Heather Dyer: Ein Engel auf unserem Dach

15
Ein Engel auf unserem Dach

description

Gleichermaßen zart wie witzig erzählt EIN ENGEL AUF UNSEREM DACH von einem Schutzengel, der gar nicht engelsgleich ist: Wunderbar als Weihnachtsgeschichte zum Vor- oder Selbstlesen geeignet.

Transcript of Heather Dyer: Ein Engel auf unserem Dach

Ein Engel auf

unserem Dach

Heather Dyer

Ein Engel auf unserem Dach

Illustriert von Katharina Bußhoff

Aus dem Englischen von Bernadette Ott

Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher

Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel

The Girl with the Broken Wing bei Chicken House

© 2005 Heather Dyer (Text)

Für die deutsche Ausgabe © 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin

Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagillustration: Katharina Bußhoff

Gesetzt aus der Stempel Garamond durch psb, Berlin

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-8270-5257-5

www.berlinverlage.de

5

1DIE BRUCHLANDUNG

Schornsteine können gefährlich sein. Stell dir vor: Es ist stockfinstere Nacht und du fliegst über den Dächern dahin, so niedrig, dass du fast die Dachziegel streifst. Der Wind pustet und bläst dich dauernd vom Weg ab, und Regentropfen fallen dir in die Augen. Du kannst nicht mehr sehen, wohin du fliegst. Und dann, als du ge rade zur Landung im Kamin ansetzen willst, kommt eine heftige Böe und – wumm!

Die Zwillinge lagen im Bett, als es passierte. Sie hör-ten ein Geräusch wie von einem schweren Ball, der gegen eine Mauer knallt, danach ein Poltern auf den Dachziegeln und dann nichts mehr. Nur noch den stürmischen Wind, der um den Dachfirst pfiff.

»Was war das?«, flüsterte James.Amanda, die auf der anderen Seite des Dachzim-

mers hinter einem Vorhang schlief, knipste die Lampe auf dem Tischchen neben ihrem Bett an. Sie lagen beide still und lauschten.

Bumm–bumm! kam ein Klopfen vom Dachfenster.»Ist da wer?«, fragte James. Er kletterte aus dem

Bett, ging zum Fenster, und blickte in ein erschrocke-

nes Gesicht, das von windzerzausten Haaren umflat-tert wurde. »Es ist ein Mädchen!«, rief er.

Gemeinsam zerrten die Zwillinge den großen roten Sessel aus der Zimmerecke unter das Fenster. James kletterte hinauf.

»Mach auf!«, brüllte das Mädchen mit gedämpfter Stimme.

James öffnete das Fenster und ein Regenschwall drang ins Zimmer. »Danke«, keuchte das Mädchen, ließ sich durch die Öffnung ins Zimmer gleiten – und da stand es nun vor ihnen und tropfte den Teppich nass. Die Zwillinge stellten erstaunt fest, dass das Mäd-chen barfuß war und nur ein dünnes weißes Baum-wollhemd trug. Noch viel mehr aber staunten sie, als sie entdeckten, dass von seinen Schultern bis fast zu sei-nen Füßen hinab … zwei lange weiße Flügel reichten.

»Aua!«, stöhnte das Mäd-chen und griff sich an die linke Schulter. »Ich hab mir wohl den Flügel gebrochen.«

James und Amanda führten das Mädchen mit dem gebrochenen Flügel zum Sofa, wo es sich vorsichtig hin-setzte. »Ich muss mich auf den Bauch legen«, sagte es.

Amanda brachte ein Kissen und das Mädchen legte den Kopf darauf. Die langen weißen Flügel hatte es auf dem Rücken zusammengeklappt. Die Spitzen der Flügel berührten seine Waden. Das weiche, zarte Ge-fieder an seinen Schultern war vom Regen nass und struppig. Amanda streckte eine Hand aus und strei-chelte sachte über einen Flügel. Er fühlte sich kräftig und elastisch an, wie wenn man einen Schwan strei-chelt.

8

»Wie heißt du?«, fragte Amanda.Das Mädchen mit dem gebrochenen Flügel gähnte.

»Hilary«, sagte sie.»Ich bin Amanda«, sagte Amanda höflich. »Und

das ist mein Bruder James.«»Nett, euch kennenzulernen«, murmelte Hilary

und kuschelte sich noch tiefer in das Kissen.»Ähm – Hilary«, sagte James. »Was hast du eigent-

lich auf unserem Dach gemacht?«Hilary brummte etwas, das weder James noch

Amanda verstand, dann schloss sie die Augen.»Was hast du gesagt?«, fragte James.Aber es kam keine Antwort. Hilarys Atem ging

leicht und regelmäßig, sie schien zu schlafen.»Sie hat bestimmt einen Schock«, sagte Amanda.

»Wir fragen sie morgen noch einmal.«Die Zwillinge wollten sich gerade umdrehen, da

öffnete Hilary die Augen, und mit lauter, klarer Stim-me sagte sie:

»Gute Nacht!«

9

2DIE ENGELSFRAGE

Als der Wecker am nächsten Morgen klingelte, fiel den Zwillingen sofort das Mädchen mit dem gebro-chenen Flügel ein – und da lag es, immer noch tief und fest auf dem Sofa schlafend. Sie hüpften schnell aus den Betten, standen vor dem Sofa und schauten es an. Hilary ließ den rechten Arm von der Sofakante he-runterbaumeln, die Flügel auf ihrem Rücken hoben und senkten sich bei jedem Atemzug.

»Glaubst du, sie ist ein Engel?«, flüsterte Amanda.James schüttelte den Kopf. »Engel schnarchen

nicht«, sagte er.Sie schauten Hilary weiter beim Schlafen zu. Ihr

Ellenbogen war aufgeschürft – wahrscheinlich von ihrer Bruchlandung gestern Nacht – und ihre Fuß-sohlen waren schmutzig.

»Vielleicht sollten wir sie wecken«, sagte Amanda.James zögerte. Dann beugte er sich vor und sagte

leise: »Hilary!« Aber Hilary schlief seelenruhig wei-ter. Er versuchte es noch einmal, diesmal etwas lauter. »Hilary!«

Immer noch nichts.»HILARY!«, brüllte er.

10

Hilarys Augenlider flatterten, aber ihre Augen öff-neten sich nicht.

»Es ist schon acht«, sagte James, der auf die Uhr ge-schaut hatte. »Wir müssen los.«

»Wir können sie doch nicht einfach hier liegen las-sen«, sagte Amanda.

Die Zwillinge überlegten. Amanda war der Mei-nung, dass sie ihren Eltern die Sache mit Hilary er-zählen sollten, aber James war dagegen.

»Die glauben bestimmt nicht an Mädchen mit ge-brochenen Flügeln«, sagte er. »Wahrscheinlich rufen sie gleich die Polizei oder so was.«

Da hatte er vermutlich recht.»Rauswerfen können wir sie jedenfalls nicht«, sagte

Amanda. »Nicht mit einem gebrochenen Flügel. Wir müssen sie hier in unserem Zimmer verstecken und ihr zu Essen und zu Trinken bringen, bis sie wieder fliegen kann.«

Sie schauten Hilary an. Sie wirkte, als könnte sie den ganzen Tag so weiterschlafen.

»Was, wenn sie aufwacht und runtergeht?«, frag-te James. »Oder wenn Mami hochkommt und sie sieht?«

»Wir schreiben ihr einen Zettel«, sagte Amanda, rannte weg und holte ihren Zeichenblock und einen grünen Stift. James dachte in der Zwischenzeit nach, was sie schreiben wollten.

»Schreib ihr, dass wir um vier wieder da sind«, sagte James.

11

Es folgte eine lange Pause, bis Amanda alles auf den Zettel gekritzelt hatte.

»Und schreib ihr, dass sie nicht runtergehen soll.«Amanda kritzelte das ebenfalls auf den Zettel.»Und schreib ihr, wenn sie hört, dass jemand die

Treppe hochkommt, soll sie sich im Schrank ver-stecken.«

»In Ordnung«, sagte Amanda und kritzelte weiter. Als sie fertig war, faltete sie das Blatt und schrieb auf die Vorderseite »HILARY«. Daneben malte sie ein Grinsegesicht. Dann legte sie ihren Zeichenblock, ein paar Buntstifte und eine Tüte mit Schokobonbons neben das Sofa, und darauf den Zettel. Danach stürm-ten beide die Treppe hinunter.

Es fällt schwer, daran zu glauben, dass man tatsächlich ein Mädchen mit einem gebrochenen Flügel zu Hause in seinem Zimmer liegen hat, wenn man in einem Schulbus durch die Straßen rumpelt, ringsum alles kreischt und Kaugummis über den Gang fliegen. James und Amanda setzten sich direkt hinter den Fah-rer, um alles ausführlich zu bereden.

»Wo sie wohl herkommt?«, fragte James.»Vom Himmel«, antwortete Amanda knapp. »Da

kommen alle Engel her.«James brummte. »Für mich sieht sie nicht wie ein

Engel aus.«»Woher weißt du das denn? Du hast doch noch nie

einen Engel gesehen.«

12

»Aber ich hab was darüber gelesen«, sagte James. »Sie tragen alle lange Kleider und ihre Köpfe leuchten wie Glühbirnen.«

»Das sind nicht ihre Köpfe, das sind ihre Heiligen-scheine.«

»Und überhaupt«, sagte James, »gibt es Engel nicht wirklich. Wenn es sie gäbe, würde man sie in den Nachrichten sehen können.«

James liebte Ordnung, Klarheit und Logik. Er kämmte sich jeden Morgen einen Seitenscheitel und räumte sein Spielzeug in Kartons mit Deckeln drauf. Wenn jemals in den Nachrichten ein Engel zu sehen gewesen wäre, dann hätte er das gewusst. Amanda da-gegen flocht sich ihre langen roten Haare gerne zu vie-len kleinen Zöpfen und nähte sich Blümchen auf die Jeans. Sie las viele Geschichten und deshalb wusste sie, dass alles möglich war.

»Und angenommen, Hilary wäre ein Engel«, sag-te James, »was wollte sie eigentlich auf unserem Dach?«

»Vielleicht ist sie ja ein Schutzengel«, sagte Aman-da. »Das sind die Engel, die auf die Erde geschickt werden, um den Menschen zu helfen.«

James brummte.»Doch! So ist das!«, sagte Amanda.»Na gut!«, sagte James. »Wenn wir nach Hause

kommen, fragen wir sie einfach und hören dann schon, was sie sagt.«

»Das geht nicht!«, sagte Amanda empört. »Und

13

außer dem – ich weiß, dass sie ein Engel ist. Du bist dir nicht sicher – dann frag du sie doch.«

»Ich frag sie nicht«, sagte James. »Weil ich nämlich weiß, dass sie kein Engel ist. Engel gibt es nicht.«

»Gibt es doch.«»Gibt es nicht. Da kannst du jeden fragen – oder

noch besser, frag doch einen Experten!«»Na gut«, sagte Amanda. »Wir werden heute Mit-

tag Mr Lock fragen. Er weiß das.«

Mr Lock war der Lehrer, der sich bei ihnen mit allen Himmelserscheinungen am besten auskannte. Wenn sich am Himmel irgendetwas ereignete, ein Komet oder eine Mondfinsternis, dann verkündete er das den Klassen vorher immer. Dann konnten nachts alle rausgehen und diese Erscheinungen beobachten. Aber Mr Lock kannte sich auch mit allen möglichen an-deren Sachen aus. Er kelterte bei sich zu Hause sogar seinen eigenen Wein. Die Mittagspause verbrachte er in der kleinen Kammer hinter dem Klassenzimmer, zwischen kaputten Bunsenbrennern und leeren brau-nen Reagenzgläsern. Er packte sein Pausenbrot schnell weg, als die Zwillinge hereinkamen.

»Wie kann ich euch beiden denn helfen?«, frag-te er.

»Wir möchten gerne mehr über Engel wissen«, sagte Amanda.

»Engel?«, fragte Mr Lock. »Braucht ihr das für eine Hausaufgabe?«

14

»Nein«, sagte James. »Aber könnte das denn sein?«»Als Hausaufgabe?«»Nein, dass es Engel gibt.«»Nun …«, sagte Mr Lock und wischte die Brot-

krümel von seinem weißen Mantel. »Dafür brauchen wir die Tafel.«

James und Amanda tauschten einen gelangweilten Blick aus, dann folgten sie Mr Lock in das leere Klas-senzimmer.

»Gibt es Engel wirklich …?«, fragte Mr Lock und löschte mit dem Schwamm alle Rechnungen auf der Tafel aus. »Ja … das war einmal die große Frage, auf die alle eine Antwort wissen wollten, und ein sehr kluger Mann namens Leonardo da Vinci hat sich aus-führlich damit beschäftigt. Seht her –« Er nahm ein Stück Kreide und begann zu zeichnen.

»Da Vincis Theorie war, dass ein Engel ungefähr so große Flügel haben muss, um fliegen zu können.« Er zeichnete einen Mann mit riesigen ausgebreiteten Flü-geln auf dem Rücken. »Und um vom Boden abheben zu können, müssen die Flugmuskeln des Engels von einem so dicken Brustbein gestützt werden.« Er zeich-nete dem Engel einen riesigen Brustkorb, wie bei einem gebratenen Truthahn. »Daraus hat da Vinci streng wissenschaftlich abgeleitet, dass es Engel nicht geben kann«, beendete Mr Lock seinen Vortrag. »Ein solcher Engel wäre nämlich viel zu schwer gewesen, um noch fliegen zu können.«

»Oh«, sagte Amanda enttäuscht.

15

»Und was ist mit Engeln, die Mädchen sind?«, fragte James. »Kleine Engel?«

»Allem Anschein nach«, sagte Mr Lock, »waren Engel bisher immer männlich.« Er wischte den Engel mit der Truthahnbrust weg.

Damit war die Frage beantwortet. Hilary konnte kein Engel sein – oder doch?

»Hab ich’s doch gewusst«, sagte James zu Amanda.Amanda war nicht ganz überzeugt, aber sie sagte

nichts.