Verhältnis zwischen Vernunft und Sein ist nur die moderne Variante des alten Verhältnisses zwischen Denken und Sein, in der aber die Zusammengehörigkeit beider am wenigsten sichtbar ist: die Vernunft steht der Wirklichkeit gerade gegenüber als das ihr ganz Fremde – ist ganz subjektiviert, wie die Wirklichkeit ganz objektiviert ist. Aber gerade im Rationalitätsprinzip verrät sich die Zusammengehörigkeit beider – die jedoch auch im Begriff der ratio,ohne welche nichts sei, nicht hörbar ist. Erst auf der Stufe der griechischen Sprache, so Heidegger, war die Verbindung noch ausgesprochen, im logos. Der logos ist als Wort für das Wort, für das Denken und für das im Denken Verstandenen ein ursprüngliches Wort, in dem sich die Zusammengehörigkeit vom Mensch, Sprache und Sein bekundet. Das beinhaltet auch: Das Sein kann nicht abgesondert werden von dem leitenden Sinn, in dem es vom Menschen verstanden wird. Es ist nur Grund, insofern es mit der Sprache und mit der Geschichtlichkeit dieser Sprache verbunden ist. Im Wesentlichen steht das alles völlig in Kontinuität mit Heideggers Position in „Vom Wesen des Grundes“, wo jede Begründung in der

38 Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 108; Parmenides, Frgm. 5. 39 Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 73.

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Freiheit des Daseins gegründet ist, wenn es auch anders gesagt wird: „Wir sind als die in der Lichtung des Seins Stehenden die Beschickten, die in den Zeit-Spiel-Raum Eingeräumten. Dies sagt: Wir sind die in diesem Spielraum und für ihn Gebrauchten, gebraucht, an der Lichtung des Seins zu bauen und zu bilden, im weiten vielfältigen Sinne: sie zu verwahren.“40

Erneut meint Heidegger, so die letztmögliche Begründung des Denkens gegeben zu haben. Nur von diesem Gedanken her ist zu verstehen, wie er das Sein als Abgrund benennt: „Insofern Sein als Grund west, hat es selber keinen Grund. Dies jedoch nicht deshalb, weil es sich selbst begründet, sondern weil jede Begründung, auch und gerade diejenige durch sich selbst, dem Sein als Grund ungemäß bleibt. Jede Begründung und schon jeder Anschein von Begründbarkeit müßte das Sein zu etwas Seiendem herabsetzen. Sein bleibt als Sein grund-los. Vom Sein bleibt der Grund, nämlich als ein es erst begründender Grund, weg und ab. Sein: der Ab-Grund. [...] Insofern Sein gründen ‚ist’, und nur insofern, hat es keinen Grund.“41

Abschließende BemerkungenSo hat Heidegger die Reichtümer des Rationalitätsprinzips entdeckt. Zuvor hatte er sie übersehen. 1921 hatte die Frage nach einer eventuellen Rationalität der Philosophie für ihn überhaupt keine Relevanz. 1928 behauptete er, dass der Satz vom Grund über das Seiende aussagt, dass es nicht ohne Grund ist, um es dann bei der Beantwortung der Frage zu überschreiten, worin dann die Begründung selbst liege – und zwar in der Transzendenz, in der Freiheit. Aber er hat übersehen, dass Sein und Grund, das ‘est’ des ‘nihil’ und die ‘ratio’, verbunden werden.42 Anders gesagt: Er hat nicht gesehen, dass das Rationalitätsprinzip nicht nur eine Station des Rückgangs ist, sondern Anfang und Ende des Rückgangs zugleich.

40 Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 128. 41 Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 166. In der im Verlag Neske 1957 erschienenen Einzelausgabe heißt es „Insofern Sein gründend [statt gründen] „ist“, und nur insofern, hat es keinen Grund 42 Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, S. 69.

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Ein Sklavenaufstand gegen die Rationalität wäre wirklich eine Revolution, die zu schnell den Reichtümern der Vergangenheit entsagen würde. Heideggers Interpretation des Rationalitätsprinzips ist eine Geschichte, in der sich der Denker dem Gedachten überantwortet findet. Ließ er die Rationalität erst noch beiseite, wurde sie ihm anschließend, unter ihrer Bestimmung vom Rationalitätsprinzip her, Indiz des Übergangs von Logik zu Metaphysik. Aber noch immer bewegt Heidegger sich außerhalb des Bereichs, der von diesem Prinzip bestimmt wird. Die wichtigsten Entscheidungen liegen außerhalb der so definierten Rationalität. Als alter Mann muss er endlich erkennen, dass das zweimal überschrittene Prinzip ihn auf dem ganzen Weg begleitet hat. Ob er dabei rationaler geworden ist, als er zuvor war, bleibt die Frage. Wahrscheinlich stand er der üblichen Definition der Rationalität in seinen frühen Arbeiten nahe, als er selbst noch dachte, ganz außerhalb ihres Bereiches zu stehen. Aber das sei nur am Rande erwähnt.

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7. Heidegger und die Logik – Offenheit als Ort der Wandlung

Constance Kolka, Frankfurt am Main

Heidegger hat die Logik mehrfach thematisiert. Er hat es auch in den Beiträgen zur Philosophie. Vom Ereignis getan. Deutlicher vollzieht Heidegger in der Vorlesung Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte „Probleme“ der „Logik“, die aus den Beiträgen hervorgegangen ist, die Besinnung auf den Grund des Wesens der Wahrheit, als deren Ort die Logik tradiertermaßen gilt. Es soll hier eine Annäherung an das Heideggersche Denken versucht werden, die stark an der Form orientiert ist. Es geht aus Heideggers philosophischen Texten, die hier zur Diskussion stehen, hervor, dass diese Form nicht linear sein kann. Die Heideggersche Auffassung sperrt sich derart gegen axiomatisch aufgebaute Ableitungen, dass es auch mir nicht immer gelungen ist, einen gut erkennbaren geraden Weg durch die nun folgende Erörterung zu legen. An mancher Stelle findet sich dann eine Gliederung wie die gleich folgende, deren Punkte nicht zwingend auseinander hervorgehen, die aber doch eine Orientierung durch den Text geben sollten. Auf nachstehende Aspekte möchte ich mich konzentrieren: 1. auf die Kehre als den inneren Bauplan der Vorlesung, 2. auf die Bedeutung der Rede vom ersten und vom anderen Anfang, 3. auf die zentrale Stellung der Beiträge innerhalb des Heideggerschen Werkes, 4. auf die Form der Beiträge sowie 5. auf den Wesensraum, der in den Beiträgen schon denkend eröffnet wurde. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ausgesprochen oder unausgesprochen an die Form der Kehre gebunden sind. Denn die Mitte, von der noch hinreichend die Rede sein wird, ist nach meinem Verständnis als Mitte der Kehre zu lesen, die aufbricht, eröffnet wird, in die der Mensch versetzt wird und dergleichen mehr.

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Das Skizzenhafte meiner Ausführungen mag dabei der Form entsprechen, die man findet, wenn die Intuition leitend ist und man etwas zu sagen hat, das den gesicherten Boden des Bekannten und Ableitbaren verlässt. Eine kurze Einleitung in die Vorlesung Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte „Probleme“ der „Logik“ werde ich vorausschicken. Den Titel der Vorlesung werde ich sinnvoll zu Grundfragen abkürzen, die Abhandlung Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis auf Beiträge kürzen.

Einleitung in die Grundfragen Heidegger hat aus den Beiträgen eine Vorlesung entwickelt, die die Rezeptionsschwierigkeiten der Beiträge mildert. Die Vorlesung, die Heidegger im Wintersemester 1937/38 in Freiburg hielt, wurde 1984 in die Gesamtausgabe, Abteilung II, in der sämtliche Vorlesungen chronologisch aufeinander folgen, aufgenommen. Heidegger hatte explizit verfügt, die Vorlesungen, die für ein hörendes Publikum konzipiert sind, vor seinen bis dato noch unveröffentlicht gebliebenen Abhandlungen zu edieren. So waren die Grundfragen, die aus den Beiträgen hervorgegangen sind, fünf Jahre vor Erscheinen der Beiträge der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. In der Vorlesung der Grundfragen erfolgt – in immer noch dichter Form, aber in einer erkennbar schrittweisen Entwicklung – die Besinnung in den Wahrheitsraum der Griechen. Die Begriffe Probleme und Logik setzt Heidegger schon im Titel in Anführungsstriche, weil er die Logik als Fach der „Philosophiegelehrsamkeit“ nimmt, deren Probleme „als Fragen festgelegt (sind), und es gilt nur, die Antwort zu finden, oder eher noch, bereits gefundene Antworten abzuwandeln [...]“.1

Doch eine der Fragen ist eine Grundfrage, es ist dies die Frage nach der Wahrheit, die „seit den Zeiten von Platon und Aristoteles“

1 Martin Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte „Probleme“ der „Logik“, GA 45, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21992, S. 7.

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eine Frage der Logik ist.2 Erstmals oder anfänglich war den Griechen die Wahrheit die Unverborgenheit – wie Heidegger alétheia wörtlich übersetzt. Und auch wenn die Griechen die alétheia als Eigenschaft des Seienden nahmen, so klingt darin der Wesungsraum an, den Heidegger denkend zu eröffnen unternimmt. Auf seine Frage, warum die Griechen die Wahrheit nicht „in die Frage stellten“, die Unverborgenheit also das Fraglose blieb und „deshalb [...] alsbald die [...] Wahrheitsbestimmung als Richtigkeit [...] sie abdrängen und die nachkommende Geschichte des Denkens allein beherrschen (konnte)“3, findet er folgende Antwort: Die Aufgabe der Griechen war es, das Seiende als Seiendes zu fassen. In dem Moment aber, in dem das Seiende sich zu Anblicken beruhigt, die in den Ideen ihr Maß haben, wird das Fassen „zu einem Sichauskennen in den Ideen, und das fordert die ständige Angleichung an diese“4. Heidegger unternimmt nichts Geringeres, als den ursprünglichen Wahrheitsraum der Griechen denkend erneut zu eröffnen, wobei Folgendes unbedingt zu beachten ist: 1. Heidegger spricht schon vom anderen Anfang her: „Denn wären wir dahin [gemeint ist das „andere Wesen der Wahrheit“] nicht schon vorgedrungen, wie anders vermöchten wir etwas vom ersten Anfang zu wissen [...].“5

2. Die Philosophie, die die Frage nach der Wahrheit erneut stellt, kann nur vorbereiten. 3. Der ursprüngliche Zugang zum Wesen der Wahrheit „muß aus [...] unserer Not kommen – aus der Seins-Verlassenheit des Seienden [...].“6

4. Die Wahrheitsfrage ist die Frage nach dem Wesen des Menschen. Die Wahrheitsfrage „ist vielmehr jene, die sich eines Tages als die Frage verrät, wer wir selbst sind“.7

2 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 9. 3 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 121. 4 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S, 181. 5 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 188. 6 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 189. 7 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 189.

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1. Die Kehre als Weg der Besinnung: Überlegungen zum Begriff der Kehre als Strukturprinzip der Grundfragen

Zur Struktur der Grundfragen ist zu sagen, dass sie dem Bauplan der Kehre folgt, die vom anderen Anfang her der Weg ist, der sich eröffnet, wenn vom anderen Anfang her zum ersten Anfang hin gefragt wird. Der Kehrebegriff ist dabei durchaus auf die praktische Erfahrung zurückzuführen. Erst wenn er wieder rückübersetzt wird und als dieser Zickzackweg zu erkennen ist, dem er seinen Namen verdankt, erhält der Satz “Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle, daß wir sie vorwärts und rückwärts gehen können, daß sogar der Weg zurück uns erst vorwärts führt.”8 seinen anschaulichen Sinn. Gadamer schreibt dazu: „Er [Heidegger] nannte seine Denkerfahrung die ‚Kehre’ – nicht im theologischen Sinne einer Bekehrung, sondern wie er es aus seiner Mundart kannte. Die Kehre ist die Biegung des den Berg hinaufführenden Weges. Man kehrt dabei nicht um, sondern der Weg selber kehrt sich in die entgegengesetzte Richtung – um hinaufzuführen. Wohin? Das wird niemand so leicht sagen können.”9

Die Kehre, die in den Grundfragen zu vollziehen ist, kann folgendermaßen ausgelegt werden: Von der Frage nach dem Wahren zu der Frage: Was ist das Wesen des Wahren? Darauf antwortet Heidegger: Das ist die Wahrheit. Doch was ist die Wahrheit? Heidegger fragt weiter nach dem Wesen der Wahrheit. Um zu erfahren, was das Wesen der Wahrheit sei, geht Heidegger hier in die erste Kehre. Um das Wesen der Wahrheit erfragen zu können, fragt er zuvor nach der Wahrheit des Wesens. „Rätselhaft ist dies alles: Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit ist zugleich und in sich die Frage nach der Wahrheit des Wesens. Die Wahrheitsfrage – als Grundfrage

8 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1985, S. 94.9 Hans-Georg Gadamer, Heideggers Wege. Studien zum Spätwerk, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1983, S. 99.

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gefragt – kehrt sich in sich selbst gegen sich selbst. Diese Kehre, auf die wir da gestoßen sind, ist das Anzeichen dafür, daß wir in den Umkreis einer echten philosophischen Frage kommen.“10 Auf diesem Wege, der rückwärts gehend vorwärts führt, kommt Heidegger bei Platon und Aristoteles an, also bei jenen Moment der abendländischen Geschichte, in dem das Was-sein – das, was etwas ist – in die Ideen drängt. Nicht mehr zeigt sich das Seiende von sich her und ist den Griechen Maß, sondern Seiendes findet sein Was-sein in den Ideen niedergelegt. An diesem Wendepunkt der abendländischen Philosophie geht Heidegger denkend in die zweite Kehre. Er fragt – ausgehend von der Wahrheit des Wesens – nach dem Wesen der Wahrheit: „Wir kamen früher [...] an eine Stelle unserer Betrachtung, wo wir sagen mußten, die philosophische Frage nach dem Wesen der Wahrheit sei zugleich und in sich die Frage nach der Wahrheit des Wesens. Dieser Bezug gilt auch in der Umkehrung: Die Frage nach der Wahrheit des Wesens ist zugleich die Frage nach dem Wesen der Wahrheit.“11 Die Kehre ist nach Heidegger die Form, in die das Fragen gezwungen wird, das vom anderen Anfang her das Fragen ist, das allein zum Ursprung führt.

2. Der erste und der andere Anfang Es erstaunt zuerst, dass es im abendländischen Denken nur erst einen Anfang gegeben haben soll. Nach Heidegger ist es aber so, und es sind nicht scharf getrennte Datierungen, die die Anfänge als solche bestimmen, sondern Anfänge sind als Bezirke zu verstehen, als Geschehensräume, in denen Ziele entworfen und Maßstäbe gesetzt werden. Deswegen kann Heidegger auch schreiben, dass das Gewesene das auf uns Zukommende ist: „Das Geschehen und Geschehende der Geschichte ist zuerst und immer das Zukünftige, das verhüllt auf uns Zukommende [...], das zu sich Vorzwingende. Das Zukünftige ist der Anfang alles Geschehens. Im Anfang liegt alles beschlossen. Wenngleich das Begonnene und Gewordene alsbald über

10 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 47. 11 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 95.

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seinen Anfang hinwegzuschreiten scheint, bleibt dieser – scheinbar selbst das Vergangene geworden – doch in Kraft [...]“.12

Auch wenn sie historisch notierbar sind – so ist der erste Anfang zeitlich um Parmenides, der andere Anfang in die Zeit nach Nietzsche gelegt –, sind Anfänge ihrem Wesen nach Geschehensräume. Sie eröffnen sich dem Menschen, und in ihnen gelingt ihm ein gewandelter Blick auf die Welt. Es sind dies Räume, in die er nicht willentlich gelangen kann. Paradigmenwechsel der Naturwissenschaften in der Art der kopernikanischen Wende mögen zwar Epocheneinschnitt herbeiführen, aber keinen „anderen Anfang“. Epochenanfänge des Abendlandes gehören in den Bannkreis des ersten Anfangs, besser in die Geschichte seiner Verbergung, und sie mögen immer einen Schritt darstellen, der vom ersten Anfang entfernt. Denn Heidegger sieht in der abendländischen Geschichte ein Verbergungsgeschehen am Werk, das uns das Wissen, um das, was am ersten Anfang sich als Aufgabe des Menschen zeigte, überdeckte und verdunkelte. Wir leben, so charakterisiert Heidegger die Moderne, in einer Zeit, in der wir Seiendes nach Nutzen prüfen und verrechnen, aber nicht als einzelnes Besonderes achten und bewahren wollen. In Heideggers Begrifflichkeit können wir sagen, das Seyn (Heidegger schreibt es mit „y“, um es vom „Sein“ der Ontologie zu unterscheiden) hat sich entzogen. Das besondere Einzelne und die Vielfältigkeit von Welt werden von ihrer mathematischen Fasslichkeit her betrachtet, die von der Art ist, Seiendes in den Griff zu bekommen, zu bestimmen, was es den Zahlen nach ist, die Frage nach dem Wesen dessen, was da berechnet wird, aber nicht mehr in den Blick bringt. Das ist unsere Not: dass das Seyn das Seiende verlassen hat, „wodurch das Seiende zum bloßen Gegenstand der Machenschaft und des Erlebens herabfällt“. Das ist aber wiederum unsere Chance, denn Heidegger fragt weiter: „Wie, wenn dieser Entzug selbst zum Wesen des Seyns gehörte? [...] Wie, wenn die Offenheit zuerst dieses

12 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 36.

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wäre: die Lichtung inmitten des Seienden, in welcher Lichtung das Sichverbergen des Seyns offenbar werden soll?“13

3. Die Beiträge als Werk der Mitte Die Beiträge, in denen mancher Heideggers zweites Hauptwerk sieht, wurden zwischen 1936 und 1938 geschrieben. Die Ausarbeitung der in den Beiträgen formulierten Gedanken fällt somit in eine Zeit, in der sich Heidegger Hölderlins Werk zuwendet und es auslegt. Er ist in diesen Jahren an einem Punkt seines Denkens angekommen, an dem er dieses überschlägt und wendet. So mag es seine Berechtigung haben, die Beiträge als Werk der Mitte zu lesen. Sie erscheinen als Werk der Mitte gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist in den Beiträgen Vorhergehendes gesammelt und Nachfolgendes vorentworfen. Sie erscheinen wie ein werkbiografisches Zentrum, das eine Ordnung für das Gesamtwerk konzipiert. Die sechs Fügungen, zu der Heidegger die Beiträge komponiert, sind: der Anklang, das Zuspiel, der Sprung, die Gründung, die Zukünftigen und der letzte Gott. Es bieten sich thematische Zuordnungen an. Heideggers Nietzsche-Vorlesung könnte in der Anklangsfügung ihren Platz finden, da Nietzsche nach Heidegger ja die Seinsverlassenheit erfahren habe, die Thema eben dieser Fügung ist. Heideggers Auseinandersetzung mit den Griechen gehört der Sache nach in die zweite Fügung, in der sich „die ursprüngliche Zueignung des ersten Anfangs“ vollzieht. Des Weiteren sind die Beiträge ein Werk des Übergangs, der geht „aus dem ersten Ende des abendländischen Denkens zu seinem anderen Anfang“.14 Auch wenn der Mensch, indem er sich auf den ersten Anfang besinnt, in den Übergang gestoßen wird, ist die Gestaltung des Künftigen durchaus noch nicht garantiert: „Freilich durch solche Besinnung gelangen wir in die ganze Zweideutigkeit, die einem geschichtlichen Über-gang eignet: daß wir in ein Künftiges gestoßen werden, aber noch nicht mächtig geworden sind, den Stoß

13 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 189. 14 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 190.

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schaffend aufzufangen, d.h. dasjenige vorzubereiten, wodurch allein ein Anfang anfängt, den Sprung in das andere Wissen.“15

So stehen die Beiträge sowohl werkbiografisch in der Mitte als auch in der Mitte des abendländischen Denkens, wenn man denn Mitte als eben diese Wendung versteht, die sich dem verschütteten Ursprung des abendländischen Denkens zuwendet, um eine Antwort auf die Frage zu finden, was das Wesen der Wahrheit sei. „Einstmals war im Anfang des abendländischen Denkens die Wahrheit das Ungefragte, [...] jetzt ist das Wesen der Wahrheit auch das Ungefragte und Fragloseste, aber nur noch als das Gleichgültigste innerhalb des Zeitalters der völligen Fraglosigkeit im Wesentlichen.“16

Nicht zuletzt ist das Zwischen neuer Wesensraum des Menschen, der die eineindeutigen Gewissheiten logischen Couleurs verliert und im Nochnicht einen Ort findet, der ihn in eine erneut veränderte Grundstellung bringt. Der Mensch, der erst Hüter des Seienden war, dann sein Wesen in der Ratio fand, vollzieht erneut einen Wesenswandel, sobald er als Wächter der Wahrheit in den Übergang vom ersten in den anderen Anfang kommt, in dem nicht nur das Seiende, sondern auch der Mensch sich von sich her zeigen kann, d.h. sich öffnet. So wird sich die Frage nach der Wahrheit als Frage nach dem Geschehensraum enthüllen, in dem das Wesen des besonderen Einzelnen sich gestalten darf, sich eine Form gibt und zugleich vernommen wird. Es ist dies die Mitte der Kehre als Wesensraum des Menschen. Heidegger sagt auch: Zeit-Spiel-Raum, Abgrund, Zerklüftung, Geschehen, Nochnicht: „Freilich war es nur ein Hinweis darauf, daß die seit langem gültige Bestimmung des Wesens der Wahrheit als Richtigkeit der Aussage ein Ungegründetes zugrunde liegen hat: die Offenheit des Seienden. Gewiß war es nur ein Hindeuten auf die alétheia, die Unverborgenheit des Seienden, die, wie sich zeigte, weniger vom Wesen der Wahrheit sagt als vom Wesen des Seienden. Aber wie sollte nicht in der alétheia ein Vorklang jener Offenheit liegen, ohne doch mit ihr dasselbe zu sein?

15 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 186f. 16 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 183.

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Denn die Offenheit, die wir meinen, kann nicht mehr als Charakter des vor und um uns aufstehenden Seienden erfahren werden [...].“17

4. Die Interpretation der Beiträge ihrer Form nach als musikalische Fuge Was wäre, wenn die Fügungen der Beiträge nicht nur Grundriss für Heideggers Spätwerk, sondern in sich Grundriss wären? Wenn ihr geheimer Bauplan der der musikalischen Fuge wäre? Diese verdankt ihren Namen dem Lateinischen fuga = Flucht, da – so erklärt sich die Namensgebung – der Hörer den Eindruck gewinnt, dass jede Stimme vor der jeweils folgenden flieht. Fuge aus der Fügung abzuleiten und es als mehrstimmiges gefügtes Kunstwerk zu fassen, ergibt gleichwohl auch Sinn. Diese Interpretation weist gerade bei etymologischer Ferne beider Begriffe (fuga, Fügung) doch auf deren inhaltliche Nähe hin und bindet Fliehen und Fügen insofern aneinander, als das Fliehende nur zu denken ist als Fliehen vor etwas: als die Situation hinzuzudenken ist, in der etwas flieht und wie in der Musik auch verfolgt wird. Folgen und Verfolgen aber führt in den Bereich des Zugehörens, welches bei Heidegger wiederum mit Fügung konnotiert ist. Die Musik hat in der Fuge eine Form gefunden, in der zugleich Bewegung und Abstand bestimmende Momente sind. Das musikalische Thema wird ausgelegt und nicht entwickelt, die Stimmen folgen einander, aber erreichen sich nicht. In gewissem Sinne sind sie „inmitten“. Auffällige Entsprechungen sind: 1. Die musikalische Fuge ist die strengste Form, in die Musik gebunden werden kann. Über die Orientierung des Denken schreibt Heidegger: „Das Zeitalter der ‚Systeme’ der Philosophie ist endgültig vorbei. [...] die Strenge des Fragens und seines Ganges (ist keineswegs) hinfällig geworden, sondern [...] kann sich jetzt nur nicht mehr aus der Systematik eines Systems regeln.“18

17 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 188f. 18 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 144f.

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2. Die Stimmen der Fuge scheinen jeweils vor der nachfolgenden zu fliehen. Die nachfolgenden scheinen der vorangehenden Stimme zu folgen, ohne sie jemals erreichen zu können. Die Wahrheit (das Seyn) ist erst „in die Frage zu stellen“, wenn sich der Wahrheitsraum eröffnet, was in dem Moment der Fall ist, in dem die Seinsverlassenheit erfahren wird. Das Dasein strebt dem Seyn nach. 3. Die musikalische Fuge entwickelt keine Leitmelodie, sondern legt sie aus. „Das Thema einer Fuge bleibt es selbst.“19 Der Anfang kann nicht mehr verstellt werden. Das zeitlich Nachfolgende überschattet den Anfang nicht, sondern wiederholt ihn. In den jeweiligen Fügungen hat Heidegger „über das Selbe je das Selbe zu sagen versucht“. 4. Die Fuge bricht das Primat der Zeit über den Raum. „Hat die Fuge also auch keine Ungeduld, in ihrem monodisch gefügten Continuo, so hat sie doch ein Ziel, ja sie ist ein Ziel, genauer, sie ist sein Korrektiv ante rem [...].“20

In den Denkerfahrungen äußert sich Heidegger über das Geheimnis des Glockenturms seines Heimatortes. Auch wenn der Zusammenhang, in dem Heidegger hier schreibt, ein anderer ist, möchte ich diese Stelle doch erwähnen, weil darin von der Fuge die Rede ist, von Musik und Ordnung. Das Geheimnis des Glockenturms ist nämlich in der Ordnung zu finden, die sieben Glocken in die Welt von Meßkirch tragen. Tageszeiten und den Gang der Jahreszeiten bringen die Glocken so zu Gehör, dass das Läuten der Zeit einen Rhythmus schenkt. Sie verfließt nicht einfach, sondern fugt die Stunden ineinander. Auch wenn hier sicherlich Fuge im Sinne von ordnen mehr Sinn macht, so liegt doch darin auch etwas vom Charakter der musikalischen Fuge: Denn das Ordnen der Tageszeit oder des Jahres kann nur erfahren werden in der Wiederholung des jeweils Zeit taktenden Glockenschlages an jedem Tag und an allen Tagen des Jahres und in allen folgenden Jahren, so dass die Wiederholung des Selben der fließenden Zeit die Spannung 19 Clemens Kühn, Formenlehre der Musik, Bärenreiter, Kassel 1998, S. 115. 20 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, S. 1288

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zurückgibt, die zur eigentlichen Zeit gehört: „Die geheimnisvolle Fuge, in der sich kirchliche Feste, die Vigiltage, und der Gang der Jahreszeiten und die morgendlichen, mittäglichen und abendlichen Stunden jedes Tages ineinanderfugten, so daß immerfort ein Läuten durch die jungen Herzen, Träume, Gebete und Spiele ging – sie ist es wohl, die mit eines der zauberhaftesten und heilsten und währendsten Geheimnisse des Turmes birgt, um es stets gewandelt und unwiederholbar zu verschenken bis zum letzten Geläut ins Gebirg des Seyns.“21

5. Offenheit, Wesensraum/Wesungsraum, Zwischen und Nochnicht„Welches Geheimnis“, fragt Heidegger in den Grundfragen, „geht durch den Menschen [...], daß er imitten inne steht zwischen dem Sein und dem Schein, daß ihm das Nächste das Fernste und das Fernste das Nächste ist?“, wobei das „Nahe und Nächste [...] nicht jenes (ist), was der sogenannte Tatsachenmensch zu greifen meint, sondern das Nächste ist das Wesen“.22 Warum kennen wir das Wesen, aber können es nicht wissen? Wenn Heidegger sich auf die Quelle unseres Wissens besinnt, wo Erkenntnis seinen Ursprung nimmt, gelangt er in den Bannkreis eben diesen Wahrheits- und Wesungsraumes. Die Frage, warum die Griechen die Frage nach dem Wesen der alétheia nicht stellten, die nach Heidegger doch die Richtigkeit der Aussage allein auf ihren Grund gebracht hätte, versagt sich ihrem Wesen nach von selbst: „Wesenserfassung und Wesenerkenntnis (ist) ihrerseits schon das Recht- und Maßgebende selbst [...] demnach etwas Ursprüngliches [...].“23 Ursprüngliches ist aber nicht begründbar, es ist der Grund per se.

21 Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, GA 13, hg. von Hermann Heidegger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 22002, S. 115f. 22 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 82. 23 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 81.

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Die Logik also, die uns heute noch die Regeln gibt, die wir anwenden müssen, wenn unsere Sätze wahr sein sollen, nimmt eben in diesem ungefragten Wesensraum ihren Ausgang. Denn, so beginnt Heidegger die Besinnung auf die Frage nach der Wahrheit,24 wenn das Urteil einen Sachverhalt bestimmt, dann hat er zu seinem Grund nicht die Regeln der Logik, sondern die Offenheit, die macht, dass der Gegenstand, über den eine Aussage getroffen wird, sich zeigen kann und dass wir den Raum zwischen uns und eben diesem Gegenstand denkend zu durchschreiten vermögen, um beim Gegenstand anzukommen. Ebenso muss der Mensch offen sein für das, was ihm begegnet, zuletzt aber muss Offenheit auch zwischen den Menschen herrschen, da ja Mitgeteiltes auch verstanden werden soll. Das Offene ist für Heidegger auch das „auseinandergeworfene Zwischen“, das den frühen Griechen aufbrach. Heidegger nennt es auch Inmitten. Es ist dies als eben dieser Wesungsraum zu denken, „in dessen Zeit-Spiel-Raum das Seiende im Ganzen in seiner Seiendheit bestimmt werden kann“.25 Nur in der Grundstimmung ist die Offenheit auszuhalten. Sobald an die Stelle des Er-staunens („das Ganze als das Ganze, das Ganze als das Seiende, das Seiende im Ganzen, daß es ist, was es ist“26) „die Gier des Kennenlernens und des Berechnenkönnens“27 tritt, beginnt der Wesungsraum sich zu verschließen. Das Zwischen ist aber auch dieser Übergang als den Heidegger die Beiträge und die Grundfragen, aber auch schon Sein und Zeit (im Rückblick) verstanden wissen will. Wie sollen wir den Übergang verstehen? Als eine Brücke, die uns an ein anderes Ufer bringt?28 Diese Auslegung wäre vom ersten Anfang aus gedacht, sie ist vom Erlösungs- und also

24 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 19. 25 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 155. 26 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 168f. 27 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 180. 28 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1989, S. 169.

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Fortschrittsgedanken getragen und erwartet an ihrem Ende, dass sich das Versprechen eines Anfangs erfülle. Sollten wir den Übergang nicht auch vom anderen Anfang her denken? Doch wie soll das gehen? Vom anderen Anfang aus gelesen wäre der Übergang möglicherweise von seiner Verbform abzuleiten: übergehen. Übergehen ist aber an das Bild der Quelle gebunden, die ihren Reichtum unerschöpflich gibt. Die Not – eine Art des Seyns, wie Heidegger schreibt – ist „das Übermaß einer Schenkung“,29 und auch die Verzögerung und Versagung des Seyns kommt „aus dem Übermaß des Überflusses“.30 Übergang derart in die Nähe des Ursprungs gebracht ist somit schon angekommen und eben nicht mehr unterwegs. Nur – ist das nicht auch wieder festgestellt? Ja und Nein, es ist eben dieser Zustand der Schwebe, der ausgehalten werden muss. So ist auch höchst unklar, ob der erste Anfang zum anderen Anfang führt oder umgekehrt. Beides wird im Text gesagt, und so bleibt auch diese Frage in der Schwebe. Eine ganz ungewöhnliche Bezeichnung für das Zwischen möchte ich am Ende noch erwähnen. Es ist das Nochnicht, verstanden als mögliche Heimat des sich durch und in ihr verwandelnden Menschen. Zugleich bringt das Nochnicht das Moment der Verzögerung in den Blick, die es mit dem Seyn gemein hat, das sich entzieht und im Entziehen dem Menschen erneut die Mitte, das Inmitten, das Zwischen, den Abgrund, die Zerklüftung schenkt. Die „übergänglichen und dem Wesen nach zweideutigen Denker“, schreibt Heidegger in den Beiträgen, haben den Auftrag, aus denen, die das „Verständliche“ wünschen, Nochnicht-Verständige zu machen. Nochnicht-Verständige sind sie selbst. Nicht gemeint ist, dass sie noch nicht, sondern erst später verstehen, gemeint ist, dass sie das Nochnicht verstehen. Sie haben das Seyn zur Frage aufbewahrt. „[...] alles Dringen auf Verständlichkeit [...] verkennt: daß jedes Denken des Seins, alle Philosophie, nie bestätigt werden kann durch die ‘Tatsachen‘, d. h. durch das Seiende.“31

29 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 153. 30 Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, S. 152. 31 Heidegger, Beiträge, GA 65, S. 435.

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6. Fazit Im Inmitten, Zwischen und Nochnicht ist der Achtungsabstand mitgedacht, der dem Seienden seine Würde zurückgibt, indem der Mensch nicht vereinnahmt und Seiendes vorab bestimmt, sondern den Begegnungsraum eröffnet, in dem Seiendes frei begegnen und sich von sich her zeigen kann. Damit ist zugleich die mögliche Aufgabe des gewandelten Menschen bedeutet: Wächter der Offenheit des Seyns zu werden. Zwar geht Heidegger nicht den Weg der Logik, doch ist der Raum der Wahrheit oder die Offenheit nur über die erfahrene Seinsverlassenheit aufschlagbar, in den uns eben diese Logik mit allen ihren realen Konsequenzen führt.

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8. Sprache als Ab-Grund. Zu Heideggers „Erschütterung der Logik“

Peter Trawny, Wuppertal

1. Einleitung. Heideggers „Erschütterung der Logik“. 1. Teil In seiner Vorlesung des Sommersemesters 1934 Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache spricht Heidegger von der „Grundaufgabe“, die „Logik von Grund auf zu erschüttern“. Zudem gibt er an, dass die „Erschütterung der Logik“, „an der wir seit zehn Jahren arbeiten“, „auf einer Wandlung unseres Daseins selbst gründet“.1 In der ein Jahr später gehaltenen Vorlesung Einführung in die Metaphysik betont Heidegger, die Logik „von ihrem Grund her aus den Angeln zu heben“.2 So findet Heidegger in der Mitte der Dreißiger Jahre zu der Erkenntnis, dass eine gründliche Revision des abendländischen Denkens nur im Zusammenhang einer Destruktion ihrer „formalen“ Elemente, d.h. im Kontext einer Destruktion der Logik, wie sie in der Philosophie Platons und Aristoteles’ entspringt, auf den Weg gebracht werden konnte. Dabei war sich Heidegger von Anfang an sicher, dass ein Verständnis der Logik im Ausgang von der üblichen forma-materia-Differenzierung hinsichtlich eines Wie und eines Was des Denkens, für eine Philosophie, das die Logik vom Sein her zu verstehen sucht, unmöglich war. Die „Erschütterung der Logik“ muss demnach als eine „Erschütterung“ des Seins erörtert werden. Heideggers Auseinandersetzung mit der Logik, auch und besonders jene im Kontext des „Ereignis“-Denkens, ist eine Antwort auf diese „Erschütterung“ des Seins. An der „Erschütterung der Logik“ arbeitet der Philosoph nach eigener Auskunft „seit zehn Jahren“, d.h. seit jener Vorlesung aus dem Wintersemester 1924/25 über Platons Sophistes. Diese „Erschütterung“ geschieht im Zuge einer „Wandlung unseres Daseins

1 Martin Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, hg. von Günther Seubold, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1998, S. 11. 2 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, hg. von Petra Jaeger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1983, S. 197.

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selbst“. Sie ist, wie Heidegger andernorts sagt, eine „Erschütterung des Menschen“.3 Somit ist sie das Moment einer geschichtlichen Veränderung überhaupt, jener seinsgeschichtlichen Bewegung, die Heidegger „Überwindung“ oder „Verwindung der Metaphysik“ nennt. Wenn die Logik „erschüttert“ und „aus den Angeln gehoben“ werden soll, gerät notwendig in den Blick, wo die „Erschütterung“ am besten ansetzt, von woher ein solches Aus-den-Angeln-Heben ausgeht. Die Rede von der „Erschütterung“ setzt den Bedeutungshorizont des Begriffs des „Grundes“ oder sogar des „Ursprungs“ voraus. Eine De-struktion der Logik muss notwendig von ihrem „Grund“ oder von ihrem „Ursprung“ her in Gang kommen. Der Weg der „Erschütterung der Logik“ ist eine gründliche Vertiefung des logischen logos-Verständnisses in einen, wie Heidegger im Jahre 1944 sagt, „ursprünglichen logos“4. Um diesen Vorgang zu begreifen, müssen wir erklären, was wir unter dem Titel „Logik“ verstehen können. Erst wenn wir ein freilich nur überblickshaftes Verständnis der „Logik“ – immer aus der Sicht Heideggers – besitzen, können wir deutlich machen, welchen Sinn ihre Destruktion hat. Danach wollen wir darstellen, wie Heidegger das Wesen des logos denkt. Anschließend wollen wir den Weg nachgehen, den Heidegger von der „Sophistes“-Vorlesung über seine Auseinandersetzung mit dem Logik-Verständnis des Aristoteles zur „Logik“-Vorlesung im Sommer 1934 weiter bis zur Vorlesung über Heraklits logos im Sommer 1944 und zu seinem „Logos“-Aufsatz aus dem Jahre 1951 nimmt.

2. Die „Logik“ als philosophische Wissenschaft Zunächst also geht es darum, einen Eindruck zu erlangen, wie nach Heidegger für gewöhnlich das Wesen der „Logik“ aufzufassen ist. Die

3 Martin Heidegger, „Logos (Heraklit, Fragment 50)“; in: Heidegger., Vorträge und Aufsätze, GA 7, hg. von F.-W. von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2000, S. 218. 4 Martin Heidegger, Heraklit. 1. Der Anfang des Abendländischen Denkens. 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, hg. von Manfred S. Frings, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21987, 185.

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Sprache als Ab-Grund. Zu Heideggers „Erschütterung der Logik“ 135

„Logik“ handelt vom logos. Der gewöhnlich gefasste logos als logos apophantikos zeigt auf, sagt aus, „wie eine Sache ist und wie eine Sache sich verhält“.5 Der logos ist eine „Aussage“ über Seiendes. Wir tätigen „Aussagen“ nicht nur im engeren Sinne eines Verlautens, sondern indem wir denken. Das Denken kann aber wahr oder falsch sein, je nach der Wahrheit oder Falschheit seiner „Aussagen“. Ob das Denken wahr oder falsch ist, regeln bestimmte Denkgesetze. Damit wir wissen, wie richtig oder falsch gedacht wird, gibt es die „Logik“. „Logik“ als „Wissenschaft vom logos“6 ist somit zunächst die „Herausstellung des Formenbaues des Denkens“ und die „Aufstellung seiner Regeln“.7

Die „Logik“ „zerlegt“ das Denken als „Aussagen“ in „Grundelemente“. Daneben gibt sie an, wie mehrere solcher „Grundelemente“ richtig „verflochten“ oder „zusammengebaut“ werden können. Sie gibt die Bedingungen an, wie richtig zu schließen, richtig zu urteilen sei. Die drei grundsätzlichen Regeln sind der Satz der Identität, der Satz des Widerspruchs und der Satz vom Grund.8

Die „Logik“ als eine philosophische „Wissenschaft“ ist jedoch nicht das Ganze der Philosophie. Ihr werden von früh an (vgl. Sextus Empiricus, Adversos Mathematicos, Buch 7, § 16) noch zwei weitere „Wissenschaften“ beigeordnet. Die Philosophie als ganze teilt sich in die Disziplinen „Logik“, „Ethik“ und „Physik“.9 Wenn wir aber bemerken, dass sowohl im Bereich des Ethischen als auch im Gebiet

5 Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, S. 1.6 Heidegger, Heraklit, GA 55, S. 213: „Was ist ‚Logik‘? Sie ist die episteme logike – die Wissenschaft vom logos und dem, was den logosangeht.“ Vgl. in allem neuerdings Ivo de Gennaro, Logos – Heidegger liest Heraklit. Duncker & Humblot, Berlin 2001 (= Philosophische Schriften. Bd. 42) sowie J.-F. Courtine, „Vom Logos zur Sprache“, in: Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held, hg. von Heinrich. Hüni und Peter Trawny, Duncker & Humblot, Berlin 2002. 7 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 129. 8 Vgl. Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, S. 10. 9 Vgl. Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, S. 1ff.

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der Naturforschung notwendig gedacht wird, ergibt sich eine bestimmte Vorrang-Stellung der „Logik“ als eines „Denkens über das Denken“,10 das der Mensch nicht nur sporadisch vollzieht, sondern das sein Sein nachgerade ist. Doch damit ist der Sinn dessen, was unter „Logik“ verstanden wird, noch nicht erschöpft. In der alltäglichen Welt gibt es „Redensarten“, die nicht zu Unrecht das wissenschaftliche Verständ-nis der Logik auf alltäglich Geschehendes übertragen. So fasst man das als „logisch“, was „folgerichtig“ ist. Hier ist nicht die „Wissenschaft“ der „Logik“ gemeint, sondern „wir meinen vielmehr die innere Folgerichtigkeit einer Sache, einer Lage, eines Vorgangs“.11

Diese „Folgerichtigkeit“ in der alltäglichen Praxis ist demnach ein gleichsam ins Gewöhnliche abgesunkener Modus der wissenschaftlichen „Logik“, womit natürlich nicht gesagt werden soll, dass die „Logik“ in ihrer wissenschaftlichen Relevanz der alltäglichen Praxis zeitlich vorausgeht. Die „indifferente Normalform der Aussage“ „a ist b“ ist ein „Grundzug des alltäglichen Daseins“ hinsichtlich seines „unterschiedslosen Verhaltens zum Seienden als dem eben Vorhandenen“.12 Wie die „Folgerichtigkeit“ in der alltäglichen Praxis des Argumentierens als eine Normalisierung der wissenschaftlichen „Logik“ aufgefasst werden kann, so zugleich diese als eine Formalisierung alltäglicher Denkvollzüge. Die „Logik“ formalisiert dann die alltägliche Meinung, dass Alles einen „Grund“ haben muss. Zwischen der „Logik der Sachen und der Logik des Denkens“ gibt es folglich einen Zusammenhang. Denken und Sachen sind „ineinandergekehrt“, „eines kehrt im anderen wieder“, „eines nimmt

10 Vgl. Heidegger, Heraklit, GA 55, S. 216ff. 11 Heidegger, Heraklit, GA 55, 186ff. Vgl. auch Martin Heidegger / Eugen Fink, Heraklit, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1970, S. 197: „HEIDEGGER: Bleiben wir zunächst bei dem, was „logisch“ im gewöhnlichen Sinne, d.h. für den Mann auf der Straße heißt. TEILNEHMER: Es heißt soviel wie ‚in sich schlüssig’.“ 12 Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, hg. von F.-W. von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1983, S. 438.

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das andere in den Anspruch“.13 Diese „Ineinandergekehrtheit“ von Gedanke und Sache ist vor dem Hintergrund einer sich nach der Vernunft richtenden Weltgestaltung des Menschen eine Selbst-verständlichkeit. Diese Vernunft als ein „Ineinandergekehrtsein“ von Gedanke und Sache ist auch da noch wirklich, wo Leidenschaften die Welt scheinbar durcheinander bringen. Im weltgeschichtlichen Kontext leitet die „List der Vernunft“14 noch die leidenschaftlichsten Handlungen. Die „Ineinandergekehrtheit“ von Gedanke und Sache ist die Bedingung dafür, dass solches, „was vernünftig ist, [...] wirklich;und was wirklich ist, [...] vernünftig“15 sein kann. „Folgerichtig“ ist ein Denken, das sich über seine einzelnen Schritte Rechenschaft geben kann. Es ist ein Denken, das über seine „Gründe“ verfügt. Denken – nicht nur philosophisches Denken – ist ein logon didonai. Logon didonai heißt nach Heidegger: „den logos,den Grund geben, nicht nur angeben, sondern darlegen, ab- und hergeben: den Grund, das Unterliegende, den Boden vorliegen lassen“.16 Insofern die „Logik“ eine Formalisierung der „Folgerichtigkeit“ ist, ist in sie jener Anspruch des Denkens eingeflossen, dass es das Seiende in seinem Erscheinen zu „begründen“ vermag und dass solches, was keinen „Grund“ hat, auch nicht erscheint. Am Ende meines Aufsatzes werde ich gerade auf diesen Aspekt des logos noch einmal zu sprechen kommen. Wenn der Mensch notwendig sowohl im Ethischen als auch im Bereich der Natur denkt, dann lässt sich zeigen, dass sich die „Logik“ als ein „Denken über das Denken“ zu den zwei anderen Bereichen der Philosophie anders verhält, als diese zu jener. Weder das Ethische

13 Heidegger, Heraklit, GA 55, S. 196. 14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1 – Die Vernunft in der Geschichte, hg. von J. Hoffmeister, Felix Meiner, Hamburg 61994, S. 105. 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Hrsg. von Eduard Gans, Berlin 31854. 16 Martin Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge. 1. Einblick in das was ist 2. Grundsätze des Denkens, GA 79, hg. von Petra Jaeger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1994, S. 153.

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noch das Physische scheinen in der „Logik“ von Bedeutung zu sein, während die „Logik“ Denkregeln formuliert, die sowohl in der Ethik als auch im Bezug zur Natur Geltung beanspruchen. Es hat den Anschein, als gebe es bezüglich der Ethik und der Physik einen Vorrang der „Logik“. Die „Logik“ scheint eine „Wissenschaft“ zu sein, die in formaler Hinsicht die Regeln angibt, wie das zoon logon echon, das animal rationale überhaupt und überall denkt. Die „Erschütterung der Logik“ hat es also mit der Destruktion jener Stellung zu tun, welche die „Logik“ im geschichtlichen Bezug zur „Ethik“ und „Physik“ einnimmt.

3. Der Weg zum „ursprünglichen logos“Vom Sommersemester 1923 an, ausgehend von jener Vorlesung über „Ontologie (Hermeneutik der Faktizität)“17, bis zur Vorlesung aus dem Sommersemester 1931 über das Buch Theta der Metaphysik-Vorlesungen des Aristoteles18, in welcher Heidegger schon einen seinsgeschichtlich zu verstehenden Rückschritt zu Parmenides und Heraklit vollzogen hat, bezieht sich Heidegger bei seiner Interpretation des logos vor allem auf Platon und Aristoteles. Dabei bildet jene Vorlesung von 1923 hinsichtlich der Erläuterung des logos-Wesens eine Art von Vorspiel zur Vorlesung über den Sophistes. Der logos kommt hier im Kontext der Frage nach der episteme hermeneutike zur Sprache.19 Obgleich die fragliche Struktur des logos nicht zu einem eigenen Problem erhoben wird, streift Heidegger Bestimmungen dieser Struktur, die bis in die Mitte der Dreißiger Jahre in der Diskussion bleiben. Die „Grundleistung“ des logos besteht in einem „Aufdecken und Vertrautmachen mit dem Seienden“. Das legein sei ein deloun, ein Offenbarmachen, und als 17 Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), GA 63, hg. von K. Bröcker-Oltmanns, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1988. 18 Martin Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Theta 1-3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, GA 33, hg. von Heinrich Hüni, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21990. 19 Heideggers Auslegung des Aristotelischen logos apophantikos bezieht sich natürlich auf das Aristotelische „Organon“, und zwar auf De Interpretatione.

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solches ein aletheuein, ein „vordem Verborgenes, Verdecktes als unverborgen, offen da, verfügbar machen“.20

An dieser zwar beiläufigen, aber doch schon wesentlichen Bestimmung des logos knüpft Heidegger am Beginn der Sophistes-Vorlesung an. Der logos werde von Aristoteles „als apophansis, als apophainesthai, als deloun“ bestimmt. Er setze sich als kataphasisund apophasis, als das „Zusprechen und Absprechen, die später als positives und negatives Urteil bezeichnet wurden“, ins Werk. Auch die apophasis als das „Absprechen“ aber sei ein „sehenlassendes Aufdecken“.21 Denn nur einer Sache, die schon offenbar sei, die schon erschienen sei, könne etwas abgesprochen werden. Später, in seiner Aristoteles-Vorlesung vom Beginn der Dreißiger Jahre, hat er diese Bestimmung des logos als „unzureichend“22 bezeichnet. Heidegger vermag sie deshalb als „unzureichend“ zu charakterisieren, weil er in jener späteren Zeit Parmenides und Heraklit als die „anfänglicheren“ Denker des logos-Wesens entdeckt hat. Beginnt Heidegger die Interpretation des Platonischen Dialogs über das Wesen des Sophisten mit einer kurzen Bezugnahme auf die Aristotelische Bestimmung des logos sowie mit einer ausführlicheren Auslegung des Sechsten Buches der Nikomachischen Ethik, so findet er erst am Schluss der detaillierten Vorlesung zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem logos in seiner Platonischen Auffassung. Die Analyse des Platonischen logos-Verständnisses im Sophistesnimmt bei einer Frage ihren Ausgang, deren Sprengkraft Heidegger erst später in Erfahrung gebracht hat. Es ist eine Frage, die Platon durch den im Dialog mitsprechenden Xenos, durch den Fremden, auftreten lässt. Wie kommen Aussage und Verneinung zueinander, wie ist eine koinonia des logos mit einem me on möglich?23 Heidegger beantwortet diese Frage durch die vierte Form einer „vierfachen koinonia“, die „im Ganzen des Phänomens des logos“ gegeben sei.

20 Heidegger, Ontologie, GA 63, S. 10f. 21 Martin Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, hg. von Ingeborg Schüßler, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1992, S. 18. 22 Heidegger, Aristoteles, GA 33, S. 5. 23 Heidegger, Sophistes, GA 19, S. 581.

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Diese „vierfache koinonia“ sei hier deshalb zusammenhängend wiedergegeben, weil sie die gesamte Auslegung des Platonischen logos-Verständnisses zusammenfasst. Die „vierfache koinonia“ im logos ist: „1. die onomatische: zwischen onoma und rema als plegma. 2. die intentionale: jeder logos ist logos tinos; der logos als on ist mit dem on als seinem Gegenstand in koinonia. 3. die logische: jedes ti des legein ist ausgesprochen im Charakter des Etwas-als-Etwas. 4. die delotische, das deloun betreffende: in jedem deloun, in jedem legein ti, ist das legomenon entweder es selbst, wie wir sagen, ‚identifiziert‘, oder es ist ein Anderes als es selbst vor es gestellt; damit ist der logos zu einem täuschenden, in sich selbst zu einem falschen geworden.“24

Diese „vierfache koinonia“ des logos gibt Elemente an, die Heidegger bis zur Aristoteles-Vorlesung im Jahre 1931 auf die eine oder andere Weise wiederholt durchdenken wird. Die Frage nach der Möglichkeit einer „delotischen koinonia“ von logos und me on klärt Heidegger im Grunde so, wie er es zu Beginn der Sophistes-Vorlesung bezüglich der Aristotelischen apophasis andeutete. Das Offene und sein Offenbarmachen, das deloun, ermöglicht entweder, daß ein Ausgesagtes „als es selbst“ aufgewiesen wird oder, dass sich „ein Anderes als es selbst vor es gestellt“ hat. Diese Verstellung ermöglicht es wiederum dem logos pseudes, täuschend sein zu können. So ist das on, das im logos als legomenon aufgewiesen wird, ein „Anderes als es selbst“. Indem das on aber ein „Anderes als es selbst“ ist, ist es ein me on, ein nichthaftes Seiendes. Dass mit dieser Erklärung für Heidegger das Problem des Ursprungs des Negativen, der eigentlichen Quelle des Nicht, keineswegs gelöst war, liegt auf der Hand. Das zentrale Analyse-Ergebnis der Platonischen logos-Auffassungliegt nach Heidegger in der Erkenntnis, dass das „Primäre“, das „Grundphänomen“ des logos das deloun ist. In diesem deloun, in diesem Offenlegen des Seienden, liege die „Möglichkeit des

24 Heidegger, Sophistes, GA 19, S. 606.

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Sprechens“ als einer „konstitutiven Bestimmung des Daseins selbst,die ich [Heidegger] durch das In-der-Welt-sein, das In-sein zu bezeichnen pflege“.25 Damit gibt Heidegger der gesamten Auslegung des logos eine Wendung, die „nicht nur auf die Logik zurückführt“, sondern zugleich auch auf die „griechische Ontologie“.26 Das deloundes logos als die Möglichkeit des Sprechens ist kein logisches, sondern ein ontologisches Phänomen. Abgesehen davon, dass sich auf Grund dieser „Zurückführung“ des logos in die Ontologie erst verstehen lässt, warum die Frage nach dem logos im Zusammenhang mit der Frage nach dem „Sinn von Sein“ von fundamentaler Bedeutung ist, können wir jetzt auch besser begreifen, inwiefern eine „Erschütterung der Logik“ eine „Erschütterung“ ihres „Grundes“ ist. Die am Sophistes gewonnene Einsicht in die Bedeutsamkeit des deloun zeigt, dass der logos der Platonischen und Aristotelischen „Logik“ auf den Horizont einer bestimmten Auffassung vom Sein verweist. Der Grund der Platonischen bzw. Aristotelischen „Logik“, womöglich der Grund jeder „Logik“, die sich auf ihren Anfang in der Philosophie dieser beiden Denker zurückbezieht, ist eine spezifische Lehre vom Sein, ist die „Ontologie“. Darum ist jede Destruktion der abendländischen „Logik“ notwendig ein destruierendes Fragen nach dem Sein. In seiner Vorlesung aus dem Wintersemester 1925/26 Logik. Die Frage nach der Wahrheit setzt Heidegger seine Arbeit, die „Grundstruktur des logos“ in das Wesen des Seins zurückzugründen, d.h. das Sein als den „Grund“ des logos zu erweisen, fort. Wie er ein Jahr zuvor mit und durch Platon die Frage nach dem logos erläutert, so interpretiert er jetzt das logos-Verständnis des Aristoteles. Haben wir schon vom Beginn der Sophistes-Vorlesung wesentliche Momente der Aristotelischen logos-Auffassung wie die apophansisals ein deloun oder die beiden wesentlichen logischen Möglichkeiten der kataphasis und der apophasis kennen gelernt, so lässt Heidegger zu diesen Bausteinen des logos die Elemente der synthesis und der

25 Heidegger, Sophistes, GA 19, S. 594. 26 Heidegger, Sophistes, GA 19, S. 594.

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dihairesis, des im logos stattfindenden „Verbindens“ und „Trennens“ hinzutreten. Wie sich bereits in der „Sophistes“-Vorlesung ankündigte, erörtert Heidegger das Wesen des logos hinsichtlich seiner Möglichkeit, entweder wahr oder falsch (ein aletheuein oder pseudesthai) zu sein.27 Die synthesis sei nach Heidegger „die Bedingung der Möglichkeit des Entdeckens (Wahrheit)“, die dihairesis dem entgegen die „Bedingung der Möglichkeit des Verdeckens (Falschheit)“.28 Was aber so als „Entdecken“ und „Verdecken“ gedacht wird, darf keinesfalls mit dem Bejahen als einem „Zusprechen“ und dem Verneinen als dem „Absprechen“ verwechselt werden. Das Verhältnis von synthesis und dihairesis lässt sich nicht mit der Beziehung von kataphasis und apophasisparallelisieren. Wie jeder logos notwendig entweder bejahend oder verneinend sein muss, so nicht jede Aussage notwendig entweder entdeckend oder verdeckend. Vielmehr kann Heidegger zeigen, dass jeder bejahende und jeder verneinende logos „sowohl synthetisch als auch dihairetisch“ ist. Jedes „Zusprechen“ sei als ein „Verbinden auch ein Trennen“, jedes „Ab-sprechen als Trennen auch ein Verbinden“. Damit ist schon gesagt, dass die Einheitlichkeit des synthesis-dihairesis-Verhältnisses nur dann wirklich verstanden ist, wenn gesehen wird, dass sowohl im „Entdecken“ als auch im „Verdecken“ eben jeweils beide Seiten der „synthesis-dihairesis-Struktur“29 in eins enthalten sein müssen. Die „synthesis-dihairesis-Struktur“ ist demzufolge hinsichtlich des logos-Wesens eine fundamentalere Struktur als das kataphasis-apophasis-Verhältnis. Alles Bejahen als 27 Die Strukturelemente kata / phasis / apophasis / aletheuein / pseudesthai / synthesis / diairesis bestimmen, wie sollte es anders sein, die Interpretation des logos bei Aristoteles (vgl. auch Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 460). Lediglich in jener letzten großen Auseinandersetzung mit dem Aristotelischen logos apophantikos im Wintersemester 29/30 erweitert Heidegger diese Strukturelemente des logos durch das bei Aristoteles erörterte Phänomen des symbolon und der logos-Bestimmung, kata / suntheken zu sein (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 445ff). 28 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, hg. von Walter Biemel. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21995, S. 137. 29 Heidegger, Logik, GA 21, S. 142.

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„Zusprechen“ und alles Verneinen als „Absprechen“ basiert auf einer einheitlichen Struktur von Ent- und Verdeckung. Doch mit dieser erweiternden Modifizierung des logos-Wesens durch die „synthesis-dihairesis-Struktur“ sieht sich Heidegger keineswegs am Ziel. Im Gegenteil bleibt das Wesen des logos darum weiterhin dunkel, weil Aristoteles synthesis und dihairesis als Elemente des Satzes selbst, als Strukturelemente der Aussage betrachtet. Was aber im logos als ein Teil seiner selbst erscheine, könne nicht darüber entscheiden, wann ein logos wahr oder falsch sei. Bloße „Wörter“, die „verbunden zum Ganzen einer Wortmannigfaltigkeit“ einen „ausgesprochenen Satz“30 bilden, können sein Wahrsein nicht ausmachen. Welche Farbe ein Ding hat, entscheidet nicht der Satz, der die bestimmte Farbe eines Dinges aussagt. Daher gelte es, ein „Phänomen“ „zu fassen, das an ihm selbst Verbinden und Trennen ist und vor sprachlichen Ausdrucksbeziehungen und deren Zusprechen und Absprechen liegt, und andererseits das ist, was möglich macht, daß der logos wahr oder falsch, entdeckend oder verdeckend sein kann“.31 Indem Heidegger nach diesem „Phänomen“ fragt, vertieft er die „Zurückführung“ des logos auf seinen „Grund“. Dazu knüpft Heidegger an einer anderen „Grundfunktion“ des logos, und zwar an der apophansis, am logos als der „sehenlassenden, aufzeigenden Rede“32 neu an, um mit dieser Neuanknüpfung den Rückgang vom logos in seinen „Grund“ zu ermöglichen. Indem der logos als apophansis etwas sehen lässt, muss der Sehende im vorhinein etwas vor sich haben und vernehmen. Nach Heidegger ist „jedes Vorsichhaben und Vernehmen“ „in ihm selbst ein ‚Haben‘ von etwas als etwas“. Diese „Als-Struktur“ aber ist keine logische Funktion mehr, sondern ein Moment „unseres orientierten Seins zu den Dingen“. Wenn ich mich zu „etwas als etwas“ verhalte, vollziehe ich zumeist „darüber keine thematisch prädikativen Aussagen“. Die

30 Heidegger, Logik, GA 21, S. 140. 31 Heidegger, Logik, GA 21, S. 141. 32 Heidegger, Logik, GA 21, S. 142.

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„Als-Struktur“ hat somit einen „vorprädikativen Charakter“.33 Sie ist der vorgängige „Grund“ jeder Prädikation. Diese „Als-Struktur“ wird von Heidegger als „die hermeneutische Grundstruktur des Seins des Seienden, das wir Dasein nennen“34, bestimmt. Diese „hermeneutische Grundstruktur“ des „Als“ leitet unthematisch jeden Umgang mit Sei-endem. Von dieser „hermeneutischen“ Fassung der „Als-Struktur“ unterscheidet Heidegger ein „Als“, das vom apophainesthai, vom „Sehenlassen“ selbst her angesprochen werden kann. Dieses „apophantische Als“ „konzentriert“35 die Aussage auf ein „Vorhandenes in seinem so und so Vorhandensein“.36 Im Unterschied zum „hermeneutischen Als“ thematisiert das „apophantische“ das erscheinende Seiende als dies oder jenes vorhandene Ding. Indem das vorgängig Unthematische thematisiert wird, ist die Thematisierung auf das Unthematische bezogen. Das „apophantische“ Verständnis des „Als“ ist so ein „Modus“ der „hermeneutischen Grundstruktur“ des „Daseins“. Doch diese Herausarbeitung der „apophantischen“ und „hermeneutischen“ „Als-Sruktur“ gibt noch keine zureichende Antwort auf die Frage, was einen logos dazu bestimmt, „wahr oder falsch sein zu können“.37 Wir wollen diesen letzten Schritt der „Zurückführung“ des logos auf seinen „Grund“ in der besprochenen Vorlesung vom Jahreswechsel 1925/26 nur noch kurz andeuten. Um jene Frage, wie ein logos wahr oder falsch sein könne, zu beantworten, nimmt Heidegger eine Passage der Aristotelischen Vorlesungen über die „Metaphysik“, und zwar das zehnte Kapitel des Buches Theta zur Hilfe. Dieses Kapitel (dem, wie bekannt ist, im Kontext des Buches Theta eine eigentümliche Bedeutung zukommt) interpretierend entfaltet Heidegger ein modifiziertes Verständnis der synthesis als der „Bedingung der Möglichkeit von Falschsein und

33 Heidegger, Logik, GA 21, S. 144. 34 Heidegger, Logik, GA 21, S. 150. 35 Heidegger, Logik, GA 21, S. 156. 36 Heidegger, Logik, GA 21, S. 158. 37 Heidegger, Logik, GA 21, S. 162.

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besonders eines entsprechenden Wahrseins“38, einer synthesis, deren logischer oder ontologischer Charakter kaum anzugeben sei. Die synthesis als eine onto-logische „Seinsstruktur des Beisammen“ wird so schließlich mit der herausgearbeiteten „apophantischen Als-Struktur“ in einen „Zusammenhang“ gebracht. Indem Heidegger diesen „Zusammenhang“ ausführlich enthüllt, gelangt er zu der Erkenntnis, dass er einem spezifischen Verständnis des Seins als „Anwesenheit, Präsenz“39 entstammt, dass als ein von der Zeit her als „Anwesenheit“ gedeutetes Sein der „Grund“ jenes „Zusammenhangs zwischen der Seinsstruktur des Beisammen und der Als-Struktur“ ist. Es stellt sich damit heraus, dass eine bestimmte Platonisch-Aristotelische Interpretation des Seins als „Anwesenheit“ der „Grund“ einer genauso spezifischen Auffassung des logos ist. Wie in der So-phistes-Vorlesung ein Jahr zuvor verweist auch hier die „Zurückführung“ des logos auf einen „Grund“ im Sein. Es kommt also darauf an, welche Art von „Grund“ das Sein zu sein vermag. In Sein und Zeit zieht Heidegger die Resultate der beiden großen Vorlesungen über den Sophistes und zur „Logik“ zusammen. Die „Grundbedeutung“ des logos ist die „Rede“, wobei Heidegger eigens darauf verweist, dass diese „wörtliche Übersetzung erst vollgültig“ wird, wenn verstanden ist, „was Rede selbst besagt“.40 Die „vielfältigen und willkürlichen Interpretationen“ der von Platon und Aristoteles abhängigen Philosophie „verdecken“ die „eigentliche Bedeutung von Rede“, die nach Heidegger „offen genug zutage liegt“. Indem der logos das Seiende offenbar mache, indem er ein delounsei, bringt er das Seiende zur Sprache bzw. zur „Rede“. Aristoteles habe diese schon bei Platon zu findende logos-Bestimmung des deloun als apophainesthai „schärfer expliziert“. Das „aufweisende Sehenlassen“, die apophansis, sei die Voraussetzung für die logos-immanente Möglichkeit der synthesis. Gemäß der „Logik“-Vorlesung aus dem Winter 1925/26 wird der synthetische Charakter des logos

38 Heidegger, Logik, GA 21, S. 168. 39 Heidegger, Logik, GA 21, S. 191. 40 Martin Heidegger, Sein und Zeit. GA 2, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1977, S. 43ff.

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nicht als ein „Verbinden und Verknüpfen von Vorstellungen“, sondern in seiner „rein apophantischen Bedeutung“, „etwas in seinem Beisammen mit etwas, etwas als etwas“ sehen zu lassen, aufgefasst. In seiner Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/30 Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit merkt Heidegger an, in Sein und Zeit das „Opfer“ einer „Täuschung“ geworden zu sein.41 Diese „Täuschung“ bestünde darin, die „Inter-pretation des logos“ auf die „positive wahre Aussage“ zurückgeführt zu haben. Diese Selbstkritik legt es nahe, Heideggers Auslegung des logos als „Rede“ auf ihren Bereich innerhalb der „Daseinsanalytik“ von Sein und Zeit einzuschränken. Allerdings dürfen wir Heideggers Hinweis nicht so verstehen, als solle dadurch die gesamte Deutung des logos in den zwanziger Jahren widerlegt werden. Heidegger greift in seiner Vorlesung aus dem Winter 1929/30 auf die „Logik“-Vorlesung zurück, legt aber, wie wir sehen werden, die Analyse des Aristotelischen logos apophantikos gleichsam von vornherein tiefer an. Außerdem hatte Heidegger bereits im Sommer 1929 in seiner Freiburger Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ die „rechtmäßige Herrschaft“42 der „Logik“ im Kontext des metaphysischen Denkens überhaupt bezweifelt. Bezüglich der Möglichkeit eines entsprechenden Bedenkens der „Frage nach dem Nichts“43 konnte Heidegger die Inkompetenz der überlieferten „Logik“ aufzeigen. Ohne Zweifel speisen sich die Gedankengänge der „Metaphysik“-Vorlesung aus den programmatischen Hinweisen der Antrittsvorlesung. In einem Brief hat Heidegger sodann auch bekannt, dass ihm in seiner „Metaphysik“-Vorlesung vom Winter 1929/30 ein „ganz neuer Anfang“44 gelingen sollte. Dieser „neue Anfang“ besteht in der Ausarbeitung von Gedanken, die Heidegger zuerst in seiner Antrittsvorlesung formulierte. Er besteht darin, über das Denken der 41 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 488. 42 Martin Heidegger: „Was ist Metaphysik?“; in: Heidegger, Wegmarken,GA 9, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21996, S. 120. 43 Heidegger, Was ist Metaphysik, GA 9, S. 107.

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„Fundamentalontologie“ hinauszugehen, ohne doch dieses einfach hinter sich zu lassen. Heideggers Interpretation des „einfachen Aussagesatzes“45 bzw. des Aristotelischen logos apophantikos wird nun in einen bestimmten Fragebereich eingefügt. Heidegger fragt „vom logos zur Welt“.46 Es geht ihm im letzten Kapitel seiner Vorlesung um die Klärung des „Weltproblems“, um die Erörterung des „weltbildenden“ Wesens des Menschen im Unterschied zum „weltarmen“ Tier. Heidegger denkt die Welt als „Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen“.47 Bei dieser Bestimmung gerät das „elementare ‚als‘“ in der Wendung vom Seienden „als“ solchem in den Blick. Es ist das „apophantische Als“, von dem aus Heidegger zur Thematisierung der „Aussage“ oder des logos übergeht. Eine der Früchte der vorangegangenen Deutungsarbeit hinsichtlich der Frage nach dem logos war die Erkenntnis, dass bestimmte Auslegungen des logos die ursprüngliche Dimension seines Wesens nicht nur nicht erreichten, sondern darüber hinaus auch verstellten. Heideggers Denken allerdings musste sich über diese ursprünglichere Dimension des logos noch selbst klären. Mit dem Fund der Frage nach dem „Sinn von Sein“ als der Frage nach dem „Geschehen des Waltens der Welt“48 ist diese ursprünglichere Dimension aufgebrochen. Heidegger modifiziert seine Analyse des logos apophantikosentscheidend, indem er die Aristotelische Kennzeichnung des Seienden als on he on von den onta, von denen in der Aussage hinsichtlich des „apophantischen Als“ die Rede sei, unterscheidet. In diesem Fall sei das Seiende bezüglich seiner „Beschaffenheiten“ gemeint, etwas ist als etwas eben auf diese Weise beschaffen. Im ersten Fall jedoch werde das Seiende auf sein Sein hin angesprochen, d.h. hinsichtlich des in jeder Aussage mitspielenden „ist“. Das „ist“

44 Martin Heidegger / Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918-1969, hg. von Joachim W. Storck, Marbach am Neckar 1999, S. 33. 45 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 437. 46 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 511. 47 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 416. 48 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 510.

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oder, logisch gesprochen, die „Kopula“ ist ein „wesentliches Moment der Aussage“.49

Das Sein und seine Bedeutungsmöglichkeiten des Was-seins, des Dass-seins und des Wahr-seins sind im „ist“ ein Strukturelement des logos. Es gehört nach Aristoteles zur „synthesis-dihairesis-Struktur“. Zu dieser als einem zentralen Moment des logos apophantikos gehört aber auch das „als“. So kann Heidegger bemerken, dass die „Aufhellung des Wesens des ‚als‘“ mit der „Frage nach dem Wesen des ‚ist‘, des Seins“ „zusammengeht“. Beide Fragen aber, so der Philosoph, „dienen der Entfaltung des Weltproblems“.50 Sie reichen in einen gemeinsamen „Grund“. Der logos wird somit „nach dem Grunde seiner inneren Möglichkeit“ befragt; er wird einer „Ursprungsbetrachtung“ unterzogen.51 Diese „Ursprungsbetrachtung“ eröffnet dem Denken eine völlig neue Perspektive. Die Analyse des logos apophantikoshabe die ursprüngliche Dimension, den „Grund“ des logos nicht erreicht: „Mit all dem bleiben wir noch außerhalb der Dimension des eigentlichen Problems. Wir haben den rechten Ansatz noch nicht gewonnen“.52 Weder Platon noch Aristoteles haben die „zentrale Problemstellung“ gefasst. Sie haben, wie zu zeigen sein wird, nicht mehr am „Grund“ gedacht. Es gelte also, neu anzusetzen. Der logos apophantikos ist ein „Vermögen“, sich auf eine bestimmte Weise zu Seiendem zu verhalten. Dieses „Verhalten“ könne „entbergend (wahr) oderverbergend (falsch)“ sein. Ein solches „Vermögen“ aber sei nur möglich auf dem Grunde eines „Freiseins für das Seiende als solches“. Der logos apophantikos sei „nur da möglich, wo Freiheit ist“.53 Der „Grund“ des logos sei ein „Spielraum“, welchen der Mensch „im vorhinein“ schon betreten habe. In ihm erst kann er Aussagen über das erscheinende Seiende tätigen. Dieser vor jedem

49 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 467. 50 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 484. 51 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 486. 52 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 488. 53 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 492.

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logos, vor jeder Prädikation schon eröffnete „Spielraum“ der „Frei-heit“ wird von Heidegger als „vorprädikative Offenbarkeit oder besser als vorlogische Wahrheit“ ausgezeichnet.54 Hatte Heidegger in der „Logik“-Vorlesung vom „vorprädikativen Charakter“ der „Als-Struktur“ gesprochen, so wird nun diese Struktur tiefer eingesenkt in den „Grund“ einer „vorlogischen Wahrheit“, einer ursprünglichen Dimension für das Wesen des logos. Die „Metaphysik“-Vorlesung von 1929/30 schließt mit der Erörterung dieser Ursprungsdimension. Wir haben sie hier nur soweit zur Kenntnis zu nehmen, als sie für die weitere Auseinanderlegung des logos-Wesens von Belang ist. Heidegger zeigt, inwieweit jene vor dem logos aufbrechende Dimension vom Seienden her nicht aufgewiesen werden kann. Weil wir uns gegenüber dem Seienden als solchen „indifferent“, geleitet durch die „indifferente Normalform der Aussage“ „a ist b“, verhalten, erblicken wir keine Stelle, keine vor-gängige Offenheit, auf die der logos zurückbezogen werden könnte. Die „Indifferenz“ gegenüber dem Seienden hat einen flächendeckend gleichmachenden Verstellungscharakter. Dennoch ist das „ist“, das Sein bei jedem Umgang mit dem Seienden auf wesentliche Art und Weise im Spiel. Dieses Sein ist kein Seiendes. Es ist vom Seienden wesentlich unterschieden. Dieser „Unterschied“ ist nicht nur eine Art von starr klaffendem Bereich zwischen zwei Relata. Heidegger macht darauf aufmerksam, dass dieser „Unterschied zwischen Sein und Seiendem“ „alles Unterscheiden und alle Unterschiedenheit ermöglicht“.55

Als ein solcher „Unterschied“ ist er die Ursprungsdimension für einen logos, der in sich synthesis und dihairesis, Verbindung und Trennung ist. Er ist zugleich die Dimension jener „Freiheit“, die wir mit Heidegger als die „Freiheit“ des „Entwurfs“ des Daseins denken können. Und wenn Heidegger am Ende der Zwanziger Jahre die „Logik“ mit der „Frage nach dem Nichts“ konfrontiert und zugleich die Frage nach der „Transzendenz“ erhebt, so muss (was allerdings

54 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 494. 55 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 517.

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hier nicht auszuführen ist) erkannt werden, dass auch diese beiden Fragen in den Zusammenhang der Entdeckung des „Unterschiedes zwischen Sein und Seiendem“ hineingehören. Mit der Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/30 macht Heidegger einen großen Schritt hin zu einer veränderten Auffassung von logos und „Logik“. Von wesentlicher Bedeutung ist auch, dass ein anderer Denker in die logos-Diskussion aufgenommen wird. Am Beginn der Vorlesung zieht Heidegger die Gedanken des Heraklit in den Gang des Denkens hinein, ohne allerdings diese in der Ausarbeitung der logos-Interpretation einzufügen.56 In der Vorlesung vom Sommersemester 1931 über „Aristoteles, Metaphysik Theta 1-3“ aber wird Heraklit schon wesentlicher beansprucht. In einer flüchtigen Erläuterung des logos am Beginn der Vorlesung bringt Heidegger eine Deutung zur Sprache, deren Herkunft wir in den Sprüchen des Heraklit zu suchen haben. Dort heißt es: „Legein bedeutet ‚lesen‘ – nämlich zusammenlesen, sammeln, das eine zu anderen mitrechnen, darauf beziehen. Dieses Zusammenlegen ist ein Darlegen und Vor-legen (ein Bei- und Dar-stellen), ein: gesammelt einheitlich zugänglich machen.“57

Was so „gesammelt“ wird, wird in ein „Verhältnis“ gesetzt. Dieses „Verhältnis“, die „Beziehung“, die das Versammelte zusammenhält, sei der logos. Er ist das „regelnde Gefüge, die Sammlung des unter sich Bezogenen“.58 Ein solches „regelndes Gefüge“ sei das „Sprechen“ „im Sinne des sprechenden Etwas-sagens, Etwas-meinens: von etwas, über etwas zu jemandem, für jemanden reden“. Obwohl Heidegger bereits in der „Logik“-Vorlesung im Hinblick auf Aristoteles von der synthesis als einer „Seinsstruktur des Beisammen“ spricht, haben wir jetzt in der Charakterisierung des logos vom Sammeln und Legen her die Ausblendung Aristotelischer und das Hervortreten Heraklitischer Gedanken zu betrachten.59 Darüber hinaus

56 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, S. 34ff. 57 Heidegger, Aristoteles, GA 33, S. 5. 58 Heidegger, Aristoteles, GA 33, S. 121. 59 Noch später in seiner ausführlichen Interpretation des Heraklitischen logos-Verständnisses wird Heidegger auf die Wichtigkeit der „Synthesis-

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müssen wir diesen Vorgang im Kontext der „Erschütterung der Logik“ von ihrem „Grund“ her zu verstehen versuchen. Heidegger schlägt zwei Wege ein, um hinter das Platonisch-Aristotelische Verständnis des logos zurückzukommen, zurückzukehren in einen „ursprünglichen logos“. Der eine führt über die Thematisierung des logos als „Sagen“ zur „Sprache“, um von dieser zur „ursprünglichen Sprache“60, zur Dichtung, und zwar zur Dichtung Hölderlins und weiter zum so genannten „reinen Dichten“ überzugehen.61 Diesen Weg müssen wir hier außer Acht lassen. Der andere Weg führt zum Denken des Parmenides und des Heraklit. Im Rückgang zu diesen so genannten „Vorsokratikern“ versucht Heidegger ein ursprünglicheres Verständnis vom logos diesseits seiner metaphysischen Bestimmungen herauszuarbeiten. Wir werden uns im Folgenden ausschließlich auf die Deutung des Heraklitischen logosbeschränken. In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1935, der Einführung in die Metaphysik, heißt es: „Die Wandlung von physis und logos und damit die Wandlung ihres Bezuges zueinander ist ein Abfall vom anfänglichen Anfang. Die Philosophie der Griechen gelangt zur abendländischen Herrschaft nicht aus ihrem ursprünglichen Anfang, sondern aus dem anfänglichen Ende, das in Hegel groß und endgültig zur Vollendung gestaltet wird.“62 Diese Ausführung ist eine seinsgeschichtliche Ortsbestimmung. Sie enthält das Resultat unseres Dihairesis-Struktur“ aufmerksam machen: Der logos „als das Sagen [...] sammelt in der Weise des Zusammenbringens und Aussonderns. Beides sind die zunächst fassbaren Kennzeichen des Sammelns. Aristoteles erkennt sie unter dem Titel der synthesis und dihairesis als die zusammengehörigen Mo-mente des logos, und zwar des ‚aussagenden’ im Sinne des aufweisenden“. Heidegger, Heraklit, GA 55, S. 384. 60 Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, S. 170. 61 Die Vorlesung aus dem Sommer 1934 Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache und die folgende Vorlesung vom Winter 1934/35Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ gehören zusammen, d.h. die eine ist im Grunde nicht ohne das Studium der anderen zu verstehen. Zum „reinen Dichten“ vgl. neuerdings Martin Heidegger, Über den Anfang, hg. v. P.-L. Coriando, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2005, S. 24.

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Ganges durch die Platonischen und Aristotelischen Bestimmungen des logos. Mit Platon und Aristoteles beginnt die große Geschichte der abendländischen Metaphysik als ein „Abfall“ von einem „anfänglichen Anfang“, den das Denken Platons und Aristoteles‘ nicht mehr festzuhalten vermochte. Hinsichtlich des logos als eines deloun,eines legein als legein ti (Platon) oder des logos als logos apophantikos (Aristoteles) ist zu sagen, dass sich diese logos-Bestimmungen ohne Zweifel in einem geschichtlichen Bezug zur logos-Auffassung des Heraklit befinden. Heraklits Einfluss auf Platon ist von kompetentester Stelle aus bemerkt worden.63 Dennoch geschieht ein Wandel des Denkens, in dessen Verlauf der „ur-sprüngliche logos“ verdeckt und sodann vergessen wird. Dieser Wandel in der Bestimmung des logos muss im Folgenden zur Sprache gebracht werden. Nach Heidegger ist für das anfängliche Denken der Griechen die physis „das Sein selbst“.64 Sie ist „das aufgehende Walten und das von ihm durchwaltete Währen“, in das keineswegs nur das natürliche Seiende, sondern auch die Geschichte(n) im tragikomischen Zusammenspiel von Menschen und Göttern eingefügt bleibt. Die „physis ist jene „vorprädikative Offenbarkeit“, von welcher her der logos gefasst werden muss. Der logos aber ist nun „ursprünglich nicht Rede“. Ja, Heidegger betont sogar, dass das „Wort“ „in dem, was es meint, keinen unmittelbaren Bezug zur Sprache“ habe. Demgegenüber bezieht sich Heideggers Bestimmung des logos auf seinen Sammlungscharakter. Er schreibt: „Lego, legein, lateinisch legere, ist dasselbe Wort wie unser ‚lesen‘: Ähren lesen, Holz lesen, die Weinlese, die Auslese [...].“65 Der logos „liest“ das Seiende „auf“, bringt es zusammen, „sammelt“ es. Der logos ist „Sammlung“. Wie im Deutschen hört 62 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 197. 63 Vgl. hierzu vor allem auch Hermann Fränkel, „Eine heraklitische Denkform“, in: Fränkel, Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, München 21960, S. 280ff. 64 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 17.

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Heidegger im logos die Tätigkeit und die Sache der Sammlung zugleich. Der logos versammelt als Sammlung. Der logos ist „sammelnde Gesammeltheit, das ursprünglich Sammelnde“.66

Dass logos und physis insofern aufeinander bezogen sind, als der logos nichts anderes als physis-gemäßes Seiendes „lesen“ und „sammeln“ kann, liegt nahe. Davon spricht in der Tat ein Fragment des Heraklit. Wir zitieren hier die entscheidende Passage in Heideggers Übersetzung: „Zu Seiendem wird nämlich alles kata ton logon tonde, gemäß und zufolge diesem logos; indes gleichen sie (die Menschen) jenen, die nie erfahrend etwas gewagt haben, obzwar sie versuchen, sowohl an solchen Worten als auch an solchen Werken, dergleichen ich durchführe, indem ich jegliches auseinanderlege kata physin, nach dem Sein, und erläutere, wie es sich verhält.“67 Der logosmisst sich der physis, dem Sein, an, indem und damit er das Seiende zu „versammeln“ vermag. Diese Anmessung geht so weit, dass kaum noch eine Differenz zwischen logos und physis auszumachen ist. Und wirklich zieht Heidegger die Konsequenz, dass „in Frg. 1 kata ton logon dasselbe wie kata physin“ bedeutet: „Physis und logos sind dasselbe.“68 Wenn aber logos und physis „dasselbe“ sind, dann ist logos genau wie physis ein Name für das Sein. Auf diese Weise cha-rakterisiert Heidegger den logos wenn er sagt: „Was seiend ist, in sich gerade und ausgeprägt steht, das ist in sich von sich her gesammelt und hält sich in solcher Sammlung.69 Dass der logos das Sein selbst ist, dieser Gedanke wird in Heideggers letzter ausführlicher Aus-

65 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 132. 66 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 136. 67 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 136. Heidegger bezieht sich hier auf Heraklits Fragment 1 (Heraklits Fragmente werden gewöhnlich zitiert nach Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Erster Band, Berlin 41922). Eine spätere Übersetzung Heideggers lautet: „[...] denn während auch alles gemäß dem logos geschieht, den ich sage, gleichen sie doch Unerfahrenen, wenn sie sich in solchen Worten und Werken versuchen, wie ich sie darlege, indem ich Jegliches nach seinem Wesen unterscheide und es sage, wie es sich verhält“ (Martin Heidegger, Seminare, GA 15, hg. von Curd Ochwadt, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1986, S. 273). 68 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 139. 69 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 139.

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einandersetzung mit Heraklit, in jener Vorlesung aus dem Sommer 1944, die als ein freilich diskutierbarer Höhepunkt nicht nur der Heideggerschen Heraklit-Auslegung aufgefasst werden muss, von entscheidender Bedeutung sein. Wenn der logos das Seiende als ein „Verhältnis“ (wie es in der Aristoteles-Vorlesung von 1931 heißt) „versammelt“, dann bleibt zu fragen, auf welche Weise er dies tut. Der Charakter der „Sammlung“ des logos ist „nie ein bloßes Zusammentreiben und Anhäufen“. Der logos hält das Seiende als ein „Auseinander- und Gegenstrebiges“ „in der höchsten Schärfe seiner Spannung“ zusammen.70 In diese Bestimmung hat Heidegger nicht nur Heraklits Harmonia-Fragmente einfließen lassen, sondern auch das vom Götter und Menschen, Sklaven und Freie differenzierenden polemos sprechende Fragment 53. Nach Heidegger ist der polemos die „Auseinandersetzung“, welche die einheitliche „Sammlung“ des logos „bildet“. Wie physisund logos „dasselbe“ sind, so auch polemos und logos.71 Das für Einheitlichkeit sorgende „Sammeln“ und „Lesen“ des logos lässt eine in sich differenzierte Einheit entspringen. Hatte Heidegger in seiner Aristoteles-Vorlesung von 1931 den logos bereits als ein „regelndes Gefüge“ bezeichnet, so kann er ihn jetzt als den „waltenden Fug des Seienden im Ganzen“ charakterisieren.72 Das „Lesen“ und „Sammeln“ des logos bringt Differierendes zueinander und hält es in einer dementsprechend differenten Einheit zusammen. Die „Zurückführung“ der „Logik“ auf ihren „Grund“ hat ihr Ziel erreicht. Ein ursprüngliches Verständnis vom logos zeigt, dass und inwiefern er im Sein selbst begründet ist. Logos und physis sind „dasselbe“. Diese „Selbigkeit“ von logos und physis, von „sammelnder Gesammeltheit“ und Sein muss als in sich differenziert verstanden werden.73 Diese Differenziertheit ermöglicht

70 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 142. 71 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 66. 72 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 186. 73 „Weil das Sein logos, harmonia, aletheia, physis, phainesthai ist, deshalb zeigt es sich gerade nicht beliebig.“ (Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 142). Auch dieser Gedanke ist nur zu verstehen, wenn

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Fundierungsverhältnisse, die sozusagen als Grund-Verhältnisse des Seins aufgefasst werden müssen und insofern Verhältnisse des Selben sind. Nur indem das Identische als in sich different und das Differente als identisch gedacht wird, kann überhaupt das Sein als ein geschichtliches Geschehnis aufgefasst werden. Wäre das Sein eine indifferente, monolithische Einheit, so könnte es keine geschichtlichen Bewegungen, keinen Wandel und keine Umbrüche geben. Die Ausarbeitung dieser Geschehnisstruktur des „Seyns“ ist die zentrale Leistung des Heideggerschen „Ereignis“-Denkens. Ein solches geschichtliches Geschehnis des Seins ist der schon erwähnte „Wandel von physis und logos“ als „Abfall vom anfänglichen Anfang“. Heidegger hat diesen Vorgang auf folgende Weise zusammengefasst: „Anfänglich ist der logos als Sammlung das Geschehen der Unverborgenheit, in diese gegründet und ihr dienstbar. Jetzt wird der logos als Aussage umgekehrt der Ort der Wahrheit im Sinne der Richtigkeit“.74

Der logos ist selbst das „Geschehen der Unverborgenheit“, der physis als aletheia, und vermag zugleich „in diese gegründet“ zu sein, weil das Sein ein in sich differenziert geschichtliches Geschehnis ist. Der logos wird einem in sich differenzierten Beziehungsgefüge des Seins, zu dessen Strukturierung er als „waltender Fug“ und „sammelnde Gesammeltheit“ entscheidend beitrug, entnommen und als „Aussage“ isoliert. „Gründete“ er ursprünglich im Ganzen jenes in sich unterschiedenen Seins, im „Geschehen der Unverborgenheit“, so wird er „jetzt“ in der mit Platon und Aristoteles beginnenden Geschichte der Metaphysik seinem „Grund“ entrissen und selbst als „Grund“ der Wahrheit im Sinne der richtigen Aussage dargestellt. Der logos wird zum logos apophantikos und sodann weiter zum legein ti kata tinos und schließlich zur kategoria.75

Den letzten Schritt in Richtung des Verständnisses eines „ursprünglichen logos“ unternimmt Heidegger sowohl in seiner

wir uns daran erinnern, dass der „Unterschied zwischen Sein und Seiendem“ geradezu der Ur-Unterschied für Differenzen schlechthin ist. 74 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 194. 75 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 196.

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Vorlesung aus dem Sommersemester 1944 mit dem Titel Logik.Heraklits Lehre vom Logos als auch in seinem „Logos“-Aufsatz aus dem Jahre 1951. In einer ausführlichen Interpretation von Heraklits Fragmenten („Sprüchen“) 45 und 50 arbeitet Heidegger Folgendes heraus: Die „Zurückführung“ der „Logik“ zu ihrem „Grund“, die „Erschütterung der Logik“ zur Befreiung des „ursprünglichen logos“geht hinter die Bestimmung des logos als eines legein ti kata tinos und als des logos apophantikos zurück. Sie zeigt, dass logos (die „lesende Lege“), hen panta und aletheia „das Selbe“ oder das „Einzige Selbe Wesen des Seins“ sind.

4. Heideggers „Erschütterung der Logik“. 2. Teil Nach dieser tour de force durch Heideggers Auseinandersetzung mit dem abendländischen logos müssen wir noch einmal zu jenem Gedanken einer „Erschütterung der Logik“ zurückkehren. Hören wir dazu wiederholt Heideggers Äußerung aus der Einführung in die Metaphysik: „Anfänglich ist der logos als Sammlung das Geschehen der Unverborgenheit, in diese gegründet und ihr dienstbar. Jetzt wird der logos als Aussage umgekehrt der Ort der Wahrheit im Sinne der Richtigkeit.“76 Der „ursprüngliche logos“ ist das „Geschehen der Un-verborgenheit“ selbst. Der „Grund“ des logos ist somit ein Geschehen, das mit dem logos selbst identisch ist. Wenn der logos das Sein selbst ist, dann kann er keinen anderen „Grund“ als das Sein, das er selbst ist, angeben. Er kann es deshalb nicht, weil das Sein keinen anderen „Grund“ hat als sich selbst. Im Gründe angebenden Denken hingegen, im logon didonai,versucht das Denken, der „Folgerichtigkeit“ des Seienden zu entsprechen bzw. das Seiende gemäß der „Folgerichtigkeit“ einzurichten und so stets „Gründe“ aus anderen „Gründen“ abzuleiten. Die „Folgerichtigkeit“ von immer anderen „Gründen“ ist das erste Kriterium des Begründens. Hier wäre danach zu fragen, inwiefern sich diese Entscheidung für die „Folgerichtigkeit“ als das erste Kriterium des Begründens selbst begründen lässt.Wenn der „Grund“ des logos

76 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 194.

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der logos selbst ist, dann lässt sich kein „Grund“ angeben, weshalb die „Folgerichtigkeit“ das erste Kriterium des logos sein soll. Damit aber kommt die sich nach dem Kriterium der „Folgerichtigkeit“ richtende „Logik“ in die Verlegenheit, sich nicht wahrhaft „begründen“ zu können, sondern einem mehr oder weniger nur behaupteten, d.h. nicht „folgerichtigen „Maß“ zu unterstehen. Eine sich als Formalisierung des Denkens auffassende „Logik“ kann ihr Hauptkriterium mit ihren eigenen Mitteln nicht begründen. Es sei daran erinnert, dass das Platonische Maß des logon didonai nichts Formales, sondern das Gute selbst ist. Der seltsame Gedanke, der logos sei sein eigener „Grund“, führt somit an eine Grenze. Wenn der logos sein eigener „Grund“ ist, dann kann das logos-hafte Denken auf die Frage nach seinem „Grund“ nur auf sich selbst verweisen. Den „Grund“, warum das Denken ein „be-gründendes“ ist und sein muss, kann es selbst von sich her nicht geben. Das Denken erfährt so, dass es sein Kriterium der „Folgerichtigkeit“ nicht begründen kann. In seinen Freiburger Vorträgen aus dem Jahre 1957 schreibt Heidegger: „Indes dürfte es endlich an der Zeit sein, zu fragen, ob denn das Denken je in sein logos-mäßiges Wesen, das Begründen, gelangen kann, solange es überall nur auf Gründe bezogen bleibt. Solange dies geschieht, nimmt nämlich das Denken sein Wesen, das Begründen, zwar zum Maß, aber dieses selbst und die Maßgabe kann es nicht bedenken.“77 Den „Grund“ jenes „Maßes“ oder die „Maßgabe“, die Herkunft seines „Maßes“ vermag das Denken nicht zu verstehen, solange es im Spielraum des Kriteriums der „Folgerichtigkeit“ der „Gründe“ verbleibt. So muss das Denken die Einsicht zulassen, dass es sich aus sich selbst nicht zu „begründen“ vermag. Es muss den Gedanken fassen, dass es, so Heidegger, „eine wesenhafte Beziehung zum Ab-Grund“ hat.78 Dieser „Ab-Grund“ eröffnet sich mit Heideggers Beobachtung,

77 Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, GA 79, S. 154. 78 Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, GA 79, S. 154.

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dass der „Grund“ des logos der logos selbst als die „Unverborgenheit“ ist. Das Denken bleibt so auf etwas Erstes bezogen, ohne doch dieses, worauf es bezogen bleibt, als ein fundamentum absolutum inconcussum ausweisen zu können. Die „Erschütterung der Logik“ ist darum zwar einerseits die Destruktion der Annahme der „Logik“, sie könne sich in sich selbst „begründen“, andererseits ist diese Destruktion keineswegs die Preisgabe des Denkens an die Maßlosigkeit. Im Gegenteil. In eben jenen Freiburger Vorträgen notiert Heidegger den Satz: „Der heutige Riesenaufmarsch der Rechnerei in Technik, Industrie, Wirtschaft und Politik bezeugt die Macht des vom logos der Logik besessenen Denkens in einer fast an den Wahnsinn grenzenden Ge-stalt.“79 Die „Macht“ der „Logik“ als ratio, die „Macht“ eines Denkens, das sich ausschließlich an dem Kriterium der „Folgerichtigkeit“ orientiert, „bezeugt“ sich in seiner großen Funk-tionalität, in seinen globalen Erfolgen. Die Behauptung der „Folgerichtigkeit“ als des ersten Kriteriums des Denkens entfaltet eine spezifische Weise, die Welt zu beherrschen. Dass sich das Denken dabei seines Ursprungs im „ursprünglichen logos“ nicht erinnert, dass das Denken nicht ausreicht, sich in sich selbst zu begründen, scheint es nicht nur nicht zu stören, sondern darüber hinaus noch zu beflügeln. Demgegenüber wäre ein Denken, das sich seiner „Maßgabe“ zuwendete und erführe, dass es sein „Maß“ und sich selbst als eine „Gabe“ von einem anderen Horizont her emp-fängt, ein auch ethisch gewandeltes Denken. Es würde das Kriterium der „Folgerichtigkeit“ nicht verabsolutieren, sondern es selbst nur als eine seiner Möglichkeiten betrachten. So wäre die „Erschütterung der Logik“ auch eine „Erschütterung des Menschen“80 – keine „Erschütterung“ der Gewalt oder des Zwangs, sondern des

79 Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, GA 79, S. 156. 80 Vgl. Heidegger, Über den Anfang, GA 70, S. 101: „Die Erschütterung des Wesens des geschichtlichen Menschen hat angefangen.“

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Freiwerdens zu einem anderen Denken jenseits der Gewalt und des Zwangs.81

81 Der vorliegende Aufsatz hat ein Thema als Hintergrund, das nicht deutlich genug profiliert worden ist und also wohl von mir auch nicht besser profiliert werden konnte. So wie Sokrates im „Kriton“ erklärt, immer nach dem besten logos gehandelt zu haben (46b), so eignet dem gesprochnen logosin der alltäglichen Praxis von sich her stets ein handlungsorientierendes Moment. Dies ist nicht erst von Habermas oder von Levinas, sondern schon von Hannah Arendt in ihrem Werk Vita activa ausführlich erörtert worden. Dass sich im „besseren Argument“ diese Handlungsorientierung des logos konzentriert, halte ich mit Arendt für eine gefährliche, auf Zwang ausgehende Verengung. Die Praxisorientierung der Sprache bzw. des Sprechens geht weit über die Funktion des „besseren Arguments“ hinaus. Eine Bitte (Levinas) oder eine Erzählung (Arendt) „argumentiert“ nicht. Mir scheint, dass Heidegger mit seinem Gedanken der „Erschütterung der Logik“ dasselbe Problem im Blick hat, auch wenn dieses in seiner seinsgeschichtlichen Interpretation sehr schwierig zu fassen ist. Es herrscht ja nachwievor die Ansicht, die Ethik sei der blinde Fleck des Heideggerschen Denkens. Dass man aber mit ethischen Fragen bei Heidegger an die falsche Adresse gerät, möchte ich bezweifeln. Diesem Zweifel entsprang der vorliegende Text.

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9. Wahrheit, Sein und Zeit. Zu Heideggers Vorlesung aus dem Wintersemester 1925/26 Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21)

Holger Zaborowski, Freiburg i. Br. und Washington, D.C., USA

1. Heidegger und die Logik Nach dem Verhältnis zwischen dem Denken Martin Heideggers und der Logik zu fragen, scheint auf den ersten Blick eine müßige Aufgabe zu sein. Zu vehement hat sich Heidegger immer wieder gegen die traditionelle Schullogik gewandt und diese – einschließlich der Versuche, die traditionelle Schullogik zu reformieren – kritisiert. Die Logik sei nämlich, so Heidegger in Sein und Zeit, „durch noch so viele Verbesserungen und Erweiterungen grundsätzlich nicht geschmeidiger zu machen. Diese ‚geisteswissenschaftlich’ orientierten Reformen der Logik steigern nur die ontologische Verwirrung“1. Es scheint überdies nicht nur die fundamentalontologische Daseinsanalytik, sondern auch die frühe Hermeneutik der Faktizität und das spätere ereignisgeschichtliche Denken mit der Fragestellung und der Durchführung traditioneller philosophischer Logik unvereinbar zu sein. Das Verhältnis zwischen dem Denken Heideggers und der Logik ist also zunächst einmal, so scheint es, ein „Unverhältnis“.

Dies gilt aber nur auf den ersten Blick und unter bestimmten Voraussetzungen. Denn das Verhältnis Heideggers zur Logik ist wesentlich komplexer, als es eine erste oberflächliche Betrachtung nahe legen mag: „Heideggers Philosophie“, so Daniel O. Dahlstrom, „ist keine Antilogik. Sein Fragen nach dem Sinn des Seins nimmt keineswegs Abschied von der Logik und den logischen Prinzipien, die jedem echten Reden zwischen Menschen zugrunde liegt. Die Wahrheit, auf die seine phänomenologische Analyse abzielt, ist auch nichts Außer- oder Vorlogisches, solange man mit Heidegger das

1 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 171993, S. 129.

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Logische im Hinblick auf etwas versteht, was er als die originäre Bedeutung des ‚Logos’ erklärt.“2

Die Frage nach der philosophischen Logik als eine Frage nach dem logos stellt für Heidegger sogar ein zentrales, wenn nicht sogar das zentrale Problem seiner Philosophie dar. Theodore Kisiel hat dementsprechend die vor allem im Blick auf das Frühwerk bis zu Sein und Zeit und den Schriften aus dem Umfeld von Sein und Zeitüberzeugende These aufgestellt: „One could easily write a whole book characterizing Heidegger’s entire career as that of a ‚logician’.“3

Diese Bedeutung der Logik für Heideggers Denken und seine Entwicklung zeigt sich zunächst in der Rolle, die logische Fragestellungen in seinem frühen Denken eingenommen haben. In seinem Lebenslauf zur Habilitation von 1915 spricht Heidegger davon, dass er in der „neuen Schule“ des Neukantianers Heinrich Rickert „allererst die philosophischen Probleme als Probleme kennen“ lernte und „den Einblick in das Wesen der Logik“ bekam, der, wie er bekennt, „mich bis heute vor allem interessierenden philosophischen Disziplin“4. Heidegger weist im späteren Rückblick auf seinen Lebens- und Denkweg in Mein Weg in die Phänomenologie darauf hin, dass Edmund Husserls Logische Untersuchungen „seit dem ersten

2 Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil. Untersuchungen zur Wahrheitstheorie des frühen Heidegger, Passagen Verlag, Wien 1996, S. 23. 3 Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s „Being and Time“, The University of California Press, Berkeley 1993, S. 398. Vgl. für das Verhältnis Heideggers zur Logik auch die kurzen und prägnanten (allerdings vor der Veröffentlichung der frühen Vorlesungen Heideggers verfassten und daher aus heutiger Sicht mit gewissen Einschränkungen zu lesenden) Ausführungen von: William J. Richardson, Heidegger. Through Phenomenology to Thought, Martinus Nijhoff, The Hague 1963, S. 383-386 und Walter Bröcker, „Heidegger und die Logik“; in: Otto Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Kiepenheuer & Witsch, Köln und Berlin ²1970, S. 298-304. 4 Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, GA 16, hg. von Hermann Heidegger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2000, S. 38.

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Wahrheit, Sein und Zeit

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Semester auf meinem Studierpult im Theologischen Konvikt“ standen.5

Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass ihm die Auseinandersetzung mit der Psychologismuskritik Husserls Argumente an die Hand gab, den katholischen Glauben und seine Rationalität besser verstehen und gegen atheistisch-skeptische oder modernistische Tendenzen verteidigen zu können.6 Gerade die frühen Arbeiten Heideggers zeigen nämlich deutlich, inwiefern sein Interesse an der Logik – wie auch sein Interesse an den Naturwissenschaften – auch eine apologetische Dimension gehabt hat. Diese Dimension zeigt sich auch noch in seiner Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik7 und – mit Einschränkungen – auch in seiner Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus.8 Das frühe Interesse Heideggers an Fragen der Logik ist von seinem Interesse, den von seinem frühen katholischen Glauben vorausgesetzten Gedanken einer ewigen Wahrheit zu verteidigen, nicht zu trennen. Philosophie ist für Heidegger in dieser frühen Phase seines Denkens „in Wahrheit ein Spiegel des Ewigen“9. 5 Martin Heidegger, „Mein Weg in die Phänomenologie“; in: Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1969, S. 81-90, S. 81. 6 Vgl. hierzu auch Holger Zaborowski, „’Herkunft aber bleibt stets Zukunft.’ Anmerkungen zur religiösen und theologischen Dimension des Denkweges Martin Heideggers bis 1919“, in: Alfred Denker, Hans-Helmuth Gander und Holger Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und die Anfänge seines Denkens (= Heidegger-Jahrbuch 1), Verlag Karl Alber, Freiburg und München 2004, S. 123-158. 7 Jetzt in: Martin Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1978, S. 59-188. 8 Jetzt in: Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, S. 189-412. Vgl. zur Habilitationsschrift auch Claudius Strube, Zur Vorgeschichte der hermeneutischen Phänomenologie, Königshausen und Neumann, Würzburg 1993; Sean J. McGrath, „Die scotistische Phänomenologie des jungen Heidegger“; in: Heidegger-Jahrbuch 1 (2004), S. 243-258. 9 Martin Heidegger, “Zur philosophischen Orientierung für Akademiker”; in: Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, GA 16, S. 11.

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Aber auch als der katholische Glaube seiner Kindheit und Jugend ins Wanken geriet und er sich zunehmend von diesem Glauben und seinen Inhalten distanzierte, beschäftigt sich Heidegger weiter mit Fragen der Logik. So hat Heidegger regelmäßig Lehrveranstaltungen über Logik – oder formulieren wir, um zunächst einmal nicht falsche Assoziationen zu wecken, vorsichtiger: Lehrveranstaltungen unter dem Titel „Logik“ – gehalten.10

Im Sommersemester 1916 hat er zusammen mit Engelbert Krebs eine Vorlesung zum Thema „Übungen über Texte aus den logischen Schriften des Aristoteles“ gehalten; im Wintersemester 1916/17 führte er ein Seminar zum Thema „Grundfragen der Logik“ durch; im Sommersemester 1922 las er über „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Ontologie und Logik“ und bot ein Seminar mit dem Thema „Phänomenologische Übungen für Anfänger im Anschluss an Husserl, Logische Untersuchungen II, 2“ an. Zudem sind zwei der wichtigen „Durchbruchsvorlesungen“ auf dem Weg zu Sein und Zeit Vorlesungen über Logik gewesen. Die Vorlesung Ontologie. Hermeneutik der Faktizität11 vom Sommersemesters 1923 war ursprünglich unter dem Titel „Logik“ angekündigt worden. Die als 21. Band der Gesamtausgabe der Werke Martin Heideggers 1976 veröffentlichte Vorlesung aus dem Wintersemester 1925/26 trägt den Titel Logik. Die Frage nach der Wahrheit.12

10 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch Heideggers früher Aufsatz “Neuere Forschungen über Logik“ (in: Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, 17-43). Vgl. für eine Übersicht über Heideggers Lehrveranstaltungen von 1915-1930 Kisiel, The Genesis of Heidegger’s „Being and Time“, S. 461-476. 11 Martin Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, hg. von Käte Bröcker-Oltmans, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 21995. 12 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, hg. von Walter Biemel, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main ²1995. Für Interpretationen dieser Vorlesung vgl. auch Dahlstrom, Das logische Vorurteil. Untersuchungen zur Wahrheitstheorie des frühen Heidegger;Kisiel, The Genesis of Heidegger’s „Being and Time“, S. 398-420. Vgl. für den Titel der Vorlesung Kisiel, The Genesis of Heidegger’s „Being and Time“, S. 547f.

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Inwiefern es auch kundigen und mit Werk und Denken Heideggers gut vertrauten Interpreten schwer fällt, die Rolle der Logik im Denken Heideggers richtig einzuschätzen, zeigen die erläuternden – und in diesem Falle zu Missverständnissen führenden – Erklärungen von Käte Bröcker-Oltmans, der Herausgeberin der Vorlesung Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, zu den verschiedenen Titeln dieser Vorlesung: „Der Titel ‚Ontologie’, unter dem Heidegger auch selbst die Vorlesung zitiert, ist vage und zufällig. Für das Vorlesungsverzeichnis hatte er das geplante Kolleg angekündigt als ‚Logik’, wohl in dem Sinne, wie er diesen Terminus gebrauchte: als eine ‚systematische’ Einführung zur Interpretation philosophischer Texte (vgl. Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles,Gesamtausgabe Band 61, S. 183). Er musste den Titel ändern, da einer der Freiburger Ordinarien auch ‚Logik’ ankündigen wollte, und sagte: ‚Na, dann ‚Ontologie’.’ In der 1. Stunde, s. Einleitung, führte er dann den eigentlichen Titel Hermeneutik der Faktizität ein.“13

Bröcker-Oltmans hat mit den beiden „uneigentlichen“ Titeln Logik und Ontologie offensichtlich Probleme. Der Vorlesungstitel Ontologie erscheint ihr nahezu willkürlich, so als seien Heidegger die Titel seiner Vorlesungen relativ gleichgültig gewesen, während sie den ursprünglichen Titel Logik noch im Rückgriff auf die Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 zu retten versucht, ohne zu sehen, dass Heidegger dann – vorausgesetzt, dieser Titel wäre weniger „vage und zufällig“ als der Titel Ontologie – nicht nur den Titel, sondern auch den Inhalt der Vorlesung gründlich revidiert haben muss, geht es in der Vorlesung Ontologie. Hermeneutik der Faktizität ja um wesentlich mehr und anderes als um eine „systematische Einführung zur Interpretation philosophischer Texte“.

Die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der drei verschiedenen Titel oder philosophischen „Disziplinen“ – Ontologie, Logik und Hermeneutik der Faktizität – zueinander ist letztlich – sieht man vor allem auf die Entwicklung des Heideggerschen Denkweges bis zu Sein und Zeit – allerdings nicht schwer und kommt ohne den

13 Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, 113.

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Rückgriff auf den für Heidegger diskreditierenden Faktor des Zufalls, der Vagheit, der mangelnden Präzision oder der Indifferenz den Titeln seiner Vorlesung gegenüber aus. Ein Blick in eine weitere Durchbruchsvorlesung auf dem Weg zu Sein und Zeit, die Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit zeigt deutlich den Zusammenhang von Logik, Ontologie und Hermeneutik der Faktizität: Die drei Vorlesungstitel konnten ausgetauscht werden, weil sie – von bestimmten mit ihnen traditionellerweise verbundenen Assoziationen abgesehen – für Heidegger austauschbar gewesen sind. Die Frage der Logik nach der Wahrheit, so Heidegger, könne nicht von der Frage nach dem Sein getrennt werden, und diese Frage verweist auf die später in Sein und Zeit weiter entfaltete Daseinsanalytik, in der sich die Hermeneutik der Faktizität fortsetzt. Dies wird im Folgenden eine Interpretation der Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheitzeigen.14

2. Logik, Ethik und Physik Heidegger, so zeigt seine „erste Verständigung darüber, was der Ausdruck ‚Logik’ dem nächsten Wortsinn nach besagt“15, geht in der Einleitung zur Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit auf die in der Antike entwickelte Dreiteilung der Philosophie in Ethik, Naturphilosophie und Logik ein. Denn, so Heidegger, „[m]it dem, was die drei Ausdrücke bezeichnen, haben wir eine, wenn auch rohe, so doch wesenhafte Gliederung des Seienden“16 und damit auch den Blick auf die „Seinsgebiete, in Bezug auf welche diese Einteilung und 14 Für den in dieser Vorlesung entwickelten Wahrheitsbegriff und den weiteren Kontext dieses Wahrheitsbegriffes vgl. auch Holger Zaborowski, „Wahrheit und die Sachen selbst. Der philosophische Wahrheitsbegriff in der phänomenologischen und hermeneutischen Tradition der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Edmund Husserl, Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer“; in: Markus Enders und Jan Szaif (Hg.), Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit. Von den Anfängen bis zur Gegenwart,Walter de Gruyter, Berlin 2005. Vgl. für Heideggers Wahrheitsverständnis im Vergleich zu Husserls Wahrheitsverständnis auch Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Walter de Gruyter, Berlin ²1970. 15 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 1. 16 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 3.

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das Ganze der Philosophie motiviert ist“17. Heidegger geht davon aus, dass selbstverständlich sei, was mit Physik und Ethik gemeint sei.18

Die Physik sei Wissenschaft von der physis, die „den universalen Bereich dessen, was überhaupt vorhanden ist, die Welt: das Ganze – Gestirne, Erde, Pflanzen, Tiere, Menschen, Götter“ umgreife, während die moderne naturwissenschaftliche Physik „nur bestimmte Seinszusammenhänge des Seienden, das wir Welt nennen“ erschließe. Die Ethik, so Heidegger in seiner kurzen Charakterisierung weiter, sei die „Wissenschaft vom Menschen“ als eines nicht nur vorhandenen, sondern als eines handelnden Wesens; es ist die Wissenschaft vom „Sichgehaben, Sichverhalten des Menschen zu anderen Menschen und ihm selbst“19.

Heidegger beschränkt sich im wesentlichen auf diese kurzen Charakterisierungen dieser unproblematischer Disziplinen mit ihren jeweiligen Seinsbereichen, um den Blick auf diejenige philosophische Disziplin zu lenken, deren Aufgabe und Rolle seiner Ansicht nach nicht so eindeutig und fraglos bestimmt werden könne wie im Falle der Ethik und der Naturphilosophie: die Wissenschaft vom Reden bzw. die Wissenschaft von der Sprache, dem logos, die Logik.20

Anders als die einzelnen Wissenschaften, selbst anders als die Naturphilosophie und die Ethik, so Heidegger, frage die Logik nicht nur nach dem Wahren, sondern nach der „Wahrheit des Wahren, nach dem was jeweils Wahres zum Wahren macht und gerade zu diesem Wahren“21. Nur auf dem Weg einer philosophierenden Logik, die nicht nur nach Wahrem, sondern nach der Wahrheit des Wahren frage, so Heidegger, sei daher überhaupt die „Durchsichtigkeit wissenschaftlicher Forschung“22 möglich.

17 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 5. 18 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 2. 19 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 1. 20 Vgl. hierzu – mutatis mutandis – auch schon Heidegger, “Neuere Forschungen über Logik“; in: Frühe Schriften, GA 1, S. 17-43, S. 18: „Was ist Logik? Schon hier stehen wir vor einem Problem, dessen Lösung der Zukunft vorbehalten bleibt.“ 21 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 8. 22 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 17.

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Heidegger führt die Logik als ein Bindeglied, das zwischen dem Gegenstandsbereich der Physik – der Welt im Sinne des Ganzen des Seienden – und dem Gegenstandsbereich der Ethik – dem Menschen und seinem Handeln – vermittelt, ein. Dieses Bindeglied steht nicht etwa auf derselben Stufe wie die Naturphilosophie oder die Ethik, sondern auf einer grundlegenderen Ebene. Dies hänge, so Heidegger, mit der fundamentalen Bedeutung der Rede zusammen: Die Logik, so Heidegger, ist „die Wissenschaft vom Reden“23; das Reden aber „ist keine beliebige und ausgefallene Tatsache, sondern eine ausgezeichnete und universale, eine Verhaltung, aufgrund derer der Mensch seinem Sein die Führung gibt – und eine Verhaltung, in der die Welt beredet wird. Reden ist so ein ausgezeichnetes universales Grundverhalten des Menschen zu seiner Welt und ihm selbst“24.Indem Heidegger den Gegenstandsbereich und die Definition der Logik im Vergleich zu traditionellen Logik-Verständnissen in nicht unbeträchtlicher Weise modifiziert, entwickelt er auch ein für sein weiteres Vorgehen zentrales Verständnis des Verhältnisses zwischen Ethik, Physik und Logik. Die Logik wird, wie sich noch weiter zeigen wird, als philosophierende Logik zur Fundamentaldisziplin der Philosophie, da es ja gerade die Rede, der logos also, ist, der Seiendes, d.h. Mensch und Welt, sehen lässt und dessen Thematisierung in der Logik daher der Ethik und Naturphilosophie vor- bzw. übergeordnet ist. Dieses Anliegen einer „Grundlegung der Wissenschaften“, einer „produktiven Logik“ verfolgt Heidegger auch noch in Sein und Zeitund stellt es der „nachhinkenden ‚Logik’, die einen zufälligen Stand einer Wissenschaft auf ihre ‚Methode’ untersucht“, gegenüber.25

3. Heidegger Kritik der traditionellen Schullogik Damit führt Heidegger ein Verständnis der Logik ein, auf dessen Grundlage er die überlieferte Schullogik, die sich mit den Gesetzen des Denkens beschäftigt, ohne die Voraussetzung eines jeden Denkens

23 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 1. 24 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 3. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Heidegger, Sein und Zeit, § 34. 25 Heidegger, Sein und Zeit, S. 10.

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– nämlich das Eröffnet-sein der Welt und des Menschen selbst – und damit auch die Frage nach dem „primären Sein von Wahrheit“26

eigens zu thematisieren, kritisiert. Diese Schullogik sei, so Heidegger, „weder Philosophie noch gar eine Einzelwissenschaft; sie ist durch Brauch und inoffizielle Regelungen und Wünsche am Leben erhaltene Bequemlichkeit und ein Scheingebilde zugleich“. Die Schullogik gehört damit auch zu den von Heidegger bereits einige Jahre zuvor aufgewiesenen „Sicherungstendenzen“, mit deren Hilfe sich das faktische Lebens gegen das Historische abzusichern tendiert und die in ihren verschiedenen Ausprägungen „grundsätzlich durch die Platonische Auffassung durchherrscht“ und damit – in positiver oder negativer Weise – durch den Bezug auf ein Reich ewiger ungeschichtlicher Ideen bestimmt seien.27 Wer sich derart absichert, kann aber nie in die Haltung einer radikalen Fraglichkeit, eines Zerbrechens aller vermeintlichen Sicherheiten hineinfinden und daher auch nie sich selbst verstehen. Die Schullogik ist mit keinem existentiellen Risiko behaftet: „Bei dieser Art ‚Logik’ kommt der Logiker nie in Gefahr, mit sich selbst bezahlen zu müssen – eine Notwendigkeit, der jedes Philosophieren verhaftet ist.“28

Philosophieren bedeutet aber, so Heidegger, „gerade von Grund aus ständig aufgeregt werden durch und unmittelbar empfindlich sein für die totale Rätselhaftigkeit des dem gesunden Verstande Fraglosen und Selbstverständlichen“29. Die gilt nach Ansicht Heideggers auch für den Logiker und die philosophische Logik, die im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung seiner Ansicht nach erstarrt und zunehmend mit Vorurteilen vor allem darüber, was Wahrheit eigentlich sei und wo ihr eigentlicher Ort sei, behaftet sei.

Von diesen Gedanken her wird auch verständlich, warum Heidegger von einer „philosophierenden“ und nicht einfach von einer 26 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 12. 27 Martin Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, in: Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, hg. von Matthias Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1996, S. 1-156, S. 47. 28 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 12.

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philosophischen Logik spricht, wenn er sein alternatives Modell der Logik entwickelt: Die Logik ist als ein Vollzug des Philosophen in seiner faktischen Existenz zu verstehen. Sie hat, wie das Philosophieren überhaupt, ihren Grund in der Fraglichkeit und der radikalen Auseinandersetzung mit der Fraglichkeit, von der her überlieferte – und vermeintliche – Sicherheiten in Frage gestellt werden.30 Heidegger geht es in der Vorlesung vom Wintersemester 1925/26 daher nicht nur um eine Neubestimmung der Logik, sondern, gerade da die Logik zur philosophischen Fundamentaldisziplin wird, auch um die Frage, die ihn seit seinen philosophischen Anfängen bewegt, nämlich die Frage nach den Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben des Philosophierens selbst – das bedeutet: des phänomenologischen Philosophierens als einer „Hermeneutik der Faktizität“ (bzw. einer daseinsanalytischen Fundamentalontologie), die zu den Sachen selbst vordringt.31

Um dies deutlicher zu sehen, werden wir im Folgenden zunächst die Verklammerung der Seins- mit der Wahrheitsfrage untersuchen, um dann näher auf die Verklammerung der Wahrheits- und Seinsfrage mit der Frage nach der Zeit einzugehen. Wir folgen dabei dem Aufbau der Vorlesung in zwei Hauptteile – der erste, vornehmlich der Auseinandersetzung mit Aristoteles gewidmete Hauptteil steht unter dem Titel „Das Wahrheitsproblem im entscheidenden Anfang der philosophierenden Logik und die Wurzeln der traditionellen Logik“32,der zweite, vornehmlich der Auseinandersetzung mit Immanuel Kant gewidmete Hauptteil steht unter dem Titel „Die radikalisierte Frage: Was ist Wahrheit? Widerholung der Analyse der Falschheit auf ihre 29 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 24. 30 Vgl. hierfür zum Beispiel Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, hg. von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmans, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main ²1994, S. 35; 195f. Vgl. für Heideggers Verständnis des Philosophierens als Vollzug der Fraglichkeit des Daseins auch César Lambert, Philosophie und Welt beim jungen Heidegger,Peter Lang, Frankfurt am Main 2002, S. 56-95. 31 Vgl. hierzu auch Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 32f.

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Temporalität“33. Bevor wir uns mit diesen beiden Fragen beschäftigen, müssen wir jedoch mit Heidegger die beiden Hauptteile in einen weiteren Kontext stellen, nämlich den Kontext der von Heidegger explizierten Kritik an zeitgenössischen Wahrheitstheorien.

4. Heideggers Kritik an Psychologismus, Neukantianismus und Phänomenologie Denn ein zentrales Anliegen Heideggers in dieser Vorlesung liegt auch in der kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwartsphilosophie. Es ist – unter anderem – ihr Ungenügen angesichts der für die Logik zentralen Frage nach der Wahrheit, das Heideggers verschärftes Fragen danach, was denn eigentlich Wahrheit sei, erklärt. Dies zeigt sehr deutlich die „Vorbetrachtung“ in der Heidegger die „gegenwärtige Lage der philosophischen Logik. Psychologismus und Wahrheitsfrage“ diskutiert.34 Heidegger zeigt in diesem Abschnitt auf, warum es seiner Ansicht nach notwendig ist, zu Aristoteles zurück zu gehen, um von Aristoteles selbst her (und nicht von dem Bild, das wir uns von der Philosophie des Aristoteles gemacht haben) die Frage nach der Wahrheit neu zu stellen. Denn nicht nur der Psychologismus, so argumentiert Heidegger, habe einen falschen und zutiefst problematischen Zugang zur Logik und damit auch zur Frage nach der Wahrheit entwickelt, sondern auch die neukantianischen und phänomenologischen Antworten auf den Psychologismus, die, so Heidegger, gerade in ihrem Bemühen darum, den Naturalismus des Psychologismus aufzuzeigen und hinter sich zu lassen, auf höherer Ebene wieder in den Naturalismus zurückfallen und zu einer vertieften und radikalisierten Fragestellung zwingen.

Aus zeitgenössischer Sicht hätte man annehmen können, dass es reiche, sich für die Frage nach der Wahrheit an der neukantianischen oder phänomenologischen Psychologismuskritik zu orientieren. Heidegger ist ja selbst auch der Ansicht, dass die Logischen Untersuchungen Husserls „die Logik der Gegenwart erstmals wieder 32 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 127-195. 33 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 197-415. 34 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 31-125.

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aufgerüttelt und ihre produktive Möglichkeiten vorgegeben haben, die freilich spärlich genug ergriffen sind“35. Allerdings ist es nicht möglich, sich einfach Lotze, Rickert oder Husserl anzuschließen und mit ihnen weiterzugehen, indem man etwa ihr Denken weiterentwickelte. Dies, so Heidegger, sei nur beschränkt möglich, da diese Versuche der Kritik des Psychologismus trotz ihrer von Heidegger anerkannten Leistungen von gravierenden Mängeln bestimmt seien.

Heidegger formuliert in diesem Zusammenhang eine Kritik an seinem Lehrer Husserl, die an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig lässt. Er behauptet nämlich, dass Husserls anti-naturalistische Position letztlich auf eine – wenn auch anders begründete – naturalistische Position hinauslaufe. Sprich: Das schöne, von Husserl eindrucksvoll skizzierte Programm, „[a]n der naturalistischen Philosophie radikale Kritik zu üben“36, war damit, so Heidegger in nicht unpolemischer Zuspitzung, gescheitert. Warum aber? Heidegger wirft Husserl wie auch den Neukantianern vor, durch die Lösung des Psychologismusproblems, nämlich durch die Unterscheidung der Sphären von Realem und Idealem, das Problem eher vergrößert als gelöst zu haben.37

Heideggers Kritik an der anti-psychologistischen Argumentation Husserls und der neukantianischen Wertphilosophie betrifft vornehmlich diesen platonischen Dualismus von endlicher realer und immerseiender idealer Welt bzw. von Sein und Geltung. Der Psychologismus hatte die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie zur grundlegenden Disziplin der Logik gemacht, da die Logik zum einen die Wissenschaft vom richtigen Denken sei und zum

35 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 24. 36 Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, hg. von Wilhelm Szilasi, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1965, S. 12. Für Husserls Darstellung und Kritik der naturalistischen Philosophie vgl. S. 13-48. 37 Für Heideggers Verhältnis zum und seine kritische Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus vgl. neben dem Beitrag von Alfred Denker in diesem Band auch Michael Steinmann, “Der frühe Heidegger und sein Verhältnis zum Neukantianismus”; in: Heidegger-Jahrbuch 1 (2004), S. 259-293.

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anderen das richtige Denken als ein rein psychisches Geschehen verstanden wurde und so naturalisiert wurde. Dieser nicht nur für die Logik, sondern auch für die Ethik und Ästhetik bedeutsamen psychologistischen Reduktion von Wahrheit und Sinn auf eine rein psychische Realität wurde seitens der Psychologismus-Kritiker eine je unterschiedlich modifizierte Zwei-Welten-Lehre entgegengehalten. Gewissermaßen durch die „Zauberbegriffe“ der Geltung oder des idealen Seins wurde die ontologisch-epistemologische Grundlage des Psychologismus unterminiert, denn der Psychologismus beruhe, so Heidegger in seiner Zusammenfassung der Kritik am Psychologismus, „in einer Verwechslung des realen psychischen Seins mit dem idealen Sein der Gesetze. [...] diese Verwechslung, wenn man überhaupt so sagen kann, gründet darin, dass die Philosophie damals in großem Ausmaß gewissermaßen abgesperrt war gegenüber verschiedenen Bezirken des Seins – blind gegen sie, abgesperrt und eingesperrt auf einen bestimmten Umkreis von Sein, das der realen Natur des Physischen und Psychischen, welches man für das einzige hielt.“38

In diesem anti-psychologistischen Dualismus erblickt Heidegger allerdings einen Rückfall in den Naturalismus des Psychologismus: „Und ich sage sogar: dass in dieser dem Psychologismus gegenüber sich so philosophisch dünkenden Position, die allen Naturalismus überwunden zu haben glaubt, ein noch viel gröberer und grundsätzlicherer, freilich auch noch schwerer zu fassender Naturalismus steckt.“39 Denn auf die Frage nach der Einheit der beiden Seinssphären beziehe man sich nicht auf ein „ursprüngliches Sein, daraus diese als Möglichkeiten und als ihm zugehörig verständlich würden.“40 Vielmehr verbinde man die Region des Sinns und der Geltung mit der Region des Unsinnlichen und Realen in einer, so Heidegger, primitiv mechanistischen und atomistischen Weise.41

Solange nämlich der Dualismus dieser beiden Seinsregionen das fundamentale Prinzip darstelle, kann immer nur gewissermassen a

38 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 53. 39 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 92. 40 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 92. 41 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 93.

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posteriori nach einer möglichen Verbindung der zwei Welten gefragt werden und dies laufe, so Heideggers Argument, auf einen neuen, wenn auch philosophisch anspruchsvolleren Naturalismus in Gestalt eines „aneinanderhaftenden Nebeneinanders“ von idealem und realem Sein hinaus.

An dieser Stelle formuliert Heidegger eine Frage, die noch über Husserl und die neukantianische Wertphilosophie hinausgeht. Während nämlich Husserl „im Rahmen des Psychologismus und selbst in jener Weise aus ihm herkommend, [...] nach dem, was das Psychische zu dem macht, dass aus ihm so etwas wie Bezug von Realem und Idealem verständlich wird“ fragt, stelle er nicht die „Frage nach dem Seienden, das nicht etwa eine Kluft zwischen diesen beiden Reichen überbrückt, sondern, wenn sie überhaupt so gefasst werden dürfte, nach dem Seienden, das diese beiden Seinsweisen und zwar in ihrer ursprünglichen Einigkeit möglich macht“.42 Nur eine Antwort auf diese Frage könne, so insinuiert Heidegger, dem Psychologismus begegnen, ohne selbst wieder naturalistische Voraussetzungen zu machen. Die Psychologismuskritik muss daher eine andere Orientierung nehmen.

Heideggers Beitrag zur Logik basiert so – bei aller Anerkennung der Leistungen Husserls – auf einer fundamentalen Kritik der Husserlschen Phänomenologie, in der Heidegger nicht mit rhetorischen Salven spart: „Die heutige Phänomenologie hat, mit gewissen Kautelen gesprochen, sehr viel mit Hegel zu tun, nicht mit der Phänomenologie, sondern mit dem, was Hegel als Logik bezeichnet. Diese ist in gewissen Vorbehalten mit der Logik der phänomenologischen Forschung zu identifizieren.“43 Angesichts der im Verlauf der Vorlesung entfalteten Kritik an der Philosophie Hegels etwa an der „grundsätzlichen Sophistik, von der überhaupt Hegels Dialektik lebt,“44 angesichts Heideggers Mahnung, dass „wir uns in der Philosophie abgewöhnen müssen, uns mit dem lieben Gott zu

42 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 93. 43 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 32. 44 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 252.

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verwechseln, wie das bei Hegel Prinzip ist“45, angesichts seiner Bemerkung, dass Hegel alles über jedes sagen könne und dass es Leute gebe, „die in einer solchen Konfusion einen Tiefsinn entdecken“46 oder angesichts seiner Kritik daran, dass Hegel Kants Verständnis der Funktion der Zeit „völlig verkannt“ habe47 (und vor allem auch angesichts Heideggers eigener Auseinandersetzung mit Kant im zweiten Hauptteil der Vorlesung und angesichts seiner radikalen Gegenüberstellung von Hegelscher Dialektik und Phänomenologie48) ist dieses Urteil vernichtend, vor allem da Heidegger selbst immer wieder explizit und implizit seine Treue zum Programm der Phänomenologie deutlich macht.

Husserls Denken weist aber, so betont Heidegger auch, den Weg in die richtige Richtung.49 Sein Denken habe sich entwickelt und zeige Momente der Selbstkorrektur: Er habe den fundamentalen Irrtum der Orientierung an einem idealen Sein selbst durchschaut und die Vorstellung, Wahrheit habe als ideales Sein seinen Ort im Satz, aufgegeben.50 Indem Husserl nämlich den psychischen Vorgang des Denkens als intentional bestimmte, habe er bereits den Dualismus von realem und idealem Sein durchbrochen: „Denken“, so Heidegger mit Bezug auf Husserl, „ist als Psychisches schon von vornherein in dem, was es ist, auf etwas bezogen. Es ist nicht zuerst nur Reales gleichsam drinnen im Bewusstsein, das dann sich nachträglich durch irgendwelche Mechanismen auf etwas draussen bezieht. [...] das Psychische ist vielmehr erst und nur als dieses Sichrichten selbst – als

45 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 267. 46 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 260. 47 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 201. 48 Vgl. hierzu etwa Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, S. 43-47; S. 110. 49 Auch an anderer Stelle schränkt Heidegger seine Kritik an Husserl ein, so etwa S. 58: „Dies Interpretation sowohl des Urteilsgehaltes als eines idealen Seins wie seine Beziehung zu den Urteilsakten als seinen Realisierungen ist merkwürdig, wie wir nachher sehen: in einer Hinsicht grundverkehrt und von Husserl selbst stillschweigend schon unmittelbar nach seinen Logischen Untersuchungen aufgegeben.“ 50 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 60.

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dieses ist es ‚real’.“51 Im Akt des Denkens sind also die zwei Regionen des idealen und des realen Seins immer schon miteinander verbunden. Dies lenkt auf den Zusammenhang des Realen und Idealen und somit auf dasjenige Phänomen, „in dem ein solcher Zusammenhang möglich sein soll“52.

Wahrheit ist, so Heidegger weiter, ursprünglich nicht eine ideale Eigenschaften von Sätzen als der Ergebnisse von Denk- und Erkenntnisakten, sondern Identität und „als Identität [...] Relation zwischen Gemeintem und Angeschautem“53. Diese Einsicht in die Bedeutung der Wahrheit führt Heidegger zu der fundamentaleren, über die Satzwahrheit hinausgehenden Behandlung der Frage nach der Anschauungswahrheit als der „Identität des Gemeinten und Angeschauten.“54 Um den Zusammenhang zwischen der Satz- und der Anschauungswahrheit – d.h. zwischen der logos- und der nous-Wahrheit – zu klären, sieht Heidegger allerdings die „Notwendigkeit eines Rückgangs zu Aristoteles.“55

5. Heideggers Rückgang auf Aristoteles Für Heideggers Entwicklung der philosophierenden Logik ist die Philosophie des Aristoteles, die er gegen eine traditionell verbreitete Deutung (wie auch gegen die polemische Aristoteles-Interpretation des Neukantianismus56) liest, von besonderer Bedeutung.57 Wenn Heidegger auch der prophetisch klingenden Meinung ist, dass „philosophisch verstanden [...] die durch Aristoteles grundgelegte und in Hegel vollendete philosophische Logik nicht durch weitere Sohn- und Enkelschaft“ gefördert werden dürfe, sondern dass es eines 51 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 95f. 52 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 99. 53 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 109. 54 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 109. 55 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 109. 56 Vgl. hierzu auch Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, S. 4-6. 57 Vgl. zur Bedeutung der Philosophie des Aristoteles für Heidegger auch Brian Elliott, Anfang und Ende in der Philosophie. Eine Untersuchung zu

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„neuen Geschlechts“ bedürfe58, so ist seiner Ansicht nach die „Zurückweisung der überlieferten Schullogik [...] mit einer wahren Schätzung der Tradition sehr wohl vereinbar“59. Denn „[d]ie traditionelle Schullogik ist der veräußerlichte, entwurzelte und dabei verhärtete Gehalt eines ursprünglichen philosophischen Fragens, wie es in Plato und Aristoteles lebendig war, eines Fragens, das durch die schulmäßige Verhärtung völlig erstickt wurde.“60 Der Grund dieser „wahren Schätzung der Tradition“ liege, so Heidegger, in der „Geschichtlichkeit des Daseins selbst, d.h. in der ursprünglichen Treue des Daseins zu ihm selbst.“ Dieses „Treue“ wird von Heidegger folgendermaßen definiert: „Treue: Das Herankommen an das und Behalten dessen, was als ergriffene und erkämpfte Angelegenheit die Existenz in Atem hält.“61 Wir sehen hier das für Heideggers Philosophieren charakteristisches Vorgehen, dass er nämlich seine eigene Position nicht nur in einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie entwickelt – und so der Geschichtlichkeit des Daseins Rechnung trägt –, sondern dass er diese Geschichte auch als die Geschichte eines Falls vom Ursprung bzw. als Geschichte des Verlustes eines ursprünglichen, neu zu lernenden Fragens interpretiert.

Bereits in seinem Vorgehen zeigt sich daher eine wichtige Einsicht: Dem Dasein als geschichtlichem stellt sich die Aufgabe eines immer neuen Vollzugs des ursprünglichen Fragens. Dagegen steht der Anspruch der überlieferten Schullogik auf eine Wahrheit, die nicht nur ungeschichtlich und ewig ist, sondern die sich auch nicht von der Existenz des Daseins her versteht. Bereits zu Beginn seiner Vorlesung ordnet Heidegger daher sein Bemühen um einen neuen (das bedeutet gerade: erneuten) ursprünglichen Zugang zur Logik und damit auch zur Frage nach der Wahrheit in den weiteren Kontext der Geschichtlichkeit des Daseins, der Geschichte der abendländischen Heideggers Aneignung der aristotelischen Philosophie und der Dynamik des hermeneutischen Denkens, Duncker & Humblot, Berlin 2002. 58 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 14. 59 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 18. 60 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 13. Vgl. hierzu auch Heidegger, Sein und Zeit, S. 10.

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Philosophiegeschichte (als einer Verfallsgeschichte), der Bestimmung der Existenz oder des Daseins und der oft impliziten Kritik an der gegenwärtigen Situation der Universität und der Wissenschaften ein. Was dies – vereinfachend gesprochen eine Skizze des Forschungsprogramms, das zu Sein und Zeit führte – genau bedeutete, konnten die Studenten zu Beginn der Vorlesung nur in groben Zügen ahnen. Denn wie in vielen anderen Werken verfolgt Heidegger auch in dieser Vorlesung zugleich immer eine Reihe verschiedener Anliegen und Fragestellungen, die als einzelne wie auch in ihrem systematischen Zusammenhang nicht immer eigens von ihm genannt werden. Dies sei nicht als Kritik, sondern als Interpretationshilfe gesagt.

Es gilt also, mit Aristoteles ursprünglicher zu fragen, dass heißt nicht danach, wie die Kluft zwischen dem Realen und Idealen gewissermaßen a posteriori überbrückt werden könne, sondern danach, inwiefern sie immer schon überbrückt ist und welches nicht-psychologistische Verständnis von Wahrheit hier sichtbar wird. Nach Heidegger gibt es eine „unzureichende Interpretation“ der Philosophie des Aristoteles, die zu drei Vorurteilen bezüglich der Wahrheit geführt haben. Diese Vorurteile lauten folgendermaßen: „1. Der Ort der Wahrheit ist der Satz. 2. Wahrheit ist Übereinstimmung des Denkens mit dem Seienden. 3. Diese beiden Aussagen haben Aristoteles zum Urheber.“62 Der Kern dieses in Geschichte und Gegenwart der Philosophie nachweisbaren Missverständnisses, so Heidegger, liegt darin, dass Wahrheit – d.h. auch die praktische oder die religiöse Wahrheit – einseitig von der als paradigmatisch definierten Wahrheit der theoretischen Erkenntnis her verstanden wurde. Heidegger setzt sich im Folgenden mit Aristoteles’ Wahrheitsverständnis auseinander und entwickelt einen Verständnis von Wahrheit, das seinem Anspruch nach nicht nur einer „wahren Schätzung“ der philosophischen Tradition entspringt, sondern auch in kritischer Auseinandersetzung mit einem einseitig-verengten Wahrheitsbegriff der Art und Weise,

61 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 18. 62 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 128.

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wie „die erste natürliche Erfahrung der Art des Miteinanderseins der Mensch“ das Sprechen erfasst, nämlich „als redendes Offenbarmachen, als bestimmendes, regelndes Denken, gerecht zu werden beansprucht. Sprechen – Reden – Denken fallen in eins zusammen als die Seinsart des Menschen, in der er für sich und die anderen die Welt und das eigene Dasein offenbar macht, aufhellt, um in dieser Helle Sicht zu haben – als Einsicht in sich selbst, Aussicht auf und Umsicht über die Welt.“63 Von dieser ursprünglichen Einheit her definiert Heidegger Wahrheit als „Aufgedecktheit, d.h. Unverborgenheit des Seienden“64.

Damit waren bereits zu Beginn der Vorlesung die zentralen Themen der Logik genannt worden: die Rede und die Wahrheit als die Unverborgenheit des Seienden. Es geht in der Logik, anders formuliert, um die Rede in ihrer Bezogenheit auf die Wahrheit als die Unverborgenheit des Seienden. In seiner Interpretation des Aristoteles zeigt Heidegger nun, dass der „Ort der Wahrheit“ nicht der Satz ist, sondern dass die „Wahrheit der Ort des Satzes“ sei, dass also der Satz in der Wahrheit als der Unverborgenheit des Seienden ist und nicht umgekehrt. Die Frage der traditionellen Logik nach der Wahrheit von Urteilen, d.h. nach der Wahrheit im Denken, kann daher nur im Rückgriff auf eine Wahrheit verstanden werden, die dem einzelnen Urteil vorgeordnet ist und den wahren wie auch den falschen logosmöglich macht. Wahrheit, so Heidegger, ist ein Seinscharakter, d.h. die Wahrheitsfrage gehört nicht in die Urteilslehre oder in die Lehre von der logischen Struktur von Aussagesätzen, sondern in die Ontologie.65

Wahrheit und Falschheit der Aussage – das heißt die Satzwahrheit – sind daher als abkünftige (d.h. als nicht-fundamentale) Phänomene möglich, weil das Dasein immer schon auf Welt hin orientiert ist und die Welt „ihrerseits aufgeschlossen ist.“66 Es gibt mithin kein isoliertes Subjekt, dessen Objektbeziehung – ganz zu schweigen von

63 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 6. 64 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 7. 65 Vgl. hierzu auch Heidegger, Sein und Zeit, § 44. 66 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 145.

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Frage nach der Existenz möglicher Objekte der Außenwelt67 – ein prinzipielles Problem darstellte. Vielmehr steht das Dasein in einem immer schon verstehenden Dialog mit der Wirklichkeit: Es gibt ein primäres Verstehen, dem Heidegger die hermeneutische „Als-Struktur“ zuschreibt. In jedem Offen-sein für den Gegenstand einer Erkenntnis ist dieser Gegenstand schon als etwas – in seiner Verständlichkeit und Bedeutung – da. Der Mensch ist also das hermeneutische, das verstehende Wesen: „Dieses Verstehen“, so Heidegger wenige Jahre zuvor, „das in der Auslegung erwächst, ist mit dem, was sonst Verstehen genannt wird als ein erkennendes Verhalten zu anderem Leben, ganz unvergleichlich; es ist überhaupt kein Sichverhalten zu ... (Intentionalität), sondern ein Wie des Daseins selbst; terminologisch sei es im vorhinein fixiert als das Wachsein desDaseins für sich selbst.“68 Die Welt ist dem Dasein in seinem Verstehen grundsätzlich eröffnet und verständlich. Dies ist eine Einsicht, die Heidegger in Sein und Zeit noch weiter entfalten sollte.69

Es kündigt sich in diesem ersten Hauptteil der Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit auch schon der nächste Schritt auf Heideggers Gedankengang an, nämlich die Einsicht in den zeitlichen Charakter des Daseins und damit die Temporalisierung der Ontologie und, eng damit verbunden, der Logik. Denn die Zeit zeigte sich bereits hier als eine „immanente Struktur des schlichten Erfassens, des als-mäßigen Verhaltens.“70 Hermeneutische Existenz ist zeitlicher Vollzug der Existenz: sein verbal verstanden.

Heidegger lässt im Fortgang seiner Vorlesung allerdings die Interpretation des Aristoteles hinter sich zurück, um sich in die Auseinandersetzung mit einem Denker zu wagen, in dem er – wie auch in Aristoteles – einen Geistesverwandten erblickt, dem – wenn auch noch nicht vollständig – bereits der Zusammenhang von Sein und Zeit bekannt gewesen sei: Kant, mit dem Heidegger die strukturmäßige Funktion der Zeit im Dasein, d.h. dass das „Ich denke“

67 Vgl. hierzu auch Heidegger, Sein und Zeit, S. 202-208. 68 Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, S. 15. 69 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, vor allem § 29-34. 70 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 147.

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nicht in der Zeit ist, sondern vielmehr die Zeit selbst ist, aufzeigt. Und Kant verdankt Heidegger so wesentliche Einsichten auf seinem Weg zu Sein und Zeit, dass Theodor Kisiel fragen konnte: „When was Heidegger not a Kantian?“, um die selbstverständlich Antwort zu geben: „It is almost like asking ‚When was Heidegger not a German?’, in his case, imbibing the very air (Geist) of the German university which he attended as a student of the ‚Southwest German School of Neo-Kantianism.’“71

6. Heideggers Rückgang auf Kant Mit Kant beschäftigt Heidegger sich so, wie er sich auch mit Aristoteles auseinandergesetzt hat, d.h. in einer solchen Weise, dass er mit Kant immer auch schon über Kant hinausgeht.72 Der ursprüngliche Aufriss der Vorlesung sah diese intensive Auseinandersetzung mit Kant nicht vor. Heidegger hatte vor, die Frage „Was ist Wahrheit?“ in radikalisierter Weise zu stellen, ohne dass die geplanten einzelnen Schritte der Durchführung dieser Radikalisierung einen ausdrücklichen Bezug zu Kant hätten haben sollen.73 Vermutlich hat er im Zusammenhang mit seiner erneuten Kant-Lektüre gesehen, inwiefern gerade Kant ihm helfen konnte, die Frage nach der Temporalität des Seins und der Wahrheit weiter zu verfolgen. Kant sei ja, so Heidegger in Sein und Zeit, der „Erste und Einzige, der sich eine Strecke untersuchenden Weges in die Richtung auf die Dimension der Temporalität bewegte“, gewesen.74 Wir können an dieser Stelle die Einzelheiten seiner Kant-Interpretation nicht diskutieren und werden uns auf die wesentlichen Momente der mit Kant durchgeführten Temporalisierung der Ontologie beschränken.

Heidegger geht in seiner Auseinandersetzung mit Kant von folgenden Thesen aus: „Sein bedeutet Anwesenheit. Wahrheit bedeutet Gegenwart. Anwesenheit und Gegenwart als Charaktere der

71 Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, S. 408f. 72 So auch Heideggers Anliegen in Sein und Zeit (vgl. hierzu Heidegger, Sein und Zeit, S. 23f.). 73 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 26. 74 Heidegger, Sein und Zeit, S. 23.

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Präsenz sind Modi der Zeit. Die Analyse des Satzes orientiert sich jetzt an der Zeit, mit anderen Worten, die Aufgabe wird sein, an den bisher besprochenen Phänomenen – Wahrheit, Falschheit, Synthesis, Aussage in den drei verschiedenen Bedeutungen – Charaktere der Zeit sichtbar zu machen.“75 Die Frage danach, was denn eigentlich Wahrheit sei und damit die Grundfrage der Logik kann also nur aus dem Bezug der Wahrheit zur Zeit heraus verstanden werden. Insofern die Zeit aber das Sein des Daseins ist (wie Heidegger in diesem zweiten Hauptteil der Vorlesung zeigt), kann die Frage nach der Wahrheit nur auf der Grundlage der Frage nach dem Sein des Daseins und seinem temporalen Charakter beantwortet werden. Es gilt also, die Frage nach der Zeit zu stellen – eine Frage, die Heidegger für sehr dunkel und höchst schwierig hält.76 Hierbei hilft Heidegger Kants Verständnis der Zeit, wie er es etwa in der Lehre vom Schematismus der Kritik der reinen Vernunft entfaltet hat.77

Im weiteren Verlauf der Vorlesung entwickelt Heidegger – mit und über Kant hinaus, der, so Heidegger, letztlich die Zeit von außen als ein „blindes Faktum“ an das Subjekt heranführe – sein Verständnis des Seins des Daseins als Sorge: „Das Dasein ist in seinem In-der-Welt-sein, in seinem Sein bei der Welt auf sein eigenstes Sein aus, als um welches es ihm geht.“78

Die Sorge als Sein des Daseins hat allerdings keinen statischen, sondern einen temporalen Charakter: „Sorge besagt: Dasein ist ihm selbst vorweg. Und Sorge, die als solche Besorgen ist, hat dann die Struktur: Sich-selbst-vorweg-sein in eins mit dem Schon-sein-bei der

75 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 199. 76 Vgl. hierzu etwa Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 200ff. 77 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 176-187. Vgl. für eine Kritik von Heideggers Interpretation des Schematismus-Kapitels der Kritik der reinen Vernunft Peter Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der “Kritik der reinen Vernunft”, Königshausen & Neumann, Würzburg 1997. 78 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 220. Vgl. hierzu auch Heidegger, Sein und Zeit, § 41. , wo es u.a. heißt: „Das Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht“ (191).

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Welt.“79 Dieses Verständnis des Daseins als Sorge erlaubt es Heidegger, das Sein des Daseins als die Zeit selbst zu interpretieren, d.h. nicht als etwas, das in der Zeit, sondern das als die Zeit selbst geschieht.80

Auf dieser Grundlage ist es Heidegger nun möglich, die Mängel der überlieferten Logik zu kritisieren und zu vermeiden und zugleich die Aufgaben einer neuen philosophierenden Logik zu skizzieren, die zeigt, wie die logische Frage nach der Wahrheit nur ontologisch und die ontologische Frage nach dem Sein nur daseinsanalytisch, d.h. von der Zeit her, beantwortet werden kann: „Die Aussagen als das Aussagen des Vorhandenen gründen im Gegenwärtigen. Die Logik ist die unvollkommenste aller philosophischen Disziplinen, und sie ist nur vorwärts zu bringen, wenn sie sich besinnt auf die Grundstrukturen ihrer thematischen Phänomene, auf die primären Seinsstrukturen des Logischen als eines Verhaltens des Daseins, auf die Zeitlichkeit des Daseins selbst. [...] Sollten aber in der Zeitlichkeit des Daseins radikalere zeitliche Möglichkeiten liegen, dann müssten diese der traditionellen Logik und Ontologie eine wesentliche Grenze setzen.“81

In seinem weiteren Denken sollte Heidegger diese radikaleren Möglichkeiten erforschen und damit der traditionellen Logik und Ontologie weitere wesentliche Grenzen setzen. Grundlegend blieb dabei über alle Akzentverschiebungen hinweg seine Einsicht in den Zusammenhang von Wahrheit, Sein und Zeit: „Wahrheit ‚gibt’ es nur, sofern und solange Dasein ist“, d.h. sich zeitigt.82

79 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 235. 80 Vgl. hierzu auch Kisiel, The Genesis of Heidegger’s „Being and Time“,vor allem S. 416-420. 81 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 415. 82 Heidegger, Sein und Zeit, S. 226.

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10. Das phänomenologische Leitmotiv in Heideggers Seinsfrage*

Herman Philipse, Utrecht, Niederlande

Heidegger hat in Mein Weg in die Phänomenologie (1963) darauf hingewiesen, dass seine eigene Frage nach dem Sein auf seine Lektüre von Brentanos Dissertation über die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles zurückgehe.1 Aus diesem Grund habe ich in Heidegger’s Philosophy of Being als erstes Leitmotiv in Heideggers Seinsfrage das meta-aristotelische Thema diskutiert.2 Indem ich dieses Leitmotiv erörterte, hoffte ich, aufzeigen zu können, warum Heidegger der Ansicht ist, dass die Frage nach dem Sein die fundamentalste Frage des Menschen ist (das Primat der Frage), worauf diese Frage hinausläuft (Inhalt und Struktur der Frage) und – schließlich – wie sie beantwortet werden kann (Lehre vom Sein).

Was den Primat der Seinsfrage betrifft, wurden wir durch das meta-aristotelische Leitmotiv enttäuscht. Aristoteles selbst rechtfertigt den Primat der Seinsfrage zugegebenermaßen auf der Grundlage seiner Philosophie der Wissenschaft. Die Schwierigkeit bestand aber darin, dass Heidegger Aristoteles’ Begründung für den Primat der Seinsfrage weder erwähnte noch kritisch evaluierte. Obwohl Heideggers Denken sich als von dem aristotelischen Verständnis wissenschaftlichen Wissens beeinflusst zeigte, hat Heidegger ausdrücklich nie den Primat der Seinsfrage auf dieser Grundlage erörtert. Daher wissen wir immer noch nicht, warum nach Heidegger die Seinsfrage die fundamentalste Frage des Menschen ist.

Heidegger entwickelte in Sein und Zeit eine Seinslehre, die von der aristotelischen sehr verschieden ist. Aber wir konnten eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den zwei Seinslehren entdecken. Sowohl bei

* Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine Übersetzung von Herman Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being. A Critical Interpretation,Princeton UP, Princeton 1998, S. 98-115. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Zaborowski. 1 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Max Niemeyer, Tübingen 1969, S. 81. 2 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 77-98.

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Heidegger als auch bei Aristoteles gibt es zwei Pole: einen Pol der Differenzierung und einen Pol der Einheit. Heidegger ändert sowohl den Pol der Differenzierung als auch den Pol der Einheit der Seinsfrage. Nach Aristoteles wird der Seinsbegriff innerhalb des Systems der Kategorien in verschiedenen Weisen verwendet (Pol der Differenzierung), während dieses System und seine Grundkategorie der Substanz universale Gültigkeit beanspruchen. Im Gegensatz dazu ist Heidegger der Ansicht, dass der überlieferte Substanzbegriff nur auf Artefakte und vorhandene Dinge angewandt werden könne, aber nicht auf das Dasein. Das Sein ist nach Heidegger – mit anderen Worten – nicht nur innerhalb eines Systems von Kategorien differenziert; wir müssen auch davon ausgehen, dass es verschiedene „Kategoriensysteme“ gibt. Im besonderen müssen wir ein eigenes Kategoriensystem entwickeln, um die Seinsweise des Daseins verstehen zu können, das System der sogenannten Existenzialien.

Heideggers Argument in Sein und Zeit ist, wie wir sehen werden, nicht einfach, dass Dasein andere Eigenschaften, Zustände, Dispositionen oder Modifikationen als etwa Artefakte wie zum Beispiel ein Tisch oder vorhandene Dinge wie etwa Steine haben kann. Wir können ohne weiteres zugeben, dass ein Mensch beispielsweise mutig sein kann und dass es sinnlos ist, von einem Stein zu sagen, er sei mutig oder nicht. Heideggers Argument zielt auf etwas Tieferes: dass nämlich für den Menschen das, was es ist, diese Eigenschaft zu haben, etwas anderes heißt, als es für den Stein bedeutet, eine Eigenschaft zu haben. Mutig zu sein ist eine Art und Weise, in der wir unser Dasein in die Zukunft hinein entwerfen.

Das Dasein kann nur deshalb mutig sein, weil es ihm immer schon um es selbst geht, weil es ihm um sein eigenes Sein geht und weil es sein eigenes Sein leben muss. Die Möglichkeit des Daseins, mutig zu sein oder es nicht zu sein, setzt die gesamte existenziale und temporale Struktur der Sorge und des Mitseins mit anderen in der Welt als die „Bedingung ihrer Möglichkeit“ voraus. Mutig zu sein ist eine Weise, unsere Existenz zu vollziehen. Heidegger argumentiert daher, logisch gesprochen, dass unsere Verwendung der Kopula „ist“ nicht von der jeweiligen Seinsregion unabhängig ist. Wenn wir sagen, Alexander sei

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mutig, drückt das Verb „ist“ ein existenziales Projekt und nicht einen Sachverhalt oder die Eigenschaft einer Substanz aus. Indem sie ein existenziales Projekt ausdrückt, zeigt die verbale Form „ist“ die spezifische ontologische Konstitution der Menschen oder des Daseins an.

Wir mögen uns angesichts dieser radikalen Differenzierung des Seins fragen, warum Heidegger in seiner Frage nach dem Sein überhaupt einen Pol der Einheit voraussetzt. Warum fordert Heidegger, dass es einen fundamentalen Sinn des Seins gebe? Warum anerkennt er nicht einfach, dass der Ausdruck „Sein“ verschiedene Bedeutungen hat? Es ist nicht schwierig, zu verstehen, warum Heidegger in Sein und Zeit Aristoteles’ Weise, den Sinn von Sein zu vereinheitlichen, zurückweist. Aristoteles führte alle Bedeutungen von „Sein“ auf das Sein der Substanz und letztlich auf das göttlichen Sein zurück, weil er wie Platon vorausgesetzt hat, dass nur das, was unveränderlich und ewig ist, wirklich ist. Aristoteles hat – in anderen Worten – implizit vorausgesetzt, dass das Verbum „sein“ die fundamentale Bedeutung von „immer anwesend sein“ hat.

Daraus folgt, dass Seiendes, das weder ewig noch unveränderlich ist, über eine abgeleitete und zweitrangige Seinsweise verfügt. Heidegger lehnt in Sein und Zeit die aristotelische Lehre von der Einheit des Seins aus zwei Gründen ab: (1) Aristoteles hat nicht ausdrücklich zwischen Seiendem wie etwa der Gottheit und dem Sinn von „Sein“ unterschieden; er hat nicht über die von ihm gemachte grundlegende Voraussetzung, dass „Sein“ letztlich „ewig anwesend sein“ bedeutet, nachgedacht; (2) diese implizite Bedeutung von „Sein“ trifft in keiner Weise die Seinsweise des Daseins, da das Dasein in der Seinsweise endlicher Zeitlichkeit ist.3 Indem es seine endlichen Möglichkeiten entwirft, ist das Dasein immer sich selbst vorweg und „ist zum Tode“. Deshalb müssen wir, um den Sinn des Daseins verstehen zu können, ausdrücklich die zeitliche Struktur unserer Existenz bedenken. Die endliche Zeitlichkeit ist der Horizont für das 3 Weil die traditionelle Ontologie sich nur auf gegenwärtige und vorhandene Dinge bezieht, spricht Heidegger von einer Ontologie der Vorhandenheit.

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Verständnis unseres eigenen Seins und daher gerade auch der Horizont unseres eigenen Seins selbst. Aber fragen wir noch einmal: Warum leitet Heidegger von seiner Ablehnung der aristotelischen Vereinheitlichung des Seins nicht ab, dass die Seinsfrage über gar keinen Einheitspol verfügt? Wie rechtfertigt er die erste Hauptthese von Sein und Zeit, dass die endliche Zeitlichkeit nicht nur der Horizont des Verständnisses des Seins als Dasein, sondern auch des Verständnisses von Sein tout court ist?4 Warum sollte es überhaupt ein einheitliches Sein geben? Das meta-aristotelische Thema von Heidegger liefert auf diese Frage keine Antwort.

Leider liefert es auch keine deutliche Lösung für die Interpretationsprobleme, auf die ich an anderer Stelle näher eingegangen bin:5 (1) Warum nimmt Heidegger beispielsweise an, dass die Frage nach dem Sein sowohl mit den Bedeutungen des Verbs „sein“ und mit dem Sinn bestimmter Phänomene zu tun hat?6 (2) Was bedeutet die Transzendenz des Seins?7 (3) Wie versteht Heidegger die Beziehung zwischen Sein und Seiendem und warum finden wir verschiedene Verhältnisbestimmungen in seinen Arbeiten?8 (4) Welches Verständnis der Sprache erlaubt es Heidegger, zu behaupten, dass wir nicht wirklich den Sinn des Verbums „sein“ verstehen, obwohl wir doch dieses Verb korrekt verwenden können und seine Verwendung anderen erklären können?9 (5) Warum greift Heidegger nicht Husserls Unterscheidung von formal-ontologischen und materialen Kategorien auf?10 (6) Und schließlich: Wie können wir das Problem des Primates des Daseins in Sein und Zeit verstehen?11

Im Folgenden möchte ich darlegen, inwiefern diese Probleme zumindest teilweise dadurch gelöst werden können, dass wir ein zweites Leitmotiv einführen, nämlich das phänomenologisch- 4 Vgl. Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 15-31. 5 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 31-44. 6 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 32f. 7 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 33-35. 8 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 35f. 9 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 36. 10 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 36-41. 11 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 41-44.

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hermeneutische Thema. Dieses Thema wird in drei Schritten erörtert werden. Wie Heidegger in seinen autobiographischen Notizen in Mein Weg in die Phänomenologie sagt, spielten Husserls Logische Untersuchungen eine entscheidende Rolle für seine Ausarbeitung der Seinsfrage. Indem ich erörtere, worin genau diese Rolle bestanden haben mag (1.), werden wir die Fragen (1) und (4) beantworten. Die Lösung dieser Fragen führt (2.) zur Frage (5), warum Heidegger nicht Husserls Unterscheidung von formalen und materialen Kategorien aufgegriffen hat. Da Heidegger sich nirgendwo in deutlicher Weise gegen diese Unterscheidung ausspricht, möchte ich eine in gewisser Weise spekulative Antwort auf diese Frage entwickeln, eine Antwort, die teilweise auch erklärt, warum Heidegger die „Autorität“ der formalen Logik nicht akzeptieren konnte.12 Schließlich haben wir zu untersuchen, warum Heidegger Husserls Phänomenologiebegriff im Paragraphen 7 von Sein und Zeit transformiert hat und warum nach Heidegger Phänomenologie „hermeneutisch“ sein müsse (3., hier nicht übersetzt). Dies wird zu einer Lösung der Fragen (2) und (3) führen.

1. Das Prinzip der Referenzialität Wie ich in Heidegger’s Philosophy of Being dargelegt habe,13 führt Heidegger die Seinsfrage in Sein und Zeit als eine Frage, die sowohl die Bedeutung bzw. die Bedeutungen des Verbs „sein“ als auch ein „das Sein“ genanntes Phänomen zum Gegenstand hat, ein. Sein ist, so argumentiert Heidegger im siebten Paragraphen von Sein und Zeit, das Phänomen par excellence.14 Diese zwei verschiedenen Formulierungen können nicht darauf zurückgehen, dass Heidegger sorglos formuliert hätte. Jeder wohlwollende Interpret von Sein und 12 Vgl. hierzu Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 9-15. 13 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 32f. 14 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Max Niemeyer, Tübingen 161985, S. 35: „Was ist es, was in einem ausgezeichneten Sinne ‘Phänomen’ genannt werden muß? [...] das Sein des Seienden. [...] Der phänomenologische Begriff von Phänomen meint als das Sichzeigende das Sein des Seienden, seinen Sinn, seine Modifikationen und Derivate.“ (Kursivsetzung durch Hei-degger)

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Zeit sollte annehmen, dass Heidegger bewusst so formuliert hat. Nur wenn wir Heideggers Text in dieser Weise ernst nehmen, können wir ein für die Interpretation wichtiges Problem formulieren: Wie sollen wir die Tatsache erklären, dass für Heidegger die Frage nach der Bedeutung bzw. den Bedeutungen des Verbs „sein“ mit der Frage nach dem Sinn eines Phänomens, nämlich des Phänomens des Seins, zusammenfällt? Ich möchte zeigen, dass diese Koinzidenz nicht zufällig ist. Sie geht, im Gegenteil, auf eine spezifische Theorie der Sprache zurück, auf die Heidegger nie ausdrücklich eingeht, die er aber von Husserl übernommen hat.15 Diese Theorie erklärt, warum Heidegger der Ansicht war, dass die Frage nach der Bedeutung oder den Bedeutungen von „Sein“ phänomenologisch beantwortet werden könne. Um meine Interpretation zu belegen, möchte ich zunächst zusammenfassen, was Heidegger über die Seinsfrage als die Frage nach der Bedeutung oder den Bedeutungen des Verbs „sein“ sagt. Ich betone, dass das, was er sagt, auf den ersten Blick überhaupt nicht plausibel ist. Im Anschluß daran werde ich Heideggers Äußerungen zu Husserls Einfluß auf sein Denken untersuchen. Wir werden sehen, dass sie uns auf die Theorie der Sprache, die Heidegger in seiner Frage nach dem Sein voraussetzt, verweisen.

In Sein und Zeit geht Heidegger davon aus, dass es in der Seinsfrage um alle Verwendungen des Verbums „sein“ und des Partizips „seiend“ geht. Er nennt Verwendungen wie etwa die als Hilfsverb, beispielsweise in „Der Himmel ist blau.“ und „Ich bin froh.“16, und listet verschiedene Verwendungsweisen von „Sein“ auf, die die überlieferte Philosophie unterschied, wie Existenz, Prädikation, Sein im Sinne von Wirklichkeit, präsent sein, kontinuierliche Existenz, gültig sein, Dasein und den Ausdruck „es gibt […]“. Er betont, dass wir „seiend“ alles nennen können, worüber wir sprechen, was wir im Blick haben und wozu wir uns irgendwie

15 Vgl. hierzu ausführlicher: Herman Philipse, Heidegger’s Question of Being and the ‘Augustinian Picture’ of Language; in: Philosophy and Phe-nomenological Research 52 (1992), S. 251-287. 16 Heidegger, Sein und Zeit, S. 4.

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verhalten.17 Heidegger geht ausdrücklich davon aus, dass es in der Frage nach den Bedeutungen von „Sein“ einen Pol der Differenzierung gibt. Wir verwenden, wie er sagt, „Sein“ in vielen verschiedenen Bedeutungen.

Wenn die Seinsfrage es wirklich mit den Bedeutungen des Verbs „sein“ und ihren verschiedenen flektierten Formen zu tun hat, dann mögen wir uns fragen, warum Heidegger sich nicht auf die Arbeiten von Linguisten und Logikern bezog, um diese Frage zu beantworten. Linguisten unterscheiden zwischen verschiedenen Verwendungen von „sein“, wie etwa der Verwendung von „sein“ als Hilfsverb oder Bindewort, die sich in der Struktur von Sätzen zeigt. Sie weisen darauf hin, dass das deutsche Verbum „sein“ nicht genauso verwendet werden kann wie das englische „to be“, das etwa zum Ausdruck einer kontinuierlichen Handlung („I am writing.“ – „Ich schreibe.“) oder zum Ausdruck eines Befehls oder eines Verbotes („You are not to smoke in this room.“ – „Sie dürfen in diesem Zimmer nicht rauchen.“) verwendet werden kann. Logiker beschäftigen sich auf der anderen Seite nicht mit der grammatischen Struktur von Sätzen oder mit den besonderen Merkmalen einer bestimmten Sprache. Sie differenzieren zwischen verschiedenen Verwendungsweisen von „sein“ auf der Grundlage der logischen Dimension von Sätzen. Zunächst unterscheiden sie zwischen logischen Verwendungsweisen von „sein“ und nicht-logischen Verwendungsweisen wie etwa in „human being“. Dann unterscheiden sie zwischen verschiedenen logischen Verwendungsweisen wie etwa Existenz („Im Schrank sind zehn Bücher.“), Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse („Louis ist glatzköpfig.“), Eingeschlossenheit einer Klasse in einer anderen Klasse („Der Hund ist ein Säugetier.“) und Identität („Der Morgenstern ist der Abendstern.“) und analysieren die Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Verwendungsweisen.

17 Heidegger, Sein und Zeit, S. 6f.: „Aber ‘seiend’ nennen wir vieles und in verschiedenem Sinne. Seiend ist alles, wovon wir reden, was wir meinen, wozu wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir selbst sind. Sein liegt im Daß- und Sosein, in Realität, Vorhandenheit, Bestand, Geltung, Dasein, im ‚es gibt.’“

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In Heideggers Werk finden wir weder ausführliche linguistische Analysen der Verwendungsweisen von „Sein“ noch interessante logische Entdeckungen, obwohl Heidegger das, was die überlieferte Logik zu diesen Fragen gesagt hat, studiert hat.18 Er dachte offensichtlich, dass weder Linguisten noch Logiker dazu qualifiziert seien, diese Frage zu beantworten, und dass der richtige Zugang zu dieser Frage ein phänomenologischer Zugang sei. Warum dachte er dies? Heidegger machte wenigstens drei wichtige Annahmen über die Seinsfrage, das heißt hier über die Seinsfrage als die Frage nach den Bedeutungen des Wortes „Sein“, und diese Annahmen erlauben es, die Gründe für Heideggers phänomenologische Behandlungsweise der Seinsfrage zu verstehen.

Heidegger nimmt erstens an, dass, wenn „Sein“ in vielen verschiedenen Weisen verwendet werde, es auch eine grundlegende Bedeutung von „Sein“ geben müsse. Er scheint sogar seine Frage nach dem Sein mit dem zu identifizieren, was ich den Pol der Einheit nenne. Erinnern wir uns etwa daran, wie Heidegger in Mein Weg in die Phänomenologie die Seinsfrage formulierte: „Wenn das Seiende in mannigfacher Bedeutung gesagt wird, welches ist dann die leitende Grundbedeutung? Was heißt Sein?“19 Linguisten und analytische Philosophen werden dagegen einwenden, dass es gar nicht notwendig ist, dass es eine fundamentale Bedeutung von „Sein“ gibt, von der die anderen Bedeutungen abgeleitet sind. Worte können einfach mehrdeutig sein, oder es mag eine Familie von aufeinander bezogenen Bedeutungen geben, von denen keine grundlegender ist als die anderen. Karl-Otto Apel, dessen Werk auch von Heidegger stark beeinflusst wurde, hat einmal die These vertreten, dass die logischen Verwendungsweisen von „Sein“, nämlich Existenz, Prädikation und Identität, eine gemeinsame Bedeutungswurzel haben, aber seine

18 Vgl. hierzu zum Beispiel Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am M. 31997, § 16. 19 Heidegger, Zur Sache des Denkens, S. 81. Vgl. auch: Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Vittorio Klostermann, Frankfurt am M. 1991, S. 217.

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Argumente unterliegen einem Trugschluss.20 Statt eine grundlegende Einheit, die die verschiedenen Bedeutungen von „Sein“ erklären könnte, zu postulieren, sollten wir eher untersuchen, wie das Wort wirklich verwendet wird. Dies ist aber in keiner Weise das Vorgehen Heideggers. Was, so mögen wir noch einmal fragen, rechtfertigt Heideggers Annahme, dass es eine grundlegende Bedeutung von „Sein“ gebe? Warum setzt er in seiner Frage nach dem Sinn von Sein einen Einheitspol voraus?

Heidegger nimmt zweitens an, dass wir nicht nur die Bedeutungen von „Sein“ analysieren sollen, um diese Bedeutungen zu erklären. Wir sollten auch – und vorrangig – die „Sachen selbst“ analysieren. So sagt er in Paragraph 20 von Sein und Zeit, in dem er das traditionelle Verständnis von Sein als Substanz diskutiert: „Hinter diesem geringfügigen Unterschied der Bedeutung verbirgt sich aber die Unbewältigung des grundsätzlichen Seinsproblems. Seine Bearbeitung verlangt, in der rechten Weise den Äquivokationen ‚nachzuspüren’; wer so etwas versucht, ‚beschäftigt sich’ nicht mit ‚bloßen Wortbedeutungen’, sondern muss sich in die ursprünglichste Problematik der ‚Sachen selbst’ vorwagen, um solche ‚Nuancen’ ins Reine zu bringen.“21 Warum sollten wir die „Sachen selbst“ untersuchen, um die Äquivokationen von Worten wie „Sein“ zu analysieren? Der Ausdruck „Sachen selbst“ ist eine implizite Anspielung auf Husserl, denn Husserl benutzte das Motto „Zu den Sachen selbst“ als das Motto der Phänomenologie: Wir sollen genau die Art und Weise beschreiben, in denen uns Dinge in mentalen Akten erscheinen, statt spekulative Theorien über die Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt zu formulieren. Warum aber erfordert eine

20 Siehe Herman Philipse, Heidegger’s Question of Being and the ‘Augus-tinian Picture’ of Language, S. 258 (dort auch weitere Nachweise). 21 Heidegger, Sein und Zeit, S. 94f.: „Hinter diesem geringfügigen Unterschied der Bedeutung verbirgt sich aber die Unbewältigung des grundsätzlichen Seinsproblems. Seine Bearbeitung verlangt, in der rechtenWeise den Äquivokationen ‘nachzuspüren’; wer so etwas versucht, ‘beschäftigt sich’ nicht mit ‘bloßen Wortbedeutungen’, sondern muß sich in die ursprünglichste Problematik der ‘Sachen selbst’ vorwagen, um solche ‘Nuancen’ ins Reine zu bringen.“ (Kursivsetzung durch Heidegger)

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Analyse der Bedeutungen von „Sein“ dann eine Phänomenologie der Sachen selbst? Und was sind diese „Sachen“?

Ich habe – drittens – Heideggers überraschende Äußerung im Paragraphen 1.3 von Sein und Zeit, dass in der Alltagssprache unsere Verwendungen des Wortes „Sein“ unproblematisch seien, bereits kommentiert.22 Der Ausdruck ist, wie Heidegger sagt, ohne weiteres verständlich. Wir können das Verb „sein“ verwenden und können auch, wenn wir einige Übung in Logik und Grammatik haben, anderen die verschiedenen Verwendungsweisen dieses Wortes erklären. Dies ist zweifellos, was es bedeutet, dass die Bedeutung dieses Ausdrucks uns verständlich ist. Warum soll man dann aber überhaupt noch die Frage nach den Bedeutungen von „Sein“ stellen? Heidegger antwortet apodiktisch: „Allein diese durchschnittliche Verständlichkeit demonstriert nur die Unverständlichkeit.“23 Offensichtlich nimmt er an, dass es eine Ebene des Verständnisses von „Sein“ gibt, die tiefer als die alltägliche linguistische Kompetenz anzusiedeln ist, so dass wir problemlos das Wort verwenden und seine Verwendungsweisen erklären können, ohne dass wir wirklich seine Bedeutung verstehen würden.

Nach meiner Interpretationshypothese gehen diese drei überraschenden Annahmen über die Frage nach der Bedeutung von „Sein“ vor allem auf den Einfluss Husserls auf Heidegger zurück. Worin bestand dieser Einfluss? Wie erklärt er Heideggers drei Annahmen?

Beginnen wir damit, Heideggers eigene Äußerungen darüber, wie Husserls Philosophie ihm half, die Seinsfrage zu entwickeln, zu untersuchen. In Mein Weg in die Phänomenologie äußert sich Heidegger sehr deutlich über den Einfluss Husserls.24 Er beschreibt die Geburt der Seinsfrage als die Frucht seiner Lektüre von sowohl Aristoteles, angeregt durch Brentanos Dissertation, als auch Husserl. Da Heidegger wusste, dass Husserls Denken entscheidend von Brentano beeinflusst worden war, lagen Husserls Logische 22 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 36. 23 Heidegger, Sein und Zeit, S. 4. 24 Heidegger, Zur Sache des Denkens, S. 81-87.

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Untersuchungen seit seinem ersten Semester an der theologischen Fakultät 1909/10 auf seinem Schreibtisch. Heidegger hoffte, von den Logische Untersuchungen einen wichtigen Anstoß für die Beantwortung der Frage, die sich ihm von Brentanos Dissertation her stellte, nämlich die Frage danach, was die Haupt- und Grundbedeutung von „Sein“ sei, wenn „Sein“ in verschiedenen Weisen genutzt werde, zu erhalten.

Heidegger, so scheint es, war so sehr von Husserls Buch beeindruckt, dass er es las und immer wieder las, ohne überhaupt den Grund für seine Faszination zu verstehen: „Der Zauber, der von dem Werk ausging, erstreckte sich bis auf das Äußere des Satzspiegels und des Titelblattes“, so erinnert er sich im Jahr 1963.25 Heideggers Weg zur Phänomenologie scheint in der Tat von den Logischen Untersuchungen gebahnt worden zu sein. Wie er in Mein Weg in die Phänomenologie sagt, studierte er die Logischen Untersuchungen wenigstens viermal, nämlich im Jahr 1909, in den Jahren 1911/12, nach 1913 und erneut 1919. Welcher Aspekt von Husserls Buch war für Heideggers Entwicklung der Seinsfrage entscheidend? Heidegger äußert sich zu dieser Frage sehr deutlich: „Als ich seit 1919 selbst lehrend-lernend in der Nähe Husserls das phänomenologische Sehen einübte und zugleich im Seminar ein gewandeltes Aristoteles-Verständnis erprobte, neigte sich mein Interesse aufs neue den Logischen Untersuchungen zu, vor allem der sechsten in der ersten Auflage. Der hier herausgearbeitete Unterschied zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung enthüllte sich mir in seiner Tragweite für die Bestimmung der ‚mannigfachen Bedeutung des Seienden’.“26

Was Heidegger hier sagt, wird durch viele andere Texte bestätigt. So erklärt Heidegger beispielsweise während des 1973 abgehaltenen Zähringer Seminars: „Um die Frage nach dem Sinn von Sein 25 Heidegger, Zur Sache des Denkens, S. 82. Mein Weg in die Phänomenologie war zuerst als eine Festschrift zum achtzigsten Geburtstag des Verlegers Hermann Niemeyer veröffentlicht worden (16. April 1963). Dies mag auch erklären, warum Heideggers die Typographie und die Titelseite der von Niemeyer veröffentlichten Logischen Untersuchungenerwähnt.

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überhaupt entfalten zu können, musste das Sein gegeben sein, um bei ihm seinen Sinn zu erfragen.“27 Husserls Leistung bestand, so Heidegger, darin, zu zeigen, dass das Sein, als eine Kategorie, phänomenal anwesend sei. Aufgrund dieser Entdeckung hatte Heidegger „endlich einen Boden“: „’Sein’ ist kein bloßer Begriff, ist keine reine Abstraktion.“28 In seiner wichtigen Vorlesung des Jahres 1925 über die Geschichte des Begriffes der Zeit, die eine frühe Version von Sein und Zeit enthält und der eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit Husserls Phänomenologie vorangeht, betont Heidegger auch die entscheidende Bedeutung der Entdeckung der kategorialen Anschauung in Husserls sechster Untersuchung: „Mit der Entdeckung der kategorialen Anschauung ist zum ersten Mal der konkrete Weg einer ausweisenden und echten Kategorienforschung gewonnen.“29 Wir können daraus schließen, dass es Husserls Lehre von der kategorialen Anschauung war, wie er sie in der sechsten logischen Untersuchung entwickelt hatte, die einen Durchbruch für Heideggers Entwicklung der Seinsfrage darstellte. Diese Lehre bietet, wie Heidegger sagt, die „konkrete Methode“ für eine Untersuchung der Kategorien. Wir wissen, dass Heideggers Methode für die Beantwortung der Seinsfrage phänomenologisch war. Was aber ist Husserls Lehre der kategorialen Anschauung? Warum impliziert sie, dass das Seinsproblem durch die phänomenologische Methode gelöst werden müsse? Husserls Lehre von der kategorialen Anschauung ist eine Folge seiner Bedeutungstheorie, die er in der ersten der logischen Untersuchungen dargelegt hat. Husserl hätte nie die Lehre der kategorialen Anschauung entwickelt, wenn er nicht ein ziemlich traditionelles Prinzip in seiner Bedeutungstheorie vertreten hätte, das 26 Heidegger, Zur Sache des Denkens, S. 86. 27 Martin Heidegger, Seminare, GA 15, hg. von Curd Ochwadt, Vittorio Klostermann, Frankfurt am M. 1986, S. 378. Vgl. auch Philipse, Heidegger’s Question of Being and the ‘Augustinian Picture’ of Language, S. 267. 28 Martin Heidegger, Seminare, GA 15, S. 378. 29 Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, hg. von Petra Jäger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am M. 31994, S. 97f. Vgl. auch Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 109.

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ich das Prinzip der Referenzialität nennen möchte.30 Nach Husserls erster logischer Untersuchung haben linguistische Zeichen zwei Aspekte: ihren physischen Aspekt (Ton, Tintenzeichen) und ihre Bedeutung. Die Hauptaufgabe der philosophischen Bedeutungstheorie besteht darin, aufzuzeigen, worin die Bedeutung eines Ausdrucks besteht. Auf der dualistischen Grundlage der Cartesianischen Tradition entwickelt Husserl das Argument, dass die Bedeutung eines Zeichens nicht eine physische, sondern eine psychische Eigenschaft sei und als etwas Geistiges betrachtet werden müsse. Die Bedeutung eines Ausdrucks in seiner konkreten Verwendung liegt in einem besonderen geistigen Akt oder bewußten intentionalen Erlebnis bzw. in einem Aspekt eines solchen Aktes, einer Bedeutungsintention, und der Ausdruck drückt genau diese Intention aus. Husserl entwickelt aber diese traditionelle Sicht in zwei Weisen. Zum einen unterscheidet er genau zwischen der Bedeutung als Ergebnis eines individuellen psychischen Aktes und der Bedeutung als eines „allgemeinen Gegenstandes“. Während die Bedeutung als etwas Individuelles ein Bestandteil oder Aspekt eines geistigen Aktes darstellt, der in der Zeit existiert, ist die Bedeutung als allgemeiner Gegenstand eine „ideale Spezies“ eines solchen Bestandteils oder eines solchen Aspektes, welche in einem zeitlosen Bereich an sich existiert. Husserl ist der Ansicht, dass die formale Logik es mit Bedeutungen und Aussagen in diesem zeitlosen Sinne zu tun hat. Diese Annahme ermöglicht es ihm, den Psychologismus in der Logik zu vermeiden.31 Husserl bestimmt auf der anderen Seite besser als zum Beispiel die britischen Empiristen, 30 In meinem Aufsatz „Heidegger’s Question of Being and the ‘Augustinian Picture’ of Language“ habe ich dies ein augustinisches Sprachverständnis genannt. 31 Für weitere Erläuterungen siehe Herman Philipse, „Husserl and the Ori-gins of Analytical Philosophy“; in: The European Journal of Philosophy 2(1994), S. 165-184. Husserl lehnt einen Aspekt des Platonismus ab, nämlich die These, dass die Formen Paradigmata seien (vgl. § 32 der ersten logischen Untersuchung). Aber wie Platon hält er daran fest, dass die Formen oder „idealen Spezies“, wie er sie in den Jahren 1900 und 1901 nennt, unabhängig

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aus welcher Art von geistigen Akten Bedeutung besteht. Er unterscheidet zwischen „signitiven“ und „intuitiven“ geistigen Akten und vertritt die These, dass bedeutungsverleihende Akte nicht intuitiv sind (wie zum Beispiel Phantasievorstellungen), sondern signitiv. Diese Akte sind wesentlich geistige Akte der Zeicheninterpretation und können ohne einen „bedeutungsmäßigen Inhalt“ nicht existieren. John Searles Theorien der Bedeutung und der Intentionalität können gewissermaßen als Enkeltheorien von Husserls Theorien betrachtet werden.

Zwei Aspekte von Husserls Bedeutungstheorie sind für die Theorie der kategorialen Anschauung besonders wichtig. Weil Husserl den Begriff eines geistigen Aktes durch den Begriff der Intentionalität oder Objekt-Bezogenheit definiert, nimmt er an, dass bedeutungsverleihende Akte die Zeichen nicht nur mit Bedeutung, sondern auch mit Referenzen versehen. So sagt er in Paragraph 15.2 der ersten Untersuchung: „In der Bedeutung constituiert sich die Beziehung auf den Gegenstand. Also einen Ausdruck mit Sinn gebrauchen und sich ausdrückend auf den Gegenstand beziehen (den Gegenstand vorstellen) ist einerlei. Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob der Gegenstand existiert.“32 Da Husserl sagt, dass jeder bedeutungsvolle Teil einer Rede (Morphem) als ein Ausdruck zählt, folgt, dass alle Morpheme referenziell sind: Wir können sie nicht nutzen, ohne uns auf irgend etwas zu beziehen.33 Dieses Prinzip, dem gemäß es keine Bedeutung ohne Referenz gibt, nenne ich das Prinzip der Referenzialität.34

und getrennt von ihrer Verwirklichung existieren. Siehe hierzu die erste (§ 30-35) und die zweite logische Untersuchung. 32 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen II/1, Max Niemeyer, Tübingen 51980, S. 54. 33 Siehe den Paragraphen 5 der ersten logischen Untersuchung. 34 Husserls Prinzip ist ein gut durchdachtes Prinzip der Referenzialität, da er Bedeutung nicht mit Referenz identifiziert. Die These, dass Heidegger Husserls Prinzip der Referenzialität aufgriff, wird durch viele Texte belegt, so zum Beispiel: Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, hg. von Petra Jaeger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am M. 1983, S. 93f.: „Mag also das Wort ‘Sein’ eine unbestimmte oder auch eine bestimmte Bedeutung [...] haben, es gilt, über das Bedeutungsmäßige hinaus zur Sache

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Das Prinzip der Referenzialität ist eng auf einen zweiten Aspekt von Husserls Bedeutungstheorie, den ich besonders betonen möchte, bezogen. Wenn alle Bedeutung referenziell ist, scheint es natürlich zu sein, anzunehmen, dass auf Wahrnehmung basierende Vertrautheit mit dem Referenten eines Ausdrucks uns die Bedeutung dieses Ausdrucks klar macht. Husserl vertritt in der Tat ein solches Prinzip der Vertrautheit. Er ist der Meinung, dass Bedeutungs-Intentionen durch anschauende geistige Akte wie etwa Wahrnehmung, Reflexion oder Akte der Imagination „erfüllt“ werden können und dass der Prozess der Erfüllung die entsprechende Bedeutung aufhellen werde. Er nennt diesen Prozess in einer etwas missverständlichen Weise die Analyse der Ursprünge der Bedeutung.35 Wir werden sofort sehen, warum Husserls Prinzipien der Referenzialität und der Vertrautheit ihn gewissermaßen dazu gezwungen haben, die Lehre der kategorialen Anschauung zu erfinden.

In den Logischen Untersuchungen wollte Husserl nicht nur eine kohärente nicht-psychologistische Philosophie der Logik entwickeln. Er wollte auch die Grundbegriffe der Logik untersuchen. Für ihn war die Logik ein axiomatisch-deduktives System, das aus logischen

zu kommen. Aber ist ‘Sein’ eine Sache wie Uhren, Häuser und überhaupt irgendein Seiendes? Wir sind schon oft darauf gestoßen, wir haben uns genug daran gestoßen, daß das Sein nichts Seiendes ist und kein seiendes Bestandstück des Seienden. [...] Dem Wort und der Bedeutung ‘Sein’ entspricht mithin keine Sache. Aber daraus können wir nicht folgern, daß das Sein nur im Wort und seiner Bedeutung bestehe [...] Vielmehr meinen wir im Wort ‚Sein’, in dessen Bedeutung, durch sie hindurch, das Sein selbst, nur dass es keine Sache ist, wenn wir unter Sache ein irgendwie Seiendes verstehen.“ Vgl. auch: Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, hg. von Petra Jaeger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am M. 1997, S. 183: „Das Wörtchen ‚ist’ nennt, jeweils vom Seienden gesagt, das Sein des Seienden.“ (Kursivsetzung durch Heidegger) 35 Missverständlich ist diese Bezeichnung, weil Husserls Prinzip der Vertrautheit keine Erklärung für einen eigentlichen Ursprung der Bedeutung in der Wahrnehmung sein soll und nicht in den Bereich der genetischen oder erklärenden, sondern der beschreibenden Psychologie gehört. Vgl. für Husserls Prinzip der Vertrautheit die erste logische Untersuchung (§ 15.4; Husserl, Logische Untersuchungen II/1, S. 56) und die Prolegomena (§ 67, Husserl, Logische Untersuchungen I, S. 244f.).

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Wahrheiten besteht.36 Während die Wahrheiten der Theoreme durch Deduktionen von den Axiomen bewiesen werden können – eine Aufgabe, die Husserl den Mathematikern überlies –, sollte die analytische Wahrheit der Axiome dadurch bewiesen werden, dass man die entsprechenden Begriffe untersuchte. Dies sei, so Husserl, die Aufgabe des Philosophen der Logik.37 In der Einleitung des zweiten Bandes der Logischen Untersuchungen spricht Husserl von der „großen Aufgabe, die logischen Ideen, die Begriffe und Gesetze, zu erkenntnistheoretischer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen. Und hier setzt die phänomenologische Analyse ein.“38 Logische Begriffe können in zwei Klassen eingeteilt werden: Begriffe der zweiten Ordnung (Begriffe von Begriffen) wie etwa „Aussage“, „Begriff“, „Bedeutung“, „Wissen“ und „Wahrheit“ auf der einen Seite und Begriffe von logischen Konstanten oder logischen Formen wie etwa Konjunktion, Disjunktion und Implikation auf der anderen.39

Husserls sechste logische Untersuchung betrifft vor allem die Begriffe von Wissen und Wahrheit und die logischen Konstanten. In ihrem ersten Abschnitt analysiert Husserl Wissen als die Erfüllung von bedeutungsverleihenden Akten (Bedeutungs-Intentionen) durch anschauende Akte. Wenn wir das wahrnehmen, von dem wir zunächst nur dachten, dass es der Fall sei, ist unser Denken durch die Wahrnehmnung verifiziert. Die Evidenz besteht aus dem Bewusstseinserlebnis einer solchen Verifizierung, das bedeutet aus der Tatsache, dass wir ausdrücklich das, was wir wahrnehmen, als das, was wir zunächst nur meinten, identifizieren. Husserl lehnt die empiristische Theorie, wonach Evidenz ein Gefühl des Überzeugtseins sei, ab, da diese Auffassung zum Skeptizismus führe. Der Begriff der Wahrheit ist zunächst einmal definiert als die Identität zwischen dem, was wir meinen, und dem, was tatsächlich in der Wahrnehmung gegeben ist. Wahrheit wird im Akt der Verifikation erfahren. In einem abgeleiteten Sinne kann man das wahrgenommene Objekt in dem

36 Husserl, Logische Untersuchungen I, § 63 und 66, vgl. auch § 43. 37 Husserl, Logische Untersuchungen I, § 71. 38 Husserl, Logische Untersuchungen II, Einleitung, § 2, S. 7. 39 Husserl, Logische Untersuchungen I, Prolegomena, § 67, S. 243f.

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Maße „wahr“ nennen, als es ein Urteil bestätigt, und das Urteil kann „wahr“ genannt werden, wenn es verifiziert werden kann.40

Wahrnehmungen können mehr oder weniger adäquat sein, und Husserl unterscheidet zwischen vielen Graden von Evidenz, die auf ein Ideal von absoluter Adäquatheit verweisen, in dem der Wahrnehmungsakt gewissermaßen vollständig das wahrgenommene Objekt umfasst.

Weil Husserl davon ausgeht, dass „seiend“ und „Sein“ logische Konstanten oder Bedeutungsformen sind, müssen wir uns nun dem zweiten Abschnitt der sechsten Untersuchung zuwenden, in dem es um die logische Form geht, um zu sehen, wie nach Husserl diese Formen erklärt und „erfüllt“ werden können. Husserls Prinzip der Referenzialität schließt das ein, was ich an anderer Stelle eine atomisierte Korrespondenztheorie der Wahrheit genannt habe.41 Da jeder bedeutungsvolle Teil der Sprache angeblich seine Bedeutung einem intentionalen geistigen Akt, der sich auf etwas bezieht, schuldet, muss der komplexe Referent einer wahren Aussage einen besonderen Teilreferenten oder objektiven Gegenpart für jeden bedeutungsvollen Ausdruck enthalten. Husserl vertritt darüber hinaus noch die traditionelle Unterscheidung zwischen komplexen Ausdrücken, die verbal definiert werden können, und einfachen Ausdrücken, die nicht verbal definiert werden können. Er nimmt wie die britischen Empiristen an, dass alle einfachen bedeutungsvollen Ausdrücke auf der Grundlage von Wahrnehmung, Reflexion oder irgendeiner anderen Art von Anschauung erklärt werden müssen. Dies ist genau das, was das Prinzip der Vertrautheit besagt. Wenn wir das Prinzip der Referenzialität mit dem Prinzip der Vertrautheit kombinieren, kommen wir zu dem Schluss, dass nach Husserl jeder einfache bedeutungsvolle Ausdruck einen möglichen Referenten

40 Vgl. Paragraph 39 der sechsten logischen Untersuchung für diese und andere Unterscheidungen. Für Husserls Wahrheitsbegriff und seinen Einfluss auf Heideggers Wahrheitsverständnis vgl. auch: Ernst Tugendhat, DerWahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Walter de Gruyter, Berlin 1967. 41 Vgl. Philipse, „Heidegger’s Question of Being and the ‘Augustinian Pic-ture’ of Language“, S. 275.

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haben muss, von dem er wahr ist, und dass wir den Referenten wahrnehmen oder anders anschauend erleben müssen, um die Bedeutung eines Ausdrucks klar und deutlich zu machen.

Diese Annahmen erklären die Art und Weise, in der Husserl das Problem der logischen Form im sechsten Kapitel der sechsten logischen Untersuchung erörtert. Wir stimmen darin überein, so sagt er, dass wir die Aussage, dieses Papier sei weiß, dadurch verifizieren können, dass wir auf das Papier schauen. Was aber müssen wir wahrnehmen, um diese Aussage zu verifizieren? Wir nehmen sicherlich mit unseren Augen das Papier und seine weiße Oberfläche wahr. Aber Husserls atomisierte Theorie der Wahrheit macht es erforderlich, dass es auch objektive Gegenstücke zu den Ausdrücken „dies“ und „ist“ gibt. Sein Problem besteht natürlich darin, dass es keine solchen Dinge gibt, die mögliche Objekte von Sinneswahrnehmung oder von einer Reflexion auf Bewusstseinsphänomene wären. Husserl schließt daraus nicht, wie etwa Wittgenstein im Tractatus,dass das Prinzip der Referenzialität im Hinblick auf die logische Konstanten abgelehnt werden müsse.42 Er geht im Gegenteil davon aus, dass das einfache Modell eines Namens und seines Trägers für Sprache im allgemeinen gelte und dass dieses Modell der Leitgedanke dafür, das Problem der logischen Form zu lösen, sein müsse.43 Wenn es, so betont Husserl, weder einen materialen noch einen geistigen Referenten für den Ausdruck „ist“ gibt, so muss es einen nicht-

42 Für einen Vergleich zwischen Husserl, Heidegger und Wittgenstein vgl. Philipse, „Heidegger’s Question of Being and the ‘Augustinian Picture’ of Language“. 43 Husserl, Logische Untersuchungen II/2, S. 130: „Das Prototyp für die Interpretation des Verhältnisses zwischen Bedeuten und Anschauen wäre also das Verhältnis der Eigenbedeutung zu den entsprechenden Wahrnehmungen. Wer Köln selbst kennt und demgemäß die wahre Eigenbedeutung des Wortes Köln hat, besitzt in dem jeweiligen aktuellen Bedeutungserlebnis ein der künftig bestätigenden Wahrnehmung genau Entsprechendes.“ Im ersten Abschnitt von § 42 der sechsten logischen Untersuchung nennt Husserl dieses „Prototyp“ der Beziehung zwischen Bedeutung und Anschauen „einen leitenden Gedanken für ihre [scil., der Schwierigkeiten] mögliche Überwindung“.

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materialen und einen nicht-geistigen Referenten geben. Und wenn wir diesen Referenten nicht durch Sinneswahrnehmung oder Reflexion wahrnehmen können, muss es eine dritte Art der Wahrnehmung geben, die es uns möglich macht, das „ist“ selbst wahrzunehmen. Husserl nennt diese dritte Art der Wahrnehmung kategoriale Wahrnehmung und die wahrgenommenen Formen kategoriale Objekte. Das Kategoriale ist das Formale und gehört nicht zur Realität als das, was ein mögliches Objekt der sinnlichen Wahrnehmung oder der Reflexion ist. Abgesehen von wirklichen Elementen wie etwa dem Papier und seiner Weißheit enthält der Sachverhalt, dass dieses Papier weiß ist, auch unreale, formale oder kategoriale Elemente wie etwa das ist, das durch die kategoriale Wahrnehmung wahrgenommen werden kann. Wenn wir mit diesem ist durch kategoriale Wahrnehmung vertraut sind, können wir die Bedeutung des Wortes „ist“ aufklären. Dies gehört zu dem, was die Philosophie der Logik unternehmen sollte. Ohne dass wir die Feinheiten von Husserls Theorie der kategorialen Anschauung näher untersuchen, können wir nun sehen, warum Heidegger denken konnte, dass diese Theorie von zentraler Bedeutung für die Seinsfrage war. Husserls Theorie der kategorialen Anschauung erklärt in der Tat zu einem großen Grad die drei Annahmen, die Heidegger in seiner Behandlung der Seinsfrage macht und die ich oben diskutiert habe. Sie erklärt gänzlich die zweite Annahme, dass wir nicht nur die Verwendung von Worten untersuchen müssen, sondern auch ein Phänomen, hier das Phänomen des Seins, um die Bedeutungen des Wortes „Sein“ aufzuhellen. Dieses löst das Interpretationsproblem, das ich in Paragraph 4.1. von Heidegger’s Philosophy of Being erörtert habe.44

Die Theorie der kategorialen Anschauung erklärt teilweise Heideggers dritte Annahme, dass wir nicht wirklich die Bedeutungen von „Sein“ kennen, obwohl wir das Verb korrekt verwenden können. Denn wenn wir voraussetzen, dass die wirkliche Kenntnis der Bedeutung eines Wortes darauf angewiesen ist, dass wir mit seinem

44 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 32f.

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Referenten vertraut sind und ihn als solchen identifizieren, dann können wir vielleicht ein Wort korrekt verwenden, ohne wirklich seine Bedeutung zu kennen, d.h. ohne wirklich mit seinem Referenten vertraut zu sein. In den meisten Fällen schiene Husserl dies unwahrscheinlich – so unwahrscheinlich es ist, dass wir das Wort „rot“ immer korrekt verwenden, ohne dazu fähig zu sein, ein rotes Objekt als rot zu identifizieren. Aber Heidegger ergänzte Husserls Prinzip der Vertrautheit um eine Theorie der Tradition, die er, wie ich vorschlagen möchte, von einer Offenbarungstheologie ableitete.45

Wie in Paragraph 6 von Sein und Zeit deutlich wird, dachte Heidegger, dass die Vertrautheit mit Referenten wichtiger philosophischer Termini wie etwa „Sein“ auf ein lange vergessenes Ereignis in einer fernen Vergangenheit zurückgeht. Weil wir diese Termini weiter verwenden, ohne unsere Vertrautheit mit ihren Referenten zu erneuern, zeigt unser „durchschnittliches Verstehen“ dieser Termini nur, dass sie nicht wirklich verstanden werden. In unserem alltäglichen Gebrauch des Wortes „Sein“ wissen wir angeblicherweise wirklich nicht, worüber wir reden, da wir nicht mit dem Phänomen des Seins vertraut sind. Schließlich ist Husserls Theorie der kategorialen Anschauung auch eine mögliche, wenn auch nicht ausreichende Bedingung dafür, Heideggers Postulat, dass es eine grundlegende Bedeutung von „Sein“ geben müsse, zu verstehen. Denn es könnte sein, dass das Verb „sein“ in all seinen verschiedenen Verwendungsweisen auf ein einheitliches Phänomen des Seins zurückverweist. Es gibt allerdings nichts in Husserls Gedankengang, das diese Annahme einer Einheit rechtfertigen würde, so dass wir immer noch weit davon entfernt sind, den Einheitspol in Heideggers Seinsfrage zu verstehen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Husserls Theorie der kategorialen Anschauung gänzlich erklärt, warum Heidegger der Ansicht war, dass die Seinsfrage, interpretiert als die Frage nach den Bedeutungen des Wortes „Sein“, durch die phänomenologische Methode beantwortet werden solle und nicht durch eine bloße

45 Vgl. hierzu Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, § 11, S. 172-210.

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linguistische oder logische Analyse. Die Bedeutungen von „Sein“ müssen durch eine Analyse des Phänomens oder der Phänomene des Seins untersucht werden. Aber der Husserlsche Hintergrund lässt viele Aspekte von Heideggers Seinsfrage ungeklärt, vor allem ihren Einheitspol. Er erklärt auch nicht Heideggers Obsession mit dem Verb „sein“. Denn nach Husserl ist „sein“ nur eine von vielen logischen Formen. Von einem logischen Standpunkt aus gibt es keinen Grund dafür, dass wir uns nur auf „Sein“ konzentrieren sollten und nicht auch die Frage nach der Bedeutung von „oder“, „und“, „alle“, „einige“, „nicht“, „wenn … dann“ und so weiter stellen sollten. Obwohl Heidegger eine Deutung der Negation entwickelte, die ich in Paragraph 2 von Heidegger’s Philosophy of Being diskutiert habe,46

hat er die anderen logischen Konstanten wie etwa „oder“, „wenn … dann“ und „und“ gänzlich vernachlässigt.

Meine Interpretation bringt vielmehr noch eine Reihe neuer Fragen mit sich. Zunächst einmal könnten wir die kritische Frage stellen, ob Husserls Theorie der kategorialen Wahrnehmung nicht eine philosophische Täuschung darstellt, die durch sein falsch verstandenes Prinzip der Referenzialität motiviert wird, wie ich in Heidegger’s Philosophy of Being dargelegt habe.47 Solch eine Kritik hat, wenn sie gültig ist, verheerende Auswirkungen für Heideggers Vorstellung, dass die Seinsfrage sowohl mit dem Verb „sein“, wie wir es in der Alltagssprache verwenden, als auch mit besonderen Phänomenen zu tun hat – wenigstens in dem Ausmaße, in dem diese Vorstellung auf von Husserl übernommenen Voraussetzungen basiert. Meine Deutung bringt auch zwei neue Interpretationsprobleme mit sich: (1) Husserl dachte, dass das kategoriale Phänomen des kopulativen Seins ein Aspekt oder abhängiger Teil des Sachverhalts, dass a F ist, sei. Heidegger aber scheint zu denken, dass wir das Phänomen des Seins in allem Seienden entdecken können und nicht nur in Sachverhalten – so etwa beispielsweise auch im Dasein. Was erklärt diese

46 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 9-15. 47 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 331-346.

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außerordentliche Generalisierung von Husserls Begriff des Kategorialen?

(2) Husserl unterscheidet des Weiteren in der sechsten Untersuchung sehr genau zwischen dem Formalen oder dem Kategorialen auf der einen Seite und dem sinnlichen Stoff auf der anderen. Ein und derselbe Stoff, der zu psychischer oder physischer Realität gehört, kann auf viele verschiedene Weisen kategorial geformt sein. „Dieses Papier ist weiß.“ und „dieses weiße Papier“ sind zum Beispiel zwei unterschiedliche kategoriale Formungen von ein und demselben Stoff.48 Obwohl Husserl seine Terminologie im ersten Buch der Ideen von 1913 ändert, in dem er den Term „Kategorie“ auch für die höchsten Begriffe der materialen oder stofflichen Regionen nutzt, hält er an der genauen Unterscheidung zwischen formal und material (oder stofflich) fest. Materiale Kategorien wie etwa „räumliche Form“ oder „sinnliche Qualität“ gehören zu materialen oder regionalen Ontologien, während formale Kategorien wie etwa „etwas“ oder „seiend“ zur formalen Ontologie gehören.49

Wir finden diese wichtige Unterscheidung zwischen dem Formalen und dem Materialen nicht in Sein und Zeit. Stattdessen gibt es eine andere Unterscheidung, nämlich die Unterscheidung zwischen den Phänomenen im „vulgären“ Sinne, das heißt nach Heidegger zwischen den empirischen Phänomenen, und dem „phänomenologischen“ Phänomen des Seins.50 Dieses Phänomen des Seins kann nicht Husserls formale Kategorie des Seins sein, weil diese Kategorie in allen ontologischen Regionen dieselbe ist, während Heidegger der Ansicht ist, dass „Sein“ verschiedene Bedeutungen in verschiedenen ontologischen Regionen hat. Es ist offensichtlich, dass Heidegger Husserls Unterscheidung zwischen dem Formalen und dem Materialen, zwischen formalen und materialen Ontologien, ablehnt, wie ich in Heidegger’s Philosophy of Being dargelegt habe.51 Warum

48 Husserl, Logische Untersuchungen II/2, S. 182-191 (6. logische Untersuchung, §§ 60-62). 49 Husserl, Ideen I, Max Niemyer, Tübingen 41980, §§ 10 und 13. 50 Heidegger, Sein und Zeit, § 7, S. 31, 35. 51 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, 36-41.

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tut er das? Im nächsten Abschnitt möchte ich versuchen, diese zwei interpretativen Fragen zu beantworten.

2. Formale Ontologie und formale Anzeige Beginnen wir mit dem ersten Problem – warum Heidegger dachte, dass das Phänomen des Seins allen Dingen inhärent sei. Dies ist auf den ersten Blick ein radikaler Bruch mit Husserls Verständnis des Kategorialen. Husserl unterschied in den Paragraphen 60-62 der sechsten logischen Untersuchung scharf zwischen dem Kategorialen oder dem Formalen und dem Stofflichen oder dem Sinnlichen. Sinnliche Begriffe wie etwa „Farbe“, „Haus“, „Urteil“ oder „Wunsch“ sind von Sinneseindrücken oder Reflexion abgeleitet, während kategoriale Begriffe wie „Einheit“, „Pluralität“, „Relation“ und „Konjunktion“ von der kategorialen Anschauung abgeleitet sind. Husserls empiristisches Prinzip der Vertrautheit setzt implizit voraus, dass Unterschiede im Ursprung Unterschieden in Begriffen oder Bedeutungen entsprechen müssen. Er anerkennt auch gemischte Begriffe, die sowohl einen sinnlichen als auch einen kategorialen Ursprung haben, wie etwa „farbig sein“, aber er lehnt die These, dass alle Begriffe gemischt seien, ab. Er betont beispielsweise, dass das kopulative Sein nur ein Aspekt eines Sachverhaltes sei.52 Heideggers These, dass Sein als ein kategoriales Phänomen in allen Entitäten präsent sei, steht im Widerspruch zu Husserls Theorie. Wir mögen uns fragen, worin die Rechtfertigung für Heideggers Bruch mit den Husserlschen Ansichten liegt.53

52 Husserl, Logische Untersuchungen II/2, S. 141 (6. logische Untersuchung, §§ 44): „Gilt uns Sein als prädikatives Sein, so muß uns also irgendein Sachverhalt gegeben werden […].“ 53 Heidegger, Sein und Zeit, § 2, S. 6f.: „Sofern das Sein das Gefragte [scil., der Seinsfrage] ausmacht, und Sein besagt Sein von Seiendem, ergibt sich als das Befragte der Seinsfrage das Seiende selbst. Dieses wird gleichsam auf sein Sein hin abgefragt. [...] Aber ‘seiend’ nennen wir vieles und in verschiedenem Sinne. Seiend ist alles, wovon wir reden, was wir meinen, wozu wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir selbst sind.“ Und etwa § 7c, S. 37: „Weil Phänomen im phänomenologischen Verstande immer nur das ist, was Sein ausmacht, Sein aber je Sein von

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Wenn wir aber den Text von Husserls Logischen Untersuchungennäher untersuchen, werden wir feststellen, dass Heideggers These über die Omnipräsenz von Sein in einem etwas isolierten Abschnitt des 40. Paragraphen der sechsten logischen Untersuchung impliziert ist. Husserl definiert, wie wir gesehen haben, das Kategoriale als das Formale und stellt es dem Stoff im Sinne von jedem einzelnen möglichen Objekt der Sinneswahrnehmung oder Reflexion gegenüber. Husserl identifiziert dementsprechend die Elemente der Sprache, die sich nicht auf mögliche Objekte der Sinneswahrnehmung oder der Reflexion beziehen, um den Bereich des Kategorialen zu umschreiben. In „Dieses Papier ist weiß.“ beziehen sich „dieses“ und „ist“ beispielsweise nicht auf solche Objekte. Husserl behauptet auch, dass sogar ein Ausdruck wie „weißes Papier“ eine Beziehung zu einer kategorialen Form impliziert, da es „weiß seiendes Papier“ bedeute. Dann folgt ein vielsagender Abschnitt, der zu dem, was Husserl in den Paragraphen 60-62 sagt, in Widerspruch steht: „Und wiederholt sich diese Form nicht auch, obschon verborgener bleibend, bei dem Hauptwort Papier? Nur die in seinem ‚Begriff’ vereinten Merkmalbedeutungen terminieren in der Wahrnehmung; auch hier ist der ganze Gegenstand als Papier erkannt, auch hier eine ergänzende Form, die das Sein, obschon nicht als einzige Form, enthält.“54

Dieser Textstelle entsprechend sind Nomen wie „Papier“ kategorial gemischte Begriffe, während Husserl in Paragraph 60 sagt, dass das Nomen „Haus“ ein rein sinnlicher Begriff sei. Es gibt eindeutig einen Widerspruch zwischen Paragraph 40 und Paragraph 60.55 Aber die Textstelle in Paragraph 40 ist die ausgefeiltere. Es ist nicht schwierig, zu verstehen, was Husserl meint, wenn wir seinen empiristischen Hintergrund mit in Betracht ziehen. Husserl scheint anzunehmen, dass Papier eine Substanz mit einer Mehrzahl von

Seiendem ist, bedarf es für das Absehen auf eine Freilegung des Seins zuvor einer rechten Beibringung des Seienden selbst.“ 54 Husserl, Logische Untersuchungen II/2, S. 131 (6. logische Untersuchung, §§ 40). 55 Philipse, „Heidegger’s Question of Being and the ‚Augustinian Picture’ of Language“, S. 281.

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wahrnehmbaren Eigenschaften ist. Der Erfahrungsursprung der Begriffe dieser Eigenschaften liegt in der Sinneswahrnehmung oder in sinnlicher Erkenntnis. Wie kann aber die sinnliche Wahrnehmung der Ursprung des Begriffes einer Substanz oder eines Dinges, das diese Eigenschaften hat, sein? Jedes Wort, das sich auf ein bestimmtes konkretes Seiendes bezieht, enthält implizit den kategorialen Begriff „Sein“ (eines X, das F, G, H ... ist), so dass jedes einzelne konkrete Seiende auch das Sein selbst enthält – und zwar im doppelten Sinne eines Seienden oder einer Entität, die F, G, H ... ist.

Dies ist, so vermute ich, auch Heideggers Ansicht. In seinen Vorlesungen über die Geschichte des Begriffes der Zeit aus dem Jahr 1925 betont er wiederholtermaßen, dass eine kategoriale Anschauung in jeder einzelnen Erfahrung impliziert sei.56 Sein ist, wie Husserl sagt, in allen einzelnen Entitäten „verborgen“. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, dass Heidegger in Paragraph 7c von Sein und Zeit die These aufstellt, dass das Sein der Seienden, welches das Phänomen ist, um das es seiner Phänomenologie geht, „verborgen ist“ und „nur ‚verstellt’ sich zeigt“57. Weil das Phänomen des Seins nicht in der Sinneswahrnehmung präsent ist, muß es durch den intentionalen geistigen Akt hinzugefügt worden sein. Daher muss ein „Seinsverständnis“ in jeder einzelnen intentio gegenwärtig sein. Wir können schließen, dass Heidegger darin recht hatte, dass er seine These von der Omnipräsenz des Seins als eine Interpretation von Husserls Lehre des Kategorialen verstand. Unser erstes Interpretationsproblem ergab sich, da Husserl sich selbst widerspricht. 56 Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, S. 64, 77, 81, 83, 95. 57 Heidegger, Sein und Zeit, S. 35: „Was ist es, was in einem ausgezeichneten Sinne ‚Phänomen’ genannt werde muß? [...] Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist. [...] Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt oder wieder in die Verdeckungzurückfällt oder nur ‘verstellt’ sich zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern, wie die voranstehenden Betrachtungen gezeigt haben, das Sein desSeienden.“ Es gibt aber andere, von Kant oder Meister Eckhart beeinflusste Interpretationen dieses Abschnitts (vgl. hierzu Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, § 9 und § 11).

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Heidegger hat übrigens nie bewusst wahrgenommen, dass er, wenn er in dieser Weise von der Ubiquität des Seins ausging, implizit Husserls empiristische, auf Locke zurückgehende Voraussetzungen akzeptierte.

Ich wende mich nun dem zweiten, in § 4.5 von Heidegger’s Philosophy of Being erläuterten Problem zu.58 Man könnte sagen, dass Husserl die Seinsfrage durch sein Verständnis der formalen Ontologie bereits beantwortete habe. Kategoriale oder formale Begriffe wie „Sein“ oder „Entität“ sollten streng von materialen Begriffen wie „Dasein“ im Sinne der menschlichen Existenz oder „räumliche Form“ unterschieden werden. Während die letztgenannten die Ergebnisse einer generalisierenden Abstraktion sind, gehen die erstgenannten auf eine Formalisierung zurück. Wir können sie im selben Sinne für Entitäten aus allen materialen Seinsregionen nutzen. Deshalb haben die formale Ontologie und die formale Logik eine universale Geltung.

Aus diesem Grund sind auch die universalen logischen Gesetze von universalen materialen Aussagen sehr verschieden. Weil „Sein“ eine formale Kategorie ist, so könnte Husserl gedacht haben, hätte Heidegger sich der formalen Logik und der formalen Ontologie zuwenden sollen, um die Seinsfrage zu beantworten. Da Husserl die formale Logik und Ontologie als gegenstands-neutral verstand, hätte er es für einen ernsten Fehler gehalten, dass Heidegger das Seinsproblem vornehmlich durch eine Analyse der menschlichen Existenz lösen wollte, das heißt dadurch, dass er eine spezifische regionale Ontologie ausarbeitete. Warum aber hat Heidegger Husserls Unterscheidung zwischen formaler Ontologie und materialen Ontologien nicht als Grundlage für seine Beantwortung der Seinsfrage aufgegriffen?

Meine Lösung für dieses interpretativen Problem ist einigermaßen hypothetisch, da Heidegger meines Wissens Husserls Unterscheidung in seinen veröffentlichten Schriften nicht explizit kritisiert.59 Die einzige kritische Diskussion von Husserls Begriff der formalen

58 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, S. 36-41. 59 Heidegger erklärt Husserls Verständnis des Kategorialen als des Formalen in: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, § 6, ohne dass er dieses Verständnis des Kategorialen kritisierte.

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Ontologie kann in Heideggers Vorlesungen vom November 1920 gefunden werden. Das ursprüngliche Manuskript dieser Vorlesungen scheint verloren zu sein. Obwohl wir über ihren Inhalt aufgrund der Ausgabe im sechzigsten Band der Gesamtausgabe, die auf den Vorlesungsmitschriften von Oskar Becker und anderen basiert, verfügen, wissen wir nicht genug, um dieses Problem mit Gewissheit zu lösen. Nach Kisiel sind Heideggers methodologische Überlegungen in diesen Vorlesungen „abstrus“. Der Begriff der formalen Anzeige,den Heidegger als eine Alternative zu Husserls Begriff der formalen Ontologie entwickelt, ist „immer mehr esoterisch“60. Schließlich wurde die Vorlesung am 30. November 1920 an einer Schlüsselstelle abgebrochen – wahrscheinlich aufgrund der Tatsache, dass Studenten beim Dekan der philosophischen Fakultät sich darüber beschwert hatten, dass Heidegger sich in einer Vorlesung über die Philosophie der Religion zu wenig mit religiösen Inhalten beschäftigt habe.61

Daraus folgt, dass wir unser Interpretationsproblem durch eine Hypothese lösen müssen, die wir auf der Grundlage des Husserlschen Hintergrundes, der Vorlesungen aus den Jahren 1920 und 1925 und von Sein und Zeit entwickeln werden.

Ich möchte die These vertreten, dass Heidegger Husserls Begriff der formalen Ontologie als eine Antwort auf die Seinsfrage aus zwei Gründen ablehnte. Zum einen lehnte er die Vorstellung, dass „Sein“ als eine Kategorie gegenstands-neutral sei, ab, während er von 60 Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s „Being and Time“, Califor-nia University Press, Berkeley and Los Angeles 1993, S. 170 und 172. Kiesel ist hier zu pessimistisch, da das, was Heidegger über die Formalisierung und die Generalisierung in seinen Vorlesungen vom November 1920 sagt (Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, hg. von Matthias Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, Vittorio Klostermann, Frankfurt am M. 1995, § 12-13, S. 57-65) eine mehr oder weniger genaue Zusammenfassung dessen ist, was Husserl hierüber in den Ideen I (§ 13) schrieb. 61 Ich zitiere nach Kisiel, Genesis, S. 172. Vgl. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 339. Dort zitieren die Herausgeber aus den Vorlesungsmitschriften Oskar Beckers – „Infolge von Einwänden Unberufener abgebrochen am 30. November 1920.“ – und erklären, dass es

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Husserls sechster Untersuchung die These, dass Sein als ein kategorialer Aspekt in jedem einzelnen Seienden präsent sei, ableitet. Wie ich in der Einleitung zu diesem Aufsatz dargelegt habe, war Heidegger der Ansicht, dass, was es für ein x bedeutet, F zu sein, in den verschiedenen materialen Regionen unterschiedlich sei. Die Art und Weise, in der ein bestimmtes Dasein mutig ist, ist von der Art und Weise, in der ein Stein schwer ist, verschieden. Dieser Unterschied geht auf einen Unterschied zwischen den jeweiligen Seinsweisen oder ontologischen Konstitutionen eines Steines und des Daseins zurück.62

Nur weil das Dasein die ontologische Konstitution der zukunfts-bezogenen Sorge hat, kann es mutig oder feige sein. Husserl benutzt in den Ideen I den Ausdruck „Seinsweise“, um die Unterschiede zwischen materialen Regionen zu charakterisieren. Er sagt beispielsweise, dass das Bewusstsein eine andere Seinsweise als materiale Objekte habe. Aber er unterscheidet sehr genau zwischen diesen regionalen Seinsweisen auf der einen Seite und Sein im formalen Sinne auf der anderen. Wenn aber Sein im formal-kategorialen Sinne nicht gegenstands-neutral ist, ist diese Unterscheidung nicht legitim. Die formale Kategorie des Seins wäre in der Tat durch materiale, regionale Kategorien bestimmt, das heißt durch spezifische Seinsweisen im materialen Sinne. Heidegger hat in der Tat schon im Natorp-Bericht von 1922 das Argument aufgestellt, dass die traditionelle Kategorie der Substanz von einer bestimmten ontologischen Region abgeleitet worden sei, nämlich der Region der Artefakte. Heideggers Ablehnung der Unterscheidung zwischen Formalem und Materialem hat drastische Auswirkungen auf den Stellenwert der formalen Logik. Wenn formale Kategorien material bedingt sind, kann man entweder zu dem Schluss kommen, dass die Logik, obwohl sie sich auf (Aussagen über) alle Seinsregionen erstreckt, sich auf diese nur in einem analogen Sinne bezieht. Es gäbe dann Sinnunterschiede

ihnen nicht möglich gewesen sei, den Inhalt dieser Einwände oder Beschwerden herauszufinden. 62 Heidegger, Sein und Zeit, §§ 3-4; Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 95f.

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zwischen den logischen Operatoren der einzelnen Regionen. Der späte Wittgenstein hat beispielsweise das Argument aufgestellt, dass der universale Quantor nicht gegenstands-neutral sei. Wir können „alle Länder der Welt“ als ein logisches Produkt analysieren, aber nicht „alle realen Zahlen“. Heideggers These ist aber spezifischer und problematischer. Er ist vermutlich der Ansicht, dass die formalen Kategorien unterschiedliche, von den materialen Regionen, in denen sie genutzt werden, abhängige Bedeutungen haben. Die Kopula „ist“ würde zum Beispiel eine je unterschiedliche Bedeutung haben, abhängig davon, ob sie im Bereich der Geschichte oder im Bereich der Biologie genutzt wird. Dies ist nicht eine sehr plausible These.63 Oder man mag zu dem alternativen Schluss kommen, dass die formale Logik sich nicht auf alle Regionen bezieht. Es gibt eine Tendenz in Heideggers Schriften, anzunehmen, dass die formale Logik sich auf die traditionelle Ontologie bezieht. Die traditionelle aristotelische Logik, die Propositionen als Subjekt-Prädikat-Strukturen versteht, spiegelt in der Tat die Ontologie der Substanzen und Attribute.64

Wenn die traditionelle Ontologie der Präsenz auf die Verfallenheit des Daseins zurückgeht und nicht auf es bezogen werden kann, wie Heidegger in Sein und Zeit darlegt, würde dies auch für die Logik gelten.65 In Heidegger’s Philosophy of Being habe ich diese Thesen,

63 Vgl. hierzu Willard V. O. Quine, Word and Object, Cambridge, Mass. 1960, § 49, S. 241f. 64 Vgl. zum Beispiel Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, GA 41, hg. von Petra Jaeger, Vittorio Klostermann, Frankfurt am M. 1984, § 9. Russell hat die Verbindung zwischen Ontologie und Logik auch betont, aber er erklärte diese Verbindung in umgekehrter Weise: Er erläuterte die Ontologien von Spinoza und Leibniz, indem er darlegte, dass die traditionelle Ontologie Relationen nicht verstehen könne, so dass Relationen ontologisch als Eigenschaften verstanden werden müssten. 65 Heidegger, Sein und Zeit, § 27, S. 129: „Daß auch die traditionelle Logik angesichts dieser Phänomene versagt, kann nicht verwundern, wenn bedacht wird, daß sie ihr Fundament in einer überdies noch rohen Ontologie des Vorhandenen hat. Daher ist sie durch noch so viele Verbesserungen und Erweiterungen grundsätzlich nicht geschmeidiger zu machen.“ Vgl. beispielsweise auch Heidegger, Prolegomena, GA 21, S. 415: „Die Aussagen als das Aussagen des Vorhandenen gründen im Gegenwärtigen. Die Logik ist die unvollkommenste aller philosophischen Disziplinen.“

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die eine mögliche Erklärung für Heideggers Ablehnung der Logik in Was ist Metaphysik? von 1929 darstellen, kritisch untersucht.66

Der zweite Grund dafür, dass Heidegger die Husserlsche formale Ontologie ablehnte, stammt aus einer ganz anderen Quelle. Bis jetzt habe ich den Einfluss von Husserls Theorie der kategorialen Anschauung auf Heideggers Frage nach dem Sein nachgezeichnet, indem ich mich an Heideggers eigenen Aussagen über diesen Einfluss orientierte. Darum habe ich zunächst die Frage nach dem Sein als die Frage nach dem Sinn des Wortes „Sein“ verstanden. Wir haben gesehen, warum Heidegger davon ausgeht, dass wir das Phänomen des Seins analysieren müssen, um die Bedeutung von „Sein“ zu untersuchen. Wir haben auch gesehen, warum Heidegger die Husserlsche Unterscheidung zwischen dem Formalen und dem Materialen aufgibt. Dadurch können wir verstehen, dass Heideggers Frage nach dem Sein scheinbar sowohl eine materiale Region wie das Dasein als auch formale Kategorien betrifft. In seiner Vorlesung aus dem Jahr 1920 lehnt Heidegger aber Husserls Unternehmen einer formalen Ontologie gänzlich ab. Dies geschieht auf der Grundlage einer Definition der Philosophie, die überhaupt keine Beziehung zu Husserls Theorie der kategorialen Anschauung hat.

Im Jahr 1920 definiert Heidegger Philosophie als den Versuch, faktische Lebenserfahrung zu verstehen. Die Philosophie entspringt der Lebenserfahrung und springt wieder in sie zurück.67 Diese Definition nimmt die Definition aus dem Natorp-Bericht vorweg, dass Philosophie nämlich der Versuch sei, ausdrücklich die Art und Weise, 66 Philipse, Heidegger’s Philosophy of Being, 331-346. 67 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 8: „Das Problem des Selbstverständnisses der Philosophie wurde immer zu leicht genommen. Faßt man dies Problem radikal, so findet man, daß die Philosophie der faktischen Lebenserfahrung entspringt. Und dann springt sie in der faktischen Lebenserfahrung in diese selbst zurück. Der Begriff der faktischen Lebenserfahrung ist fundamental.“ Und S. 15: „Bisher waren die Philosophen bemüht, gerade die faktische Lebenserfahrung als selbstverständliche Nebensächlichkeit abzutun, obwohl doch aus ihr gerade das Philosophieren entspringt, und in einer – allerdings ganz wesentlichen – Umkehr wieder in sie zurückspringt.“ Vgl. hierzu auch Theodore Kisiel, Genesis, S. 153f.

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wie wir das Leben vollziehen, zu verstehen, um das Leben selbst zu intensivieren. Anklänge an diese Definition finden sich auch in Paragraph 7c von Sein und Zeit. Heidegger sagt dort: „Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“68 Weil das Ziel der Philosophie nach dieser Definition darin liegt, das Leben zu intensivieren und vor allem unser Bewusstseins der Verfallenheit zu vertiefen, ist die philosophische Haltung von der theoretischen Haltung sehr verschieden. Statt wie Husserls Philosophie eine strenge Wissenschaft anzuzielen, sollte die Philosophie nach Heideggers Verständnis (1920) alle theoretischen und wissenschaftlichen Unternehmungen als gefährliche Verführungen aufgeben. Sie sollte versuchen, vortheoretisch zu sein und alle theoretischen Objektivierungen zu zerstören.69

Wenn die traditionelle Philosophie begrifflich fassen wollte, wie wir uns selbst im faktischen Leben erfahren, tendierte sie dazu, von irgend einem theoretischen Begriff des Geistigen, wie etwa Seele, Strom von geistigen Akten oder transzendentales Bewusstsein, auszugehen. Nach Heidegger entfremden uns diese Begriffe von unserer Erfahrung des Lebens. Sie sind ein Ausdruck einer seit Platon für die Philosophie charakteristischen Tendenz des faktischen Lebens, in objektive Bestimmungen abzufallen.70 Heidegger wollte die

68 Heidegger, Sein und Zeit, S. 38: „Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“ Vgl. für eine gleichlautende Definition auch S. 436. 69 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 3: „Es besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie.“ Und S. 8: „Mit der Bezeichnung der Philosophie als erkennendes, rationales Verhalten ist gar nichts gesagt; man verfällt so dem Ideal der Wissenschaft.“ Vgl. auch S. 9, 13, 15, 62 und passim. 70 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 15: „Die faktische Lebenserfahrung verdeckt immer wieder selbst eine etwa auftauchende philosophische Tendenz durch ihre Indifferenz und

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Philosophie revolutionieren, um sie von der Gefahr einer Säkularisierung in eine Wissenschaft oder in eine Weltanschauung zu befreien.71 Weil er die These aufstellt, dass die Kategorien der formalen Ontologie gänzlich in den Bereich des Theoretischen gehören, lehnt er im Jahr 1920 Husserls Unternehmen einer formalen Ontologie radikal ab.72

Wenn wir diesen zweiten Grund für die Ablehnung des Projektes einer formalen Ontologie mit dem ersten vergleichen, könnten wir verführt sein, zu dem Schluss zu kommen, dass wir die Möglichkeiten der rationalen Rekonstruktion der Philosophie Heideggers erschöpft haben. Es scheint einen unüberbrückbaren Graben zu geben zwischen Heideggers Seinsfrage als einer Frage, die von der Lehre der kategorialen Anschauung beeinflusst ist, und Heideggers Seinsfrage als einer Frage, die sich darum bemüht, die Bewegung des Lebens ausdrücklich zu fassen und zu intensivieren. Während es bei der erstgenannten Frage vornehmlich um die Bedeutungen von logischen Worten geht, geht es bei der zweiten Frage um die Bedeutung der menschlichen Existenz. Weil diese zwei gänzlich verschiedenen „Seinsfragen“ beide in die Seinsfrage von Sein und Zeit hinein gehören, scheint zu folgen, dass dieses Buch einen Flickenteppich von miteinander inkompatiblen Momenten darstellt und dass Heideggers Seinsfrage eine leere Hülle ist, die eine ganze Anzahl von verschiedenen philosophischen Problemen und Programmen abdeckt.

Aber es wäre sogar an diesem Punkt unserer Argumentation vorschnell, zu dieser zynischen Interpretation zu kommen. Einer der Gründe, warum Heidegger für einen „großen Philosophen“ gehalten werden kann, liegt darin, dass er dazu in der Lage war, viele verschiedene Elemente miteinander zu verschmelzen. Es gibt in der Selbstgenügsamkeit. In dieser selbstgenügsamen Bekümmerung fällt die faktische Lebenserfahrung ständig ab in die Bedeutsamkeit. Sie strebt ständig der Artikulation zur Wissenschaft und schließlich einer ‘wissenschaftlichen Kultur’ zu.“ 71 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 15. 72 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 9: „Wir vertreten die These: Wissenschaft ist prinzipiell verschieden von Philosophie.“ Vgl. insbesondere auch S. 57-65.

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Tat ein verbindendes Element zwischen dem theoretischen Programm, logische Kategorien zu untersuchen, und dem antitheoretischen Versuch, die Bewegung des menschlichen Lebens zu verstehen, einem Versuch, der auf Kierkegaard, Dilthey und die christliche Tradition zurückgeht und nicht auf Husserls Philosophie als eine strenge Wissenschaft. Dieses verbindende Element geht vor allem auf Husserls schon im Paragraphen 65 seiner Prolegomena entwickelte Idee, dass wir zwischen subjektiven Bedingungen, die sich auf das wissende Subjekt beziehen, und sich auf die objektive Form beziehenden objektiven Bedingungen unterscheiden sollten, um die Bedingungen der Möglichkeit der Wissenschaften zu verstehen, zurück.73 Während Husserl in den Prolegomena die objektiven Bedingungen betonte, wendete er sich schon im zweiten Band der Logischen Untersuchungen den subjektiven Bedingungen zu. In seiner späteren Phänomenologie entwickelte Husserl die Ansicht, dass wir die Wissenschaften nicht als ein System von Aussagen auffassen sollten, um sie philosophisch zu verstehen, sondern dass wir eher die Weise untersuchen sollten, in der ihre Objekte und Aussagen durch unsere subjektiven bewussten Aktivitäten „konstituiert“ werden.

Bei Heidegger findet sich diese Husserlsche Idee, wenn er in seinen Vorlesungen vom November 1920 sagt, dass man die Wissenschaften nicht länger als objektive Formulierungen von Sinn oder als geordnete Konstellation von wahren Behauptungen verstehen dürfe. Auch sie müssen jetzt konkret „im Akt“ verstanden werden – als sich selbst praktisch realisierend, als historisch sich gestaltend und als ihre „vollendeten“ Formen aktiv aus unserer faktischen Lebenserfahrung entwickelnd.74 Heidegger argumentiert ähnlich in

73 Husserl, Logische Untersuchungen I, S. 236-239. 74 Ich zitiere Kisiels Zusammenfassung, die hauptsächlich auf Oskar Beckers Mitschriften basiert. Kisiel, Genesis, S. 154. Vgl. auch S. 166f. und S. 529, Fußnote 3. Hier erklärt Kisiel, wie er die damals unpublizierte Vorlesung rekonstruierte. Vgl. beispielsweise auch Martin Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie des religiösen Lebens, S. 9: „Die Auffassung, als seien Philosophie und Wissenschaft objektive Sinngebilde, abgelöste Sätze und Satzzusammenhänge, muß beseitigt werden. [...] Man muß die konkreten Wissenschaften selbst in ihrem Vollzug erfassen; der

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Sein und Zeit, dass man, um den Sinn der Wissenschaft zu finden, die Wissenschaften als eine Aktivität des Daseins und nicht als ein System von Aussagen verstehen müsse. Die Wissenschaft, so Heidegger, ist eine Seinsweise des Daseins. Später in Sein und Zeitzeigt sich, dass die Wissenschaft zu einer bestimmten Modifikation des Dasein gehört, die Verfallenheit genannt wird.75 Die Untersuchung logischer Kategorien und das Verständnis des vortheoretischen Lebens gehören daher zusammen, weil die Konstituierung logischer Formen eine Aktivität des Lebens ist und weil wir – wenigsten nach Husserls spätem Verständnis der Phänomenologie – diese Aktivität begreifen sollten, um die Kategorien zu verstehen. Aber die Verbindung zwischen Leben und Logik ist nach Heidegger eher irreführend als fruchtbar. Heidegger legte 1920 dar, dass die logischen Kategorien die Korrelate einer bestimmten Einstellung, nämlich der theoretischen Einstellung, seien und dass diese Einstellung ein Verständnis des Lebens, wie es wirklich ist, ausschließe. Aus diesem Grund sollte eine Phänomenologie des menschlichen Lebens die theoretische Einstellung durch das, was Heidegger die formale Anzeige nennt, ausschließen.76

Dieser Begriff der formalen Anzeige ersetzt in Heideggers frühen Arbeiten den Husserlschen Begriff einer formalen Ontologie. Er meint aber etwas ganz anderes. In seinen Vorlesungen vom November 1920 geht Heidegger das schwierige Wagnis ein, den Begriff der formalen Anzeige auf der Grundlage von Husserls Begriff der formalen

Wissenschaftsprozeß als historischer muß selbst zugrunde gelegt werden.“ Vgl. für Heideggers Zusammenfassung von Husserls Standpunkt auch S. 56f. 75 Heidegger, Sein und Zeit, § 4, S. 11: „Wissenschaft überhaupt kann als das Ganze eines Begründungszusammenhanges wahrer Sätze bestimmt werden. Diese Definition ist weder vollständig, noch trifft sie die Wissenschaft in ihrem Sinn. Wissenschaften haben als Verhaltungen des Menschen die Seinsart dieses Seienden (Mensch). Dieses Seiende fassen wir terminologisch als Dasein.“ Vgl. auch Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 9 (oben bereits zitiert). 76 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, § 12-13, S. 57-65.

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Ontologie zu entwickeln.77 Während er den Anspruch erhebt, Husserls Begriffe von Formalisierung und formaler Ontologie weiterzuentwickeln, lehnt er sie eigentlich radikal ab. In dem Maße, als Heideggers diesbezügliches Argument überhaupt klar ist, kann es folgendermaßen rekonstruiert werden: Nach Husserl beziehen sich materiale Kategorien, die zu einer regionalen Ontologie gehören, auf spezifische „materiale“ Eigenschaften von Entitäten. Formale Kategorien wie etwa „Objekt“, „Relation“ oder „Eigenschaft“ können sich aber nicht auf bestimmte materiale Eigenschaften von Entitäten beziehen, weil sie auf alle möglichen Entitäten angewandt werden können. Heidegger kommt zu dem Schluss, dass die formalen Kategorien eine Weise, in der sich Menschen auf Entitäten beziehen, ausdrücken müssen und dass sie ihren Ursprung in dem Sinn der Haltung haben, die wir bezüglich dieser Entitäten einnehmen.78 Was aber ist der „Sinn“ der Haltung, in der wir formale Kategorien von bestimmten Entitäten prädizieren? Heidegger geht davon aus, dass diese Haltung die „theoretische“ Haltung sei und dass die theoretische Haltung die grundlegendste Weise, in der Menschen sich zur Welt verhalten, verberge.79

Es folgt daraus, dass die Phänomenologie, der es um die Untersuchung dieser grundlegendsten Weise, in der Menschen sich

77 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, § 12, S. 57: „Wir wollen versuchen, diese Unterscheidung [zwischen Generalisierung und Formalisierung] weiterzubilden und in dieser Weiterbildung den Sinn der formalen Anzeige zu erklären.“ 78 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 58: „Die formale Prädikation ist sachhaltig nicht gebunden, aber sie muß doch irgendwie motiviert sein. Wie ist sie motiviert? Sie entspringt dem Sinn des Einstellungsbezuges selbst.“ Vgl. auch S. 58f.: „So entspringt die Formalisierung aus dem Bezugssinn des reinen Einstellungsbezugs selbst.“ 79 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 61: „Der Sinn von ‘Gegenstand überhaupt’ besagt lediglich: das ‘Worauf’ des theoretischen Einstellungsbezugs [...].“ Und S. 63: „Präjudiziert nun für diese Aufgabe der Phänomenologie die formal-ontologische Bestimmtheit etwas? […] gerade, weil die formale Bestimmung inhaltlich völlig indifferent ist, ist sie für die Bezugs- und Vollzugsseite des Phänomens verhängnisvoll – weil sie einen theoretischen Bezugssinn vorschreibt oder wenigstens mit vorschreibt. Sie verdeckt das Vollzugsmäßige.“

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zur Welt verhalten, geht, die Husserlsche formale Ontologie ablehnen müsse. Die Phänomenologie, vor allem die Phänomenologie der Religion, sollte überhaupt nicht eine theoretische Haltung einnehmen. Sie sollte im Gegenteil vorbeugen, dass die Phänomene in der theoretischen Haltung in den Blick genommen werden. Es ist die Aufgabe dessen, was Heidegger die „formale Anzeige“ nennt, diese Haltung zu vermeiden.80 Es ist deutlich, dass Heidegger in diesem Begriff das Wort „formal“ in einem Sinne, der von Husserls Verwendung dieses Wortes radikal verschieden ist, nutzt.81 Es gibt nur eine sehr schwache Rechtfertigung für die Verwendung dieses Wortes. Weil formale Kategorien eine theoretische Weise der Beziehung zu bestimmten Entitäten ausdrücken, statt Eigenschaften dieser Entitäten zu erfassen, gibt es eine Formalisierung auf einer tieferen Ebene, in der wir eben unsere Weise der Beziehung zu Entitäten unbestimmt sein lassen. Dies ist es, was wir machen, wenn wir Phänomene mittels der formalen Anzeige erfassen.82

Heideggers Entwicklung von Husserls Begriff der formalen Ontologie führt zu einer Position, die der Husserlschen Position diametral entgegengesetzt ist. Statt Husserls Programm der Phänomenologie als einer strengen Wissenschaft zu vertreten, fordert 80 Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 63: „Wie kann diesem Präjudiz, diesem Vorurteil vorgebeugt werden? Das leistet gerade die formale Anzeige.“81 Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, S. 59: „Hat in der Rede von der ‘formalen Anzeige’ das Wort ‘formal’ die Bedeutung des Formalisierten oder gewinnt es eine andere? Das Gemeinsame von Formalisierung und Generalisierung ist, daß sie in dem Sinn von ‘allgemein’ stehen, während die formale Anzeige mit Allgemeinheit nichts zu tun hat. Die Bedeutung von ‘formal’ in der ‘formalen Anzeige’ ist ursprünglicher.“ 82 Vgl. beispielsweise Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens,GA 60, S. 63f.: „Warum heißt sie ‘formal’? Das Formale ist etwas Bezugsmäßiges. Die Anzeige soll vorweg den Bezug des Phänomens anzeigen – in einem negativen Sinne allerdings, gleichsam zur Warnung! Ein Phänomen muß so vorgegeben sein, daß sein Bezugssinn in der Schwebe gehalten wird. Man muß sich davor hüten, anzunehmen, sein Bezugssinn sei ursprünglich der theoretische. Der Bezug und Vollzug des Phänomens wird

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Das phänomenologische Leitmotiv in Heideggers Seinsfrage 221

Heidegger eine Phänomenologie, die von ihrem Kern her eine anti-wissenschaftliche Haltung einnimmt.83

nicht im Voraus bestimmt, er wird in der Schwebe gehalten. Dass ist eine Stellungnahme, die der Wissenschaft auf das Äußerste entgegengesetzt ist.“ 83 In den §§ 12C und 13C von Heidegger’s Philosophy of Being habe ich die tieferen Gründe für diese Revolution der Phänomenologie offen gelegt.