Dieter Henrich - Konstellationen

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Dieter HenrichKonstellationen

Probleme undDebatten amUrsprung der

idealistischenPhilosophie(1789-1795)

Klett-Cotta

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Inhalt

Einleitung: Über Probleme der Methode bei der

Erforschung der nachkantischen Philosophie.........   7

Konstellationen.............................................................. 27Hölderlin über Urteil und S e in .................................   47Jacob Zwillings N ac h la ß ............................................ 81

Der Weg des spekulativen Idealism us......................101Über Hölderlins philosophische Anfänge............... 135

Philosophisch-theologische Problemlagen imTübinger Stift zur Studienzeit Hegels,Hölderlins und Schellings ..........................................171

Die Erschließung eines Denkraums...........................215

Anmerkungen................................................................ 265

 Nachweise   293

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Einleitung

Über Probleme der Methode bei der Erforschung der nachkantischen 

Philosophie

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Der Band mit den Untersuchungen, welche hier zusammengeführt sind, eröffnet eine Reihe von Büchern zurEntstehungsgeschichte der idealistischen Philosophie,

wie sie sich im Anschluß an Kants Werk herausbildete.Ihm sollen alsbald und möglichst in halbjähriger Folgezumindest drei weitere Bände folgen: meine Untersuchungen über Hölderlins Denken in Jena 1795, zwei ineinem Band vereinigte Untersuchungen über eine grundlegende Wandlung der philosophischen Position vonKarl Leonhard Reinhold, zu der es im Sommer 1792

kam, und die seit langem angekündigte Ausgabe der Pa piere des Tübinger Repetenten Carl Immanuel Diez. Eine Gesamtdarstellung des theoretischen Prozesses dernachkantischen Philosophie wird für einen Zeitpunkt,der sich jetzt noch nicht sicher absehen läßt, in Aussichtgestellt.

Anlaß für vier so eng gebündelte Publikationen ist der

vorläufige Abschluß eines Forschungsprogramms, das imJahre 1985 als Teil des bayerischen Programms zur Förderung der sogenannten ,Spitzenforschung‘ begonnenwurde. Sein Ziel war die Aufklärung der philosophischenund der intellektuellen Situation an der Universität Jenawährend der Jahre 1789 bis 1795. Der Bericht über dieErgebnisse dieses Programms macht den letzten Beitrag

dieses Bandes aus. Nur ein sehr kleiner Teil dieser Ergebnisse kann bereits im Druck vollständig dokum entiertwerden. Weitere Publikationen befinden sich in Arbeit.Aber die große Zahl der Probleme, die in den Bereich desForschungsprogramms gehörten, wird dafür sorgen, daßfür lange Zeit weitere Themen zur abschließenden Bear beitung offenstehen. Das Arbeitsarchiv, das im Rahmen

des Projekts entstand, wird sie erleichtern. Über die Motive und die Methoden der Forschungsweise dieses Programms kann und soll der hier vorliegende Band unterrichten.

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Fichtes Denken hatte in den Jahren 1791 bis 1794 und bei der Ausbildung der nachkantischen Philosophie gewiß eine Bedeutung erster Ordnung. Mit der Veröffentli

chung der Schriften Fichtes des Jahres 1794 war ein Bezugspunkt gesetzt, auf den sich alle folgenden philoso

 phischen Theorieversuche einzustellen hatten. Aber dieGrundanlage von Fichtes Denken ist deudich von der deskantischen Denkens unterschieden. Kant hatte auf einemneuen Grundlegungsgedanken und Methodenbegriff,die er nirgends zum eigentlichen Gegenstand seiner Un

tersuchungen gemacht hatte, ein gänzlich neues Universum von Theorieprogrammen und Begründungen ausge

 bildet. Fichtes Energie war dagegen vor allem auf denGrundlegungsgedanken als solchen konzentriert. Einwesendicher Grund dafür lag darin, daß Kants Programme auf skeptische Einreden gestoßen waren, die nichtnur Fichte davon überzeugten, man müsse noch tiefer in

die inneren Möglichkeitsbedingungen der Erkenntniszurückfragen, um die Methode Kants auf ein sicheresFundament zu stellen. Aber damit steht ein Unterschiedvon noch ganz anderer Art im Zusammenhang.

Die Inkubationszeit von Fichtes Denken war Teil einerPeriode, in der sich die Rahmenbedingungen des Philo-sophierens umbildeten. Kants Aufklärungsprogramm galt

 bei den meisten bald als unumstößlich. Doch mußten imGange seiner Durchführung neue Akzente gesetzt werden. Seine Konsequenzen für die religiöse Aufklärungwaren noch nicht übersichtlich gemacht. Es blieb nochzu klären, in welcher Weise es der ästhetischen Erfahrungeinen Platz in der Befreiungsbewegung des Denkens einzuräumen weiß. Vor allem aber mußte die neue Beweglichkeit der Sprache bei der Erkundung des subjektivenLebens, welche vor allem Schriftsteller ausgebildet hatten, in den Kantischen Theorierahmen eingebracht werden. Mit dieser Sprache wurden auch neue Gehalte er

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schlossen - in der Beziehung zur Natur und zur Geschichte ebenso wie in der Beziehung zu Gott als demletzten Grund von allem und auch des inneren Lebens.

Fichte selbst war in einer Weise, die im einzelnen nochnicht erklärt wurde, allen diesen Motiven ausgesetzt, sodaß sie sich auch unverkennbar in seinem Werk geltendmachen. Sie sind dort eng verbunden mit den Aufgaben,die sich aus der Unklarheit über die methodische Verfassung und Sicherheit der Kantischen Begründungenergaben. Und so versteht man auch, daß die Werke Fried

rich Heinrich Jacobis, der philosophische Begründungsfragen zugleich im Reflexionsstil der neuen Literatur verfolgt hatte, für Fichte eine besondere Bedeutung gewinnen konnten.

Fichtes Wirkung erfolgte also in einem bereits kom plexen Kraftfeld von Motiven und Aufgaben, die er mit besonderer Kraft aufnahm, die er aber selbst nicht ur

sprünglich ins Dasein brachte. Daraus erklärt sich dannwiederum auch, daß Fichtes Theoreme ohne jeden Verzug zur Wirkung kommen konnten, und zwar nicht etwain irgend einer Form getreuer Nachfolge, sondern in derForm beinahe instantaner Kritik und Umbildung. Jemehr man sich über die Schnelligkeit dieser produktivenReaktion wundert und in der Folge ihren Voraussetzun

gen nachfragt, um so plastischer und komplexer stellensich die Konstellationen von Gedanken und Personendar, welche in die Ausbildung jenes Kraftfeldes einbezogen waren. Und man gelangt dahin, das auch im einzelnen und in aller Deudichkeit zu verstehen, was ohnehin

 jede Wahrscheinlichkeit für sich hat: daß schon vor  Fichtes Auftreten auf dem Felde der Grundlegungsproblemeder Philosophie die Fortsetzung des kantischen Unternehmens allein in dessen Buchstabensinne unmöglichgeworden war. Der alles beherrschende Impuls, der vonKant ausging, konnte nur über eine weitere Wendung in

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der Gesamtorientierung des philosophischen Unternehmens zu einer Wirkung kommen, in der sich seine Potentiale in ihrer ganzen Breite und Tiefe entfalteten. Fich

tes Denkkraft und Intensität hat dieser Wendung gewißeine besondere Prägung gegeben. Ebenso wahr ist esaber auch, daß er eine Rolle aufnahm, die im philoso

 phischen Kontext der Zeit für ihn bereitgestellt war.Diese Erkenntnis zieht eine Reihe von Folgerungen

nach sich. So macht sie klar, daß die philosophiege-schichdichen Forschungen, die sich innerhalb jenes Kraft

feldes nur an den Werken einer einzelnen Person orientieren, den Aufgaben einer Verständigung über die theoretischen Prozesse dieser Periode und somit auch überdie Werke der einzelnen Personen selbst gar nicht gewachsen sein können. TVotz der großen Bedeutung persönlicher und freundschaftlicher Verständigungen fürden Gang des Denkens in dieser Zeit waren zwar die phi

losophischen Konzeptionen immer Leistungen von einzelnen. Innerhalb dieser Konzeptionen wirken sich aberviele Faktoren aus, die nur in Beziehung auf das gegenüber den Konzeptionen vorgängige Kraftfeld eineErklärung finden können. Zu ihnen gehören etwa: dieDringlichkeit, die einzelnen Problemen und Perspektivenzuerkannt ist, eine Bereitschaft zur Umorganisation des

eigenen Standpunktes, die sich von Kraftlinien innerhalb jenes jedermann vertrauten Feldes herleitet, Aussichtenauf die synthetische Behandlung von Problemlinien, diesich aus der Verfassung des Feldes heraus öffnen.

Solche Zusammenhänge lassen sich nun aber vielschwerer in Übersicht bringen als die Verhältnisse zwischen Theorieprojekten und -versuchen, die sich aus derzeidichen Abfolge der literarischen und wissenschaftlichen Produktion eines Autors erschließen lassen. Sie fordern eine Umorientierung der Perspektive auf den einzelnen Autor. Für die seit dem mittleren 19. Jahrhundert

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übliche Monographie philosophiehistorischer Forschunggilt der theoretische Weg des einzelnen Autors als der sozusagen ptolemäisch fixierte Horizont aller Überlegun

gen. Dabei werden die Motive und Probleme der Konstellationen, innerhalb deren ein Autor sich bewegte undzur Selbständigkeit kam, als scheinbar selbstverständlichverfügbare Datenmengen in Anspruch genommen. Doch bedürften diese Daten in Wahrheit einer ungleich größeren Aufmerksamkeit, so daß es - gemäß dem wirklichenBildungs- und Uberlegungsgang eines Autors - möglich

werden kann, von ihnen aus die Genese des Werkes hinzu der ihm eigenen Problemauffassung verständlich werden zu lassen. Statt dessen geht die monographische Literatur von der in Wahrheit nur fiktiven Voraussetzungaus, die Problemkonstellationen der Periode, der ein Autor zugehört, seien ohnedies längst erschlossen und etwaso wie ein allgemeiner Bildungshintergrund ohne weite

res aufzurufen.Ein Verfahren, das sich nicht weiterhin an diese Fik

tion hält, macht hinsichtlich des Wissensstandes der Interpreten sehr viel höhere Ansprüche als eine monogra

 phische Arbeit, die sich am Werk eines einzelnen Autorssozusagen entlanghangeln kann. Denn nun ist es nichtmehr möglich, die wissenschaftliche Leistung einer Mo

nographie im wesendichen auf die Untersuchung desWerkes zu gründen, das sie zum Thema hat. Dem vorausmuß bereits das Kraftfeld der Motive, das für dies Werkvon Bedeutung war, übersichdich geworden sein. Dasaber verlangt sehr viel weiter ausgebreitete Kenntnisse.In ganz besonders hohem Maße ist dies der Fall für dieZeit der Entwicklung der nachkantischen Philosophie.Denn nicht nur Kants eigenes umfangreiches Werk, sondern zumindest auch die theoretischen Werke von Herder, Jacobi, Schiller und Reinhold, um nur die wichtigsten zu nennen, sind jederzeit als weitgehend bekannt

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vorauszusetzen, wenn man mit einer Aussicht auf Erkenntnisgewinn eine Arbeit zum Prozeß der nachkantischen Entwicklung auch nur beginnen will. Hat man sie

nicht in einer Synopse vor Augen, wird man die Geneseder Werke derer, die sich binnen kurzer Zeit produktivins Verhältnis zu Fichte zu setzen wußten, nicht wirklichnachvollziehen können. Kaum weniger wichtig ist es, diereifen Produkte der Entwicklung, also die Werke vonFichte, Hölderlin, Schelling und Hegel, in ihrer systematischen Anlage und Argumentation zureichend und in

Beziehung aufeinander verstehen zu können. Denn nurdann ist man empfänglich genug für die frühen Spurender theoretischen Entwicklungen, die auf sie hinzuführen beginnen.

Angesichts des enormen Umfangs dieser Vorbedingungen sinnvoller Arbeit wird es wohl auch notwendig sein,für Forschungen solcher Art die Voraussetzungen durch

veränderte Arbeitsbedingungen zu schaffen. Denn es bedarf beinahe einer Lebensarbeit eines einzelnen, dieKenntnis aller wichtigen Werke zu erwerben, die danndoch wieder nur eine Grundlage für die eigentliche Forschungsarbeit ist. Intensive Zusammenarbeit in Gruppenscheint insofern für die Zukunft unerläßlich zu werden.In vielen anderen Wissenschaften ist dies seit langem eine Selbstverständlichkeit. Es kann also nicht befremden,daß bei der Erforschung einer der bedeutendsten Perioden der theoretischen Produktion und der intellektuellen Selbstverständigung der Menschheit dieselbe Einsicht unabweisbar wird. An anderer Stelle wäre des näheren darzulegen, wie ihr Geltung verschafft werden kann,ohne daß die philosophische Eigenständigkeit der an solchen Projekten Beteiligten zu sehr eingeschränkt wird.

Liest man heute die philosophiehistorische Literaturder Zeit von 1800 bis etwa 1848, so hat man den deudi-chen Eindruck einer Stilverschiedenheit gegenüber der 

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uns selbst immer noch vertrauten Forschungsart. Sie hatte den großen Atem der neuen Geschichtsphilosophiewie selbstverständlich und darum oft auch zwanghaft zur

Voraussetzung. Die theoretischen Entwicklungen werdenals Folgen von epochalen Voraussetzungen dargestellt,die sich über einander entgegengesetzte Teilwahrheiten

 bis in ihre letzten Konsequenzen entfalten müssen. Nochdie Junghegelianer folgen durchweg diesem Darstellungsmuster. Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt sich dannauch für die neuere Philosophiegeschichte die Untersu

chungsart durchzusetzen, die innerhalb der klassischenPhilologie längst üblich geworden war. Eine auf Detailforschung gestützte Doxographie und Motivgeschichteeinzelner Denker wurde zum allgemein angenommenenGrundmuster. Die Forderung von Genauigkeit der Textexegese, die in unserem Jahrhundert mit erneutem undnoch größerem Nachdruck erhoben wurde, hat daran

nichts Grundlegendes geändert. Nun aber ist es an der Zeit, zumindest für die Periode

der nachkantischen Philosophie einer synthetischen Betrachtungsweise wieder ein größeres Recht zurückzuge

 ben. Dabei kann es nicht darum gehen, Prämissen wiederin Kraft zu setzen, die mit den hegelnahen Voraussetzungen der Historiographie des frühen 19. Jahrhunderts

zu vergleichen sind. Es geht vielmehr zunächst darum,die Folgerungen aus Jahrzehnten der philosophischenDetaüarbeit an den Werken der Theoretiker mit herausragendem Gewicht zu ziehen. Diese Arbeit ließ deudichwerden, daß die Dynamik des Gesamtprozesses dernachkantischen Entwicklung eine Erweiterung des Horizontes und eine, so mag man sagen, kopemikanische Einordnung der einzelnen CEuvres, für die man sich primärinteressiert, in diesen Gesamtprozeß verlangt. Das Werkeinzelner kann ferner nicht als Fixpunkt angesehen werden, von dem aus die Bewegungen der Konstellationen,

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in die es doch einbezogen war, zu betrachten sind. Esmuß vielmehr von Beginn und durchgängig als Glied inderen komplexem Verlauf zur Darstellung kommen. Frei

lich wird sich dabei auch die Frage mit neuer Dringlichkeit stellen, wie diese Dynamik als ganze verständlich gemacht werden könnte. Als solche aber schließt sie Antworten aus, welche über den theoretischen Gehalt, der indem Gesamtprozeß herausgearbeitet wurde, in einemvon ihm selbst kaum berührten Vorgriff meinen verfügenzu können - also die Globalauskünfte der Geschichts

theorien mit ihren vorgeprägten Epocheneinteilungen,seien es nun Diltheys Weltanschauungslehre oder diemarxistische Lehre von der Abfolge der Produktionsverhältnisse und Klassenherrschaften. Heideggers Erklärung des Prozesses des modernen Denkens als Geschichte einer zunehmenden Verstellung der eigendichen Wahrheit müßte eigens erörtert werden. Denn sie scheint we

nigstens den Texten der Denker abgewonnen zu sein.Und sie hat auch als einzige ein wirklich neues Musterfür die Erklärung dieses Prozesses nach dem Ende derklassischen Geschichtsphilosophie aufzubieten. Und dochist auch sie ohne wirklichen Kontakt mit den Gedankenund den Erfahrungen zustande gekommen, die den Prozeß bestimmt haben.

Die Ausgaben der Werke von Fichte, Hegel und Schel-ling, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Weg ge

 bracht worden sind, müssen als die letzten Monumenteeiner im Grunde abgeschlossenen Periode philosophiehistorischer Forschung gelten. Sie sind, soweit sie dennüberhaupt zu einem guten Ende geführt werden, unent

 behrliche Mittel eines verläßlichen Umgangs mit denüberlieferten Manuskripten. Daß zwei der luxuriös ausgestatteten Ausgaben über viele Jahrzehnte keine Sorgedafür getragen haben, daß die wichtigsten der bishernoch nicht veröffentlichten Manuskripte von Hegel und

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Schelling ediert worden sind, gehört freilich zu denSkandalen dieser Zeit. Sieht man aber einmal von ihnenab, so ist doch schon längst deutlich geworden, daß die

vollständige Publikation der überkommenen Quellen zueinzelnen Werken die Entwicklung der Gedanken dieserWerke nicht hinreichend verständlich machen wird. Dazu ist es nötig, daß man sich die Zuordnung von dringlichen Problemstellungen sowie die Möglichkeiten, diedurch den Denkraum vorgegeben werden, verdeutlichenkann, innerhalb derer der jeweils einzelne Autor eine Po

sition zu beziehen suchte. Die Manuskripte, die er hinterlassen hat, werden erst vor diesem Hintergrund auch imLichte der Intentionen verständlich werden, aus denensie entstanden sind. Es ist insofern nicht allzu verwunderlich, daß wir noch immer weit davon entfernt sind, diefrühen philosophischen Biographien von Hegel, Hölderlin und Schelling in ihrer Beziehung aufeinander dar

stellen zu können, obwohl sie doch über viele Jahre imengsten persönlichen Austausch miteinander gestandenhaben und obwohl zu jedem einzelnen von ihnen eine

 bereits sehr umfangreiche Literatur produziert wordenist.

Steht die Orientierung an dem Denkraum aus, in denhinein die Werke der einzelnen konzipiert worden sind,

so wird oft nicht einmal bemerkt, daß die überliefertenManuskripte eine angemessene Analyse des Entwicklungsganges ihres Autors gar nicht zulassen. Im Falle Hegels ist diese Tatsache eigentlich ziemlich augenfällig.Was uns aus Hegels frühen Jahren überkommen ist, sindim wesentlichen Vorbereitungen für Publikationen. Daaber Hegels Publikationsabsicht zunächst auf Beiträgezur Aufklärung der religiösen Begriffe und zur Theorieder Religion ging, kann nicht erwartet werden, daß sichHegels philosophischer Bildungsgang aus den Texten,die er selbst aufgehoben hat, auch durch die eindring

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lichste Interpretation hinreichend herausarbeiten läßt.Jeder solchen Interpretation voraus müßte zunächst dasVerhältnis des überlieferten Bestandes an Manuskripten

zu den Prozessen der philosophischen Selbstverständigung so gut wie möglich erschlossen werden. Zieht mannur Verbindungslinien zwischen den Texten, die sich inden Nachlässen de facto gefunden haben, so ergibt sichzwangsläufig ein in vieler Hinsicht deformiertes Bild.

Um das zu vermeiden, würde es weiter nötig sein, auchdie Produktionsgewohnheiten des jeweiligen Autors auf

zuklären. Jede Werkgeschichte weist solche persönlichenEigenheiten auf. Sie sind auch nicht nur Idiosynkrasien,die man einfach vernachlässigen könnte. Der Produktionsprozeß steht vielmehr mit der Verfassung der Gedanken, die aus ihm hervorgehen, in einem Zusammenhang. So ist es wahrscheinlich, daß Hegels unvergleichliche Kunst bei der Entwicklung der Implikationen von

Begriffen mit der Weise, in der er sich überhaupt theoretische Zusammenhänge erarbeitete und übersichdichmachte, in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis steht. Es zu kennen würde eine Stütze für die eigentliche Konzeptionsgeschichte seines Werkes sein undwürde dann wiederum besser begründete Hypothesenüber das Verhältnis von geschriebenen Notizen zu aufge

hobenen Manuskripten ermöglichen. Solche Hypothesensind allerdings ein wesentlicher Teil einer wohlbegründeten Erklärung des Nachlaßbestandes, der wirklichüberkommen ist, und ein Teil einer kritischen Nachlaßgeschichte, einer eigentlich ganz unerläßlichen Voraussetzung für eine kritische Edition, welche diesen Namenin jeder Beziehung verdienen würde. So zeigt es sich also, daß die Arbeit an dem Werk eines Autors, die ohneein klares Bewußtsein von den Vorgaben des Denkraumes erfolgt, in den hinein dies Werk gewachsen und gestellt worden ist, auch zu TVübungen des Blicks und der 

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Fragestellung schon bei der philologischen Erschließungdieses Werkes selber führen kann.

Man darf also davon ausgehen, daß die Erschließung

der Periode der nachkantischen Philosophie gerade dadurch, daß sie sich bis in die verwickeltsten Zusammenhänge im Vorfeld der Werke der einzelnen vorarbeitet,dann auch in um so engeren Kontakt mit den Fragenkommen wird, welche die Interpretation der philosophischen Leistungen dieser Periode als solche aufgibt:

 Neben der Einsicht in die Unausweichlichkeit der Kon

stellationsforschung hat die Arbeit an den bedeutendenTexten Kants und der nachkantischen Periode währendder letzten Jahrzehnte noch eine andere Erkenntnis ergeben: Diese Texte haben das von ihnen selbst erschlossene theoretische Potential nicht voll ausgeschöpft undauch nicht umfassend verdeudicht. Mit dem Selbstbildder Verfasser der Texte ist diese Erkenntnis auch ohne

weiteres vereinbar. Sie alle haben selbst, in jeweils besonderer Weise, ausdrücklich erklärt, daß sie ihr Werknicht zu einem für sie selbst wirklich befriedigenden Abschluß haben führen können. Diese ihre Erklärungenschließen freilich nicht ein, daß zugestanden wird, sieseien auch über die Konzeptionen als solche nicht zurvollständigen Klarheit gekommen. Man kann aber zei

gen, daß die Methodologien der Begründungstexte entweder einen Spielraum für deren richtige oder beste Auffassung offengelassen haben oder daß (wie etwa im Falle Hegels) mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß derAutor dieser Texte von der eigentlichen Natur seines Begründungsganges Vorstellungen hatte, die seine Konzeption nicht angemessen wiedergeben und die Anlaß

auch zu erheblichen philosophischen Bedenken sind. Alldas hat dazu geführt, daß die bedeutenden Texte derZeit inzwischen im Lichte von Alternativen erschlossenund diskutiert werden können, die von ihnen selbst nicht

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ausdrücklich nahegelegt sind. Ich habe das Verfahren,welches garantiert, daß man sich dabei doch nicht überdie Gehalte der Konzeptionen als solche in einer kurz-

schlüssigen Aktualisierung einfach nur hinwegsetzenmuß, das ,argumentanalytische4Verfahren genannt undes auch näher begründet.1

Zwischen der Konstellationsforschung und dem argumentanalytischen Interpretationsverfahren besteht nunder folgende Zusammenhang: Beide gehen davon aus,daß Erschließungsleistungen des Denkens nicht schlechthin

von denen ausgehen, die sie erbracht haben, und daß sieauch von ihnen nicht durchaus beherrscht werden können. Der in Konstellationen erschlossene Denkraum gibtihnen Aufgaben vor, die für sie unabweisbar und in vieler Weise informell bestimmend sind, wenn sie auch imAusgang von ihm ihrem Denken eine ihnen eigentümliche Orientierung geben. Und die sachlichen Möglichkei

ten, die sich ihnen einerseits aus diesem Denkraum undandererseits im Rahmen des ihnen eigentümlichen Konzepts erschließen, greifen über das von ihnen selbst Ausgearbeitete immer auch hinaus - je kraftvoller und origineller die Konzeption ist, desto mehr.

So wirken die Konstellationsforschung und die argumentanalytische Methode gemeinsam zugleich auch darauf hin, daß die historische Arbeit an bedeutenden Konzeptionen einer vergangenen Periode der Philosophie inein produktives Verhältnis zur gegenwärtigen Verständigung im Denken gebracht werden kann. Je geschlossener und in sich vollendeter nämlich vergangene Konzeptionen erscheinen, um so mehr nötigen sie dazu, sichihnen entweder zur Gänze zu überlassen oder sich derSache nach zur Gänze von ihnen zu verabschieden. Ist aberdas historische Werk Teil eines Prozesses, dessen Evidenzpunkte und dessen Dynamik sich übersichtlich machen lassen, dann wird es möglich, zu ihm ein anderes als

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ein so gänzlich starres Verhältnis zu begründen. Es magzwar wohl sein, daß diese Verständigungsart leichter unddefinitiv erkennen läßt, in welcher Weise ein solches

Werk schon von seiner Motivation und Grundanlage herfehlgeht und aussichtslos bleiben muß. Es ist aber unwahrscheinlich, daß Werke, in denen die intellektuellenMöglichkeiten einer produktiven Periode zu einer besonderen Ausbildung und Konzentration gekommensind, keine andere Reaktion als die der globalen und definitiven Abweisung auf sich ziehen sollten. Viel wahr

scheinlicher ist es, daß die Potentiale, die in ihnen in Bewegung versetzt sind, ein ganzes Bündel von Fragen undAufgaben für die Selbstverständigung jeder Gegenwartmit sich führen, deren Horizont nicht verengt und derenSensibilität für Grundmöglichkeiten der Lebensorientierung nicht erloschen ist. Die Forschung, welche eine Vergangenheit im Blick auf die Ausbildung von deren Po

tentialen verständlich machen will, kann insofern und inder Folge auch dazu imstande sein, fruchtbare Übergänge zwischen der historischen Forschung und der gegenwärtigen Gedankenarbeit eintreten zu lassen. Und sievermag dies sowohl in Beziehung auf die Rätselfragender philosophischen Theorie, die seit Jahrtausenden in

 jeweils veränderter Gestalt immer wieder aufs neue auf

gekommen sind, wie auch in Beziehung auf die Erschließung von Möglichkeiten bewußten Lebens in dendem Wandel unterworfenen Kontexten einer Epoche.Die Epoche der Theorie, die von Kant ihren Ausgangnahm, hat beide Aufgaben als gleichgewichtig und stetsim gleichen Maße im Blick gehabt.

Die Konstellationsforschung weist einige Züge auf, die

den Anschein erwecken könnten, als fülle sie nur Nischen und Lücken aus, die im Zwischenbereich zwischenden Wirkungssphären der bedeutenden Denker offenge blieben sind - so wie in der Kunstgeschichte Studien

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über ,die kleinen Meister4dann ins Kraut schießen, wenndie Analyse der großen Meister gerade einmal erschöpftzu sein scheint. Dieser Aspekt ist wirklich wesentlich mit

ihr verbunden. Die Konstellationsforschung muß sichimmer auch mit besonderer Aufmerksamkeit der Vermittlungsleistungen annehmen, welche Theoretiker er

 brachten, an die die Erinnerung bald erloschen ist. Siewird sie aber nicht als die Kleinen neben den Großen inder Selbstbeschränkung einer Monographie über eineinzelnes (Euvre behandeln. Und daß überhaupt eine

Konstellationsforschung zustande gekommen ist, wirdsich jederzeit daran erweisen, daß sie es vermag, die Leistungen der bedeutenden Denker in ein neues Licht zustellen, und zwar dadurch, daß sie deutlich macht, wiesich diese Leistungen aus dem Bezugssystem der Konstellationen heraus, der sie angehören, ausbilden und abheben. Es gibt in Wahrheit aber auch gar kein anderes

Verfahren, das dieselbe Aufgabe zu lösen vermöchte.Die in diesem Band vereinigten Abhandlungen werden

hoffentlich dazu geeignet sein, die Möglichkeiten deutlich heraustreten zu lassen, welche mit diesem Verfahrengegeben sind. Sie haben allesamt, wenn auch nicht ausschließlich, einen Fall der Anwendung des Verfahrens imAuge, der seiner in besonders hohem Maße bedarf undder zugleich für die Entstehung der nachkantischen Philosophie von ebenso großer wie schwer zu erklärenderBedeutung ist: das philosophische Denken Hölderlins biszum Jahre 1795.

Im Jahre 1961 wurde Hölderlins Fragment Urtheil  und Seyn  zum ersten Male bekannt gemacht. Alle hiervereinigten Texte sowie die Arbeiten, auf die sie zurückgehen, sind Folgen der Faszination, die für mich von diesem Blatt ausgegangen ist. Hölderlins Fragment läßt,ganz anders als das sogenannte  Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus,  klar eine eigenständige Kon

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zeption zu den ersten Grundlegungsfragen der Philoso phie erkennen. Vor seinem Auftauchen wäre niemand berechtigt gewesen, Hölderlin eine Konzeption dieser Art

zuzuschreiben. Nun aber war deudich geworden, daß esim Bereich der Entstehungsgeschichte der nachkantischen Philosophie, die man für gut erforscht haltenmochte, Möglichkeiten des Denkens gegeben hatte, mitdenen niemand gerechnet hatte. Und es war möglich undauch notwendig geworden, die Frage nach den Entstehungsbedingungen und den weiteren sachlichen Zusam

menhängen dieser Konzeption aufzubringen und eineAntwort auf sie zu finden. Eine unabweisbare Dringlichkeit hatte diese Frage aber wohl doch nur für den, demdie Rapidität der Entwicklung, welche noch zu KantsLebzeiten bis zur Konzeption von Hegels Logik geführthatte, schon längst zu einem Rätsel geworden war, dassich aus den bereits verfügbaren Quellen nicht auflösen

ließ.Angesichts der isolierten Stellung von Urtheil und Seyn 

in Hölderlins Werk veranlaßte dieser Text zu einerganzen Reihe von Untersuchungen, deren Resultate indem Aufsatz „Hölderlin über Urteil und Sein“ zusammengefaßt worden sind. Einige dieser Untersuchungenhaben bereits die methodische Form der Konstellations

forschung angenommen, obwohl dieser Begriff erst vielspäter gebildet und erläutert wurde. Das geschah in demersten der hier vereinigten Beiträge, der zuerst 1987 erschien.

Der Aufsatz „Hölderlin über Urteil und Sein“ wurdedagegen bereits 1967 veröffentlicht. Er setzte eine rechtumfangreiche Literatur zu Hölderlins Philosophie in

Gang, aus der ich selbst in der Folge viel gewann. Meineeigenen Untersuchungen wurden aber, wenn auch ingroßen zeitlichen Abständen, ganz aus der Konsequenzder Überlegungen von 1967 heraus fortgesetzt und wei

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ter ausgebildet. Sie galten zunächst dem Versuch, dieKonstellation, die seit dem Jahr 1796 in Frankfurt unddann in Homburg vor der Höhe bestand, durch die

Klärung der Rolle von Jacob Zwilling innerhalb ihrerweiter aufzuhellen. Der dritte und der vierte Beitrag sindim Gang dieses Versuches entstanden. Der vierte gibt da bei eine vorläufige Übersicht über die Entwicklung dernachkantischen Philosophie aus zumeist noch unbekannten Quellen. Und er formuliert ausdrücklich die Fragestellung, die dann in dem auf Jena gerichteten For

schungsprogramm verfolgt wurde.Der fünfte und der sechste Beitrag greifen auf die

frühesten Anfänge von Hölderlins Denken im TübingerStift zurück. Sie stehen zugleich im Zusammenhang mitVersuchen, die Entstehung von Hegels und SchellingsDenken in der Konstellation zu erklären, die im Tübinger Stift während deren Studienzeit bestand. Diese Ver

suche waren schon im Gang, als mir die Bedeutung vonHölderlins Urtheil und Seyn zum Bewußtsein kam. In derFolge sind weitere Untersuchungen zu Hegels Entwicklung entstanden und an anderem Ort veröffentlicht worden. Sie bleiben von dieser Sammlung ausgeschlossen,die sich insofern auf die Konstellationsforschung mit einem besonderen Interesse an Hölderlin konzentriert.

Zwischen den Anfängen von Hölderlin in Tübingenund seinem Denken in Jena liegen freilich Jahre, die inden hier zusammengeführten Arbeiten nicht durchleuchtet werden. Dazu werden die folgenden Publikationen aus dem Forschungsprogramm die Gelegenheit ge

 ben, das nun seinem Abschluß entgegengeht - insbesondere das Buch über Hölderlins Denken im Jahr 1795in Jena.

Der siebente und längste Text dieser Sammlung entstand im Jahr 1990 und wurde inzwischen auf den neuesten Stand der Arbeiten im Forschungsprogramm ge

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 bracht. Er berichtet von dessen Ergebnissen und also vonden Ergebnissen von Bemühungen, die einen Umfangannahmen, der 25 Jahre zuvor und bei Beginn der Kon

stellationsforschung durchaus nicht abzusehen war.Vielleicht wird es manchem als unangemessen erschei

nen, einen solchen Forschungsbericht bekannt zu machen, bevor noch die Ergebnisse im einzelnen ausgewiesen werden konnten. Doch dieser Band hat, auch nachder Absicht des Verlages, vor allem die Aufgabe, eineForschungsweise zu verdeutlichen und den Gang der

Ausbildung von Forschungen, welche von diesem Methodenbegriff ausgehen, durch eine Folge von Beiträgenzu dokumentieren. In der Komposition eines solchenBandes kann wohl kaum eine Dokumentation des Endstadiums fehlen, das bisher erreicht werden konnte. Imübrigen will der Band auch zur Teilnahme an diesem Unternehmen einladen. Es überfordert die Kräfte eines ein

zelnen, der sich zudem nur im Nebenberuf als Historikerder Philosophie versteht. Das ist mir während der langenJahre, in denen ich von der inneren Logik der Forschungsaufgabe in immer komplexere Untersuchungenhineingezogen wurde, oft genug zu bedrückender Evidenz gekommen.

Doch ist es wiederum auch erfreulich, sich ein Feld von

noch neuen und bedeutsamen Fragestellungen auftun zusehen, und zwar ein Feld, bei dessen Bearbeitung philosophische und historische Probleme fruchtbar ineinander eingreifen können. Auch so kann man sich dessenvergewissern, daß man nicht in einem toten Nebenwegdes Stromes der menschlichen Verständigungsbemühungen festsitzt, sondern daß sich im eigenen Tbn Aussich

ten eröffnen, die weit ausgreifen und die der Kreativitätderer, die uns nachfolgen, jede Möglichkeit zur Bewegung und Bewährung geben. Nicht nur durch das, wassie zu dauerhaftem Abschluß bringen kann, sondern

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mehr noch durch das, was sie in jüngeren Händen frucht bar werden läßt, leistet die Forschung ihr Bestes.

Mein Dank für sehr großzügige Förderung gilt dem

Programm fü r,Spitzenforschung1des bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie derVolkswagen-Stiftung, die mir durch die Gewährung eineseinjährigen Akademiestipendiums die Arbeiten zum Abschluß des Forschungsprogramms ermöglichte. MichaelKlett und Thomas Steinfeld danke ich für die verlegerische Betreuung der Publikationen, die aus dem Pro

gramm hervorgehen werden.

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KonstellationenPhilosophische und historische Grundfragen 

für eine Aufklärung über die klassische deutschePhilosophie

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I.

Historische Rechtfertigungen, 

Selbstdarstellungen und Spektren von Theorien

Die Erforschung der Geschichte der Philosophie steht ineinem anderen Verhältnis zum Gang des philosophischenDenkens als etwa die Erforschung der Geschichte der

Physik zur weiteren Ausbildung der physikalischenTheorie. Schon die Gedanken der frühen griechischenPhilosophie haben sich zu einem guten Teil als Kritikfehlgehender oder nicht verläßlicher Denkweisen entfaltet, denen sie entgegentraten oder mit denen sie konkurrierten. Platon gewann Klarheit in der Entfaltung seiner Ideenlehre aus einer Übersicht über die Lehren der

Philosophen, die ihm vorausgingen - über ihre Stärkenund über den Grundmangel, der sie doch allesamt vonder Dimension ausgegrenzt hielt, auf die sich das Denkeneigendich zu konzentrieren hatte. Aristoteles hat seineontologischen Grundbegriffe zwar der natürlichen Sprache der Griechen abgewonnen - aber in einer Anstrengung, die sich zuerst gegen die Weise der Begriffsbildung

richtete, die Platon, sein Lehrer, erarbeitet hatte. Die moderne Philosophie hat dann zwar viele Unternehmenheraufgeführt, das philosophische Denken einer der alten Wissenschaften (der Geometrie) oder der neuen Naturtheorie (der mathematischen Physik) anzugleichen.Doch die klassische deutsche Philosophie kam wieder zuder Einsicht zurück, welche sie mit der klassischen Phi

losophie der Griechen in eine neue Verbindung brachte:Die philosophische Grundlegung hat nach einem nur ihreigentümlichen Verfahren zu geschehen. Und über diesVerfahren ist nur Klarheit zu gewinnen, wenn in einem

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damit Klarheit über den gesamten historischen Gang desDenkens erreicht wird - über seine guten Gründe ebenso wie über seine Verwicklungen und Irrwege. Kants Kri

tik ist zugleich eine Theorie der Denkmotive und ihrerLogik, aus denen sich zuvor die Positionen formierten,welche er ,dogmatische4und ,skeptische4nannte. Hegelsspekulative Logik schließt fugenlos eine Theorie desAufbaus aller historischen Gestalten der Metaphysik insich ein.

Kants und Hegels Überblick über die Geschichte der

Philosophie läßt sich aus ihrem Selbstverständnis erklären: Sie wollten das Denken aus einer zuvor unvermeidlichen Gegenläufigkeit von Möglichkeiten auf einesichere Grundlage stellen. Und sie meinten, diese ihreGrundlegung ergäbe nicht nur einen verläßlichen Methodenbegriff, der ja mit künftiger Theorienvielfalt vereinbar gewesen wäre, sondern ebenso auch schon denGrundriß eines Systems, das dauern müßte. Sie zieltensomit auf einen Abschluß der philosophischen Denkanstrengung im Prinzip. Insofern aber der Methodenbegriffzugleich einen solchen definitiven Abschluß ergebensollte, konnte der Umstand, daß er dem Denken bisherunzugänglich geblieben war, nicht als unerklärbarer Zufall oder aus dem Denken ganz fremden Bedingungenverstanden werden. Es mußte einem Denken, das mit seinem Begriff auch zu seinem Abschluß kommt, selbst eigentümlich sein, nur in einer Anstrengung gegen in ihmselbst begründete Täuschungsquellen oder bloß vorläufige und im Grundsatz unvollständige Konzepte seinerselbst zur Klarheit über sich zu gelangen. Die Einsicht indie Geschichte seiner Herkunft aus einer selbst einsichtigen Folge von Weisen und Stufen, sich zu verfehlen,gehört somit zu dem eigentlichen Verstehen seiner selbst,zu dem das Denken erst in seiner Vollendung zu findenvermag.

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Da nun aber die klassische deutsche Philosophie selbstin die Geschichte des Denkens übergegangen ist, kanndieses ihr Selbstverständnis nicht weiter fortgeschrieben

werden. Was auf sie folgte und vor allem was sich an sieanschloß, läßt sich nicht als Ausfluß der bloßen Unfähigkeit der Nachfolgenden verstehen, an dem wirklicherreichten Abschluß festzuhalten oder ihn doch immeraufs neue anzueignen. Und diese Denkfigur, an die sichzu binden orthodoxe Kantianer und Hegelianer nichtumhin können, ist am meisten durch die historische Ver

ständigung über die eigendiche Verfassung der klassischen deutschen Philosophie der Glaubwürdigkeit beraubt worden, zu der wir zweihundert Jahre nach derenBeginn schließlich gelangt sind. Wir haben Kants Kritikund Hegels Logik mit einer Anstrengung durchsichtig zumachen versucht, die durch ihre Ausdauer und die Differenziertheit ihrer analytischen Mittel alles übertrifft,

was Kants und Hegels Zeitgenossen aufwenden konnten.Sie mußten sich auf die in ihrer Zeit neuen Methodenund Systeme des Denkens unmittelbar einlassen, sei esim Anschluß an oder im Widerspruch gegen sie. Aus derDistanz zu ihnen und aus den Unzulänglichkeiten ihrerspäteren Aneignungsgeschichte wuchs uns die Aufgabe,aber auch die Möglichkeit zu, ihre innere Formation in

Jahrzehnten einer Bemühung nachzuzeichnen, die sichauf definitive Schlußfolgerungen nicht vorab oder dochalsbald festzulegen hatte. Dabei hat sich aber herausgestellt, daß auch die Begründer der klassischen deutschenPhilosophie selbst nicht in schon vollendeter Klarheitüber ihrem eigenen Begründungsgang standen, daß sieihre imponierenden Werke vielmehr auf der Grundlage

einer unzulänglich reflektierten Methode und Weise derSystembildung ausgearbeitet hatten. So zeigte sich auch,daß diese Konzepte gerade in dem, wodurch sie Aufklärung über die Grundlagen des Denkens sind, aus

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ihrem eigenen Wortlaut nicht dauerhaft aufgeschlossenund nicht eindeutig oder gar überzeugend gemacht werden können. Sie bedürfen darum einer Wiederholung

aus selbständig erworbenen Gesichtspunkten. Und diemuß grundsätzlich dazu imstande sein, auch von ihrerSelbstdarstellung abzuweichen, um gerade dadurch erstsei es den wirklichen Aufbau ihrer Begründungsform, seies das bestmögliche Muster für einen solchen Aufbau inihrem eigenen Sinne zu erreichen.

Wenn es sich aber so verhält, so ergeben sich Folge

rungen für die Stellung der klassischen deutschen Philosophie in der Geschichte des Denkens, und zwar zum einen in Beziehung auf die ihr vorausgehende Denkgeschichte, zum anderen aber auch in der Geschichte ihrereigenen Entfaltung. Zum ersten: Kant hatte ebenso wieHegel die Klarheit in der Begründung der eigenenGrundtheorie mit de r Übersicht über die vorausgehendeGeschichte des Denkens verbunden, und zwar so, daßdiese Übersicht aus der Klarheit und Überzeugungskraftder Begründung und Selbstbegründung in einer abschließenden Theorie ermöglicht und hergeleitet seinsollte. Ist aber die Abschlußtheorie ihres eigenen Methodenkonzeptes selbst gar nicht wirklich mächtig, so daß esaus historischer Distanz sowohl neu gewonnen wie zuhöherer Klarheit gebracht werden muß, so scheint sichdas Verhältnis von systematischer Klarheit zu historischer Übersicht nunmehr in Richtung auf eine Umkehrung zu verschieben: Daß eine neue Grundtheorie eineÜbersicht über die Wege des Denkens im Rahmen einesselbst wieder systematischen Konzeptes erlaubt, wird zueinem wesentlichen Moment ihrer eigenen Beglaubigung. Sie eröffnet eine Dimension von Denken und Begründen, von der her sich die widerstreitenden Möglichkeiten zur philosophischen Theorie, die ein Bewußtseinunheilbarer Verwirrung und einer grundlegenden, aber 

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nicht eigentlich faßbaren Mangellage nach sich zogen, alszwar nicht harmonischer, aber doch sinnvoller Gesamtzusammenhang darstellen. Und eben die Fähigkeit zu ei

ner solchen Darstellung gibt nunmehr ein gutes Argument dafür ab, eine Grundtheorie auch dann für überzeugend oder gar unabweisbar zu halten, wenn die Weise, in der sie sich selbst theoretisch rechtfertigt, nicht zurvollen Durchsicht gebracht ist, wenn sie eigentlich kaumübersehbare Mängel in der Selbstdarstellung und Selbst-rechtfertigung aufweist.

Aus der Umkehrung in den Graden der Klarheit zwischen historischer Rechtfertigung und systematischerSelbstdarstellung sind aber, zum anderen, auch Folgerungen zu ziehen, welche unsere Verständigung überden historischen Prozeß betreffen, in dem die Methodenbegriffe und die Systemformen der klassischen deutschen Philosophie aufeinander gefolgt sind. Und es sind

diese Konsequenzen, denen die folgenden Überlegungen zur Methodik der Erforschung der klassischen deutschen Philosophie vor allem nachgehen wollen.

TVaut man den Begründern ihrer Konzeptionen zu, dieeigene Leistung ganz zu durchschauen und in einer angemessenen Selbstdarstellung zu beherrschen, so mußsich ein ganz anderes Bild von den Verhältnissen zwi

schen ihnen ergeben als dann, wenn man zu der Überzeugung gelangt, daß sie die Gründe, die sie zu ihrerKonzeption bewogen, weit besser verstanden als derenAufbau und die inneren Bedingungen, kraft derer er zustande kommen konnte. Sieht man in den Begründernselbstgenügsame Heroengestalten des Denkens, so kanndas Verhältnis unter ihnen nur nach einem der beiden

folgenden Modelle gedacht werden: Ihre Konzeptionensind entweder Alternativen, die zur Entscheidung gegeneinander stehen, oder notwendige, in sich selbst aber

 jeweils vollendete Stufen in einem Erkenntnisprozeß,

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der eben diese Stufen zu durchlaufen hat, um zu seinemeigentlichen Abschluß zu kommen.

Kämen nun nur diese Modelle in Betracht, so müßten

wir uns für das erste von ihnen entscheiden - also gegenHegel und auch gegen die gegenüber Hegels Anspruchunentschiedene Mehrheit der späteren Historiker derPhilosophie. Denn die Verständigung über die klassischen Systembildungen aus der historischen Distanz hatzumindest ergeben, daß die Gesamtleistungen von Kant,Fichte und Hegel nicht in eine lineare Zuordnung und ei

ne einsinnige Abfolge gestellt werden können. FichtesWissenschaftslehre ist mit Kants Kritik durch ihre Orientierung am gnoseologischen Problem verbunden. Sieteilt aber mit Hegels Logik die methodische Fundierungdurch eine Formalontologie, in welcher der Gegensatz,also eine Form von negativer Beziehung, eine mit KantsDenken unvereinbare Grundstellung innehat. Andererseits ist Fichtes Ausgang von der Theorie des Erkennensund von Bewußtsein überhaupt ein entscheidenderGrund dagegen, seine Gegensatzlehre zu einer spekulativen Negationstheorie auszubilden, der in Hegels Logikeine Schlüsselstellung zukommt. Insoweit sind alle dreiPositionen also wirklich als inkommensurable Alternativen zueinander anzusehen.

Darüber hinaus bleibt aber die weitergehende Einsichtin Kraft, daß keine der drei Konzeptionen zur vollenDurchsicht durch die eigenen Formationsbedingungenund damit zu einer dauerhaft haltbaren Selbstdarstellung ihrer methodischen und systematischen Verfassunggelangen konnte. Am ehesten ist dies noch Kant zuzugestehen, der die kritischen Hauptwerke am Ende eineslangen Arbeitsganges, nicht in jugendlichem Alter undaus früh entschlossenem Zugriff konzipiert hat. Aber seine Selbstinterpretation gewinnt ihre Überlegenheit nichtaus konziser, allseits gesicherter und ausgiebig begrün

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deter Methodenklarheit. Sie ist vielmehr Kants Besonnenheit zu verdanken, welche die Methodenbegriffe dortim Unbestimmten stehen läßt, wo sie sich ihm als unzu

gänglich für eine überlegte und theoretisch beherrschteRechenschaftslegung erwiesen. Wir müßten imstandesein, die Einsatzpunkte und die Entfaltungsart aller dreiKonzeptionen aus eigener, wenngleich von ihnen angeleiteter Kraft in ein stabiles Verhältnis zueinander zu

 bringen, wenn es uns gelingen sollte, den theoretischenRaum, der sich zwischen ihnen öffnete, auszumessen und

in einer Theorie zu beherrschen, die nicht am Ende dochwieder auf unvereinbare und gar unbezogene Alternativen hin ausdifferenziert werden muß.

 Nun sind aber alle diese Konzeptionen zwar nicht Leistungen einer Generation, aber doch einer Epoche, diedas Maß von dreißig Jahren nicht einmal erreicht. Durchdiese Anzahl von Jahren pflegt man aber eine Genera

tion zu definieren. Die Konzeptionen der klassischendeutschen Philosophie sind somit Leistungen von Zeitgenossen. Noch zur Lebzeit Kants und während er sichweiter um die letzte Fassung seiner transzendentalen Begründung mühte, hatten die Konzeptionen Fichtes undHegels schon ihre letzte, reife Form angenommen. Wennwir sie aus der Distanz und ohne den Druck einer durch

sie schlechthin bestimmten Problemlage nur nach einer jahrzehntelangen Anstrengung in ein angemessenes Verhältnis zueinander stellen können - um wieviel wenigerwar von ihren Zeitgenossen zu erwarten, daß sie zurKlarheit über die theoretische Konstellation und dasSpektrum von Theoriemöglichkeiten hätten kommenkönnen, unter denen sie ihre theoretischen Entscheidun

gen zu treffen und im Blick auf die sie einen auf Einsicht begründeten Lebensweg auszubilden hatten!

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Theoretische Konstellationen und 

Konstellationen in Gesprächen

Je tiefer wir uns in die Diskussionsgänge einarbeiten,über welche die Rezeption der Kantischen Kritik in dieerste Ausbildung der folgenden System- und Methodenkonzepte hinüberwirkte, um so deutlicher werden die

Auswirkungen der Unübersichtlichkeit jener für Zeitgenossen im Grunde unbeherrschbaren Konstellation. DieDebatte über Kants Vemunftkritik kam seinerzeit nurlangsam in Gang. Sie wurde zunächst von den Vertreternder metaphysischen und der empiristischen Schulphilo-sophie aufgenommen. Sie haben sie mit der für solcheDebatten bisher gewohnten gemächlichen Gründlichkeit

eingeleitet. Doch bald kam in der Rezeption von KantsKritik eine ganz andere Ton- und Gangart auf. Es wurdeEmst gemacht mit dem Bewußtsein, das auch Kants eigenes gewesen war: daß die Kritik nicht nur eine Stellein der Theoriegeschichte besetzen würde, daß sie vielmehr der Geschichte der Menschheit zugehört, so wiedie Werke von Luther und Rousseau. Diese Wandlung inder Rezeptionsweise wurde erst dann unvermeidlich, alsKants moralphilosophische Grundwerke erschienen waren. Denn in ihnen wurde vollends deudich, daß die Kritik für den ,gemeinen Mann4sprechen wollte, daß sie alsTheorie zugleich auf eine Klärung und damit eine Befreiung seines Selbstbewußtseins und seiner Selbstinter

 pretation abzielte. So trat der Zusammenhang zwischender Kritik auf der einen Seite und den großen Zeitfragenauf de r anderen Seite ins Licht, welche nicht die G rundlagen der Erkenntnis, sondern die der Religion und desStaates betrafen. Mit Reinholds Anschluß an Kant und

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mit Jacobis erster Kantkritik war diese Umbildung derAnschlußweise an Kant vollzogen. In der Atmosphäretheoretischer Erregtheit, die so entstanden war, traten in

schneller Folge und immer aus irgendeiner Anschluß-nahme an Kant, die sie über alle Differenzen hinweg miteinander verbunden hielt, die weiteren Konzeptionender klassischen deutschen Philosophie hervor. Nur wenige von ihnen, vor allem die Konzeptionen von Fichte undvon Hegel, haben ein theoretisches Gewicht, das dauerhaft dahin wirken wird, sie als Alternativen zu Kants ei

gener Theorieform in Erwägung zu halten.Damit war jene Konstellation eingetreten, die es aus

schloß, von Zeitgenossen selbst in sichere Übersicht ge bracht werden zu können. Die Einreden der alten Kritiker, um die sich nun neue Skeptiker und die Theologenscharten, die von der kritischen Philosophie herausgefordert waren, konnten sich, die der Skeptiker ausge

nommen, kaum noch Gehör verschaffen. Auch wenn sieArgumentationen von Rang aufboten, standen sie dochabseits der Bahnen, in denen sich das Denken zu orientieren hatte: die Erkundung der Grundlagen und der ferneren Konsequenzen, die aus dem Kantischen Neubeginn in der Theorie ebenso wie in der Verständigungüber Religion und Staat gezogen werden konnten. Und

in diese Erkundung war jene Dringlichkeit, die Eile beieinem nicht zu vertagenden Geschäft, gekommen, welche zwar nicht der Forschung, wohl aber der Selbstverständigung auf einem gefährdeten Lebensweg eigen ist.

In der Arbeit und im Wirken derer, die bei der Aus bildung der klassischen deutschen Philosophie aufihrem weiteren Wege irgendeine Rolle gespielt haben,

läßt sich diese Eile, die aus Orientierungsnot kommt,überall erkennen. Jeder von ihnen hatte zwischen seiner Begabung, seinem spezifischen Interesse, seinenLebenskonflikten und auch zwischen seiner Vorsicht

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und seinem theoretischen Wagemut ein mehr oder weniger prekäres Gleichgewicht zu finden. Die aber mitwirklicher Konzeptionskraft und der Kraft zur Selb

ständigkeit auf ihrem Weg begabt waren, konnten ineiner solchen Situation und in einer Zeit, deren Kürzeerstaunen macht, Leistungen des Denkens aus sich heraussetzen, welche die Bedingungen ihres Ursprungsüberragen, obgleich deren Spuren auch in sie eingezeichnet geblieben sind - deutbar aber erst für die inunserer Zeit in Gang gekommene Forschung.

Man darf solche Entstehungsbedingungen nicht schonvorab zum Einwand gegen die Glaubwürdigkeit dieserLeistungen machen. Es gehört zur Philosophie als solcher, daß in ihr die Konzeption einen Vorrang gegenüberder Forschung und der Ausbildung de r Details hat - undzwar in einem Maße, das Philosophie deutlich von anderen theoretischen Disziplinen unterscheidet. Viele dergroßen Theorien de r Philosophie sind Konzeptionen, dieaus kritischen Lebenslagen und aus dem Zwang zur Verständigung hervorgegangen sind. Platons, Descartes’,Spinozas und Rousseaus Werk geben dafür Beispiele jenseits des deutschen Sprachraums. Und solcher Zwang insDenken muß auch nicht zu dessen Befangenheit fuhren.Er kann das Problembewußtsein steigern und die Wachheit für die Entdeckung von möglichen Denkbahnen, dieandernfalls nicht deutlich erfaßt und sicher nicht eingeschlagen worden wären. Dennoch haben im Falle derklassischen deutschen Philosophie besondere Umständedazu geführt, daß die Nötigung ins Denken die Übersichtüber seine Verfassung ausgeschlossen hat: die durchKant schon zu extremer Höhe gesteigerte Problemlage,sein gänzlich neuer und von jeder etablierten Wissenschaft abgesetzter Methodenbegriff, die besonnene Verweigerung Kants, über die von ihm gebrauchte Methodeeine durchsichtige Rechenschaft zu geben, die Verpflich

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tung jeder Konzeption, die Kant nachfolgte, auf die Engführung der philosophischen Grundtheorie mit einerAufklärung über die eigentlichen Grundlagen der Reli

gion und der politischen Freiheit.Man versteht aber nun, warum in einer solchen Situa

tion der philosophischen Kommunikation eine besondere Bedeutung Zuwachsen muß. Leibniz’ System konnte inder Isolation und in der Form von Briefwechseln überEuropa hinweg ausgearbeitet und dargelegt werden.

 Noch Kant erarbeitete die Kritik am Rande der gelehr

ten Welt. An seinem Tisch war alles Thema einer ausgedehnten und gepflegten Konversation - mit der einenAusnahme der Philosophie. Noch der Anfang von Fichtes Weg war der eines vereinsamten Hofmeisters. Aberdie fernere Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie ist von Lagen des Austauschs und des anhaltenden Gesprächs nicht abgehoben zu denken. Diese Ge

spräche waren angebunden an eine öffentliche Debattein den weitverbreiteten Rezensionsorganen der Zeit, deren Tempo extrem beschleunigt war. Was aber in ihnenentschied, war doch die Verständigung im direkten undvertrauten Austausch oder im Blick auf die Leistungenvon Mitstreitern und Freunden, mit denen man einst insolchem Austausch gestanden hatte.

So erklärt es sich zu einem guten Teil, daß die weiterführenden Leistungen des Denkens nach Kant ihre Wurzeln an nur wenigen Orten hatten, die einen solchen Austausch in einer Situation der Orientierungsnot und derÖffnung neuer Denkbahnen begünstigten: unter Stipendiaten des Tübinger Stifts, an der Universität Jena, inHölderlins Umkreis in Frankfurt und Homburg. Und

daraus erklärt sich weiterhin, daß die Erforschung derklassischen deutschen Philosophie in der späteren Phaseihrer Ausgestaltung vor spezifischen Schwierigkeitensteht. Die Werke, die aus diesen Konstellationen hervor

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gingen, wurden jedermann zugänglich vor die Augen derZeitgenossen und der Nachfolgenden gelegt. Aber dieEvidenzen, von denen diese Werke ausgehen und welche

sie denkend auszuarbeiten suchen, wurden in Gesprächslagen und in Beziehung zu den Ideen und Positionsnahmen von Freunden gewonnen, die nur spärlich oder garnicht überliefert worden sind. So ist eine Voraussetzungadäquaten Verstehens, diese Gesprächslagen aus demSchatten der reif gewordenen Werke und aus den Spuren von oft früh sich verlierenden Lebensbahnen von

Teilnehmern solcher Gespräche wieder hervortreten zulassen. Diese Aufgabe verbindet die Bemühung um dieVerständigung über die innere Form der entwickeltenklassischen deutschen Philosophie mit der Bereitschaft,in Forschungsuntemehmen vom Stile der historischenFeldforschung einzutreten. Sie sind lange behindert worden durch den Reichtum der literarisch dokumentierten

Denkleistungen. Diese Fülle disparater und doch verwandter Gedanken kam in so kurzer Zeit auf, daß dieMeinung begünstigt werden konnte, die Publikationender Zeit böten genügenden Anhalt für eine Aufklärung,die erschöpfend sein kann. Inzwischen sind wir aber zuder Einsicht gekommen, daß selbst noch in der kurzenZeit, die von Kants Wirkung bis zur Reife von HegelsWerk verging, Gesprächslagen und Etappen der Verständigung wesentliche Bedingungen der Entfaltung de r Gedanken waren, die sich beinahe ganz in der Verständigung zwischen Personen und diesseits jeglicher Publikation ausgebildet haben. Briefwechsel und oft: nur durchglückliche Zufalle überlieferte Manuskripte sind darumdie einzigen Dokumente, die einer Rekonstruktion durchForschung Anhalt und Verläßlichkeit geben können.

 Nur darf diese Einsicht wiederum nicht zu der Meinung fuhren, daß der Rückgang auf solche in ihrer Weise durchaus produktive und für unsere Erkenntnis der 

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Denkgeschichte der klassischen deutschen Philosophiewesentliche Etappen die Ausbildung der Werke erschöpfend erkläre, um derentwillen die detektivisch-historische

Aufklärung der Konstellationen erfolgt, aus denen heraus sie zustande kamen. Die Konzeptionen bleiben dieLeistungen einzelner, insofern ihre formativen Grundgedanken nur von ihnen allein erfaßt und in einen systematischen Entwurf überfuhrt worden sind. Aber dieseGedanken und Entwürfe kamen auf und entfalteten sichauf einem von ihren Autoren nur unzureichend aufge

klärten Fundament. Und sie mußten gleichwohl extremweit ausgespannten Zielsetzungen folgen. Denn sie hatten, in der Fortführung des Kantischen Programms, sowohl eine gänzlich neue Weise der Begriffsbildung undder Begründung wie auch eine Systematik zu gewinnen,in der die Freiheit des spontan sich bildenden Bewußtseins und damit die eigentlichen Grundlagen von Reli

gion und Menschengemeinschaft begriffen und beheimatet sein konnten. Es war der große Zuschnitt und dieDringlichkeit dieses Zieles, das dem vertrauten philoso

 phischen Dauergespräch, dem ,Symphilosophieren‘, dieKraft und die Rolle Zuwachsen ließ, leitende Evidenzenfür die Ausbildung von Systemen entstehen zu lassen,welche nicht nur die intellektuelle Welt des gesamten Eu

ropa verändert haben. Es sind somit die Grundorientierungen und die grundlegenden Wendungen in der Orientierung eines Lebenswerkes, in denen sich dessen Ein

 bindung in eine Konstellation des Gespräches nachhaltig und dauerhaft auswirkt.

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III.Konstellationsforschung

So haben wir also in unserem Bemühen um Aufklärungüber die klassische deutsche Philosophie zwei Arten vonKonstellationen zu berücksichtigen: zum einen die Konstellation zwischen den Begriffs- und Systembildungender großen Theorien und zum anderen die Konstellatio

nen des philosophischen Gesprächs, die für die Ausbildung der Systeme nach Kant und Fichte und wohl auchfür Fichtes eigenen Weg in Jena und über Jena hinaus eine nicht ignorable Bedeutung gehabt haben. Beide Artenvon Konstellation sind von jeweils gänzlich anderer Art.Und die Erkenntnis einer jeden von ihnen verlangt denGebrauch von nur für sie geeigneten Methoden - die er

ste Verfahren der Analyse von Argument- und Begriffsformen, die zweite die Verfahren der historischen Quellenforschung.

Aber beide Methoden müssen doch in Verbindungmiteinander ins Spiel gebracht werden. Und die Aufga

 ben, denen sie nachgehen, sind nur in ihrer Beziehungaufeinander sicher genug zu bestimmen. Denn die histo

rische Quellenforschung würde blindes Suchen bleibenund könnte allenfalls zur Bereicherung einer unphiloso

 phischen, weil gegen Gedanken abgeschotteten Motiv-,Geistes- oder Sozialgeschichte gelangen, wenn sie nichtaus der Einsicht in die theoretischen Bedingungen ihreAnleitung gewinnt, unter denen die Systeme der klassischen deutschen Philosophie konzipiert worden sind -

der Einsicht in das Dunkel der methodischen Begründung des Denkens, auf die Kant und mehr noch seine

 Nachfolger aus waren, und somit in das Ungenügen dervon ihnen vorgetragenen Selbstdeutungen. Aber diese

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Einsicht ist umgekehrt wiederum eine noch immer unzureichende Voraussetzung dafür, die Aufgaben, denensich diese Konzeptionen verpflichteten, und die Eviden

zen, denen sie folgten, verständlich zu machen. Dazu bedarf es des Aufschlusses über die Konstellationen derGesprächslagen, in denen auf dem noch durchaus unvermessenen Terrain einer neuen philosophischen Methode und Problemanordnung die Klarheit und die Entschlossenheit der neuen Systemkonzepte gewonnen worden sind und auch allein gewonnen werden konnten -

der Konzepte, die theoretische Interessen nur dann zu befriedigen vermochten, wenn sie ebensosehr dem Le ben dienten, indem sie dessen vor ihm selbst zuvor verstellte Verfassung zu begreifen wußten.

So müssen wir uns also auf eine doppelte und in derDoppelung kombinierte Analyse zweier Typen von Konstellation dauerhaft einlassen, wenn eine Verständigung

über die klassische deutsche Philosophie zustande kommen soll, die ihrer historischen Gestalt und den in ihrfreigekommenen Möglichkeiten des Denkens gleichermaßen gerecht werden kann.

 Noch stehen wir am Beginn von Arbeitsgängen, die ausder Orientierung an dieser Forschungs- und Denkaufga

 be hervorgehen. Zwar werden derzeit zuvor ungekannte

Aufwendungen gemacht, um die Werke und die Werdegänge der nachkantischen Systembildungen zu erschließen. Aber diese Anstrengungen sind doch noch immerweitgehend fragmentarisch. Sie ergeben sich vor allemim Rahmen der Arbeit an den kritischen Werkausgabender Philosophen. Doch sind sie auch dort, wo sie nicht indiese eingebunden sind, zumeist aus dem Bemühen um

nur einen der maßgeblich gewordenen Systementwürfemotiviert. In dieser Begrenzung kommen aber die eigentlich formativen Bedingungen für die Ausbildung derklassischen deutschen Philosophie nach Kant nur ver

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Formen der Kooperation verlangt. Auch in der Philoso phie sind Forschungsinstitute mit vielerlei Zweckbestimmungen eingerichtet worden. Die Aufgabe der Edition

der Werke einzelner Philosophen dominiert unter ihnen.Aber diese Organisationsweise wird bald schon quer stehen zu den Fragestellungen, welche in Beziehung auf dieklassische deutsche Philosophie die eigentlich produktiven sind. Unter der Voraussetzung der bestehenden Organisationsweise wäre zunächst einmal produktiv dieVerflechtung der Diskussion um die Werkausgaben un

tereinander. In dieser Richtung sind einige wenigeSchritte auch schon getan worden. Doch muß weitergegangen werden. Das fortgeschrittene philosophische Pro

 blembewußtsein muß Eingang finden in die Arbeit amAufschluß über die Formationsbedingungen der Theorieformen der klassischen deutschen Philosophie. Einwesentlicher Grund dafür ist, daß sich deren historische

Erforschung von der Werkgeschichte zur Konstellationsgeschichte zu wandeln hat. Und es ist dargelegt worden,warum eine solche Forschung ohne alle Anleitung ist,wenn sie diese Anleitung nicht aus dem Blick auf dieGrundbedingungen gewinnt, unter denen das Denkenstand, das seinen Ausgang von Kant genommen hat. Somüssen Arbeitsweisen entwickelt werden, die nicht dazu

tendieren, in der Alltagsroutine von Editoren oder Archivaren aufzugehen, die sich aber ebensowenig überdiese Art der Arbeit nur hinwegsetzen. So muß eine neueWeise des Symphilosophierens, dem die klassische deutsche Philosophie (wie in ihrer Weise übrigens auch dieanalytische) so viel verdankt, auch die Konstellationsforschung begleiten und durchdringen. Nur wer selbst Phi

losoph ist, kann bei der Aufklärung einer der produktivsten Epochen des Denkens andere als Kärrnerarbeit -und womöglich noch eine diffuse - leisten. Auf solchenWegen kämen wir auf einer neuen Stufe philosophischer 

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und historischer Bewußtheit wieder in eine Entsprechung zu der Situation, von der die Erforschung der klassischen deutschen Philosophie in der Berliner Akademie

den ersten und noch immer fortwirkenden Impuls gewonnen hat - in eine Entsprechung also zur historischenund philologischen Innovationsleistung von WilhelmDilthey.

Es kann nicht ausbleiben, daß in einer solchen Situation und in der ständigen Nachfrage nach den Formationsbedingungen einer maßgeblichen Epoche des Den

kens auch eine Frage in den Blick kommt, die zum Pro blembestand der Philosophie als solcher gehört: Was dasVerhältnis des Denkens zu seiner Geschichte ist und wieinfolge dessen die Stellung der Philosophie in der Geschichte des Zeitalters zu bestimmen ist, das auch unsere Gegenwart über alle Wandlungen hinweg noch mit derklassischen deutschen Philosophie verbindet. Die Kon

stellationsforschung ist in ausgezeichneter Weise offenauch für diese Fragestellung: Sie gilt Gedanken sowie deren Ursprung und Begründung, nicht nur Interessen, dienach irgendeiner Rechtfertigung verlangen. Aber sie giltwiederum auch Gedanken nur insofern, als sie aus Le benslagen hervorgehen, die der Orientierung aus und imDenken bedürftig sind. Und sie geht somit auf Gedanken, die, anders als irgendeine wissenschaftliche Theorie,gegenüber ihrer Aneignung in einem bewußt geführtenLeben nicht gleichgültig sein können.

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Hölderlin über Urteil und SeinEine Studie zur Entstehungsgeschichte 

des Idealismus

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I.

Probleme einer Entstehungsgeschichte 

des Idealismus

Für die Chronologie sind die beiden Jahrzehnte am Ausgang des 18. Jahrhunderts eine verschwindend kleineSpanne Zeit - weit kürzer als die, welche seit dem Endedes letzten Krieges verging. Doch das Bewußtsein der

Menschheit und die Gedanken der Philosophen sind inihr weiter vorangekommen als in vielen Epochen säkularer Stagnation. Die Gewißheit, man sei dabei, die Grenzen einer langen Herkunft zur Wahrheit und Freiheit zuüberschreiten, beflügelte die produktiven Geister zukühnen Projekten und zu Leistungen, die in vergleich barer Dichte nur während der klassischen Perioden von

Athen und von Florenz gelungen sind. Wer gegenwärtigversucht, zur Verständigung über die Grundlagen derModerne beizutragen, kann sich am ehesten an ihnen orientieren. So ist das Interesse am Denken dieser Zeit allgemein - nicht nur gelehrt oder nur auf überlieferte Bildungsgüter gerichtet. Es gilt auch eigentlich nicht einzelnen Gestalten und Theoremen. Aber die Fülle des Be

deutenden scheint doch dazu zu nötigen, ihm gleichsam paradigmatisch nachzugehen und die Motivationen derZeit aus irgendeinem ihrer Resultate zu begreifen. Esscheint, daß gute Gründe dafür sprechen, so zu verfahren. Denn zu dem, was sie auszeichnet, gehören Umfangund Schnelligkeit der Kommunikation im literarischenLeben. Jede neue Idee bildete sich im Blick auf alle an

deren aus, die eben erst ans Licht gekommen waren. Sospiegeln sich in ihr und dem Weg, den sie genommen hat,alle Ideen der Zeitgenossen.

Aber es ist doch nicht möglich, diese Spiegelungen

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festzustellen, wenn man in ihnen nicht das Bild der Originale zu erkennen vermag. Deshalb ist eine Übersichtüber den Gesamtprozeß jener Jahrzehnte eher die Vor

aussetzung dafür, die Interpretation eines ihrer Denkerund seiner Ideen überzeugend zu machen. Dabei gerätman in den Zirkel, das Ganze noch vor seinen Elementen überschauen zu müssen. Er läßt sich nur durch vielenoch vorläufige Detailstudien auf recht verschiedenenGebieten eliminieren.

Und er erklärt den unbefriedigenden Stand unserer

Kenntnis gerade der Zeit, um deren Verständnis man sicham meisten bemüht hat. Regionale Forschungszusammenhänge haben sich ausgebildet, die allesamt auf dieVoraussetzungen und die Umgebung eines der Großender Zeit eingehen. Mit beidem sind sie aber in ungenügendem Kontakt. Sie nutzen die Ergebnisse anderer Forschungsregionen, ohne deren Sache aus eigenen Studien

hinreichend zu beherrschen. So geschieht es beinahezwangsläufig, daß Prämissen und Ambiente nur aus demBlickwinkel dessen gesehen werden, um dessen Inter

 pretation es gerade geht. Nur noch abhängig und somitunproduktiv kann dann die Frage nach dem Zusammenhang des Geschehens der Zeit gestellt werden. Schließlich muß sie sogar verstummen; das Wissen vom Gesamtgeschehen muß zu einer inexpliziten und gar nichtmehr explizierbaren Voraussetzung werden.

Die Geschichte der Zeit Kants und Goethes befindetsich in dieser Verfassung. Man sucht vergeblich nach relevanten Studien, die sich aus der Orientierung durch einen ihrer Denker freigemacht haben. So wissen wir auchnicht, was in dieser Zeit eigentlich geschehen ist. Wir wissen es nicht einmal zu erfragen.

Infolgedessen unterliegen auch die besten der regionalen Studien spürbaren Einschränkungen. Auch in ihnen herrscht häufig Unsicherheit über angemessene Ho

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rizonte der Interpretation. Die Dependenzen der inter pretierten Texte, die zum Teil ,klassisch1 sind, werdennicht konkret und plastisch gesehen. Ihre Quellen und

Motive werden nur im beschränkten Bereich benachbarter Klassiker gesucht, für deren Deutung wieder andereForschungsgruppen zuständig sind, die voneinander isoliert arbeiten. Wichtige Beiträge aus einer Feder zu mehreren dieser Bereiche gehören zu den raren Ausnahmen.Im philosophischen Feld hat sich eine treffliche Hegel

 philologie weitab von einer Philologie Fichtes entwickelt.

Die Schellingspezialisten folgten ihrem eigenen Weg. Daneben gibt es Anfänge einer Interpretation der frühenPhüosophie der Romantiker. Sie hat das Monopol derDeutung Hölderlins bisher nicht angetastet, die sich ineiner für alle anderen vorbildlichen und vorerst unerreichbaren Höhenlage bewegt.

Und doch konvergieren die sachlichen Probleme der

Werk-Interpretation und der Erkenntnis ihrer Geneseganz offensichdich. So ist zum Beispiel die Frage nachder Möglichkeit einer Beziehung zwischen KantischerPhilosophie und der Konzeption Spinozas für Fichte,Schelling, Novalis, Hölderlin, Hegel und für viele kleinere Geister von gleicher Dringlichkeit gewesen. Daß dieseFrage so allgemein wurde, muß historische ebenso wie

sachliche Voraussetzungen haben. Man kann sie nichtvon einem derer, die sie gestellt haben, allein ableiten.

 Nur eine solche Interpretation kann sie finden, die deninneren Zusammenhang der Ideen der Zeit auf einemWege erreicht, der zugleich die Sache eines jeden kenntund zu deuten versteht. Gehört jene Zeit in die Sphäreeiner Selbstverständigung der Moderne, so ist das Pro

 blem der Beziehung von Pantheismus und Aufklärungauch nicht von nur historischem Interesse.

Die folgende Studie gehört in den weiteren Rahmeneines solchen Unternehmens. Ihre Absicht ist es, die

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Konstellationen deutlich werden zu lassen, in der dieidealistische Philosophie entstand, welche auf der Überzeugung gegründet ist, der Weg der Theorie der Freiheit

lasse sich nur in der Aufnahme des Denkens vollenden,das zuvor als ,Pantheismus4und ,Fatalismus4als eine derwichtigsten Bedrohungen für das Freiheitsbewußtseingegolten hatte.

Der Aufstieg der idealistischen Philosophie gehört zuden erstaunlichsten Geschehnissen in der Geschichtedes abstrakten Gedankens.2 Kant hatte zehn Jahre ge

 braucht, um die Kritik der reinen Vernunft auszuarbeiten. Ebensolange benötigte sein Werk, um in Deutschland zu allgemeiner Geltung zu kommen. Aber noch zuseinen Lebzeiten entsprang seinem systematischen Hauptstück eine vielgliedrige Folge neuer Systementwürfe. Imneuen Selbstbewußtsein der deutschen Theorie, das sichvon Kant herleitete, und in der eschatologischen Unru

he, welche aus Frankreich kam und Deutschlands Denkerergriff, entstand eine bisher kaum übersehene Anzahlvon Konzeptionen, deren wichtigste einander in kurzerZeit überboten - bis dieser Stil der Produktion zuletztmanieriert wurde und unter der Herrschaft von HegelsWeltphilosophie zur Ruhe kam. In den wenigen Jahrenzwischen 1789 und 1800 kamen alle Evidenzen zur Reife, welche auch den späteren Systemen zugrunde lagen.Diese Zeit birgt die Geheimnisse des eigentlichen Sinnesidealistischer Spekulation.

Doch schon ihrem äußeren Entstehungsgang kommtman nur schwer auf die Spur. TVotz ungewöhnlicher Pu

 blizität haben besondere Bedingungen erwirkt, daß ersich zum guten Teil im Dunkel persönlicher Verbindungen vollzog. Man weiß seit langem, daß die Lage im Tü

 binger Stift und an der Universität Jena solche Verbindungen begünstigte und fruchtbar werden üeß. Nochaber läßt sich kaum übersehen, kraft welcher Motive und

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Dependenzen die idealistische Spekulation aus ihnenhervortrat. Daß hier noch Unsicherheit herrscht, zeigtsich daran, daß für so wichtige Texte wie das sogenann

te ,Älteste Systemprogramm4 sowohl Schelling als auchHölderlin und Hegel die Verantwortung zugesprochen

 bekamen und daß Hölderlins Bedeutung für die Entstehung des Idealismus auch in der hochentwickelten Hölderlinforschung umstritten geblieben ist.

Dreimal hat sich das Urteil über Hölderlins Stellungin der Philosophie gewandelt. Nach Ernst Cassirers3

frühem, wichtigem Versuch, das Eigentümliche von Hölderlins Denken gegen die dialektische Vermittlung seinerFreunde abzugrenzen, haben Wilhelm Böhm4 und KurtHildebrandt5 die These aufgestellt, Hölderlin sei auch alsDenker der erste unter seinen Freunden gewesen; auf ihngehe die Wende von Fichtes Idealismus zur Philosophieder Natur zurück. Johannes Hoffmeister6 und Em st Mül

ler7 haben ihnen widersprochen. Mit Recht haben siedarauf hingewiesen, daß Hölderlin niemals im gleichenSinne wie seine Freunde Philosoph gewesen ist und daßFichtes Bedeutung für ihn von Böhm und Hildebrandtsehr unterschätzt wurde. Die Differenz dieser beiden Urteile betrifft den Hölderlin der Hyperionzeit. Seine späteren Aufsätze zur Poetologie fanden erst nach 1950 die

Beachtung, die ihnen gebührt.8 Noch sind sie nicht vollständig interpretiert. Man kann aber schon nicht mehrdaran zweifeln, daß in ihnen eine beträchtliche Kraft derAbstraktion am Werke ist und daß sie, zumindest aufihrem engeren Gebiet, ganz originell gedacht sind. DieseEinsicht hat sich nur noch nicht geltend gemacht in einer Revision von Hölderlins philosophischer Entwick

lungsgeschichte. Seit man sich des einzigen Ranges seiner späten Hymnik bewußt geworden ist, steht sie undmit ihr die Spätzeit in der Mitte des Interesses - mitgroßem Recht, was Hölderlin angeht, aber mit nachteili-

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gen Folgen für alle Fragen, die den gemeinsamen Wegder Tübinger Freunde ins Auge fassen.

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II.Hölderlins Fragment „Urtheil und Seyn“9

 Nur so läßt es sich auch erklären, daß eine Publikation ohne jedes Echo geblieben ist, die vor dreißig Jahren zurSensation geworden wäre: das philosophische Fragment,dem Friedrich Beißner den Titel Urtheil und Seyn gege

 ben hat.10 Im Jahre 1930 tauchte es bei einer Auktion

von Liepmannssohn auf. Im vierten Band der StuttgarterAusgabe, der 1961 erschien, wurde es zum erstenmalveröffentlicht. Zu dieser Zeit befand es sich im Besitz derSchocken-Library in Jerusalem.11 Wenn seine Datierungrichtig ist und wenn es einen Hölderlin eigenen Gedankengang enthält, wirft es auf die Entstehungsgeschichteder idealistischen Philosophie ein ganz neues Licht. Fried

rich Beißner hat vermutet, das Blatt stamme aus denMonaten, die Hölderlin zu Anfang des Jahres 1795 in Jena und in Fichtes Nähe verbrachte.12 Zwingende Gründe für diese Datierung können sich nur aus objektivenKriterien ergeben. Das Blatt ist wahrscheinlich vom Vorsatzblatt eines Buches abgerissen worden. Der Standortdes Textes gibt keine oder keine gegenwärtig brauchba

ren Indizien zur Datierung. Außer der Beziehung aufFichte und Kant lassen sich auch aus seinem Inhalt keine Hinweise auf seine Entstehungszeit ableiten. Aber dieBuchstabenstatistik von Hölderlins Orthographie erlaubtes, Beißners Vermutung zu bestätigen. In Jena wandeltesich Hölderlins Schreibweise, und zwar vor dem Brief andie Mutter vom 20. April 1795, in dem sich die neue Or

thographie vollständig durchgesetzt hat.13 Im Text überUrteil und Sein ist sie weitgehend entwickelt. Doch beieinigen Komposita macht Hölderlin auch noch von deralten Schreibweise Gebrauch.14 Man kann des weiteren

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erkennen, daß seine Hand unsicher ist bei der Niederschrift solcher Wörter, die von der Veränderung betroffen sind.15 So muß man annehmen, daß er das Blatt vor

dem 20. April beschrieb, vermudich um den Beginn desMonats. In der Geschichte des spekulativen Idealismusliegt dieses Datum erstaunlich früh. Am 23. Mai 1794 hatte Fichte seine erste Vorlesung in Jena gehalten. SeineProgrammschrift Uber den B egriff der Wissenschaftslehre erschien wenig später, die ersten Bogen seines Hauptwerkes Mitte Juni. Hölderlins Text entstand also um we

niger als ein Jahr nach dem Bekanntwerden von Fichtesneuer Lehre. Er entstand gleichzeitig und somit unabhängig von Schellings Schrift über Das Ich als Prinzip der  

 Philosophie. Schelling hat sie im März 1795 dem Druckerübergeben, der sie zur Ostermesse auf den Markt brachte.16 Hegel war zu dieser Zeit noch dabei, Kants Moralsystem auf Orthodoxie und Politik seiner Zeit zu appli

zieren. Zu einem gründlichen Fichtestudium war er nochnicht gekommen. Hölderlin ist also ohne die Hilfe seinerFreunde zu den Gedanken über Urteil und Sein gelangt,die er auf die beiden Seiten des kleinen Blattes niederschrieb.

Zum Reflexionsgang des Blattes tragen folgende Gedanken bei: Die traditionellen Grundbegriffe des Erken-nens, Urteil und Sein, werden in eine von der herkömmlichen ganz verschiedene Relation, nämlich in einen Gegensatz gebracht: Urteil ist TVennung, Sein Verbindungvon Subjekt und Objekt. Dieser Ansatz erlaubt es, denSinn des Wortes,Urteil4als,Ursprüngliche Teilung4in dieMomente Subjekt und Objekt zu verstehen. Er zwingtdazu, zwischen dem Objekt der Erkenntnis und dem, was,Sein4heißen kann, zu unterscheiden. ,Sein4ist jenes, das

 jeder Beziehung eines Subjektes auf irgendwelche Gegenstände vorausliegt und das deshalb niemals zum Erkenntnisgegenstand werden kann. Insofern es ursprüng-

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liehe Einheit von Subjekt und Objekt ist, kann man esdurch einen Grenzbegriff der Erkenntnis bezeichnen,nämlich als intellektuale Anschauung. Solche Anschau

ung ist aber ganz verschieden von der Wissensform desSelbstbewußtseins. Denn da sind Subjekt und Objektsehr wohl voneinander unterschieden, auch wenn es dasselbe ist, was als Subjekt und Objekt erscheint. Ist es Ob

 jekt, so ist es eben insofern von sich selbst getrennt. Auchdarf man nicht das Selbstbewußtsein von einem ursprünglicheren Ich unterscheiden und meinen, dieses sei

intellektuale Anschauung und Sein. Denn es hat keinenSinn, von einem Ich dort zu reden, wo Ich sich nicht alsIch erfaßt und somit Selbstbewußtsein ist. Der Satz derIdentität wird aus dem Selbstbewußtsein gewonnen.Deshalb ist auch in ihm keine Vereinigung schlechthinvon Subjekt und Objekt gedacht. Somit ist Sein auchnicht als Identität zu definieren.

Hölderlins Blatt entwickelt diese Gedanken in andererFolge. Es gibt zunächst die Etymologie von ,Urteil‘ ausder Urteilung der intellektualen Anschauung und bezeichnet dann das Bewußtsein „Ich bin Ich“ als paradigmatischen Fall solcher ursprünglichen Trennung.17 Darauf folgt eine Reflexion über die Modalbestimmungen,deren Bedeutung in diesem Kontext nicht ohne weiteres

einleuchtet.18 Im zweiten Teil des Textes19 wird dannfestgestellt, daß, was aller Urteilung vorausliegt, wederals Identität noch als Ich angemessen bezeichnet ist. Esmuß ,Sein‘ heißen und darf nur als intellektuale Anschauung gedacht werden.

Dieser Text erweist der Autorität dreier Philosophenseine Reverenz und versucht, ihre Grundgedanken mit

einander zu verbinden: Fichte, Spinoza und Kant. DieGegenwart von Fichte ist am auffälligsten. Mit ihm werden Ich und Nichtich voneinander unterschieden undwird der Satz der Identität aus dem Satz „Ich bin Ich“ ge

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wonnen. Der Text ist offenbar in Beziehung auf ihn niedergeschrieben worden - freilich zugleich in kritischerAbsicht. Spinoza ist verantwortlich für den Gedanken,

daß der Grund aller Gegensätze in einem ,Sein schlechthin1zu suchen ist, für das es weder Schöpfung noch Emanation gibt. Eine Bewegung in ihm läßt sich nur a ls ,Trennung4und ,Vereinigung4seiner Modifikationen denken./IYennung4und ,Vereinigung4sind allerdings PlatonischeBegriffe, die mit Hemsterhuis in den Bedeutungsbereichvon Spinozas Lehre übertragen sind. Als dritter Denker

ist Kant für Hölderlins Text maßgeblich gewesen. Eswird sich noch zeigen, daß die Verbindung von SpinozasSein mit Kantischer Kritik Hölderlins Wendung gegenFichte verständlich machen kann.

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III. Zweifelsgründe bei der Datierung

Zunächst ist jedoch das Erstaunliche festzustellen, daßHölderlin schon in Jena zum Kritiker Fichtes gewordenist. Aus den bisher bekannten Texten ließ sich das durchaus nicht entnehmen. Es hat sogar den Anschein, daß siezu einer Deutung zwingen, welche die Annahme aus

schließt, der Text über Urteil und Sein könne währendder Jenaer Monate niedergeschrieben sein. Noch am 16.April 1795 berichtete Hegel über Hölderlins Briefe anSchelling: „Hölderlin schreibt mir oft von Jena; er istganz begeistert von Fichte, dem er große Absichten zutraut.“20 Die übrigen Entwürfe, welche mit Sicherheit inden Winter 1795 gehören, scheinen zu bestätigen, daß

Hölderlin zu Fichte im Verhältnis eines von Bewunderung erfüllten, noch wenig fortgeschrittenen Schülersstand. So konnte etwa Lawrence Ryan noch in den sechziger Jahren behaupten, daß die Jenaer Fassungen des

 Hyperion Dokumente einer stetigen Annäherung an Fichte sind.21

Der Entwurf über das Gesetz der Freiheit wird im

Spätherbst 1794 entstanden sein 22 In ihm ist Hölderlinganz von den Problemen bestimmt, die Schiller innerhalb der Kantischen Philosophie aufgeworfen hatte. Ermacht den Versuch, Schillers Unterscheidung zwischenschöner Seele und sittlichem Naturtalent, die in die Lehre vom Begehrungsvermögen gehört, durch eine analogeUnterscheidung zweier Gestalten der Phantasie zu er

gänzen. Hölderlin hoffte offenbar, auf diese Weise einen philosophischen Begriff von der Subjektivität des Künstlers und den Ursprung der Kunst in einer zur Natur gewordenen Sitdichkeit zu finden. Schillers Briefe über die

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ästhetische Erziehung waren damals noch nicht geschrie ben.23 So hat Hölderlin eine noch ungelöste Aufgabe inder Nachfolge Schillers, wenn auch nicht in dessen

späterem Sinn, in Angriff genommen. Die Vorrede zumThalia-Fragment von  HyperiorP -^, das im November 1794erschien, zeigt Schillers Gedanken von der sitdichenKultur in einer ähnlichen Erweiterung auf die gesamteLebensgeschichte des Menschen.

Aus dem Brief an Neuffer vom 10. Oktober 1794 wissen wir, daß sich Hölderlin schon damals nicht darauf be

schränken wollte, Schillers Thema in den Grenzen derKantischen Theorie zu variieren und zu erweitern. Überden Schritt Schillers zum Zugeständnis, Pflicht könneaus Neigung erfüllt werden, wollte er einen weiterenSchritt jenseits der Kantischen Grenzlinie wagen.25 Mitihm wollte Hölderlin zu einer Aussage auch über den Ursprung der Einigkeit im Menschen kommen. Dabei hat er

sich der Führung Platons anvertraut. Für die Lehre derKritik der Urteilskraft, daß Schönheit als ein Symbol derSittlichkeit aufzufassen sei, sollte alte Platonische Weisheit einen neuen Grund nennen: Schönheit ist Vorscheinder übersinnlichen Herkunft des Menschen - aber nichtals Sittengesetz in vernünftiger Geltung, sondern als Ur

 bild jener Einigkeit, die auch in unserer Welt Vernunftund Sinnlichkeit zum schönen sittlichen Leben zu ver

 binden vermag.Dieses Programm ging in die drei Fassungen des Ein

leitungsabschnittes zu  Hyperion ein, die in Jena entstanden sind.26 Auch im Gedicht  Der Gott der Jugend  ist esausgesprochen, mit dessen neuer Fassung Hölderlin zuEnde der Waltershäuser Zeit begann.27 Es liegt nicht inder Absicht dieser Studie, die Schwierigkeiten und dieWidersprüche in extenso darzulegen, in die sich Hölderlin verwickeln mußte, als er versuchte, sein Programm zuverwirklichen. Sie sind nicht wesentlich von denen ver-

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schieden, die Schillers Theorem in Über Anmut und JVür- de einschließt, so daß es sinnvoll wäre, die Sache, um diesich Hölderlin mit Schiller bemüht, im Hinblick auf bei

de zugleich zu interpretieren.28 Für Hölderlin ergab sichdie eigentümliche Aporie, die Grundrisse zweier Lehrenmiteinander verbinden zu wollen, die sich einem solchenVerfahren notwendigerweise entziehen müssen - Schillers Version von Kants Ethik und Platons Ideenlehre. MitSchiller sieht Hölderlin in der Liebe die Kraft, welche die

 beiden Grundtriebe des Menschen miteinander verei

nigt. Zugleich aber soll in dem Bereich des einen dieserTriebe, in der schönen Natur, das Urbild aller Einigkeiterscheinen. Ist aber der eigentliche Sinn von Einigkeitdie Vereinigung beider Triebe miteinander, so kann mannicht einsehen, wie im ,Sinnenland‘ allein ein Spiegelbildder Einigkeit erscheinen soll, die doch nur dann verstanden werden kann, wenn beide Kräfte des Menschen

miteinander ins Spiel kommen. Diese Schwierigkeit bringt die Belehrung d es ,weisen Mannes‘ der metrischenFassung, d es ,Fremden4von Hyperions Jugend  in jene kreisende Bewegung, die durch mancherlei Rücksichten und

 Nebengedanken einen Defekt des Entwurfes überdeckt.Es könnte wohl sein, daß Hölderlin die Problematik seines Versuches bemerkt hat, ohne ihrer Herr werden zu

können.Jedenfalls scheint er zunächst davon abgesehen zu ha

 ben, das Projekt einer philosophischen Veröffentlichungdurch einen Aufsatz über die ästhetischen Ideen auszuführen, über den er Neuffer schon aus Waltershausen geschrieben hatte.29 Aus der Jenaer Zeit sind zwei Fragmente überliefert, die - im Unterschied zu Urtheil und  Seyn  - Vorarbeiten zu Manuskripten sind, die für denDrucker bestimmt waren. Eines von ihnen behandelt denBegriff der Strafe30; es ist offensichdich ganz unabhängigvon dem Waltershäuser Plan. Das andere ist Teil eines

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Dialoges31; auch ihm kann man keinen Hinweis daraufentnehmen, daß sein Thema die Waltershäuser Aufgabegewesen ist.

In allen diesen Texten ist Hölderlin in hohem Maßevon den Gedanken anderer, insbesondere Kants undSchillers, abhängig. Er folgt zwar eigenen Fragestellungenund sogar dem erklärten Programm, weiter als Schillerüber Kantische Grenzbestimmungen hinauszukommen.Aber die Mittel, die er dabei einsetzt, sind weitgehendaus seinen Vorlagen übernommen. Originell ist seine Ab

sicht, nicht sein Verfahren. Weil er das, was er als Wahrheit zu behaupten wünscht, noch nicht aus eigener Kraftentfalten kann, scheitert auch die Introduktion zum

 Hyperion,  die freilich nicht mit dem Gesetz seines Aufbausverwechselt werden sollte.

Alle diese Beobachtungen könnten die Meinung begründen, daß es ganz undenkbar ist, Hölderlin habe zur

selben Zeit den Text über Urteil und Sein geschrieben.Denn dessen Gedankengang ist frei von der Unsicherheit, welche in den Hyperionreden herrscht und die philosophischen Fragmente abbrechen läßt. Er stellt einenselbstbewußten Angriff auf Fichtes Grundgedanken dar.Wie kann ihn ein Dichter geschrieben haben, der sicheben noch ganz im Rahmen von Kants Begrifflichkeit

und nur wenig jenseits seiner formulierten Doktrin bewegte und der kaum in die bewunderte Lehre Fichteseingedrungen war?

Will man mit dieser Frage nicht auch die orthographische Statistik in Zweifel ziehen, so bleibt noch der Wegder Vermutung offen, daß Hölderlin diesen Text zwarniedergeschrieben, daß er ihn aber nicht konzipiert hat.Man könnte sich vorstellen, daß er Auszug aus dem Werkeines anderen ist. Allerdings kennen wir keine Publikation auch nur vergleichbaren Inhalts aus so früher Zeit.Man könnte sich auch vorstellen, daß Hölderlin ein Ge-

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sprach protokollierte oder daß er die Ideen eines anderen ausgeführt hat. Doch eine Analyse des Textes untersolchen Gesichtspunkten läßt auch diese Vermutung in

hohem Grade unwahrscheinlich werden. Es finden sichzwar Dittographien und andere Versehen, die für Abschriften charakteristisch sind. Zumindest eine Stellewird man aber nur unter der Voraussetzung verstehenkönnen, daß die Hand des Konzipierenden am Werkewar .32  Dafür spricht auch die Einteilung des Blattes, aufdem je eine Seite für die Erörterung von ,Urteil‘ und von

,Sein‘ vorgesehen ist. Es ist nämlich wahrscheinlich, daßHölderlin zuerst die Abhandlung über ,Sein‘ niederschrieb und erst danach die Vorderseite des Vorsatzblattes für die Abhandlung über das Urteil benutzte 33 Wennman Notizen in ein Buch einträgt, ist es natürlich, zuerstvon der Seite gegenüber dem Titel Gebrauch zu machen.So würde die Reflexion über die Modalbestimmungen zu

einem Anhang des ganzen Gedankenganges und stündenicht mehr in seiner Mitte, was weniger gut motiviert ist.Bei einer solchen Anordnung läßt es sich dann auch denken, daß Hölderlin seinen Text nicht in einem Zuge geschrieben hat. Die Zeilen neun bis elf scheinen nämlichein Nachtrag zu sein, der zwischen die Bemerkung zum,Urteil‘ und die schon fertige Reflexion über die Modal

 bestimmungen eingeschoben wurde.34  Keine Abschriftund kein Gedächtnisprotokoll kann solche Eigenheitenaufweisen. Befunde des Textes zerstreuen also die Gründe für den Zweifel an Hölderlins Autorschaft.

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Sinclairs Systementwurf und 

Hölderlins philosophischer Weg

Man muß nicht annehmen, daß Hölderlin in einsamemÜberlegen zu seiner Niederschrift gelangt ist. Nach demWaltershäuser Jahr, in dem er beinahe nur durch Korrespondenz Umgang mit seinen Freunden hatte, war er in

Jena, von lästigen Pflichten frei, im Austausch mit anderen, die gleich ihm in Fichtes Umgebung studierten. Obwohl er viel von seiner Zurückgezogenheit und nichtsvon gemeinsamem Philosophieren berichtet, wissen wirdoch, daß der Tübinger Freund Camerer in seiner Nach

 barschaft wohnte.35 Und wir können annehmen, daßHölderlin seine Wohnung mit dem jungen Sinclair teil

te.36 In solcher Umgebung waren Gespräche über Fichte, über Recht und Unrecht seiner Lehre ganz selbstverständlich.

Aus der Freundschaft mit Sinclair können wir die wohlüberzeugendsten Gründe für den frühen Ursprung desTextes über Urteil und Sein herleiten. Die äußeren Datendieser Freundschaft müssen dazu gegenwärtig sein: Am26. März 1795 schrieb Sinclair an seinen Mentor Jungüber Hölderlin, den Herzensfreund instar omnium, derihm zum strahlenden, liebenswürdigen Vorbild geworden sei.37 Die gemeinsamen Tage wurden durch Hölderlins Abreise beendet. Sinclair verließ Jena erst im Zusammenhang mit den Studentenunruhen des Sommers,derentwegen er noch nachträglich das Consilium abeun-di erhielt.38 Die Freunde sahen sich bald nach HölderlinsAnkunft in Frankfurt wieder. Dort war Hölderlin kurz vor Neujahr 1796 angekommen. Schon am 11. Januar war ervon einem wahrscheinlich mehrtägigen Aufenthalt in

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Homburg zurück .39 Von Juni bis Dezember 1795 müssenviele Briefe zwischen ihnen gewechselt worden sein. So bat Hölderlin in einem Nachsatz, Ebel möge Sinclair

grüßen. Mit dem Brief an ihn sei er ,diesmal4 nur zurHälfte fertig geworden.40  Daraus ergibt sich, daß Hölderlin regelmäßig Briefe von erheblichem Umfang anSinclair gerichtet hat und natürlich ebensolche von ihmerhielt. Die Abstände zwischen diesen Briefen scheinengering gewesen zu sein. Denn es ist unwahrscheinlich,daß Hölderlin den Brief, den er am 9. November bereits

zur Hälfte fertig hatte, erst am 7. Dezember dem Brief anEbel beilegte. Er wird inzwischen einen weiteren geschrieben haben .41  Während des ersten halben Jahres inFrankfurt hat Hölderlin Sinclair regelmäßig besucht42 und bestimmt auch seinen Besuch empfangen. Denn eswar Sinclair, der an der Verbindung mit ihm aufs höchste interessiert war: „Ich war schon wieder in Homburg,

auf Sinclairs dringendes Bitten“, schrieb er am 11. Fe bruar 1796 an den Bruder .43  Zwischen dem Inhalt derBriefe und der Gespräche beider und der ständigen Unterredung, die sich aus dem Jenaer Leben ergeben hatte, muß ein Zusammenhang bestanden haben. Obwohlalle Briefe verlorengegangen und Berichte Dritter nichtüberkommen sind, können wir doch erschließen, daß

 philosophische Themen im Anschluß an die Problemevon Urtheil und Seyn  in ihnen vorherrschten.

Wir können es mit Hilfe eines Dokumentes von höchster Bedeutung, das unverständlicherweise von der Hölderlinforschung unbeachtet gelassen wurde, solange esnoch im Original zur Verfügung aller bereitlag: Sinclairsfrühem philosophischen Nachlaß.

Varnhagen von Ense hatte sich mit Ausdauer darum bemüht, in den Besitz dieses Nachlasses zu gelangen.44 Spätere Bemühungen um ihn waren vor allem von derHoffnung geleitet, in ihm Texte von Hölderlin zu finden.

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Da sie sich nicht erfüllte, erschien wertlos, was doch fürdie Entstehungsgeschichte der idealistischen Philoso

 phie von allerhöchstem Werte ist. Vamhagen hatte näm

lich auf einem Weg, der sich nicht mehr rekonstruierenläßt, ein Konvolut in die Hand bekommen, das diePreußische Staatsbibliothek im Verband ihrer Sammlungals philosophische Raisonnements und zusammengereihte Sätze4verwahrte.45 Während des Krieges wurde esmit der gesamten Autographensammlung in Schlesienausgelagert. Seither gilt es als verschollen. Wahrschein

lich ist es nicht zerstört, sondern von polnischen Behörden bis heute zurückgehalten.46

Der leider früh verstorbene Sinclair-Forscher WernerKirchner47 hat vor dem Krieg noch Abschriften von ihmanfertigen können. Er tat es zunächst in der Meinung,daß die Raisonnements Nachschriften aus VorlesungenFichtes seien. Diese Ansicht ist unhaltbar und wohl auch

von Kirchner aufgegeben worden. Sonst hätte er nichtmit so großer Mühe gerade diesen Text transkribiert.Hannelore Hegel ist gegenwärtig dabei, seine Abschriften im Rahmen einer Arbeit über Sinclairs Philosophiezu edieren und somit eines der wesentlichsten Dokumente aus der Frühgeschichte des Idealismus allgemeinzugänglich zu machen.48 Eine ältere Schweizer Dissertation zeigt sich ihrer Aufgabe zwar nicht gewachsen.49Aber auch ihr hätte die Hölderlinforschung wichtigeHinweise entnehmen müssen.

Es ist ziemlich schwer, einen Text zu datieren, dessenOriginal nicht vorliegt. Im gegenwärtigen Falle ist es abermöglich, aus verläßlichen Kriterien die Vermutung vonLotz und Kirchner zu bestätigen, daß das Konvolut ausdem Jahre 1796 stammt. Kirchner hat nämlich einen kurzen Text abgeschrieben, den Sinclair auf der Ankündigung zu einem Konzert notierte. Diese Ankündigung lautet: ^ u f Verlangen wird heute als den 6. Dezember 1795

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der junge Herr Pixis aus Mannheim, 9 Jahre alt, die Ehre haben, ein 2tes Instrumentalkonzert auf dem Alleehaus bei Homburg v. d. H. zu geben“. Sinclairs Text auf

diesem Zettel enthält in nuce die Idee, welche dem ausgearbeiteten Manuskript zugrunde liegt.50  Damit ist einTerminus a quo gegeben. Der Terminus ad quem istebenfalls zu ermitteln, so daß man ausschließen kann,Sinclair habe erst viel später zu einem alten Konzertzettel gegriffen, als ihm gerade kein Notizpapier zur Handwar. Ludwig Strauß hat nämlich unter den wenigen

Stücken aus dem Nachlaß von Sinclairs HomburgerFreund Zwilling Auszüge aus einem Entwurf zu einemBrief notiert, den Zwilling am 26. April 1796 an einen Jenenser Professor schreiben wollte.51 Da heißt es: „So oftich die Wissenschaftslehre ansehe, freue ich mich überden erhabenen Gedanken von der Einbildungskraft. Sinclair, der der griechischen Sprache sehr mächtig ist, sag

te mir, daß Prometheus soviel als die Reflexion bedeute.Diesem Prometheus, der uns vom Olympus losgerissen,stelle ich die Einbildungskraft entgegen, die uns wiederhinaufgetragen hat.“ Diese Deutung des Prometheus hatnur Sinn im Zusammenhang der Gedanken, welche Sinclairs philosophische Raisonnements1 entwickeln.

Hier ist es weder möglich, sie hinreichend darzustel

len, noch auch sie angemessen zu würdigen. So muß esgenügen, sie im Umriß vorzustellen und einige Sätze zuzitieren. Schon dabei wird deutlich genug, daß Sinclairvon Hölderlin dependiert und daß ihm die Gedankenvertraut gewesen sind, die Hölderlin in seinem Text überUrteil und Sein niederlegte:

Die ursprüngliche Einheit ist ohne alle Setzung, ist

Athesis und kann als solche auch Friede genannt werden.In diese Einheit kommt durch Reflexion eine TVennung.Alles Wissen bewegt sich innerhalb ihrer. Sie kann E r teilung4heißen - teils weil sie die erste TVennung ist, teils

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weil wir im Wissen nicht über sie hinaus gelangen können. Daß aber das Wissen nicht aus sich selber ist, erweistsich daran, daß sein höchster Satz den Charakter einer

Forderung hat. Im Medium der Reflexion äußert sich inihr die ursprüngliche Einheit —als dasjenige, was wiederhergestellt sein will. Sie begründet so unser Bewußtsein von Beschränkungen und die Möglichkeit von Gefühlen. Sobald man jene Einheit setzen will, wird sie zumGegenstand der Reflexion, zum Theos. Das griechischeWort von Gott verweist auf den Ursprung des Gottesbe

griffs aus der setzenden Reflexion und auf den Unterschied zur wahrhaft ursprünglichen athetischen Einheitdes Friedens. Durch Setzung ist aber der wahre Begriffvom Ursprung nicht zu erlangen. Den allgegenwärtigenGott, der Spinozas Gott ist, vergegenwärtigen wir unsnur, wenn wir uns klar darüber werden, daß keine Reflexion schlechthin durch sich geschieht und daß sie eine

Einigkeit voraussetzt - ein von ihr schlechthin unabhängiges Sein. Der Gedanke von diesem Sein ist nur möglichals der Gedanke von der Aufhebung aller Reflexion undTrennung. Fichte hat den Fehler gemacht, es durch Setzung fassen zu wollen. So aber wird es zu seinem absoluten Ich, der absoluten Thesis. Es ist die Wahrheit desSkeptizismus, sich nicht mit Setzungen begnügen zuwollen und das Endliche in ihnen, das Ungenügen gegenüber der Forderung der Einigkeit, aufzuzeigen. Waser leistet, ist mehr als das Pochen der Idealisten auf dasRecht der Reflexion und die dogmatische Leugnung aller Trennung. Er leistet auch mehr als die, welche vergeblich die Rückkehr in den athetischen Ursprung gefordert haben. Aber er leistet noch nicht das Höchste. DieGesichtspunkte aller Philosophie lassen sich vereinigenin einer ganz neuen Weise von Setzung. „Daß das Ichüber sein Setzen reflektiert, daß es wissen will, was unabhängig von seinem Setzen sei, beweist, daß es ein Stre-

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 ben hat, die TVennung der Reflexion aufzuheben undFür-das-Ich-Sein in ein absolutes Sein zu verwandeln.“Fichte hat nicht über die Relativität der Grundbegriffe

der Setzung nachgedacht. Hätte er es getan, „er wäre aufein höheres Setzen als das Setzen für ein Ich gekommen,auf eine ’Aei £auxöv ©eaiv, auf eine Ästhetik .“52 Daß alsoSetzung geschieht im Blick auf das Immerseiende, aufSpinozas Sein, ist der Sinn ästhetischer Wissenschaft underklärt zugleich das Wort, mit dem man sie bezeichnet.Sinclair weist ihr drei Aufgaben zu: (1) die Vergewisse

rung des Seins vor aller Reflexion; (2) die Wiederherstellung des Friedens aus allen Trennungen - ein Ziel,das ins Unendliche hinausführt und innerhalb der Reflexion vollständig niemals realisiert werden kann, also Forderung bleiben muß; (3) die Entfaltung des Sinnes füralles, was sich zeigt und nicht durch Reflexion ist, was esist. Zu solchem gehört vor allem die schöne Natur. „Von

der Natur ist nie der Frieden gewichen; sie hat keinenZweck, sie ist.“ Nur die Reflexion als Teleologie bringt einen Zweck in ihr hervor.

Besonders der letzte Satz macht klai; daß Sinclair bemüht war, Hölderlins Grundwort vom Frieden und seine Erfahrung der Natur in den spekulativen Zusammenhang einzubringen. Man kann sich nicht vorstellen, daß

er anders als im Blick auf den Freund geschrieben worden ist. Die Unterscheidung der Urteilung vom ursprünglichen Sein ist dieselbe wie in Hölderlins Text.Auch der Gedanke, daß sich dies Sein als notwendigeVoraussetzung eines Ganzen erschließe, von dem Sub

 jekt und Objekt die Teile sind, kehrt wieder in Sinclairs bestimmterer These, daß die Reflexion sich ein Sein vor

aussetzen müsse, das sie durch Setzung nicht erreichenkann. In ihn sind aber auch die Ideen integriert, über dieHölderlin erst in der Zeit nach seinem Weggang von Jena einige Mitteilungen gemacht hat.

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Für diese Ideen haben wir vor allem vier Quellen: dieBriefe an Schiller vom 4. September 1795 und an Niethammer vom 24. Februar 179653, die Vorrede aus der

vorletzten Fassung des  Hyperiort 54 und das Gedicht  An die Unerkannte,55 Im Medium von Sinclairs Manuskriptfügen sie sich so leicht in einen Zusammenhang, daß manversucht ist, Unterschiede zu übersehen. An Schillerschrieb Hölderlin, daß er die Idee eines unendlichenProgresses der Philosophie zu entwickeln suche - derPhilosophie selbst und nicht nur innerhalb ihrer als un

endlicher Progreß sittlicher Weltgestaltung. Zu diesemZwecke müsse man von einer unnachläßlichen Forderung ausgehen, die an jedes System ergeht: Subjekt undObjekt in einem Absoluten zu vereinigen, das als Jch‘nicht gerade angemessen bezeichnet ist.56 Im Text überUrteil und Sein entspricht dieser Forderung die »notwendige Voraussetzung4 eines Ganzen. Hier meint sienur darüber hinaus auch noch das von Sinclair formulierte Postulat einer Wiederherstellung der Einigkeit imunendlichen Fortschritt und, wie bei ihm, die ästhetischeVerwirklichung der Einheit in der Anschauung desSchönen. Hölderlin schließt seine Andeutungen mit demSatz: „Ich glaube, dadurch beweisen zu können, in wieferne die Skeptiker recht haben, und in wie ferne nicht“Damit deklariert er einen Gedanken zu seinem Eigentum, der in der Disposition von Sinclairs Manuskript undselbst noch in dessen späterem System eine wichtige Rolle spielt.

Die Vorrede zum Hyperion, den Cotta zur Umarbeitungan Hölderlin zurückgehen ließ, ruht auf denselbenGrundlagen. „Die selige Einigkeit, das Sein, im einzigenSinn des Worts, ist für uns verloren.“ Wir haben uns ausihm losgerissen, um es zu erstreben. Doch „weder unserWissen noch unser Handeln gelangt in irgend einer Periode des Daseins dahin, wo aller Widerstreit aufhört“.

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Der Frieden alles Friedens ist unwiederbringlich dahin.Doch würden wir ihm nicht einmal nachstreben, wennnicht dennoch jene unendliche Vereinigung, jenes Sein

im einzigen Sinn des Worts vorhanden wäre. Es ist vorhanden - als Schönheit. Die Skizze der Ideen für eine

 philosophische Brieffolge, die Hölderlin Niethammermitteilte, stimmt ganz mit dem Grundriß der Vorredeüberein - unangesehen einiger Eigentümlichkeiten, diesich aus dem Weg von Hyperion erklären. Er führt vomAusgang, dem verlorenen Frieden, durch viele Wandlun

gen von Nähe und Fremdheit zur Natur, die einen Widerschein der ursprünglichen Einigkeit bewahrt. Diesevon der Einigkeit des Friedens, dem unausdenkbarenGrund durchherrschte Natur steht nun aber in den Versen in Frage, die Hölderlin mit  yAn die Unerkannte‘  alsWidmung überschrieben hat. Man meint zu Unrecht, indiesem Gedicht manifestiere sich Hölderlins Rückkehr

zu der in Jena mißachteten und insofern unerkannten Natur .57 Es spricht nur aus, daß Natur in keinem Wisseneingeholt werden kann, weil sie gründet in dem, was aller TVennung und somit auch allem Bewußtsein vorausliegt. Sie bewahrt das Eine, und somit kann sie niemanderkennen. Man kann sich ihr nur anvertrauen, damit siedie Schmerzen der TVennung lindere. Sie ist es,

Die das Eine, das im Raum der Sterne,Das du suchst in aller Zeiten Ferne

Unter Stürmen, auf verwegner Fahrt,Das kein sterblicher Verstand ersonnen,Keine, keine lügend noch gewonnen,

Die des Friedens goldne Frucht bewahrt.58

Sinclair und Hölderlin waren sich einig in diesem Gedanken. Aber es war Hölderlins Erfahrung, aus dem erentfaltet worden war. Hölderlin ist es auch gewesen, der 

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ihn zuerst formuliert und dem Freunde mitgeteilt habenmuß. Der verfügte nur über die Gabe und die Beharrlichkeit zur systematischen Entfaltung und über freie

Kräfte, sie zu betätigen, während Hölderlin die Kraft seiner guten Stunden in die Vollendung des  Hyperion gab.Zwischen dem Brief an Schiller, der die reife Theorie

schon zur Voraussetzung hat, und dem Weggang aus Jena liegen nur drei Monate. Schon wegen der Kürze dieser Zeit würde man vermuten, daß ihre Fundamenteschon in Jena gelegt worden sind. Unabhängig davon

verlangt die Gemeinsamkeit zwischen Hölderlin undSinclair, dasselbe anzunehmen. Durch Briefe allein hättesie niemals so vollständig werden können. Erwägt mandie Nachgeschichte des Textes, so kann man also nichtumhin, den Befund der orthographischen Statistik anzunehmen.

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Die Vorgeschichte des Fragments

 Noch bleibt die Frage zu beantworten, wie dieses früheDatura mit dem Stil und der Gedankenwelt der JenaerFragmente zu vereinbaren ist. Findet sie keine Antwort,so mögen Datierung und Zuschreibung unwidersprech-lich sein. Die Existenz des Textes in Hölderlins Werk

 bliebe doch ein unaufgelöstes Rätsel und somit ein Ärgernis für alles Verstehen, das nach neuen Auswegen verlangen machte. So haben wir uns noch einmal dem Textselbst und seiner Vorgeschichte zuzuwenden.

Am 26. Januar 1795 schrieb Hölderlin an Hegel überFichtes Philosophie.59 Er spricht in seinem Brief wie einer der vielen Kantianer, die Fichte im Verdachte hatten,

den widerlegten Dogmatismus zu neuem Leben zu erwecken. „Er möchte über das Factum des Bewußtseins inder Theorie hinaus.“ Hölderlin hat Bedenken gegen diesen theoretischen Überstieg. Es sind dieselben, welcheihn im Text über,Urteil und Sein‘ veranlassen, das Ganzevor der Urteilung kantianisch als eine notwendige Voraussetzung4zu bezeichnen. In Fichtes absolutem Ich erkennt er die Struktur der alten Omnitudo realitatis wieder, sieht aber zugleich, daß es dieselbe Funktion wieSpinozas Substanz erfüllt, in der alles und außer dernichts existiert.60

Vorerst ist er noch nicht bereit, einer solchen Annahme irgendein Recht zuzuerkennen. Er versucht, Fichtemit Kant in einen Widerspruch zu verwickeln: Das absolute Ich ist ohne Objekt, wenn nichts außerhalb seiner ist.Dann aber ist es auch ohne Bewußtsein. Wäre nun dasabsolute Ich in mir, so könnte ich kein Bewußtsein vonihm haben. Ist es aber schlechthin unmöglich, sich seiner 

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 bewußt zu werden, so ist es für mich, das bewußte Wesen, eben nichts, eine leere Annahme.

Diese Überlegung ist gewiß nicht dieselbe wie die

Fichtekritik aus Urtheil und Seyn, Sie kann aber durch eine einzige Wendung des Gedankens in sie überführt werden: Sollten sich philosophische Gründe ergeben, dieAnnahme eines Absoluten vor allem Bewußtsein zu machen, so muß man es konsequent von allem Bewußtseinunterscheiden. Man tut also gut daran, es nicht mißverständlich ,Ich‘ zu nennen und ihm die Funktion von Spi

nozas Substanz in aller Eindeutigkeit zu geben - nurnicht in theoretischer Erkenntnis. Für Hölderlin, dessenThema mit Platon und Schiller die Möglichkeit der Vereinigung war, konnte der Grund leicht zwingend werden,den er in Urtheil und Seyn  selbst nennt: Man muß demUnterschied von Subjekt und Objekt, der alles Bewußtsein ausmacht, ein Ganzes vorausdenken, das immer unerkennbar bleibt.

Hölderlin hat Hegel mitgeteilt, daß seine frühere, diekantianisierende Fichtekritik noch in Waltershausen niedergeschrieben worden sei.61  Im Anschluß an diesenSatz sind einige Zeilen seines Briefes abgerissen. Erkennen läßt sich noch, daß Hölderlin auch im Jenaer Januar die Übereinstimmung zwischen Fichte und Jacobi/Spinoza für aufschlußreich hielt.

Offenbar war sie ihm noch wichtiger als in Waltershausen geworden. Dennoch fand er seine ursprünglicheKritik weiterhin mitteilenswert. Beides zusammen, dieKritik und eine Erweiterung der Projektion von Spinozain Fichtes Wissenschaftslehre, können durchaus schonauf den Standpunkt des Textes über Urteil und Sein hinauslaufen. Zwischen dem Schillerbrief vom Septemberund dem Hegelbrief vom Januar gehört dieser Text alsoeher in die Nähe des letzteren und somit in die spätereJenaer Zeit.

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Der enge Zusammenhang mit dem Kantianismus der frühen Kritik macht auf eine Eigentümlichkeit von L r- theil und Seyn aufmerksam, die leicht übersehen werden 

kann: Auch dieser Text hält sich in wesentlichen Zügen noch immer im Umkreis Kantischer Gedanken: Sein schlechthin ist nur Voraussetzung, Ich ist immer Selbst-bewußtsein, die Modalbestimmungen gehören verschie-denen Erkenntnisvermögen zu, das für uns undenkbare Sein ist intellektuale Anschauung. Hölderlin kritisiert Fichte nicht im beharrlichen Durchgang durch seine Wis-

senschaftslehre. Er betrachtet sie mit an Kant und Jaco  bi geschulten Augen, findet ihre Übereinstimmung mit Spinoza auffällig und beurteilt sie unter Anwendung von Kriterien der kritischen Philosophie. Fast dient sie ihm nur dazu, es möglich zu machen, Gedanken miteinander zu verbinden, die er auf anderem Wege nicht vereinigen konnte: Sie ringt Kant das Zugeständnis einer ursprüng-

lichen Einigkeit ab und befreit zugleich Jacobi/Spinoza von dem Makel eines kritiklosen Dogmatismus.62 Das vermag sie, weil sie der Erkenntnis selbst eine unge-trennte Einheit von Subjekt und Objekt vorausdenkt. Ihr Fehler ist es nui; diese Einheit Jch‘ zu nennen. Daß Fich tes eigentümliches Problem gerade durch diese Identifi-zierung gestellt wird und ohne sie verloren geht, hat Höl-derlin nicht sehen können.63

Es liegt also kein Widerspruch darin, daß Hölderlins Jenaer Entwürfe durchweg kantianisch sind und daß er doch zu gleicher Zeit die Idee von Urtheil imd Seyn ge-faßt haben soll. Er hat sich bis zuletzt in größerer Nähe zu Kant gehalten als seine Freunde und eben darum auch 

den Thesen vom unerkennbaren Grund des Wissens und vom unendlichen Fortschritt die Treue bewahrt.64 Es ist merkwürdig und doch gan? einsichtig, daß er gerade we-gen seines Kantianismus imstande wai; sich ab erster von Fichte zu lösen und das Prinzip von Jacobi/Spinoza fol-

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gerichtig gegen ihn ins Spiel zu bringen. In der Schriftüber das Ich ist Schelling auf dem selben Wege - mit dergrößeren Problemlast, aber auch weit weniger fortge

schritten. Nur eine Frage ist nun noch ohne Antwort: In den Ent

würfen zum  Hyperion blieb Hölderlin von Schwierigkeiten beirrt, die sich mit Hilfe von U rtheil und Seyn behe

 ben lassen und die in Nürtingen auch auf diese Weise beho ben w orden sind. Warum hat Hölderlin die neuen Mittel nicht eingesetzt, wenn sie ihm wirklich schon zur Verfügung gestanden haben? Man muß zugeben, daß sichdafür keine zwingende Erklärung geben läßt. Doch ist

 Hyperion  kein philosophischer Text und Urtheil und Seyn kein vollendetes System. Hölderlin hat mit ihm zunächsteinen Fehler Fichtes aufdecken und die Diagnose derGründe geben wollen, die zu ihm führten. Das wird dannam deutlichsten, wenn man von der wahrscheinlicherenMöglichkeit Gebrauch macht und den Text mit dem Abschnitt ,Sein‘ beginnen läßt. Man braucht nicht anzunehmen, daß Hölderlin auch sogleich imstande war, aus demwiedergewonnenen Spinoza eine Lehre vom Lebenswegdes Menschen zu entwickeln. Noch die Vorrede der vorletzten Fassung hat diese Aufgabe nicht befriedigendgelöst. Eine Lehre ü ber die exzentrische Bahn sollte aberdie Rede des ,Fremden‘ geben. Wir können nur konstatieren, daß Hölderlin zunächst den Versuch fortsetzte, sieallein aus Kant, Platon und Schiller zu entfalten - miteinigen Rücksichten auf Fichte, aber ohne Aneignungund ohne Kritik seines eigendichen Grundgedankens.Schließlich war der  Hyperion  schon an einen Verlegerverkauft, die These über Urteil und Sein aber nu r privateste Niederschrift. Auch muß man nicht annehmen, daßHölderlin sich schon darüber klargeworden war, es werde ihm nie gelingen, mit dem alten Problem bestand eineauch nur als Dichtung überzeugende Rede zu gestalten.

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Es muß eine große Ermutigung für ihn gewesen sein, denneuen Gedanken zum System zu entwickeln, als er bemerkte, daß sich alles in ihn einbringen ließ, was seinem

Leben wesentlich geworden war. Wir wissen nicht, wanner die Rede des Fremden endgültig verworfen hat, aufderen Konzept er so viel Mühe gewendet hatte. Die Gemeinsamkeit im Philosophieren mit Sinclair, die zu dessen Homburger Systementwurf führte, muß jedenfallsnoch in Jena begründet worden sein.

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VI. Ausblick und Programm65

Es ist wohl möglich, daß Hölderlin auch von Stimmenaus seinem Umkreis dazu bewogen wurde, an Gedankenvon Jacobi und Spinoza auch gegen Fichte festzuhalten.Wenn nicht Schelling selbst es tat, so wird ihm gewiß Hegel geschrieben haben, der junge Freund habe sich ihm

gegenüber als Spinozist bezeichnet.66 Fichtes Jugendgenosse Weißhuhn wirkte bereits in Jena gegen seinenFreund mit dem Vorwurf, dessen System sei subjektiverSpinozismus‘.67

Und das Recht Spinozas verteidigte dort der schwäbische Theologieprofessor Paulus, in dessen Hause auchHölderlin verkehrte.68 Nur wenig später sind andereJenaer Schüler Fichtes, unter ihnen Schlegel69, schnellund selbständig zum Spinozismus übergegangen. Auchderen Schritt war vorbereitet im Bewußtsein ihrer Generation.

Doch Hölderlin ist der erste gewesen, den die Konsequenz seiner Gedanken und der Emst seines dichterischen Lebens zur kritischen Wendung gegen Fichte undzur Grundlegung eines philosophischen Systems befähigten. Der jüngere Freund hat versucht, es auszuführen, so wie er später Hölderlins D ichtungstheorie derÖffentlichkeit in eigenem Namen bekannt machte.70 FürHölderlin selbst erfüllte es seine Funktion, indem es ihn

 besser über den Sinn seines Dichtens verständigte unddem Werk zur Vollendung verhalf, um das er sich seit vierJahren gemüht hatte. Die Poetologie der HomburgerJahre entstand aus dem gleichen Bedürfnis. Sie konnteaber aufbauen auf dem in Jena zuerst gelegten Grund,den Hölderlin nicht wieder preisgegeben hat.

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Auch Sinclair hat ihn bestehen lassen. Er verdankte ihnHölderlin, wenngleich sein Beitrag zu seiner Erhärtunggroß gewesen sein muß. Man wird zeigen können, wie

Sinclair seine spätere Systematik auf diesem Grund errichtete, indem er einige seiner Eigenheiten besonderswichtig nahm. Er selbst glaubte, sich ihretwegen mit Hegel vergleichen zu können.71 Doch mit Hölderlin, demFreunde, hatte er auch die Kraft der Überzeugung verloren, die seine frühen Raisonnements auszeichnet. DieKraft zur systematischen Entfaltung und Integration, die

ihm eigen war, ist auch dann noch am Werke gewesen.Haben wir Hölderlins Text über Urteil und Sein rich

tig gedeutet, so muß es auch gelingen, die Entstehungsgeschichte des Idealismus um vieles genauer als bisherzu rekonstruieren. Hölderlin hat sich einen Einfluß aufSchelling zugetraut.72 Man kann nun leichter beurteilen,in welchem Sinne er wirklich stattgefunden hat. Imganzen ist Schelling seinen eigenen Weg gegangen. Ganzanders Hegel. Er kam nach Frankfurt mit einer Philoso

 phie, die im kantischen Umkreis blieb, obwohl er Schellings Lehre vernommen und Fichte zu lesen versucht hatte. Im Kreis von Hölderlin und seinen Freunden wechselte er seinen Standpunkt alsbald und kam auf den Boden, der ihn in wenigen Jahren zum Jenaer Systemführen sollte. Hier eignete er sich einen Fichte an, der bereits durch seine Freunde interpretiert war, und entwickelte eine Terminologie, die viel eher als von Schelling aus Sinclairs System abgeleitet werden könnte.

Aber es ist doch Hegel gewesen, der mit ihrer Hilfezum Verständnis seiner selber kam. Solche Übereinstimmung läßt sich nur begreifen, weil ihn mit Hölderlin vonBeginn und jenseits der Eigentümlichkeiten des Denkensgrundlegende Voraussetzungen verbanden. Eine von ihnen war die Erfahrung der Tübinger Stiftszeit, die auchin Hölderlins philosophischen Weg bestimmend einge-

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gangen ist. Daß aber gerade Hölderlin den Weg der Freiheit in die Bahn des Pantheismus lenkte, bedarf noch einer tieferen Erklärung. Sie läßt sich nur zugleich mit der

Antwort auf die Frage geben, was der spekulative Idealismus im ganzen eigentlich gewesen ist.

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Jacob Zwillings Nachlaß

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Kraftzentren in der Entwicklungsgeschichte 

des Idealismus

Die Phase der Geschichtsschreibung der klassischendeutschen Philosophie, die sich entweder System- undProblemgeschichte oder die philosophische Biographie bedeutender Denker zur Aufgabe machte, ging nur lang

sam ihrem Ende zu. In einer wichtigen Hinsicht ist sieimmer noch über negative Folgen wirksam geblieben.Zwar ist inzwischen allgemein akzeptiert, daß die Entfaltung der Positionen der idealistischen Philosophie undder vielen in ihrer Nähe aufkommenden theoretischenBemühungen nicht in der Konzentration auf einen Denker allein aufgeklärt werden kann. Spätestens seit dem

Erscheinen der ersten Wissenschaftslehre, in Wahrheitaber schon seit dem Entstehen der philosophischen Konstellation zwischen Reinhold und Jacobi, waren die philosophischen Individualentwicklungen in einem bewegtenund erregten Erkundungszusammenhang des Denkensgebunden, in dem eine große Zahl bedeutender und weniger bedeutender Geister eine Stimme hatte. Es hat sich

erwiesen, daß das Profil der Großen dieser Zeit um sodeudicher hervortritt, je mehr man sieht, wie es sich indieser Konstellation und ihrer Nachgeschichte entfalteteund von ihr sich abhob. Kaum je war ein Gesprächszusammenhang so kraftvoll wie in dieser Zeit - er spanntesich aus in einem dichten Netz geschriebener und gedruckter Mitteilungen und insbesondere in und zwi

schen den wirkungskräftigen philosophischen Zentrender Zeit, zu denen der philosophische WeltmittelpunktJena ebenso wie die in ihrer eigenen Hochzeit noch zurPeripherie gehörenden Freundeskreise in Tübingen und

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Frankfurt/Homburg gehörten. Die Existenz dieser Kraftzentren war bekannt, seit eine nicht nur an den Hauptwerken orientierte Geschichtsschreibung in Gang kam.

Man begann aber nicht damit, sich um die Aufklärungdieser Konstellationen als solcher zu bemühen, sondern

 bezog sich auf sie wie auf Rand- und Formationsbedingungen für den Weg jeweils eines zu Ruhm gelangtenDenkers oder Dichters. In welchem Maße sie immer diesauch gewesen sein mögen, so ist doch einer solchen amEnde isolierenden Betrachtungsart die Einsicht dareinverschlossen, wie sich ein Zusammenhang von Motivenund Erfahrungen des Denkens ausbildete, der für die,welche in ihn einbezogen waren, auf unverzichtbare Weise

 produktiv wurde, und auf welche Weise er einen Austausch von höchster Intensität und Bedeutsamkeit teilsinspirierte, teils abnötigte, in dem mehr als nur einer derer, die zu weithin sichtbar historischer Wirksamkeit gelangten, über Anstoß und Abstoß in der Beziehung aufandere den Schwerpunkt des ihm ganz eigentümlichenStandes gefunden hat.

Die Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts hat umfangreiche Gruppen von Dokumenten aus dem zentralenBereich der Formation des idealistischen Denkens teilsganz übersehen, teils in Verlust gebracht. Um so mehr erstaunt die leider notwendige Feststellung, daß bis heutekeine Untersuchung in Gang gesetzt worden ist, welcheüber die Geschichte dieser Verluste und über die Bestände, die noch gesichert werden können, umfassend orientieren könnte. Die größten Anstrengungen in dieser Richtung sind durch Adolf Beck und seine Vorgänger inAbsicht auf eine möglichst vollständige Biographie vonHölderlin unternommen worden. Die großen Philoso

 phenausgaben sind erst später in Gang gesetzt worden.Sie haben - trotz sehr großzügiger finanzieller Ausstattung - aus vielerlei Gründen in die Suche nach Doku

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menten und die Aufklärung der Nachlaßgeschichte des zuEdierenden nur geringe Kraft gegeben. Nirgends ist es

 bisher dazu gekommen, der Gesamtentwicklung der idea

listischen Philosophie in der Umgebung ihrer Zeit eineauf alle wichtigen Entwicklungszusammenhänge gleichmäßig gehende Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen.

So kann ein einzelner, de r Geschichtsforschung n ur im Nebeninteresse unternim mt und der über im Vergleichmit den Editionen und ihren Archiven verschwindendkleine Ressourcen verfügt, den Bestand an Dokumentenund Manuskripten sehr erheblich bereichern. Anhaltende Suche hat sowohl zur Stiftsgeschichte zur Zeit desEindringens des Kantianismus in die Orthodoxie alsauch zum Aufsteigen einer grundsätzlichen Oppositiongegen Fichte in Hölderlins Umkreis ausgedehnte und erschließungskräftige Dokumentengruppen zu Tage gefördert. Dazu gehören Gruppen von dicht liegenden Dokumenten aus der Tübinger Stiftsgeschichte, deudicheSpuren der Gedanken, die für das Hom burger Gesprächorientierend waren, und Schellings früheste theoretischeArbeiten. Daß diese Schürfarbeit mit zu viel Verspätungin Gang kam, wird allerdings auch daraus deutlich, daßDokumentengruppen erheblichen Gewichts, die bis zumKrieg Hitlers noch leicht zugänglich waren, nun verschollen sind oder aufgrund unseres Wissens von ihrerwirklichen Zerstörung als verloren zu gelten haben, sodaß, wenn einmal gezeigt ist, daß sie auf längere Zeitoder gar für immer unerreichbar sind, die weitere Aufgabe entsteht, sie so weit wie möglich zu rekonstruieren.

Was nun den Freundeskreis um Hölderlin in Frankfurtund Homburg betrifft, so ist die Zahl der Dokumente, dieehedem bestanden, heute aber nicht verfügbar sind, besonders groß. Daß sie nicht früher allgemeine Aufmerksamkeit fanden und so über den Druck gesichert werden konnten, erklärt sich daraus, daß die Erkenntnis der 

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frühen Selbständigkeit und Wirkungstiefe Hölderlins inder Philosophie erst seit Mitte der sechziger Jahre als un

 bestritten gelten kann. TVotz der Debatte über Hölderlins

Einfluß auf das Älteste Systemprogramm in den zwanziger Jahren und obwohl Hölderlins philosophische Authentizität schon früh behauptet worden ist, war die Artund das Datum des Beginns seines selbständigen Denkens im Ausgang von Fichte erst durch die Publikationdes Fragments über,Urteil und Sein4zu erkennen. So erklärt es sich, daß Sinclairs »Philosophische Raisonne-ments4, die von diesem Denken ganz abhängig sind,zunächst keine Beachtung fanden, obgleich sie im öffentlichen Besitz waren. Und so erklärt es sich auch, daßLudwig Strauß’ Anregung, den philosophischen Studiendes dritten Geistes im Bunde, Jacob Zwilling, eine eigene Untersuchung zu widmen, über Jahrzehnte nicht aufgenommen worden ist.

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Philosophische Probleme 

aus dem Abstoß von Fichte

Man mußte die philosophischen Raisonnements4Sinclairsund Hölderlins programmatischen Text über Sein undUrteil ineinander integrieren, um deutlich zu machen,wie sich in ihnen zusammen eine Position abzeichnet.

Diese Position nimmt entschlossen Abschied von Fichteim Grundsätzlichen, nutzt aber weiter die in der Durchführung der Wissenschaftslehre erarbeiteten Explikationsmittel und dynamischen Modelle, besonders seineTheorie der Einbildungskraft. Sie verbindet so einen idealistisch gesicherten metaphysischen Monismus mit demUnternehmen einer philosophischen Darstellung von

 Naturschönheit und Dichtkunst als höchster Vereinigungsformen, woraus sich der Grundriß eines Denkensergibt, das auch noch die späteren poetischen ArbeitenHölderlins zu tragen vermochte. Es konnte gezeigt werden, daß dies philosophische System Hölderlins, obgleich jugendlich in der Unbekümmertheit des Ansatzesund nur im Umriß zu Papier gebracht, doch in der

schrifdichen Ausführung durch Sinclair eines hohen Grades von Differenzierung und Argumentationskraft fähigwar. So wurde auch einleuchtend, daß es auf Hegel, dersich noch an die Grenzziehungen des Kantianismus hielt,einen entscheidenden Einfluß nehmen konnte.

 Nachdem einmal Aufbau und Gehalt dieses kleinen,aber originalen Systems von Hölderlin feststand, so daß

es auch möglich war abzuschätzen, welche Wendung inHegels Weg durch es provoziert wurde, ergaben sich mitDringlichkeit einige weitere Fragen. Die Existenz vonZwillings philosophischen Skizzen und der Ursprung des

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sogenannten  Ältesten Systemprogramms  im HomburgerKreis waren schon bekannte Tatsachen. So wußte man,daß dieser Kreis sich zwar um Hölderlin als Zentralge-

stim formiert hat, daß in ihm aber auch Positionen lautwurden, welche, wie immer zu der von Hölderlin in Abhängigkeit, doch nicht mit ihr deckungsgleich sind. Eswar also zu fragen, wie viel noch über sie auszumachenist. Und da sich die selbständige Leistung von Hölderlinund seinem Freundeskreis zumindest zu einem Teil daraus erklärt, daß er seinen Ursprung in Jena und in unmittelbarer Nähe Fichtes hatte, war weiter zu fragen, obsich noch Verläßliches ermitteln läßt über die Schrittedes Hervorgangs des poetischen Monismus aus der Wissenschaftslehre und über die Kontroversen, die auf diesem Wege laut werden mußten.

Solche Fragen mußten gerade für Jacob Zwilling neues und kräftiges Interesse wecken. Zwilling hatte unterden Freunden die längste Zeit an der Universität Jenaverbracht. Die Zitate aus Briefentwürfen an einen Jenenser Professor4, die Ludwig Strauß mitgeteilt hatte73,ließen hoffen, daß diese Entwürfe als Ganze Rückschlüsse erlauben könnten, zu denen Strauß selbst nochnicht imstande gewesen war - angesichts des noch begrenzten Wissensstandes seiner Generation gerade überdie Philosophie Hölderlins und Hegels.

Auch aus einem Grund der philosophischen Theorie bildung selbst konnten die Texte, die von Zwilling schon bekannt waren, ein besonderes Interesse auf sich ziehen- und zwar gerade im Hinblick auf Hegel. Die Gründefür dieses Interesse seien etwas eingehender angezeigt:In den spekulativen Idealismus sind monistische Pro blemstellungen sehr verschieden«; aber verwandter Arteingegangen. Er hat zunächst, in Reinhold und Fichte, einen methodologischen Monismus angestrebt. Monismus indiesem Sinn ist durch das Programm zu definieren, im

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Ausgang von einem einzigen Grundsatz oder einem einzigen realen Prinzip alles Wißbare als solches (also dieTheoreme der Philosophie) wenigstens in den Grund

zügen herzuleiten. Von ihm ist ein metaphysischer  Monismus zu unterscheiden, der in Anspruch nimmt, allesWirkliche lasse sich als Modifikation eines einzigenselbständigen Wirklichen oder als Produkt der in einemeinzigen Wirklichen gesetzten Entwicklungsbedingungen eben dieses Wirklichen begreifen. Insofern Fichtedie Welt als Selbstentfaltung des Ich auffaßt und die so

entstehende Theorie nach dem methodologischen Monismus organisiert, stellt sich in seiner Wissenschaftslehreeine Verbindung zwischen methodologischem und meta

 physischem Monismus her.Hölderlins und Sinclairs, aber auch Zwillings Texte ge

hen nicht mehr eindeutig auf einen methodologischenMonismus aus, sind aber metaphysisch-monistisch organisiert, obgleich sie Fichtes Monismus, der sich in derAufstufung von gegenstrebigen Einheiten von Tätigkeitsweisen des Ich entfaltet, durch die Ein-Allheitsfor-mel der Rede von ursprünglich ungeschiedenem Seinund Urteilung in der Reflexion teils ersetzen, teils überhöhen.

Mit dieser Überführung Fichtes in das GravitationsfeldSpinozas öffnet sich der Horizont für eine dritte Problematik, die hier als die eines ontologischen  Monismus bezeichnet werden soll. Ihre Aufgabe ist es, eine Begriffsform zu entwickeln und in ihrer Konsistenz und Differenzierbarkeit darzustellen, welche es allererst erlaubt,einen metaphysischen Monismus nicht nur im Sinn deralten via negativa der Tradition darzustellen, sondern alsspekulatives Wissen in Anspruch zu nehmen, das einer begrifflichen Entfaltung fähig ist, die ihrerseits den Status von »Erkenntnis1hat. Nun muß sich zwar jeder meta physische Monismus in einer solchen Begriffsform arti

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kulieren. Fichte gebraucht sie, ohne sie in einem vom Systemgang abgehobenen Gang der Rechtfertigung zu entwickeln, wenn er von ,Identität und Gegensatz* im Ich,

von ,Setzen und Entgegensetzen4und von den synthetischen Akten redet, die sich als logische Folge aus solchenBegriffsverhältnissen ergeben. In der Wissenschaftslehreentsteht aber der Anschein, als sei die Rechtfertigungdieser Rede ganz unmittelbar mit der Rede vom Real

 prinzip des Monismus, dem absoluten Ich, schon erlangt- als werde, um es anders auszudrücken, zusammen mitder Theoriesprache vom Ich auch die ganze Begriffsformvon den synthetischen Aktivitäten, die Kant entfaltet hat,auf eine Weise in den Theoriebereich des metaphysischen Monismus übertragen, die kein weiteres Bedürfniszu ihrer philosophischen Rechtfertigung entstehen läßt.

Diese Situation veränderte sich grundlegend, wennauch zunächst unmerklich, als die Kritik der Freunde umHölderlin dadurch, daß sie das metaphysische Prinzipvom Prinzip Ich freisetzte, auch die zunächst selbstverständlich scheinende Bindung jeder Rede vom Absoluten an die Form der synthetischen Aktivitäten auflöste.Von nun an mußte jede metaphysisch-monistische Theorie, sofern sie sich außerstande sah, die von Spinoza entfaltete Begriffsform nach Kant und Fichte einfach nur zurepetieren, eine neue Begriffsform entfalten. Und damitergab sich auch das weitere Problem, zur Klarheit darüber kommen zu müssen, welche der eigenen philoso

 phischen Gedankenzüge nichts weiter als Entwicklungdes Programms eines metaphysischen Monismus und eines logischen Minimums einer möglichen Begriffsformfür diesen Monismus sind - im Unterschied zu anderenZügen, welche der ontologischen Form auch ein meta

 physisches Korrelat zuordnen. Ist dieser Unterschiedeinmal gemacht, so ergibt sich zugleich die weitere Frage danach, inwieweit eine solche Unterscheidung über

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haupt haltbar ist, und somit die Möglichkeit zu der Vermutung, daß der metaphysische Monismus im Ganzenseines Systems gar nichts weiter sei als die Konsequenz

aus dem Versuch, eine ontologische Begriffsform fürmöglichen Monismus sicher und konsistent aufzurichten.

Diese Frage muß spätestens dann aufkommen, wennsachliche Klarheit darüber entsteht, daß HölderlinsFreundeskreis über Ureinheit und Differenz, über Seinund Urteil, über Anfang und Allheit in einer Weisespricht, die in Beziehung auf die Differenz zwischen be

grifflich notwendiger Unterscheidung und metaphysischem Prozeß des Hervorgangs wesentlich zweideutigist. Das damit formulierte Problem bleibt teils implizitund nur der Sache nach, teils ausdrücklich und thematisch für die gesamte Entwicklung des Idealismus virulent. Und es erzwingt eine theoretische Entscheidunghinsichtlich des Erkenntnisstatus der monistischen Philosophien. In Hegels Logik ist diese Entscheidung mitEindeutigkeit zugunsten einer Begriffsentwicklung gefallen, die sich gegen eine mögliche Wirklichkeitsthesenicht indifferent setzen läßt. Schelling ist in allen Stadienseines Weges von diesem Problem bewegt gewesen, ohnees je luzide ausformulieren oder gar auflösen zu können.Und auch bei Hölderlin ist es gegenwärtig in dem niemals ganz transparenten Verhältnis von Denken und Erfahren, von Form-Geben und Offenbaren - wodurchHeidegger überhaupt erst in die Lage kam, Hölderlindem eigenen Lösungsversuch zu subsumieren, der seinerseits nicht zur Klarheit gediehen ist.

In dieses Grundproblem der All-Einheitslehre verwickelt ist ein anderes Problem von nur wenig geringe

rem Gewicht: auf welche Weise es möglich und systematisch legitim ist, eine nicht auf Subjektivität gestützteTheorie von der ursprünglichen, sich selbst in die Differenz setzenden Einheit mit philosophischen Reden über 

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die Dynamik der Subjektivität zu verbinden. Für dieHomburger Entwürfe ist diese Verbindung formtypisch:Sie flechten Betrachtungen über das Eine, das allem Ich

und Nicht-Ich voraus sich differenziert, mit Betrachtungen über diejenigen transzendentalen Grundvermögender Subjektivität zusammen, in denen sich die Differenzebenso wie ihre innere Ermöglichung durch die Einheitverwirklicht. Die Differenzierung ist zugleich auch Reflexion (Sinclair) und Hervorgang von Bewußtsein (Zwilling), die Gegenwart der Einheit macht sich in Strebenund idealischem Denken oder in der Imagination geltend. Vom reifen Hegel aus betrachtet, muß diese Verwicklung wie ein der wirklichen Verbindung unfähigesAmalgam von Logischem und Phänomenologischem erscheinen - wenngleich auch noch der Text seiner eigenen späteren Logik nicht sorgsam genug darauf angelegt

war, Mischungsreste dieses Ursprungs peinlich von sichauszuscheiden. Es war aber auch diese Bereitschaft, logische Formen in Einem mit Bewußtseinsformen in dialektische Zusammenhänge zu entfalten, welche denHom burger Kreis in den Anschein kommen lassen konnte, in Wahrheit nicht hinreichend Abstand von FichtesMethoden gewonnen zu haben.

Schließlich hängt mit dieser fundamentalen Problemlage auch noch eine dritte Problematik zusammen. Siemacht sich in der Forderung nach der Aufklärung der Beziehungen geltend, welche im monistischen System zwischen dem Ausgangsprinzip und seinen Entwicklungen(Differenzierungen) bestehen soll. Daß All-Einheit, alsoder Grundgedanke des Monismus, zu denken sei, hatnämlich bei genügend gründlicher Analyse zur Implikation, daß eine von Differenz unabhängige und in Beziehung au f sie logisch vorgängige Einheit gar keinen halt

 baren Gedanken ausmacht. Diese Einsicht erzeugt imMonismus Widerständigkeit gegen die Vorstellung von

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einer sei es zeitlichen, sei es logischen Sukzession, welche Differenz aus der Einheit wie ein Produkt und unbegreifbar Zweites hervorgehen läßt. Andererseits ist Ein

heit im Ein-Allen des Monismus insofern auch wiedervorgängig, als die Ein-Allheit nur von der Einheit des Allsher, nicht aber von der Allheit, die nur zum Einen Z u

sammentritt, aufgefaßt werden darf. Dieser Primat derEinheit, der der "Ev-7tavTa -Lehre den Namen »Monismus* an Stelle des möglichen ,Panismus‘ verschafft hat,

 bedarf einer theoretischen Aufklärung, die in der Periodedes spekulativen Idealismus nirgends zu unbestrittenemAbschluß kam. Aber natürlich ist, dessen unangesehen,der Einheitsprimat in der idealistischen Bewegung stetswirksam gewesen. Und schon von Fichtes Wissenschaftslehre an, insbesondere aber in ihrer Interpretationsgeschichte, wurde deutlich, daß sich dieser Primat am leichtesten in eine Erzeugungstheorie von Einem her umset-zen läßt. So verhielt es sich auch in den Entwurfsmustemder kleinen Systeme von Hölderlin, Sinclair und Zwilling. Gegen den Primat des Einen mußte sich aber auchdie Gleichursprünglichkeit der mit dem Einen stets zusammen zu denkenden Differenz geltend machen. Undvon ihr her mußten dann für die Vorstellung von einerder Differenz vorauszudenkenden Einheit Schwierigkeiten entstehen, während andererseits der Gedanke solcher Einheit auch wieder ein um der systematischen Ar-tikulationsfahigkeit des Ganzen willen unabdingbarerGedanke zu sein scheinen konnte.

Im Spannungsfeld zwischen metaphysischem Prinzipund ontologischer Begriffsform, zwischen Seinsphiloso

 phie und Subjektivitätstheorie und schließlich zwischenUrsprungsphilosophie und Identitätstheorie als Allheitstheorie hat sich das Denken im Homburger Freundeskreis entfaltet - in de r Gewißheit von der Notwendigkeit,den Schritt über Fichte hinaus zu tun, und somit auf der 

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Basis einer Grundlegung der Philosophie, die durchgängig im Abstoß von Fichte gewonnen wurde, aber auch inder Unklarheit über Natur und Verwicklung des Pro

 blemzusammenhanges, in den man sich kraft diesesSchrittes mit Notwendigkeit zu stellen hatte. Aus dertheoretischen Dynamik, die so angelegt war, hat sichzunächst Hölderlins Poetologie und sodann, über Anziehung und Abstoß von HölderÜn, Hegels reifes Systementfaltet. Es ist von hohem Interesse, die Auswirkungender Motive dieser Problemlage schon dort erkennen zu

können, wo sich die Hom burger Philosophie noch in derFormation befunden hat.

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Jacob Zwillings Systemform und 

Begriffsbildung

Die philosophischen Fragmente Zwillings, die LudwigStrauß veröffentlichte, sind für sich schon ein lehrreichesZeugnis der Auswirkungen solcher Problematik. Das Eigentümliche von Zwillings Entwurf, vor allem im Text

Über das Alles,  läßt sich so verdeutlichen: In Hölderlinskleinem System ist der Gedanke, von dem der Ausganggenommen werden muß, das ,Sein‘, das sich in derReflexion in die Entgegensetzung ursprünglich teilt(,urteilt1), so daß aus und in der Trennung, die als solcheunaufhebbar ist, die ursprüngliche Einheit als Zielpunktwieder aufkommen muß - im Streben, in idealischem

Aufschwung des Denkens und in der Begegnung mitdem in sich unendlichen Endlichen, dem Schönen. TYotzseiner Geschlossenheit und seines poetologischen Potentials liegt in diesem System doch eine Zweideutigkeit,die heraustritt, wenn man das folgende erwägt: Definitivgeht der Ursprung des Seins in der Urteilung auf. Obgleich es naheliegt, darf man nicht so denken, als be

stünde das in die Differenz verlorene Sein neben demDifferenten etwa noch fort. Was das Sein war, ist nun inder Reflexion und TVennung ganz aufgegangen. Dannaber darf die vielfältige Beziehung zum Einen, welche inder TVennung aufkommt, nicht wie eine Bezugnahme aufden entschwundenen oder verdeckten Ursprung, alsonicht wie eine Relation zwischen realem Endlichem und

realem Absolutem aufgefaßt werden. Das Eine kann nurintentionaler, nicht existierender Gegenstand all jenerAkte sein, in denen auf es Bezug genommen wird. SolcheAkte könnten dann im Prinzip als der Ausgang für die

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Wiederherstellung des Einen verstanden werden. Aberdieser Weg ist als gangbarer doch sogleich dadurch verschlossen, daß Hölderlin annehmen will und muß, der

Ursprung sei entweder endgültig (und glücklich) an dieWelt und in den Prozeß verloren, in den er sich über dieReflexion in die Differenz auftut, oder er bleibe jedenfalls für alle Bezugnahme au f ihn realiter unerreichbar, sodaß sich sein Wesen und Gesetz rein nur in der Art undWirkungsweise der Vereinigung realisiert, die durch Bezugnahme auf ihn ins Dasein kommt. So ist die Summe

der Analyse von Hölderlins kleinem System unter diesemGesichtspunkt dahingehend zu ziehen, daß in ihm dieRelation zwischen Ursprung, Aufbrechen des Ursprungsund Rückwendung zu ihm so wenig zur Eindeutigkeitaufgeklärt ist, daß in den Akten der Restitution und Vereinigung ständig implizit eine Weise der Präsenz des Ursprungs in Anspruch genommen wird, die von der Logikim Aufbau des Systems ausgeschlossen bleiben müßte.Jene Akte scheinen die Bezugnahme auf ein noch fort bestehendes, in der Reflexion nicht gänzlich verlorenesSein vorauszusetzen, das aber vom System gar nichtmehr gedacht werden darf. W ürde der definitive Verlustdes einigen Seins in die Differenz wirklich konsequentfestgehalten werden, so müßten die Akte selbst anders beschrieben sein: als Restitutionen im Prozeß und nichtals Rückwendungen zum Ersten oder Offenbarungen eines Seins, welches als der Anfang aller Dinge so fort

 bestünde, daß Vereinigung von ihm her einen Ermöglichungsgrund fände.

Das Grundmuster von Hölderlins kleinem System würde es verlangen, den Gedanken vom Einen nur als einenebenso notwendigen wie vorläufigen Ausgangsgedankenzu verstehen. In der Ausführung wäre er zur Gänze inden Bestand der von ihm her verstandenen Differenz zuübersetzen - so daß also, was in der Folge über die Dif-

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ferenz zu sagen ist, zugleich über die Differenz als solcheund über die in der Differenz selbst präsente und dannvielleicht auch in ihr zu realisierende Einheit handelt. Die

Begriffsform dieser Sprache wird von der Form der Rede über Ursprung und Verendlichung des Ursprungs verschieden sein. Daraus wird in der Folge eine theoretischeSituation entstehen, in welcher der Gedanke von der Ursprungseinheit und der ihr innerlichen Reflexion zunächst rein nur als Initialgedanke des Systems und dannvielleicht sogar als ein Gedanke erscheint, der ganz zu

gunsten der Begriffsform der internen Einheit von Einheit und Differenz aufgegeben werden könnte, die ihrerseits unabdingbar in Gebrauch genommen werden muß,wenn damit begonnen wird, den Prozeß der Entfaltungder Einheit zu einer Differenz zu denken, die in sich vonEinheit und Vereinigungspostulat ermöglicht und durchherrscht ist.

ZwUlings Abhandlung Über das Alles gibt diesem logischen Zwang zum Denken eines rein nur intern wirkenden Einheitsgrundes in einem Ausmaß nach, das in denanderen frühen Texten des Homburger Kreises nicht zufinden ist. Sie setzt also zu erstaunlich früher Zeit Denkmotive frei, die auf Hegels philosophischem Weg entscheidende Bedeutung gewonnen haben. Zwilling folgt

einem Grundgedanken Hölderlins, der für eine erste Gestalt von Monismus stets naheliegt, wenn er aus der Unendlichkeit durch Reflexion den Anfang des Denkens dadurch hervorgehen sieht, daß dieser Unendlichkeit etwasEndliches abgewonnen wird, das als solches ein Korrelates4ist. Damit ist auch schon ein Ganzes gesetzt - fürdie Theorie als Perspektive, in der Wirklichkeit als Be

ziehungssystem -, das die Totalität alles Wirklichen ein begreift und das als ,Alles‘ bezeichnet werden darf - das"Ev-navta ohne eine in ihm oder in Beziehung auf esabzuhebende und so vorausliegende Einheit. Insofern ist

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dies Eine also da» rcäv. Der Jüngling Zwilling folgt demGedanken, daß mit dem ersten Endlichen jegliches Endliche und damit alles überhaupt gesetzt ist, indem er die

relationale N atur aller der Gedanken aufzeigt, von denendie Meinung sein könnte, sie eigneten sich dazu, im System als relationsenthobene Absoluta zu fungieren. Da

 bei ist besonders bemerkenswert, daß er diesen Aufweis,wie es die systematische Form solchen Monismus wirklich verlangt, auf zwei Ebenen führt - nicht nur für irgendwelche ontologische Formgedanken, die eines Ab

solutheitsanspruchs verdächtig sind, sondern auch aufder höheren Ebene der Gedanken von der Relationalitätdes Wirklichen selbst: Noch der Gedanke der Absolutheit als solcher, der Relationslosigkeit, ist eben durchdiese seine Definition wiederum nur ein anderes Relati-vum: Er hat zum Correlat den Formgedanken des Corre-lats rein als solchen. Der Gedanke, daß auch der Begriffvon Relation ein relationaler Ausdruck ist, wird abernicht nur abstrakt formuliert, sondern auch auf interessante Weise zu weiterem systematischen Aufbau in Anspruch genommen. Ist nämlich jede Relation als solche in,Beziehung1auf das ,Relationslose‘ zu denken und gerade darin ein Correlat, so gilt für jeden Fall irgend einer

 bestimmten Relation, daß er einerseits durch die Art derBeziehung seiner Relate, andererseits durch die mit derRelation schon gedachte Nichtbeziehung an ihm selbstzu charakterisieren ist. Nichtbeziehung, in der Beziehunggedacht, ist aber nun der Gedanke von der Nichtdifferenz der in der Relation stehenden Differenten. Wird

 Nichtdifferenz von Differenten dann noch dynamisch interpretiert, so ergibt sich auf diesem Wege ein für denHomburger Kreis am meisten charakteristischer Gedanke: In aller TVennung ist, insofern sie wesendich Differenzbeziehung ist, auch Vereinigung gegenwärtig. Undes läßt sich zum erstenmal Hegels Grundsatz formulie-

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ren, der von ihm selbst erst während der letzten Frankfurter Periode überliefert ist: daß nämlich in aller „Beziehung eine Nichtbeziehung begriffen ist“ so daß „die

Betrachtung der Beziehung auf ihrer höchsten Stufe Beziehung mit der Nichtbeziehung ist“.74

Es kann hier nicht darum gehen, weiter in die logischen Verhältnisse einzudringen, welche dieser RedeStruktur geben und sie einleuchtend machen. Festzuhalten bleibt nur, daß dann, wenn die Folgerungen gezogensind, welche diese Rede ermöglichen, der Anfang des Be

trachtungsganges des Systems, das Hölderlins Bahnenfolgt, von der im folgenden sich entfaltenden Begriffsform der absoluten Correlativität gleichsam abgestoßenwird. Der Anfang scheint nur noch dazu zu dienen, Absolutheit und Endlichkeit in Beziehung aufeinander einzuführen, worauf sich sogleich die für das folgendegrundlegende Argumentation ergibt, daß beide auch in

das Gesamtsystem der Correlation gänzlich einbezogen bleiben. Sie sind so die zweite Stufe in dessen Artikulation, welche dann weiter dafür steht, daß alle Relationa-lität TVennung und Vereinigung in Einem ist.

So wird verständlich, daß im Rahmen dieser Betrachtung die Entwicklung einer ontologischen Begriffsformder Relationalität zum dominanten Motiv der philoso

 phischen Reflexion wird. Von ihr wird die Ausbildungdes metaphysischen Monismus zumindest ebenso abhängig wie von dem Gebrauch der Sprache von den synthetischen Aktivitäten des Geistes. In der Tat ist ZwillingsPosition in der Sache einer über die Begriffsform nochhinausgehenden Metaphysik eigentümlich undeutlich.Und seine monistische Philosophie des Geistes, die der

Differenz als solcher das ,Bewußtsein4 und der in allerRelation erfolgenden ,Zusammennehmung‘ das G edächtnis4zuordnet, zeigt deudich, daß sie ganz vom relationsontologischen Ansatz dominiert ist. Im Resume

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muß man also sagen, daß Zwillings Relationstheorie inUber das Alles der früheste uns erhaltene Text ist, in demsich die Möglichkeit abzeichnet, daß der von Fichte los

gekommene idealistische Monismus in die Richtung gehen konnte, deren Zielpunkt durch Hegels Wissenschaftder Logik historisch besetzt worden ist. Daß sich dieseEntwicklung in formal unreifen Texten eines inspiriertenJugendlichen anbahnt, zeugt nur um so mehr von demspekulativen Zugzwang, dem sie folgte - aber auch vondem Ausmaß an Kraft zu erkundendem Denken, das im

Kreis um Hölderlin freigesetzt worden war.

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Der Weg des spekulativen Idealismus

Ein Resume und eine Aufgabe

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Mit der Edition der Texte aus Zwillings Nachlaß, die sichaus dem Ludwig-Strauß-Archiv in Jerusalem zurückgewinnen ließen, ist die Suche nach diesem wichtigen

Dokument für die Geschichte der Ausbildung des spekulativ-idealistischen Denkens zum vorläufigen Abschlußgekommen. Vorläufig ist dieser Abschluß deshalb, weileigendich nur seine (willkürliche oder zufällige) Vernichtung in Bad Homburg nach 1955 seinen Verlust auch aufalle Zeit erklären könnte. Darum besteht die Hoffnungfort, daß er noch an diesem Ort unter derzeit unbekann

ten Bedingungen existiert und daß er auch weiter erhalten bleibt, so daß er unter heute nicht absehbaren Bedingungen wieder auftauchen könnte. Ein Abschluß istnichtsdestoweniger zu konstatieren, weil alle Möglichkeiten zu einer systematisch angelegten Suche durch Forscher, die sich nicht in wörtlichem Sinne als Detektiveoder amdiche Wahrer von öffentlichem Besitz betätigen

können, nunmehr erschöpft sind.Christoph Jamme hat in einer Weise, die Dank verdient,

meinen Wunsch aufgenommen, ein Jüngerer möchte dieArbeit an Ludwig-Strauß’ Nachlaß in Jerusalem übernehmen75, um so an Ort und Stelle die Suche zu Ende zu

 bringen, für die mir nur die Photokopien aus den Teilenvon Strauß’ Papieren zur Verfügung standen, von denen

unmittelbar zu erkennen war, daß sie in den Zusammenhang von Strauß’ Arbeit an Zwillings Nachlaß gehören.Wirklich hat sich so der Bestand von Zwillings Nachlaß,der im Wortlaut über Strauß’ Vermitdung auch für unsnunmehr fortbesteht, noch weiter vergrößern lassen. MitEnttäuschung ist dennoch festzustellen, daß sich keineweiteren Texte von wirklich erschließender Bedeutung

haben auffinden lassen.Der vorläufige Abschluß der Suche nach Zwillings

 Nachlaß gibt Anlaß dazu, auf den größeren Zusammenhang, in dem die anhaltende Suche geboten erschien,

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und auf die Aufgabe, die sich nach dem Ende der Rekonstruktion der philosophischen Situation um Hölderlin in den Jahren 1795 bis 1797 stellt, in einer weiter aus

greifenden Übersicht einzugehen.

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Philosophische und methodische 

Voraussetzungen

Die Teile von Hegels Nachlaß, zu deren Erhaltung sichseine Söhne verpflichtet wußten, wurden 1889 der Königlichen Bibliothek in Berlin übergeben. Zu ihnen gehörten viele der religionstheoretischen Manuskripte aus

Hegels Frühzeit. Dilthey erkannte bald ihre Bedeutung:Sie eröffneten die Aussicht auf eine neue Verständigungüber die innere Entwicklung von Hegels System aus denMotiven und Denkschritten, die in den Erfahrungsgangseines Begründers und somit in die Problemlagen seinerZeit verwoben waren. Damit war der Grundstein gelegtfür die Entfaltung einer neuen Verständigung über den

Gang, in dem sich der Teil der klassischen deutschenPhilosophie ausgebildet hat, der von der TVanszenden-talphilosophie Kants und Fichtes ausging und der zumAufbau eines Idealismus führte, der im engeren Sinn ,derspekulative4zu heißen hat. In ihm wurden die Theorieformen der TVanszendentalphilosophie mit solchen Theorieformen verbunden oder in sie überführt, die eine neue

Weise metaphysischen Wissens und zuletzt auch einefür diese Metaphysik grundlegende Ontologie ergebensollten.

Die Aufklärung über die Möglichkeit dieser Entwicklung war schon für Hegel selbst und dann für die vonihm beeinflußte Geschichtsschreibung der Philosophievon hohem Interesse. Im zweiten Drittel des 19. Jahr

hunderts erschienen zahlreiche Werke, die den Versuchunternahmen, den Weg von Kant zu Hegel übersichdichund durch die auf ihm maßgeblichen Überlegungen verständlich zu machen oder als zwangsläufig darzustellen.

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Diese Werke konnten noch vom Gesichtspunkt jüngererZeitgenossen aus geschrieben werden. Sie enthalten daher Analysen vieler Autoren, die später kaum noch be

achtet wurden, die aber in ihrer Zeit und in der akademischen Lehre und im Publikationswesen der Philoso

 phie eine beträchtliche Rolle spielten. Aber erst durchRosenkranz’ Hegelbiographie wurde in die Historiogra

 phie der klassischen deutschen Philosophen zum erstenmal eine entwicklungsgeschichdiche Zugangsart einge

 bracht. Noch in dem von Dilthey veranlaßten näherenentwicklungsgeschichtlichen Studium von Hegels frühenTexten ist aber die Zentrierung auf die Ausbildung desWerkes eines einzelnen Denkers nicht verlassen. Dementspricht, daß auch in unserem Jahrhundert die philosophische Verständigung über den Weg von Kant zu Hegel vor allem über die Analyse der Theorien der für dieklassische deutsche Philosophie repräsentativen System

 bildungen gewonnen wurde, somit über die Erwägungvon Konsequenzen für die Fortentwicklung der Systemform als solcher, die aus diesen Werken selbst gezogenwerden konnten. Richard Kroners Von Kant bis Hegel  markiert den Höhepunkt und wohl auch das Ende dieserArt einer von Hegel inspirierten Gesamtverständigung.Schon zur Zeit seines Erscheinens schien es zu weit zugehen, in seiner konstruktiven Bauart und in seiner Orientierung an der Kritik, die Hegel selbst an seinen Vorgängern geübt hatte. Heute muß es als negatives, obzwareindrucksvolles Gegenbild einer Verständigung überden Entwicklungsgang der klassischen deutschen Philosophie erscheinen, welche die wirkliche Ausbildung vondessen Positionen dem Verstehen aufschließen könnte.Ein Werk aber, das seinem Anspruch und dem Umfangseines Zugriffes entspräche und das über wirkliche historische Einsicht eine philosophische Aufklärung über

 jenen Entwicklungsgang zu geben vermöchte, ist bisher 

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nicht erschienen und hat bislang auch noch gar nicht geschrieben werden können.

Doch heute beginnt sich die Aussicht auf eine solche

neue und zugleich universale Verständigung über denWeg von Kant bis Hegel abzuzeichnen. Sie ergibt sich einerseits aus der Ausweitung der von Dilthey in Gang ge

 brachten entwicklungsgeschichtlichen Analyse auf dieGenese der Theorien der klassischen deutschen Philoso

 phie insgesamt und in ihrem Wechselbezug aufeinander.Sie ergibt sich andererseits aus einer erst in der zweiten

Hälfte dieses Jahrhunderts gewonnenen Auslegungsform für die inneren Formationsbedingungen dieserTheorien selbst. Daß gerade sie auch für die historischeErklärung eine Voraussetzung ist, mag nicht ohne weiteres einleuchten und sei darum erläutert:

Die überkommene Auslegungsweise war von der Neigung beherrscht, die Architektur der großen Theorien

und mit ihr oftmals auch deren Selbstinterpretation alsverbindlichen Ausgangspunkt anzunehmen. Ihr Ziel wares somit, die Theorien und ihre Verzweigungen von ihrer Ausführung her, die sie in den großen Werken gefunden haben, durchsichtiger zu machen, als es ihren Autoren selbst gelungen war. Obwohl nun dabei mit Rechtzur Geltung kommt, daß diese Werke aus auf Systematik

gerichteten Intentionen hervorgehen, so hat diese Methode doch den Nachteil, sich vorab von den Theorie

 potentialen abhängig zu machen, die den Autoren selbstzur Verfügung und sogar ausdrücklich vor Augen standen. Gerade darum vermag sie es aber nicht, die begrifflichen Zusammenhänge, die Problemlagen und die Argumentationsfäden aufzunehmen und auszuarbeiten, die

im Aufbau der Werke wirksam und für ihn charakteristisch sind, ohne daß sie von ihren Autoren deudich gemacht und sicher beherrscht werden konnten - etwa dieMethode der transzendentalen Rückfrage oder der spe

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kulativ-dialektischen Synthese. Die Philosophie diesesJahrhunderts hat ein gegenüber der Vergangenheit gesteigertes Bewußtsein von der Schwierigkeit und Ver

wicklung der Begriffsanalyse und der philosophischenArgumentationsweise heraufgebracht. Dies Bewußtseinhat zwar zunächst und vorherrschend zu einem Partikularismus der Problembearbeitung geführt, der für sichaußerstande ist, den Intentionen der klassischen deutschen Philosophie gerecht zu werden. Es mußte sich aberauch in der Auslegung dieser Theorien geltend machen,denen durchaus eine systematische Absicht zugrundeliegt, und helfen, die gerade für sie angemessenen Verfahren der Theorienanalyse auszubilden. Kraft ihrer wirdes zugleich aber auch möglich, die Situation der Denkerauf dem Wege zu ihrer Theorie und im Gange von derenAufbau ihrerseits im Lichte von Alternativen zu verstehen, vor die sie gestellt oder in die sie verwickelt warenund in denen sie nur mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, und somit oft nur mit Not und übernicht wirklich ausformulierte Begründungen zu einerEntscheidung kommen konnten. Lehren und Texte derklassischen Theorien lassen sich über diese Dynamik ihrer inneren Formation weit besser erschließen und eindringlicher als durch die Anpassung an ihre eigeneSelbstinterpretation vergegenwärtigen.

Die Unabhängigkeit von dieser Selbstinterpretation,wenn sie nur nicht zur Gleichgültigkeit gegen die letztenIntentionen der Denker wird und somit die dubiose Methode der nationalen Rekonstruktion* begünstigt, fuhrt sogerade in größere Nähe zu dem wirklichen Prozeß derEntfaltung der klassischen deutschen Philosophie. Undinsofern ist sie auch für eine historische Auslegung ausentwicklungsgeschichtlichem Interesse in mehrfacherHinsicht von großer Bedeutung. Nur zwei dieser Hinsichten seien genannt: Sie macht es möglich, Theorie-

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 potentiale zu erkennen, die nicht beherrscht oder in ausdrücklicher Rechenschaft über sie ausgearbeitet wurden,die aber doch Profil und Dynamik einer Theorie auf demWege zu ihrer endgültigen Formulierung bestimmt ha ben. Und sie erlaubt es, die Relation zwischen Theorien,die einander folgten, und zwischen Elementen dieserTheorien zu bestimmen, die in ihrer verbindlichen Formulierung gegeneinander abgeschottet sind, so daß nichtmit Recht behauptet werden könnte, daß die spätere ausder früheren durch systematische Konsequenz hätte hervorgebracht werden können. Daß solche Konsequenzhinsichdich der Grundanlage von Kants Theorie schließlich zu Hegels Logik führen müsse, war Hegels eigeneThese und die These auch von Kroner gewesen. Die Kantianer haben ihr stets mit Recht widersprochen, ohneaber je imstande gewesen zu sein, die Folgegeschichtevon Kants Philosophie anders denn als die Geschichtevon deren Mißverständnis zu begreifen. Die neuen Auslegungsverfahren erlauben es dagegen, die Diskontinuität zwischen Kant und der Bewegung anzuerkennen,die sich auf ihn berief, und dennoch den inneren Zusammenhang der Bewegung mit Kant zu philosophisch

 bedeutsamem Aufschluß zu bringen. Sie erlauben esebenso, Fichtes späteres Denken auch gegenüber demSystem Hegels, das auf spekulativer Logik fundiert ist, alsselbständig und der Verteidigung fähig und somit alszweiten Gipfel der Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie anzuerkennen - und zugleich dochstrukturelle Beziehungen zwischen den inneren Formationsbedingungen beider aufzudecken. Ihre spekulativeBehandlung der verschiedenen Negationssinne ist dafür

nur ein Beispiel.Kann man Theoriepotentiale auch abgehoben von dem

systematischen Zusammenhang, in dem sie schließlich genutzt werden, erkennen und entwickeln, so wird nicht nur 

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die Auslegung der Systeme und der Stationen auf demWeg zu ihnen geschmeidiger. Es wird auch möglich, dieAuswirkung von Systemintentionen deutlicher zu erken

nen, die sich aus anderem als einem rein nur theoretischenInteresse ausgebildet haben, ohne daß die Verständigungüber sie aus dem Medium philosophischer Problementwicklung ganz herausgenommen und in den Rahmen derIdeen-, der ,Geistes4- und der Sozialgeschichte ihrer Zeiteingebunden werden muß. Wer die inneren Formations bedingungen einer Theorie selbständig aufzunehmen imstande ist, der ist gerade dadurch auch dazu imstande, dasHeraufkommen von grundlegenden Systemintentionenaus einer Lebenslage, die der Philosophie bedarf, die abernicht von philosophischer Theorie allein geprägt ist, in Beziehung zu setzen zum inneren Aufbau von Gedanken,welche Systementwürfen ihre theoretische Kraft gaben,die ihrerseits in diesen Bedürfnissen und Intentionen ihreigendiches Motiv und ihren Resonanzboden hatten.

Die neue Geschichte der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel ist also ebenso durch verfeinerten Aufschluß über Theoriepotentiale und Formationsbedingungen von Theorien ermöglicht und geprägt,wie sie auf eine Erkenntnis der historischen Bedingungen ausgeht, unter denen die Begründer der Theorienstanden, als sie auf den Weg zu deren Entfaltung kamen.Diese Theorien haben in nur wenigen Jahrzehnten einetheoretische Gesamtleistung erbracht, die aller Vermutung nach für alle Zeit die Aufmerksamkeit jedes Denkens auf sich ziehen wird, das sich auf begründ bares Wissen über das Erkennen als solches in einem mit der Verständigung über Verfassung und Lebensmöglichkeit des

 bewußten Lebens verpflichtet weiß.Die neue Gesamtdarstellung der Geschichte der klas

sischen deutschen Philosophie würde deren Verlauf in einer Weise darzustellen haben, die sich von der einfachen

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Abfolge der großen Systerabildungen weit entfernt. Dasie den Abstand zwischen den Theorien Kants, Fichtesund Hegels und ihre wechselseitige Selbständigkeit an

erkennt, muß sie auch den Konstellationen, aus denendiese Theorien jeweils hervorgingen, eine vergleichsweise große und eigenständige Bedeutung beimessen. Undsie müßte zeigen, welche Kräfte in diesen Konstellationen wirksam waren, welche Theoriemotive in ihnen dominant waren und welche Theoriepotentiale in ihnenfreigesetzt werden konnten.

Diese Abweichung von der Abfolge der bedeutendstenTheorien wird besonders weit gehen für die zweite Entwicklungsphase, die zum eigentlich spekulativen Idealismus geführt hat. In Hegels Darstellung geschah derÜbergang von Fichte zu Schelling beinahe unmittelbarund rein nur aus der Konsequenz einer in Fichtes Denken selbst schon freigesetzten Logik. Die neue Darstel

lung hat in der Position, die Schelling und Hegel seit1801 zunächst gemeinsam vertraten, die späte Folge einer Reihe von Einsätzen zu sehen, die von Fichte wegführten und die ein der transzendentalen Reflexion entgegengesetztes Motiv zu einer eigenständigen Entfaltung

 brachten. Dies Motiv war in der universitätsfemen Vereinigungsphilosophie des 18. Jahrhunderts aufgekommen.

Und es hatte sich sodann in der gleichfalls halbpopulärenSpinozarezeption der achtziger Jahre und um das Werkvon Jacobi Gehör verschafft. Es war das so geschärfteGehör, das in Fichtes Denken selbst, obwohl es dochganz anders angelegt war, die Begriffsformen erkannte,die bei der Nobilitierung der Vereinigungsphilosophiezur großen Theorie Beachtung verdienten und die in de

ren Dienst genommen werden konnten. Ein Lebensinteresse setzte sich in eine Theorieaufgabe um. In für Selbstverständigung und Theorieentwicklung gleichermaßenkritisch-produktiven Momenten konnten das Potential

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und der Impuls zum spekulativ-idealistischen Denken inwirklichem und in einem in seiner Art maßgeblichenDenken eingebracht werden. Schellings Naturphiloso

 phie ist nur eine der Stationen auf diesem Weg gewesenund nicht einmal eine solche, die dem Weg seine grundlegende Ausrichtung gab.

Die Konstellationen dieser Momente sind naturgemäßfür den gar nicht sichtbar, der die Entfaltung der klassischen Philosophie allein aufgrund der reifen Werke seiner bedeutendsten Repräsentanten beschreiben zu kön

nen meint. Sie sind nur in den Texten von Verfassern dokumentiert, die noch am Beginn des Ganges ihrer Aus

 bildung standen oder die auch für ihre Zeitgenossen alsRandfiguren des literarischen Lebens galten. Da in ihnendas theoretische Interesse nicht eigendich vorherrschteund da sie von akademischen Ambitionen sogar fast ganzunberührt waren, sind sie auch der Geschichtsschrei

 bung verborgen geblieben, die, wie die des früheren19. Jahrhunderts, auch die Philosophen mitderer Größenordnung beachtete. Erst in der Wirkung Diltheys und inder von ihm geprägten Lebens- und Ideengeschichtesind zum ersten Male einige ihrer allgemeinen Konturenaufgetaucht und auch als für das philosophische Verstehen wichtig beurteilt worden.

Angesichts des Mangels an weithin sichtbaren Werken,die mit diesen Konstellationen direkt verbunden sind, istdieser Aufschluß über sie nur im Verein mit historisch-

 philologischer Forschung und oft auch in Verbindungmit lokalen Interessen eher antiquarischer Art zustandegekommen. Seither ist aber in die Ausarbeitung der Voraussetzungen für die neue Geschichte von Kant und Hegel eine Komponente von historisch-philologischem Eifer und Wettbewerb eingegangen. Auf diesem Feld kannnur der Gewichtiges beitragen, der zusammen mit philosophischer Denkkraft auch die Talente des historischen

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Feldforschers ins Spiel bringen kann. Es darf dabei freilich nicht vergessen werden, daß die Rechtfertigung auchdieser Bemühungen in der Absicht liegt, die Intentionen

und die Formationsbedingungen großen Denkens mitneuer Sicherheit und Authentizität nachvollziehen zukönnen.

Mit dem Abschluß der Suche nach Zwillings Nachlaßist auch die Bemühung um die Verdeutlichung der Situation, die um Hölderlin seit 1795 bestand, insofernzum Abschluß gekommen, als gegenwärtig keine be

gründete Aussicht besteht, weitere Quellen aufzufindenund zu einem grundsätzlichen weiterführenden Aufschluß über den Gehalt der Gruppe von Quellen zukommen, die seit der Publikation des Ältesten Systempro

 gramms des Deutschen Idealismus  zugänglich gemachtwurden. Um den Stellenwert dieses Abschlusses zu bestimmen und in der Absicht, eine weitere Aufgabe für

die historische Feldforschung aufzuzeigen, die nunmehrin Angriff genommen werden muß, soll im folgenden eine Übersicht über die Konstellationen und die Aspektezu ihrer Erforschung gegeben werden, die für die neueGeschichte der klassischen deutschen Philosophie in ihrer zweiten, der eigentlich spekulativ-idealistischen Phase von erschließender Bedeutung sind. Diese Übersicht

soll sich nicht aus der zeitlichen Abfolge der Konstellationen, sondern aus der Folge der Überlegungen erge

 ben, aus denen Aufgabe und Möglichkeit einer neuenGeschichte der klassischen deutschen Philosophie in ihrer zweiten Phase wirklich hervorgegangen sind.

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Konstellationen auf dem Wege

1. Tübingen 17901795

A. Carl Immanuel Diez’ radikaler Kandanismus

Es konnte niemals rein nur als historischer Zufall gelten,

daß die drei Männer, die am sichtbarsten und wirkungsmächtigsten die Denkform des spekulativen Idealismusausgestaltet haben, aus den Stuben und Sälen des Tü

 binger Stiftes hervorgegangen sind. Eher konnte versucht werden, diesen gemeinsamen Beginn aus untergründigen Wurzeln in der pietistischen Spekulation ihresLandes zu erklären. Was aber vor allem einer Erklärung bedarf, ist nicht nur die Richtung ihrer Denkwege, sondern auch die Kraft, die Entschlossenheit und das Selbstvertrauen, einen solchen Weg schon in der Jugend undunter dem Eindruck einer kraftvollen Theorieentwicklung in der fernen Mitte Deutschlands bis zu einem weithin sichtbaren und auffälligen Ende zu gehen. Nicht allein die persönliche Freundschaft, sondern zumindestebensosehr die Konstellation, in der sie sich ausbildete,kann dies verständlich machen. Und es war diese Konstellation, aus der auch noch die Freundschaft selbstihren eigentlichen Gehalt gewann, der seinerseits die Gemeinsamkeit in der Wegrichtung der zuletzt selbständigund bis zum frühen Dissens begangenen Wege verständlich macht.

Für eine neue Geschichte von Kant bis Hegel mußtees eine erste Aufgabe sein, diese Dynamik aufzuklären,die sich in den ersten Schritten in Richtung auf den spekulativen Idealismus ausgewirkt hat. Dazu war es nötig,

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die Problemlage aus dem historischen Dunkel herauszuheben, in welche die Tübinger Studenten um 1790 hineingezogen worden sind. Die Quellen, die zu diesem

Zwecke erschlossen werden mußten, waren Werke undWirkung der der Generation der Freunde unmittelbarvorausgehenden Studentengeneration, die in einem radikalkritischen Wechselverhältnis mit der theologischenLehre der Universität stand. Die Repetenten des Stifts,die eine im deutschen Universitätsleben singuläre Lehr-aufgabe wahmahmen, haben auf die Wege der drei

Freunde in vielerlei Weise Einfluß gehabt, so Conz aufHölderlins griechische Studien und Rapp auf Hegels Behandlung des Motivationsproblems in der Analyse derSittlichkeit, wobei der originelle Gedanke in Hegels Tü

 binger Manuskripten der ist, daß die subjektive, die zurFreiheit motivierende Religion nicht die private, sonderndie öffentliche sei. Der entscheidende Einfluß, der in der

Strukturierung einer Diskussionslage und eines Kritikstiles bestand, muß dennoch Carl Immanuel Diez zugeschrieben werden.76 Er entfaltete auf Kantischer Basiseine radikale Religionskritik. Sie fand zwar nur geringeZustimmung, nötigte aber den durch Diez’ IntimfreundSüßkind unterrichteten und unterstützten ProfessorStorr zu einem Gegenzug, der dann seinerseits das Ziel

der neuerlichen Kritik in Hegels und vor allem in Schel-lings frühem Werk geworden ist. Daß Storr der Religionskritik von Diez mit Mitteln entgegentreten konnte,die aus Kants Werk selbst gewonnen waren, ließ es alszwingend erscheinen, die Grundlagen dieser zweitenKritik an Storr nicht direkt aus Kants Werk, sondern auseiner neuen philosophischen Grundlegung sowohl für

das Freiheitsbewußtsein wie für den TVanszendenzbezugdes in Freiheit begründeten Lebens zu gewinnen. DieseAufgabe übernahm Schelling in seinen ersten philoso

 phischen Druckschriften.77  Auch in Hegels Berner Ma

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nuskripten ist die Antikritik gegen Storr das dominanteMotiv, nur daß Hegel vorerst noch meint, sie durch einegeläuterte Lesart von Kants Werk selbst gewinnen zu

können.Die Schriften und Briefe von Diez werden leider erst

nach langer Verzögerung veröffendicht sein.78 Die außer-ordendich zahlreichen Nachweise zu diesen Texten,die zum Teil umfangreiche Sonderforschungen nötigmachten, haben dazu geführt. In den Publikationen, welche die Editionen begleiten, wird gezeigt werden, daß

Diez’ Position nur in den Jahren 1790-92, also vor demErscheinen von Fichtes und Kants Religionsschrift, hatvertreten werden können und daß sie es ist, auf dieStorrs Religionsschrift reagierte, die ihrerseits Hegel undSchelling zu fundamentalphilosophischer Antikritik ver-anlaßte. Diez selbst studierte von 1792 an in Jena Medizin. Es hat sich herausgestellt, daß Reinhold ihm einenerheblichen Einfluß auf die Fortentwicklung seiner eigenen philosophischen Theorien von 1792 an zugeschrie

 ben hat.79

B. Schellings kantianisierende Platondeutung

Daß Schellings Entschluß, sich von der Kritikform imMedium der Altertumskunde weg und zur philosophischfundierten Kritik zu wenden, durch Storrs Antikritik veranlaßt war, ließ sich immer schon aus seinen Briefen anHegel nach Bern entnehmen. Hätte man die Frage gestellt, in welcher Weise auch schon die vorausgehende historische Kritik von Schelling von philosophischen Überlegungen mitbestimmt war, so hätten Schellings ersterAufsatz und seine beiden Dissertationen, sowie die in derEinleitung von Plitts Briefausgabe mitgeteilten Fragmente vergleichsweise ausgedehnte Quellen für den Versuch

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zu einer Antwort sein können. Aber erst seit die Dissertationen Schellings neu ediert und auch übersetzt worden sind, haben diese Quellen um ihrer philosophischen

Implikationen willen Interesse auf sich gezogen.Die Quellen zu Schellings philosophischer Arbeit vor

dem Aufbruch zur spekulativen Theorie sind aber nochweit zahlreicher. Und sie waren in dem in Berlin verwahrten Nachlaß vergleichsweise leicht zugänglich. Bevor sich die eigentlich historische Aufgabe, eine Geschichte von Kant bis Hegel zu schreiben, in ihren Kon

turen abzeichnete, sind sie aber ignoriert worden.In Schellings Nachlaß ist neben seinen Kommentaren

zum Römer- und Galaterbrief auch ein Kommentar zuPlaton erhalten - dazu neben Ausarbeitungen, die in denUmkreis der zweiten Dissertation gehören, erste Ausar beitungen zu einer Abhandlung über den Geist der Platonischen Philosophie.80

Der Platon-Kommentar muß als Arbeitsmanuskript,nicht als Entwurf einer möglichen Publikation aufgefaßtwerden. Er gilt dem Text des Timaios,  zu dessen Verständnis aber ausgiebig die Lehre von den Arten des Seienden herangezogen wird, die der  Philebos  entfaltet(23c ff.). In deren Auslegung hat Schellings Kommentarsein philosophisches Zentrum. Diese Auslegung ist ganz

von der Kantischen Theorie geleitet. Reinholds Theoriedes Vorstellungsvermögens wird vorerst nur an derOberfläche und in ihrer Terminologie rezipiert. Darausmuß man nun nicht schließen, daß Schelling Reinholdnoch nicht gut kannte, sondern eher, daß er ihm, andersals Kant, überwiegend kritisch gegenüberstand. Es istnun Schellings Absicht, zu zeigen, daß Platon im Gewand

einer Rede vom Weltursprung und von ewigen Ideen dieKantische Konzeption von Begriffen entfaltet, unter diealles Dasein in der Welt zu subsumieren ist und die ihrenOrt und Ursprung in der Einheit des Verstandes oder des

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Vorstellungsvermögens haben. Platons Darstellungsart,die überall das Subjektive aufs Objektive überträgt, istzum Teil aus den Grenzen der historischen Situation, in

der er jedem Menschen zugängliche Wahrheiten aussprach, zu erklären - also in eben der Art, in der Schel-ling zuvor auch die mythische Sprache der Offenbarungstexte erklären wollte. Zum anderen Teil redet Platon „gerade in dem Tone, den auch jetzt noch der unterdrückte Freund der Wahrheit annehmen muß“.

Indem Schelling Kants Kategorien in den yevt| des

 Pkilebos wiedererkennt, bringt er aber in die Organisation von Kants Kategorienlehre zugleich auch eine Verschiebt mg. ri£pa<; ist die allgemeine Einheitsform, deräneipov als unbestimmte Mannigfaltigkeit entspricht,der aber als Kategorie nunmehr die der Qualität zugeordnet wird. Damit wird, ganz anders als in Kant selbstund vielleicht von Reinhold inspiriert, das Verhältnis derKategorien als das der Vermittlung eines Grundgegensatzes gedeutet, der selbst durch die antithetische Relation der beiden Grundkategorien zueinander zu denkenist. Das k o i v ö v erweist sich dann als die erste Kategorie,durch die eine Vermitdung von Einheit und qualitativerMannigfaltigkeit zustande kommt. Sic wird als die Kategorie der Quantität identifiziert. Aixia ist dann die weitere Kategorie, die den Umstand, daß diese Vermitdungnicht gegeben wird, sondern zustande gebracht werdenmuß, in Beziehung auf jede zur Einheit gebrachte Mannigfaltigkeit zur Geltung zu bringen hat. Insofern ist siedie Kategorie der Kausalität.

Diese vom Text Platons abgenötigte Umbildung derKantischen Kategorienlehre dient Schelling nur dazu,die als wahr und unwandelbar unterstellte PhilosophieKants schon in Platons Denken in der Gestalt, die seinerZeit gemäß war, hervorgehen zu sehen. Man muß in dieser Umbildung aber auch eine Voraussetzung dafür se-

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hen, daß Schelling, als wenig später Fichtes  JVissen-  schafislehre erschien, in ihr das in der eigenen Platon-Aus-legung eingeführte Muster von Kategorienlehre wieder

erkennen und auf eine ganz neue Grundlage gebracht sehen konnte.

Man muß weiterhin annehmen, daß von der Dimension in Platons Werk, in der es die Einheit von Seele undsomit von Subjektivität aus einer vorausgehenden, einer,objektiven4 Idealität begreift, also der Dimension, dieSchellings Auslegung zunächst auf Kantische Subjekt

einheit reduzieren wollte, für Schelling selbst ein weiterer Theorieimpuls ausgehen konnte, als er es später fürnotwendig erachtete, die Gedanken von Jacobis Spinoza in die TVanszendentalphilosophie selbst einfließen zulassen, um so der Annexion von Kants Religionsphiloso

 phie durch Storr mit einem Konzept von den Gründendes vernünftigen Glaubens zu begegnen. Mit ihm sollte

zugleich deutlich gemacht werden, daß in Storrs Annexion ein der Wahrheit direkt entgegengesetztes Denkenam Werke ist.

Die Kenntnis von Schellings Platon-Auslegung läßt dieRolle des Platonischen Denkens bei der Ausbildung derspekulativ-idealistischen Philosophie im allgemeinen aufneue Weise auffällig und verständlich werden. Auch Höl

derlin hat sich zunächst mit Hilfe von Platon aus derKantischen Position auch in der Fassung, die Schiller erreicht hatte, zu befreien versucht. Noch Hegels Logikläßt sich als eine Form von dynamisiertem Platonismus

 beschreiben. Und Schelling wählte später für seine eigene Darstellung des Monismus des Absoluten eine vonPlaton hergeleitete Begriffsform. Daß Schelling so früh

den Timaios kommentierte, ist sicher auch eine wichtigeTatsache bei der Erklärung von Schellings Naturphiloso phie, die er ab 1796 zu entwickeln begann. Dem vorausliegt aber die Verwandlung des Gedankens vom Aufbau

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des Wissens, die Fichte veranlaßte, die aber in SchellingsPlaton-Kommentar schon vorbereitet ist.

Schellings frühe Platon-Auslegung schließt sich im

übrigen an eine ausgedehnte Platon-Literatur an, die ihrerseits schon versucht hatte, die für Kant selbst wesentliche Berufung auf Platon in der Ideenlehre in eine Platon-Exegese umzusetzen, die Platon als Zeugen für dieWahrheit der Kantischen Philosophie im einzelnen aufzurufen erlauben würde. Vielleicht ist es von einiger Bedeutung, daß Tennemann, der Autor zentraler Stücke

dieser Platon-Literatur, an der Universität Jena gewirkthat.

2. FrankfurtHomburg 17951797

Schellings Schrift Vom Ich ist die erste Publikation, derenGedanken in das Gravitationsfeld des spekulativ idealistischen Denkens eingetreten sind. In der Klarheit des Abgehens von der an Kant orientierten Grundlage von Fichtes Wissenschafislehre  und somit in der Klarheit ihrerGrundkritik an deren Gedankenführung bleibt dieseSchrift aber hinter den Dokumenten zurück, die uns ausHölderlins Freundeskreis bekannt geworden sind. Schelling war bis hin zum Ende des Jahrhunderts und bis zurneuerlichen Vereinigung mit Hegel in Jena darum bemüht, die Gemeinsamkeit mit Fichte zu wahren. Insofernist auch in seinen Argumenten und Theoriestrategien,vergleicht man sie mit denen des Homburger Kreises, soetwas wie eine Unentschiedenheit zu bemerken. Der Im puls auf den eigentlich spekulativen Idealismus erscheint bei ihm im Vergleich als abgeschwächt. Das erklärt sichwohl auch aus berechtigten theoretischen Bedenken undaus einer im Vergleich mit den Homburgem universaleren und inzwischen auch der öffendichen Kritik ausge

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setzten wissenschaftlichen Begabung. Auf der anderenSeite gab es aber auch positive Gründe für die besondereEntschiedenheit beim Durchbruch durch Fichtes tran

szendentale Grenzziehung, die im Kreis um Hölderlinvollzogen worden ist. Dieser Durchbruch war so stark,daß er Hegel im Übergang nach Frankfurt fast instantanin den Homburger Kreis einband, so daß er auch durchdie gründliche Lektüre von Schellings Schriften nichtwieder in die für sie charakteristische Indirektheit undUnentschiedenheit beim Aufbau des spekulativen Idea

lismus hineingezogen wurde.Keiner der philosophischen Texte, die aus dem Kreis

um Hölderlin erhalten geblieben sind, hat den Charaktereiner für die philosophische Offendichkeit bestimmtenSchrift oder auch nur den einer Vorarbeit zu ihr. Sie sindallesamt Texte der Verständigung, und dies wieder aufunterschiedliche Weise. Hölderlins Unheil und Seyn  ist

die Skizze einer philosophischen Konzeption, in der dieintendierte Anwendung auf Hölderlins Anthropologieabgeblendet ist. Das  Alteste Systemprogramm  ist umgekehrt der Bericht über einen Text einer auf Philosophie begründeten Aufklärung, dessen eigendiche philosophische Grundlagen unbestimmt bleiben. Nur Sinclairs undZwillings Reflexionen entfalten ihre Überlegungen in ei

ner Weise, die alle Motive, die auf sie Einfluß hatten, auchoffen zu erkennen gibt. Dabei ist Sinclair von Ideen Hölderlins durchgängig abhängig, während Zwilling imJünglingsalter auf dem Wege zur Offizierslaufbahn eineKonzeption von großer Selbständigkeit skizzierte, dieaber den gleichen Problembestand auflösen soll, derauch Hölderlin bei der Konzeption von Unheil und Seyn 

vor Augen stand. Es sind die Entwürfe zu  Hyperion, ausdenen wir von der Art dieser Probleme nähere Kenntnishaben.

Die Einheit des Ausgangs und das Spektrum der Re

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aktionen auf ihn, zu dem neben Hölderlins und ZwillingsTexten die frühen Frankfurter Manuskripte Hegels gehören, erlaubten es uns, uns in die theoretische Dynamik

hineinzudenken, die in den Gedanken und Gesprächender Freunde am Werke gewesen ist. Wir können die Unklarheit erkennen, die in Hölderlins Unterscheidung vonabsolutem Sein und entgegensetzender Reflexion zurückgeblieben ist. Und damit können wir in der Ausbildung der Gedanken sowohl von Hegel als von Hölderlin

 bis zu ihrer endgültigen Trennung die für sie jeweils

maßgebliche Konsequenz erkennen.81 Hegel brachte siezu einem Systementwurf, der Zwilling und einer Platonischen Ontologie der logischen Form, der Form allerdingsdes Gegensatzes, bald näher stand als Hölderlins an dieBegriffsform von Fichtes Lehre weiterhin gebundenemDenken. Hölderlin und Hegel blieben aber miteinanderverbunden in der neuen Grundthese, daß die Einheit desUrsprungs nicht nur innerhalb der Trennung vergewissert und erinnert werden muß, daß sie vielmehr als eineEinheit, zu der die TVennung selbst gehört, zu denkenund zu vergegenwärtigen ist. Hegels spätere Philosophiedes Geistes hat in diesem wichtigen Gedankenschritt ihre erste Voraussetzung. Und Hölderlins Theorie der Tragödie und des historischen Übergangs ist unmittelbaraus ihm hervorgegangen. Noch ist aber nicht gezeigtworden, in welcher Weise auch die in Hölderlins hymnische Dichtung eingehenden Gedanken die Motive desHomburger Denkens bewahren und entfalten - die Einheit der Natur in der Vielgestalt der Himmlischen, dasSich-Versagen des Gottes und die versammelnde Erinnerung der Ströme und der Dichter der Völkei; derenGesang in einem Dank, Vergegenwärtigung und Vereinigung der Lebenstendenzen z u r ,Innigkeit4ist.

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3. En dgestaiten des spekulativen Denkens

Die neue Verständigung über den Weg des spekulativen

Denkens ist als philosophische Analysis auf die Entfaltung von Potentialen einer Theorieform und als historische Analyse auf Konstellationen konzentriert. Darausergibt sich unmittelbar die für die Methode grundlegendwichtige Folgerung, daß es unmöglich wird, den Denkweg der in die Konstellationen Einbezogenen und diefür ihn maßgeblichen Motive jeweils nur für sich ins Au

ge zu fassen. Die Verlaufsform der Entfaltung des spekulativen Denkens läßt sich nicht aus einer Reihung individueller Entwürfe und Entwurfsfolgen gewinnen. Gewißsind in jedem derer, die zur Entfaltung dieses Denkens

 beitrugen, ein persönliches Profil von Begabungen undLebensproblemen und somit auch eine nur ihm eigeneEinsichtsfolge aufzuweisen. Aber sie sind von Beginn an

in einen gemeinschaftlichen Verständigungsprozeß ebenso verflochten, wie sich die von ihnen ausgebildeten Gedanken nur verstehen lassen aus einer der Theorieformdes spekulativen Denkens selbst eigentümlichen Gesamtlage von Problemen und Denkmöglichkeiten. Aus ihr leitet sich der Spielraum von möglichen Wendungen wirklicher Denkwege her. Und in der Orientierung an ihr

müssen sich daher auch die Wendungen, die wirklich eingeschlagen wurden, verständlich machen und im Bezugauf Grundfragen, die in ihnen zur Entscheidung standen,

 beurteüen lassen. Darum kann die noch vorherrschendeOrganisation der Forschung um Werkeditionen leicht dazu führen, daß deren Gesichtspunkte durch die Zentrierung auf jeweils einen der Denker eingeschränkt sind

und zu Verformungen in der Analyse und der historischen Aufklärung geneigt machen. Die neue Verständigung über den Gang des spekulativen Denkens muß gerade deshalb, weil sie von dessen Problemlage insgesamt

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ihren Ausgang nimmt, auch von Beginn an synoptisch angelegt sein und also diesen Gang als Ganzen zu ihrem ei-gendichen Thema haben.

Die philosophische Konstellation, die zwischen Schel-ling und Hegel bei Beginn des neuen Jahrhunderts in Jena entstand, läßt sich ohne diese Zugangsart so wenig erschließen wie die zwischen Hegel und Hölderlin vor derJahrhundertwende. In dieser Konstellation ging die Begriffsform von Hegels Logik hervor.82 Und was Schelling betrifft, so ergab sich für ihn, daß ein Denken, welches

Schritte von der Art, wie sie Hegel zwischen den Jahren1802 und 1804 zur Theorie stabilisierte, nicht unternimmt, zur eigentlichen Entwicklung des spekulativenDenkens keine weiteren Beiträge zu geben vermochte.Von Schellings Spätphilosophie kann gesagt werden, daßsie mit für ihre Grundlage wesentlichen Zügen in denTheoriekreis zurückgetreten ist, dessen Grundzüge schonim Homburger Freundeskreis ausgezogen waren.

Die größte Aufgabe, an der sich die neue Geschichtedes spekulativen Denkens zu orientieren hat, geht darauf,die Endformen, zu denen das spekulative Denken gelangte, in Beziehung aufeinander verstehen und erörternzu können. Die Formationsbedingungen von Hegels Logik müssen dazu erschlossen sein. Aus der Beziehung aufsie muß sich verstehen lassen, wieso Schellings Werkschließlich aus dem Zentrum der Problemlage des spekulativen Denkens herausgleiten konnte. Und beiderWerk muß wiederum in Beziehung zu Hölderlins dichterischem Werk zu setzen sein, das aus einer philosophischen Einsicht, die sich durchaus im Zentrum spekulativen Denkens hält, der Philosophie als solcher die Fähigkeit abspricht, der von ihr selbst entfalteten Problemlageauch gerecht zu werden. Schließlich muß Fichtes spätere Wissenschaftslehre zur Endgestalt des Werkes der dreiTübinger ins Verhältnis gebracht werden. Fichte wollte

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die Kantische Grenzziehung gegen jegliche Ontologiedurchhalten. Mit Hegels Logik ist sein Werk daher durchden Gegensatz in der Grundanlage inkompatibel. Aber

auch Fichtes Werk ist von Motiven der spekulativen Be-griffsform bestimmt. Und es ist in seiner finalen Synthesis, der Theorie des Absoluten, auch direkt auf den Einsatzpunkt des spekulativen Denkens und auf seine Begriffsform bezogen.

Es kann wohl nicht gelingen, die Konstellation in Jena nach 1800 in diesem viel weiteren Rahmen zu beur

teilen, ohne daß zugleich in Frage steht, von welchensachlichen Grundlagen her spekulatives Denken überhaupt in Gang kommt und wie es dahin gelangen könnte, wahrheitsfähig zu werden. So mündet die Arbeit aneiner neuen Geschichte von Kant bis Hegel in eine sachliche Bemühung um das Verstehen der Gründe der Möglichkeit und etwa gar der Unausweichlichkeit des speku

lativen Denkens selbst. Die neuerliche Anstrengung zurhistorischen Verständigung über die Epoche seiner ein-drücklichsten Entfaltung hat in dieser Aufgabe ihre letzte und ihre eigentliche Rechtfertigung.

4. Jena 17921796

Anlaß für diese Skizze von Aufgabe und Umriß einerneuen Geschichte des spekulativen Denkens war der Abschluß der Suche nach Dokumenten aus HölderlinsHomburger Freundeskreis. Sie soll nun ihrerseits damitabschließen, daß eine weitere Forschungsaufgabe formuliert wird. Diese Aufgabe ergibt sich aus Fragen, die

sich nur stellen lassen, wenn die Klarheit über Denkmöglichkeiten im Homburger Kreis erreicht ist, die wirnunmehr besitzen. Aus dieser Klarheit gehen die Fragenaber auch unabweisbar hervor.

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Die Suche nach Zwillings Nachlaß war insbesonderevon der Hoffnung geleitet, Zwillings Konzepte zu einemBrief an einen Jenenser Professor zugänglich machen zu

können. Strauß hat über diese Konzepte referiert, undzwar im Zusammenhang der Darlegung von ZwillingsWeltanschauung. Nachdem er zuvor Grundzüge einer praktischen Philosophie Zwillings dargelegt hat, nutzt erdie Konzepte als Quellen zu Zwillings Ansichten überÄsthetik. Daß die Konzepte von einer Kritik an FichtesTheorie des absoluten Ich ausgehen, teilt Strauß mit.

Doch war ihm, der Zwillings Beziehungslehre vorab nachdem Fragment Über das Alles  dargestellt hatte, dieserAspekt im Zusammenhang seines Referats nicht mehrvon besonderem Interesse. Man erhält indes den Eindruck, daß der Brief einen ansehnlichen Umfang hatte.

Die Existenz des Briefes belegt, daß es für die Diskussionen des Homburger Kreises in Jena zumindest einenInteressenten gab, und somit auch, daß die HomburgerDiskussionen an andere anschließen, die ihnen schon inJena vorangegangen waren. Die Originalität des Hom burger Denkens und die Selbstsicherheit in dessen Vortrag lassen sich ohnedies nicht unabhängig von der auffälligen Tatsache verstehen, daß Hölderlin, Sinclair undZwilling allesamt in Jena, dem Zentrum der Philosophiein Deutschland, hatten studieren können. Zwilling hatdort etwa eineinhalb Jahre, Sinclair etwa ein Jahr undHölderlin etwa ein halbes Jahr verbracht. Als der neunzehnjährige Zwilling seinen Brief nach Jena entwarf, warer erst gerade eben von dort aufgebrochen. Es ist alsokaum anzunehmen, daß er seine selbständige Positionsowohl gegenüber Fichte wie auch gegenüber Hölderlinin den weniger als vier Wochen seit seiner Rückkehr haterarbeiten können. Hölderlins Unheil und Seyn  warschon mehr als ein Jahr zuvor in Jena entstanden. Vondort war Hölderlin längst zunächst in die Heimat zurück-

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gekehrt und dann nach Frankfurt gekommen. Ein Jahrzuvor hatte sich in Jena die Freundschaft zwischen Sinclair und Hölderlin zu der Höhe entfaltet, die sich bis zu

Hölderlins Zusammenbruch und in der Bewahrung vonwesentlichen Teilen seines Werkes bewährte. ZwillingsBekanntschaft mit Sinclair geht schon auf die gemeinsame Homburger Jugend zurück. Das Briefkonzept scheintzu unterstellen, daß der Adressat auch Sinclair kennt. Esist sehr wahrscheinlich, daß Zwilling und Sinclair auch inJena miteinander einigen Umgang hatten und somit

auch Kenntnis von ihren Bestrebungen und Kontakten.Hatten die Gedanken von Hölderlins Unheil und Seyn auf Zwillings Entwürfe Einfluß, so muß dieser Einflußschon während Hölderlins Aufenthalt in Jena erfolgtsein. Zwilling blieb danach noch für ein ganzes Jahr inJena. Man wird annehmen dürfen, daß die Umgebungseines Lebens für die weitere Ausbildung seiner Gedan

ken weder ohne Bedeutung noch ohne ein Ohr gewesenist.

Obgleich uns also Zwillings Briefkonzepte vorerst unzugänglich bleiben, zieht uns doch die Tatsache ihrerExistenz in einen weitgespannten Rahmen von Vermutungen und von neuen Erkenntnisinteressen. Man möchte zunächst wissen, welcher Jenenser Professor Zwillings

Adressat hätte sein können. Zwüling setzt voraus, daß erfür seine Argumente offen sein möchte und daß er den

 jungen Studenten auch als Theoretiker ernst nehmenwird. Er setzt weiter voraus, daß es sinnvoll und dringend ist, mit ihm im Gespräch zu bleiben. Das hat wiederum zur Voraussetzung, daß im zweiten Jahr nachFichtes Ankunft in Jena in dessen Nähe eine kritische

Erörterung von Grundlagen der Wissenschaftslehre zumindest möglich gewesen ist, welche ihrerseits die Entscheidung für den Weg zum spekulativen Denken schonhinter sich hat. Hätte man sich noch vorstellen können,

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daß ein Jahr zuvor Hölderlins Urtheil und Seyn in stillerIsolation entstanden ist, so setzt Zwillings Briefkonzeptauch unter den Professoren eine für die Gedanken von

Urtheil und Seyn geöffnete Adresse voraus.In Wahrheit muß man auch schon für das Jahr 1795

annehmen, daß Hölderlins Gedanken in Gespräche überFichte, und zwar in noch anderen als seinem eigenenengsten Kreis, eingegangen sind. Hölderlin hatte Zugangzu den Zelebritäten des Ortes. Und Niethammer lud ihnzur philosophischen Mitarbeit an einem Journal ein, des

sen Plan hohe Ambitionen zugrunde lagen.In solchen Überlegungen kommt allerdings auch die

Frage auf, ob Hölderlin in der Jenenser Konstellationwirklich ganz selbständig zu seinem Konzept kam, um esdann im Gespräch so geltend zu machen, daß der achtzehnjährige Zwilling in seinen Bann gezogen wurde.Man könnte sich auch vorstellen, daß in Jena schon baldnach Fichtes Ankunft Gespräche im Gang waren, in denen die Denkweise nahegelegt wurde, die Hölderlins erster philosophischer Text auch zum ersten Male dokumentiert. Es könnte immerhin sein, daß Hölderlin vonsolchen Gesprächen mehr gewonnen hat als sein Textselbst anzeigt. Unter Hölderlins theoretischen Texten istUrtheil und Seyn  einzig in seiner Art, und zwar darum,weil in ihm Grundfragen der Philosophie direkt und inder Form des Aufrisses eines Systems behandelt werden.Hätten wir nicht Sinclairs  Philosophische Raisonnements kennengelemt, so wäre die Originalität der Konzeptionvon Urtheil und Seyn vielleicht nicht so auffällig hervorgetreten. Mit ihnen zusammen wird die Weite des systematischen Ausgriffs von Urtheil und Seyn deutlicher als inHölderlins Blatt für sich allein.

Die späteren theoretischen Texte Hölderlins sind zwarvon vergleichbarer Originalität. Sie zeigen aber nicht diegleiche thetische Sicherheit bei der Behandlung von

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Grundfragen. Das mag sich daraus erklären, daß dieseTexte überwiegend Entwürfe für kunsttheoretische Aufsätze sind und daß andere philosophische Arbeitsma

nuskripte Hölderlins, die sicherlich niedergeschriebenworden sind, nicht erhalten blieben. Und man stellt sich beiläufig sogleich die Frage nach den uns derzeit unbekannten Umständen, kraft deren Urtheil und Seyn auf unsgekommen ist. Es ist aber auch nicht auszuschließen, daßdie Konstellation im Jena Fichtes dazu beigetragen hat,daß Hölderlin eben nur dort in der Weise, die den Text

seines Blattes auszeichnet, zu seiner philosophischenKonzeption gelangen konnte. An Hölderlins philosophischer Originalität ist gewiß nicht zu zweifeln. Das Konzept von Urtheil und Seyn nimmt in aller Klarheit die Pro

 bleme auf, die in Hölderlins Anthropologie und in derAnlage des  Hyperion-Romans schon entfaltet waren.Dennoch müssen wir eingestehen, daß wir die Konstel

lation nicht kennen, in der es zu einem ersten, einemüberzeugenden und einem Hölderlins und sogar HegelsWeg durchaus beherrschenden Ausdruck kam. Wir wissen also nicht, über welche Gespräche, Anregungen undHerausforderungen diese Originalität gerade in Jenaauch wirklich philosophisch produktiv geworden ist.

Solche Überlegungen und Fragen machen ein Defizit

in unseren Kenntnissen über die Entstehungsbedingungen des spekulativen Idealismus bewußt. Es zu behebenist die nunmehr dringlichste und die vermutlich letzte historische Forschungsaufgabe für die neue Verständigungüber die Geschichte von Kant bis Hegel: Wir haben überdie Diskussionslage und die philosophische Situation umFichte in den Jahren 1794-1796 insgesamt so gut wie

keine Kenntnisse. In eben dieser Situation hat sich Hölderlins Selbständigkeit ausgebildet. Und in ihr muß eswohl auch schon zum Einfluß auf Zwilling und zur Aus

 bildung von dessen eigenständiger Konzeption im Rah

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men des Grundansatzes des Homburger Kreises gekommen sein.

Die Frage nach der Gesprächslage der Jenaer Studen

ten und Professoren um Fichte bringt dann zugleich auchdie weitere Frage nach der Konstellation herauf, in dieFichte eintrat, als er Reinholds Professur übernahm.Denn man kann nicht annehmen, daß die der Konstellation um Fichte vorausgehende Konstellation keinen Einfluß hatte auf die Art der Rezeption seiner Wissenschaftslehre und auf die Art der Kritik, die sie womöglichalsbald auf sich gezogen hat. Diese Kritik kann nicht nurdie der strikten Kantianer gewesen sein. Um also dieUmstände deutlicher vor Augen zu bekommen, denenHölderlin und die Homburger Freunde in Jena ausgesetzt waren, müssen wir uns auch darum bemühen, dieSituation um den gefeierten, in seiner Vorstellungstheorie aber unsicher gewordenen Reinhold vor seinem Abschied von Jena zu verstehen.

Jena war in jenen Jahren mit Weimar eines der beidenin einem Doppelstem vereinten Zentren des geistigenLebens in Deutschland. Und daraus erklärt sich nebenseiner Anziehungskraft auf Studenten auch seine Zentralstellung in der Philosophie. Aber alle Kenntnisse überdie Jenaer Konstellation, in der sich die Ausbildung derHomburger Philosophie ereignete, sind, sofern sie überhaupt im Druck zugänglich sind, in zahlreiche Publikationen verstreut, die zum Teil beinahe apokryph sind unddie zumeist um anderer als philosophischer Interessenwillen zustande kamen. Noch nie ist der Versuch unternommen worden, das intellektuelle Profil der Jenaer Situation zwischen den Jahren 1792 und 1796 so aufzuzeigen, daß verständlich wird, wie, sei es innerhalb seiner, sei es auch von ihm veranlaßt, ein Schritt in der Richtung auf das spekulative Denken vollzogen werden konnte, der so wesentlich war, daß ohne ihn auch Hegels Sy

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stem ohne eine seiner wichtigsten historischen Möglichkeitsbedingungen gewesen wäre.

So ist es gerade die Tatsache, daß die Philosophie des

Homburger Kreises nunmehr in einem hinreichend deutlichen Umriß hervorgetreten ist, welche das Defizit unserer Kenntnis in Hinsicht auf Jena deutlich zum Bewußtsein bringt. Aus dem gleichen Grund, aus dem sichdie Aufmerksamkeit der Forschung in der Aufnahme derArbeiten von Ludwig Strauß für zwei Jahrzehnte auf denHomburger Kreis konzentrierte, ist nunmehr eine Kon

zentration auf die Situation in Jena notwendig geworden, aus der und in der der Homburger Kreis hervorgegangen ist - und zwar so sehr, daß man ihn vor demBeitritt Hegels eigentlich als den Jenaer Kreis der Hom burger 4 bezeichnen sollte. Ist man einmal auf ihn alssolchen aufmerksam geworden, so wird es nötig, die ineine breit gefächerte Literatur mit anderen Interessen

verstreuten Dokumente über die Brennpunkte des Gesprächs in Jena und die Ideen, die es beherrschten, zusammenzubringen. Geboten ist zudem, und wahrscheinlich vor allem, die Suche nach noch ungedruckten Dokumenten in Nachlässen und Archiven in Gang zu setzen.Es muß zumindest möglich sein, die Denkweise der Professoren um Reinhold und Fichte während jener Jahre

darzustellen, womit es dann auch möglich werden sollte,den Adressaten von Zwillings Brief zu identifizieren. Esist nicht einmal ganz auszuschließen, daß auf diesemWeg der Brief selbst noch einmal ans Licht kommt.

Hat man sich diese Probleme auch nur gestellt, so zeigen sich schon manche Zusammenhänge in einem neuenLicht, die als solche vergleichsweise leicht zur Kenntnis

kommen können. Nur einer sei zum Schluß erwähnt: dasJenaer Interesse am griechischen Skeptizismus und am philosophischen Skeptizismus überhaupt. Es war durchJacobis zweites philosophisches Hauptwerk und durch

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Schulzes und Maimons Auftreten gegen Reinhold unabweisbar geworden. Aber auch Tennemann und Niethammer haben früh über den Skeptizismus gearbeitet. In Höl

derlins und Sinclairs Texten ist die Bemühung um dierichtige Lokalisierung der Position des Skeptikers im philosophischen System ein auffallend wichtiges Motiv. Manmöchte sogleich auch noch an Hegels späteren JenaerSkeptizismus-Aufsatz denken - wie schließlich auch andie Spinozaarbeit in Jena, die aus Gründen, die gleichfallsnoch der Aufklärung harren, auf den Jenaer ProfessorPaulus zurückgeht, der wie Diez, Niethammer und Hölderlin aus Schwaben gekommen war. Es läßt sich wohl sagen, daß die Zuordnung einer durch den Skeptizismus

 bedingten Problemlage zu einer durch Spinoza erschlossenen Denkmöglichkeit den Horizont auslegt, in demDenker, die von Kant, Reinhold und Fichte ihren Ausgangnahmen, zu ihrer Selbständigkeit kamen und die Theorieformen des spekulativen Idealismus aufbauten.

Wir wissen zwar schon vieles über das Einwirken spi-nozistischer Motive auf die Rezeptionsgeschichte vonKants kritischer Philosophie.83 Aber noch ist nicht bis inseinzelne verfolgt worden, auf welche Weise sich Möglichkeit und Bereitschaft dazu vorbereiteten, in der

Denkfigur Spinozas einen Ansatz gleichermaßen zur Revision und zur Vollendung von Kants Vemunftsystem zusehen und sie somit als Zeugen für eine Denkmöglichkeitaufzurufen, in der sich auch für die nachkantische Philosophie eine letzte und letzlich verbindliche Denkmöglichkeit erschließt. Daß eine diesem Ausgriff günstigeKonstelladon durch Jacobis Anstoß und die Systemati-zität von Reinhold vorgegeben war, läßt sich wohl vergleichsweise leicht verstehen. Wie sie sich aber in wirklichen Gedanken und in Erkundungen im Symphiloso- phieren umgesetzt hat, bis sie schließlich im Denken derHomburger in Jena zu geschichtsmächtiger Wirksamkeit

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kam, müßte in einer Untersuchung ausgemacht werden,welche die wenigen Jahre der ersten Blütezeit der Jenenser Philosophie, sozusagen in Feineinstellung, zum

Thema hat.Ob dieser nunmehr aufzunehmende Forschungsgang

Ergebnisse von derselben Wichtigkeit und Aufschlußkraft einbringen wird wie die Bemühungen um die Aufklärung des Homburger Kreises, läßt sich nicht Voraussagen. Aber die Aufgabe selbst ist unabweisbar gestellt -als wohl letztes Glied der historisch-philologischen Er

schließung des Weges des spekulativen Idealismus.

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Über Hölderlins philosophische Anfänge

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Oft erfüllet uns Gott, was das erzitterndeVolle Herz kaum zu wünschen wagt.

 IVie von Träumen erwacht, sehn wir dann unser Glük  

Sehn ’s mit Augen, und glauben ’ s kaum.

Klopstok.

Tüb. d. 20 März.1790.

Schriebs zum Andenken

 Dein Freund,C. Hölderlin.

Hölderlin hat die Verse Klopstocks, die er Niethammer insStammbuch schrieb, der Ode  An Bodmer   entnommen.84 

Dabei hat er den ersten der eingetragenen Verse gegenüber dem Original so verändert, daß sich ein selbständiger Text und Sinn ergibt. Aber man muß doch den Aufbauund die Gedankenfolge der ganzen Ode vor Augen haben,um die Bedeutung des Eintrags von Hölderlins Blickpunktaus verdeutlichen zu können.

Klopstocks Ode deutet und erschließt die Tiefe des

Glücks, das ihr Dichter erfuhr, als er „das erste Mal Bod-mers Armen entgegen kam“, und zwar aus dem Gegen

 bild all der Versagungen, die Gottes Ordnung des Le bens allen Sterblichen auferlegt: Gott trennt viele durchunüberwindliche Distanzen in Zeit und Raum, die einander doch bestimmt scheinen. Für ihn sind sie in ihrerBeziehung auf und zueinander in Ewigkeit und Unend

lichkeit gegenwärtig. Dennoch, und gerade aus dieserseiner Einsicht, entfernt er sie einander - auf ewig. Umso größer ist darum auch jenes Glück, das er denen eröffnet, die seine Einsicht dennoch einander finden läßt. So

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schließt der größere Teil der Ode, der von jenen vor Gottunaufhebbaren TVennungen handelt, mit den Versen:

Also ordnet es Gott, der in die Femen sieht,Tiefer hin ins Unendliche!

Auf sie folgen aber dann eben die Verse vom unausdenkbaren Glück derer, die sich finden durften, die Hölderlin für Niethammer wählte, so:

Oft erfüllet er auch, was das erzitterndeVolle Herz kaum zu wünschen wagt...

Hölderlin hat die beiden Worte ,er auch4durch die Worte ,uns Gott‘ sinngerecht ersetzt und so einen selbständigen Text für den Eintrag gewonnen.

Im übrigen ist der Eintrag wort- und zeichengetreu;und er gibt auch die Stellung der Zeilen Klopstocks genau wieder, so daß man annehm en kann, Hölderlin habedas Stammbuchblatt mit einem Druck oder einer Abschrift aus einem Druck von Klopstocks Ode vor Augenniedergeschrieben.85

Für Hölderlin war der Gedanke von Klopstocks Zeilen

noch lange nach dem Eintrag in Niethammers Stamm buch gegenwärtig und gewichtig. Er liegt der abschließenden Wendung der Schlußstrophe von Die Wanderung  zugrunde. Alles Göttlichgeborene, so auch die Dienerinnen des Himmels, entzieht sich dem, der es durch beschleichen4gewinnen will - und zwar derart, daß es dem,von dem der Zugriff ausging, zum (verwirrenden und

verstörenden) TVaum wird. Aber „Oft überraschet es einen,/Der eben kaum es gedacht hat“. ,Gedacht* ist vonHölderlin statt eines gestrichenen »gehofft* gesetzt.86 Sokann man die Motivgeschichte von Klopstocks Zeilen bisin Hölderlins Gedanken von der möglichen Gegenwart

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des Göttlichen im hymnischen Werk verfolgen. Das zutun ist die Aufgabe des folgenden nicht.

Es ist anzunehmen, daß Hölderlin, als er die Zeilen

auf Niethammers Stammbuchblatt aus einer AusgabeKlopstocks eintrug, diese Ausgabe nur nachgeschlagenhatte, um den Text sicher zitieren zu können. Sie werdenihm schon zuvor bekannt und bedeutsam gewesen sein.Denn kaum ist anzunehmen, daß er auf sie samt ihrer

 präzisen und zugleich umfassenden Bewandtnis beim bloßen Herumsuchen in Klopstocks Werk hätte kommen

können.Der bisher unbekannte Eintrag87  gibt Anlaß zu einer

Reihe von Beobachtungen und Überlegungen. Sie werden von Hölderlins Beziehung zu Niethammer auszugehen haben, sich dann dem Zusammenhang zwischendem Eintrag und Niethammers Lebenslage zuwenden,um sodann zu der Situation zu kommen, in der sich Höl

derlin in Niethammers Stammbuch einschrieb.88  DieÜberlegungen führen schließlich zu Aufschlüssen überHölderlins Weg in die Philosophie.

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Hölderlin und Niethammer im Jahre 1789

Friedrich Philipp Immanuel Niethammer wurde am 24.März 1766 geboren.89 Er hat dieselben Klosterschulenwie Hölderlin besucht, ist somit 1784 in das TübingerStift eingetreten und hat im Herbst 1789 mit dem theologischen Examen die Universitätsstudien beendet. Höl

derlin war als Vetter vierten Grades mit ihm weitläufigverwandt.90 Es kann sein, daß sich das ,Du‘ von Hölderlins Eintrag daraus erklärt, das sich in Anbetracht derDifferenz zwischen beiden in Alter und Status durchausnicht von selbst versteht. Doch Hölderlin bezeichnet sichauch als ,Dein Freund4. Die Bezeichnung ,Freund‘ (oft inVerbindung mit ,Ihr‘) ist zwar bei Einträgen in Stamm

 büchern zu jener Zeit die Regel gewesen, und die Bitteum einen Eintrag, die nicht an Zelebritäten gerichtetwurde, war mit der Annahme einer Freundschaftsbeziehung eigendich gleichbedeutend. Sie mußte nicht sehrtief gehen, zumal dann nicht, wenn sie in der Jugendzeitgeschlossen wurde. Die Verbindung des ,Du‘ mit ,Freund‘in Hölderlins Eintrag könnte sich also auch aus dem ,Du‘zwischen Vettern und einer solchen nur lockerenFreundschaft in der Stiftzeit erklären. Wir haben jedochGrund, für das Jahr 1789 eine nahe Vertrautheit zwischen Hölderlin und Niethammer zu vermuten. Und dieExistenz und der Gehalt des Stammbuchblattes bestärken, wie sich zeigen soll, diese Vermutung um ein Beträchtliches.

Am 29. September 1789 schrieb Hölderlins Maulbron-ner Freund und Promotionsgenosse Christian LudwigBilfinger an Niethammer einen Brief, in dem auf eine besondere Beziehung zwischen Niethammer und Hölderlin

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angespielt ist. Die Anspielung ist nicht sicher zu deuten.Aber der Brief berichtet darüber hinaus über Hölderlinsgegenwärtigen Aufenthalt und kommentiert dessen Be

ziehung zu Neuffer in einer Weise, die in jedem Falle ein besonderes Interesse Niethammers an Hölderlin voraussetzt.91 Bilfinger scheint zudem zu unterstellen, daß Niethammers Beziehung zu ihm selbst auf einem geringerenInteresse als dem an Hölderlin beruht, obgleich er, Bilfinger, zugleich seine ,ziemlich große Anhänglichkeit4an

 Niethammer bekennt.

Bilfinger hatte im Herbst 1789 sein Studium im Stiftabgebrochen, um ein Jurastudium zu beginnen.92  Anscheinend vor dem Abschied hat er sich am 16. August in

 Niethammers Stammbuch eingetragen - wie im Brief einen Monat danach ohne das vertrauliche ,Du‘ als ,IhrFreund\ Man mag schon daraus ersehen, daß doch nichtauszuschließen ist, daß das ,Du‘ zwischen Niethammer

und Hölderlin aus der besonderen Nähe des Umgangsvon 1789 hervorging. Im übrigen ist die Zahl der Jahrgangsgenossen Hölderlins gering, die überhaupt in Niethammers Stammbuch vertreten sind.

In diesem Zusammenhang ist noch besonders hervorzuheben, daß sich Hölderlins Eintrag in NiethammersStammbuch auf der Rückseite des Blattes befindet, das

Bilfinger am 16. August des Vorjahres für Niethammer beschrieben hatte. Man kann daraus schließen, daß derEintrag Hölderlins in Eile zustande kam und daß Niethammer und Hölderlin gemeinsam für ihn das Blatt Bil-fingers auswählten, weil sie annehmen konnten, daß dereiner solchen Nutzung zustimmen würde.93

In Art und Gestalt des Umgangs zwischen Niethammer

und Hölderlin läßt sich etwas mehr Licht bringen, wennman sich die Gründe verdeutlicht, die Hölderlin zur Auswahl der Verse Klopstocks veranlaßten. Die in Stamm bucheintragungen zitierten Sätze können sich aus ge-

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meinsamen Überzeugungen und Vorlieben und aus gemeinsam gemachten Erfahrungen verstehen. KlopstocksOde und die von Hölderlin gewählten Zeilen haben aber

einen noch persönlicheren Bezug. Sie sprechen von einem Verlangen, das so groß und herzerfüllend ist unddas seine Aussichten so gefährdet weiß, daß es sich nichteinmal zum Wunsch verdichten kann, das aber dennochseine Erfüllung erfahrt. Wer diese Zeilen wählt, um sie insStammbuch eines Freundes zu schreiben, der muß sichwohl auf einen solchen Wunsch in des Freundes Herz beziehen - sei es, daß er ihm eine Hoffnung auf Erfüllungmachen will, sei es, daß er die Freude über die wirklicheErfüllung freundschafdich teilt, um sie mit den zitiertenVersen in einen Zusammenhang von Gedanken oder bedeutsamen Beispielen zu stellen.

Erinnert man sich nun der Gedankenführung vonKlopstocks Ode und daran, daß sie die Erfüllung dessen,was wir kaum zu hoffen wagen, dem unausdenkbarenRatschluß Gottes anheim gegeben sein läßt, so wird manannehmen, daß der, der aus Klopstocks Ode im Bewußtsein ihrer ganzen Bedeutung zitiert, auch die Erfahrungeiner Erfüllung im Leben des Freundes vor Augen hat,die so wie Klopstocks Erfahrung in der Begegnung mit

Bodmer über alles irdische Wünschen und Verlangenhinaus bedeutsam war. Es läßt sich zeigen, daß es sich sowirklich verhielt.

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Der Bezug des Stammbucheintrags auf  

Niethammers Weg in die Philosophie

 Niethammer hatte im Jahr 1797 im Gange der Übernahme in die Jenaer theologische Fakultät eine Dissertationvorzulegen, der auch eine ausführliche Selbstbiographie beigegeben war .94 Aus diesem lateinischen Text erfahren

wir die Umstände, auf die sich Hölderlin mit seinem Eintrag aus Klopstocks Ode bezieht: Im Anschluß an dieMitteilung über den Abschluß des theologischen Examens erwähnt Niethammer, daß ihm bis dahin die kritische Philosophie kaum dem Namen nach bekannt gewesen sei.95  Alsbald aber habe er durch einen Zufall zuspüren begonnen, daß er sich mit ihr würde beschäftigen

müssen. Nach dem Examen ging er in das Stift zurück,um seine Studien fortzusetzen, bis sich ihm eine ihmgemäße Beschäftigung bieten würde.96 Er wurde damalsvon einem Magister (somit weder von Bilfinger noch vonHölderlin), den er früher schon in Logik unterrichtethatte, um Unterricht in theologischer Morallehre (doc-trina moralis theologica) gebeten. Und da Niethammer

fand, daß er selbst auf diesem Gebiet noch viel zu lernenhabe, übernahm er die Aufgabe und begann, die philosophischen und theologischen Kompendien zu studieren. Die folgende Passage von Niethammers Text folgthier am besten im übersetzten Wortlaut97:

„Doch je eifriger ich untersuchte und je weiter ich eindrang, desto schneller und gründlicher schien mir das

Fundament dieser Wissenschaft einzustürzen. Und meine Zweifel wuchsen so, daß es bald notwendig wurde,mich von jener Unterrichtsaufgabe zurückzuziehen. Indiesem Zustand des Zweifels hatte ich für das, was über 

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die Nützlichkeit und die Bedeutung der kritischen Philosophie und über die Vorteile berichtet wurde, durchdie sie andere Lehrweisen übertraf und die immer mehr

Zunahmen, offene Ohren; und ich habe niemals etwasmehr gewünscht, als daß ich die Überzeugung, die ich inanderen Weisen zu philosophieren vergeblich gesuchthatte, in dieser finden w ürde und daß es mir erlaubt seinwürde, ihren ganzen Umkreis auszuschreiten. Ich wurde

 jedoch teils durch die Schwierigkeiten dieses Studiums,die zu jener Zeit größer waren als sie es jetzt sind, teilsdurch die Furcht, welche die zu jener Zeit herrschende

 befangene Meinung über die Größe der Schwierigkeitenals unüberwindlich erscheinen ließ, abgeschreckt undglaubte nicht, allein durch eigenes Studium irgendeinenFortschritt machen zu können. Eine Hoffnung, die nochübrig blieb, sowie mein einziger Wunsch gingen dahin,daß es mir erlaubt sein möge, meine Arbeit auf diese Philosophie unter Anleitung eines Mannes zu wenden, der,da er selbst in ihre Geheimnisse eingeweiht war, anderenden Zugang zu ihr leicht eröffnen könnte. Auf wen wohlanders als auf Reinhold, der schon damals mit solchemAnsehen durch ganz Deutschland glänzte, konnten sichsolche Hoffnung und solcher Wunsch wenden?

Meinen Wunsch erfüllte mir ein gutes Geschick. Eingewisser Mann, dem ich mit Freuden öffendich Dank sagen würde, wäre es nicht höchst undankbar, ihm den er

 betenen einzigen Lohn desjenigen zu nehmen, der wohlund recht tut - jenes Bewußtsein, im Verborgenen zu

 bleiben -, bot mir aus eigenem Antrieb die Mittel an, damit ich mich für ein Semester in Jena aufhalten könne.“

 Niethammer brach in den Osterferien 1790 nach Jenaauf. Wer es war, der ihm den Aufenthalt ermöglichte, derspäter durch ein Stipendium des Kirchenfonds auf einganzes Jahr ausgedehnt werden konnte, hat sich nochnicht sicher ermitteln lassen.98 Über die Lebens- und

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Studienverhältnisse in Jena war er durch einen Freund,Karl Fischer, ausgiebig unterrichtet." Kurz vor der Abreise trugen sich einige seiner Freunde in sein Stamm

 buch ein, nach Hölderlin insbesondere Carl ImmanuelDiez’ (am 23. III.), und zwar auf der Rückseite eines älteren Stammbuchblattes von Diez’ Freund Klett - möglicherweise aus Mangel an Zeit, ein eigenes Stammbuch

 blatt zum Einlegen vorzubereiten. Diez hat am Heranreifen des Entschlusses, nach Jena zu gehen, einen wesentlichen Anteil gehabt.100  Auf ihn gründete sich die

Freundschaft zwischen beiden, die über die Jahre vonDiez’ Medizinstudium in Jena (1792-94) und bis zumfrühen Ende von Diez’ Leben Bestand hatte.

Bevor aber auf die Vorgeschichte von NiethammersAufbruch nach Jena noch mit einigen Bemerkungen eingegangen wird, ist eigens hervorzuheben, wie genauHölderlins Klopstock-Eintrag auf die innere Lage bezo

gen ist, in der sich Niethammer vor seinem Aufbruch undin der Gewißheit befand, nun nach Jena gehen zu können. Sieben Jahre später hat Niethammer in seinerSelbstbiographie diese Lage in Worte gefaßt, die denenvon Hölderlins Klopstock-Zitat kaum näherkommenkönnten: Niemals habe er etwas mehr gewünscht, alsdurch die kritische Philosophie zu einer sicheren Über

zeugung gelangen zu können. Da er sich nicht Zutrauenkonnte, in ihrem Studium allein erfolgreich zu sein, bliebihm nur die Hoffnung und der ,einzige4Wunsch, unterReinhold studieren zu können. Und es war e in ,gutes Geschick 1  (fortuna), das ihm in der Gestalt des großherzigen Gönners (vermutlich Krais) diesen Wunsch erfüllte.Gewiß sind diese Sätze im Rückblick und für eine selbst

gewisse Jenaer theologische Fakultät geschrieben worden, die sich durch Niethammers Hochschätzung der Jenenser Situation in ihrem Selbstbild bestätigt sehenmußte. Aber auch Niethammers folgende Versicherungen,

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daß er Jena die ,Palingenese‘ seines Geistes verdankeund daß er zeitlebens sich selbst zu dem Entschluß, nachJena zu gehen, beglückwünschen werde101, klingen an

ders als Schmeicheleien in akademischer Erfolgsabsicht,zumal er bereits in der philosophischen Fakultät allgemeine Anerkennung gewonnen hatte. Sein Rückblick aufdas halbe Jahr nach seinem theologischen Examen in Tü

 bingen, in dem er seine Hoffnung, bei Reinhold studieren zu können, mit dem größten Wunsch seines Lebensauf dauerhafte Überzeugung verbindet, ist also durchausglaubwürdig.102

Hölderlin muß, als er die Verse Klopstocks für Niethammer auswählte, sichere Kenntnis davon gehabt ha

 ben, daß die Hoffnung, welche dieser auf ein Studium inJena setzte, in seinem ganzen Leben und dessen Suchenach sicherer Überzeugung verwurzelt war und daß sie

somit einzigartige Bedeutung für ihn hatte. Er muß darüber hinaus gewußt haben, daß Niethammer das Ange bot seines Gönners als eine glückliche Fügung desSchicksals ohne Vergleich erfahren hatte. An diese Erfahrungen schließt e r mit den Versen Klopstocks an - desDichters, der auch ihn der Möglichkeit versichert hatte,in deutscher Sprache den Erfahrungen, in denen sich un

ser Leben sammelt, in Versen zu entsprechen, die zugleich Dank und Feier sind.Aber Hölderlin schrieb die Verse für Niethammer auch

und vor allem nieder zum Andenken an ihn selbst, anHölderlin. Dabei stand ihm der ganze Gang des Gedankens in Klopstocks Ode vor Augen. Und so geht in seinen Eintrag durch alle die Verse, die e r nicht zitiert, aucheine Beziehung auf ihn selbst und sein eigenes Lebenein. Denn „Der die Schickungen lenkt, heisset denfrömmsten Wunsch / Mancher Seligkeit goldnes Bild /Oft verwehen, und ruft da Labyrinth hervor, / Wo einSterblicher gehen will.“ Es ist Versagung, was uns zu-

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meist beschieden ist. Aber erst in ihrem Licht erfahrenwir unser Glück, sofern es uns dann gewährt wird, in derganzen Tiefe des Herzens „und glauben’s kaum“. Die

Träume, aus denen es uns erwachen läßt, sind die einesvollen Herzens, das eben darum erzittert, weil es weiß,daß ein zu innig gehegter Wunsch, so er uns auf ewig versagt sein sollte, unser Leben verschatten und uns seufzen lassen wird. Nicht nur selige Wunschträume, sondernauch lastende Träume zwischen banger Hoffnung undder vorausgenommenen Not des Verzichts sind es also,

aus denen die göttliche Erfüllung uns erwachen läßt,wenn sie uns plötzlich zuteil wird. Niethammer erfuhrsolches Glück, Hölderlin aber blieb zurück. Auch in solchem Sinne schrieb er für Niethammer Klopstocks Zeilen zu seinem eigenen Andenken.

Im Herbst 1789 trug sich Hölderlin mit dem Gedanken, das Stift zu verlassen und Jura zu studieren. Mit sich

selbst und seiner Mutter rang er um diese Aussicht, dieihm Befreiung aus einer als drückend empfundenen Lage gewesen wäre.103  Auch Hegel hatte wohl eher dazugeneigt, die Rechte statt der Theologie zu studieren. 104 Dies hätte seiner besonderen Begabung und Neigung entsprochen, die ihn schließlich auch zum Autor der bedeutendsten Rechts- und Geschichtstheorie des 19. Jahr

hunderts gemacht hat. Für Hölderlin, dessen dichterischeBegabung sich längst zu entfalten begann und der mit ihrauch seinen zu jener Zeit oft bekannten Ehrgeiz verband,wäre das Rechtsstudium aber nichts als nur ein Ausweggewesen. Gleichwohl fugte er sich doch bedrückten Herzens in die Umstände und den Willen der Mutter: „Eltem-rat beruhigt immerhin. Geh’ es wie es will, hab’ ich doch

diesen TVost!“105Hölderlins Resignation zurück ins Stiftsleben muß

auch im Zusammenhang des Entschlusses von Bilfingergesehen werden, der im Herbst 1789 das Stift verlassen

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hatte, um die Rechte zu studieren. Und NiethammersFreund Fischer war schon in Jena zum Studium derRechtswissenschaft und sandte von dort seine Berichte,

wo Schiller soeben seine Professur angetreten hatte. ImSommer hatte Bilfinger Niethammers Rat und Nähe gesucht - zu eben der Zeit, in der Hölderlin ihm schon nahe gewesen sein muß. Und wenn auch NiethammersÜberzeugungskrise erst im Herbst des Jahres entstand,so muß man vermuten, daß seine Neigung zum Pfarrer-

 beruf schon vorher gering geworden war. Kehrte er doch,ohne ein Vikariat zu suchen, ins Stift zu Studien zurück,

 bis er eine ,ihm gemäße4Anstellung würde finden können.106 Zwischen Niethammer, Bilfinger und Hölderlinmuß es wohl, sei es zu direktem, sei es zu vermitteltemAustausch über die Lebensaussichten gekommen sein,die das theologische Studium eröffnen oder aber auch

verschließen könnte. Und Diez, Niethammers Freund,sah wenig später seine kantischen Studien und seinen eigenen Einfluß auf die Ausrichtung von Niethammers

 philosophischer Hoffnung im Zusammenhang mit seinereigenen ,längst überdachten Apostasie'107, die Diez seinerseits 1792 mit dem Übergang zum Medizinstudium,und zwar in Jena, vollzog.

So ist Hölderlins Eintrag gleichermaßen Einstimmungin des Freundes Erfahrung vom kaum zu erhoffendenGlück und eine Erinnerung an die eigene Lebenslage,die, was die Studienaussichten betrifft, durch die Resignation in das Unabwendliche gezeichnet war.

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Hölderlins Briefe an Niethammer 

im Lichte des Stammbucheintrags

Das Stammbuchblatt in Verbindung mit dem Bilfinger- brief an Niethammer erlaubt uns einen Einblick in dieBeziehung zwischen Hölderlin und Niethammer, der unsaus den drei Briefen an Niethammer aus den Jahren

1795 bis 1801 allein nicht möglich gewesen wäre. DieseBriefe wurden nach Hölderlins Jenaer Monaten geschrieben. Man hätte wohl denken können, daß die nähere Bekanntschaft zwischen beiden auf Hölderlins Aufenthalt in Jena zurückgehe. Nun aber ist anzunehmen,daß die gute Aufnahme, die Hölderlin bei dem inzwischen zum Professor avancierten Niethammer erfuhr,

ihren Grund nicht nur in der entfernten Verwandtschaftund in der Gemeinsamkeit von Vaterland und Studienort hat. Schon im Stift selbst muß Hölderlin mit Niethammer in einer Vertrautheit gestanden haben, hinterder die Weise ihres Jenaer Umgangs wohl sogar zurück-

 blieb.ln den Briefen an Niethammer lassen sich leicht Spu

ren dieser frühen Vertrautheit finden. So beginnt der erste Brief mit dem Doppelsatz: „Ich hätte Dir immer so vieles sagen mögen und habe Dir nie nichts gesagt. Ich hoffte Dir manches schreiben zu können, und habe Dir nochnichts geschrieben.“108  Der erste der beiden Sätze mußsich wohl auf Hölderlins Scheu in Jena selbst beziehen.Und sie klingen, als hätte Hölderlin anschließen wollen

an die Tübinger Zeit der Vertrautheit in den Jahren 1789und 1790. Denn offenbar war ihm danach, später auch inJena noch mehr zu sagen als das viele, das er hoffte, nochspäter schreiben zu können, obgleich ihm beides nicht

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gelang. Der zweite Brief berichtet von Niethammers sanftem Mahnen und einem warmen Interesse an HölderlinsLage, nicht nur an dem versprochenen Manuskript.109

Und hätte Niethammer allein aus der Erfahrung einesmehr öffentlichen, durch das Jenaer Klub- und Gesellschaftsleben bestimmten Umganges mit Hölderlin in ihndas Vertrauen gesetzt, zu seinem hochreputierlichenJournal beizutragen? Es mag so sein, da wir inzwischenwissen, daß Hölderlin in den Jenaer Monaten folgenreiche Gedanken konzipiert hatte.110 Aber es wird doch einleuchtender, wenn man der disputierenden GeselligkeitJenas eine Grundlage in früherer Stiftsfreundschaft zuordnen kann, die Niethammer sowohl von Hölderlins Begabung überzeugte wie auch für sein Wohl besorgt gemacht hat.

Auch im dritten Brief, der von Hölderlins Enttäuschung über Niethammers Verstummen durchherrschtist, spricht Hölderlin von der ,Theilnahme‘, „mit welcherDu in zurückliegender Zeit mein Leben begleitet hast“,und von seiner „Freundschaft, deren ich mich früher erfreuen konnte“. Und er erinnert an Niethammers „Rath“,„den Du mir früher, wenn ich Dich darum bat, nicht versagt hast“.111 Es ist wahrscheinlich, daß dies alles einenBezugsbereich im Jahr vor Niethammers Abreise nachJena hat. Niethammers Freundlichkeit während der Monate, die Hölderlin mehrfach rühmt, könnte eher die Folge einer früher begründeten Freundschaft sein als derenUrsprung, während von Hölderlins Seite die Beziehungnunmehr von Scheu überformt war. Sie erklärt sich ausHölderlins Wissen, daß er selbst die Zeugnisse seinerArbeit noch nicht hatte vorweisen können, während

 Niethammers Verdienst vor der Welt schon bald und zunehmend allgemeiner anerkannt wurde.112

Im Sommer 1789 müssen Niethammer, Bilfinger undHölderlin in Gesprächen über einen Lebensgang abseits

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des Pfarrerberufs begriffen gewesen sein. Im Herbst kam Niethammer in seine Uberzeugungskrise, von der Hölderlin alles Wesentliche gewußt haben muß, und zwar

aus Niethammers freundschaftlicher Mitteilung selbst, sodaß er dies Wissen zum Gehalt eines Eintrags machenkonnte, der auch seinem eigenen Gedenken galt. Ebendarum konnte er auch einer der wenigen sein, die sichüberhaupt beim Abschied in Niethammers Stammbucheintrugen. Er war sogar der einzige, der dies in sichererAufnahme von Niethammers eigener Erfahrung tat. Im

Unterschied zu den Gesprächen des Sommers war Niethammers Krise nun durch theoretische Zweifel von derArt bestimmt, die ihn seine Hoffnung auf Philosophiesetzen ließen. Und so gibt Hölderlins Eintrag schließlichauch noch Anlaß zu der Frage, wie Niethammers Studiengang, der ihn in seine Zweifel führte, zu Hölderlins eigenen Studienerfahrungen ins Verhältnis zu setzen ist,

und damit zu einer Frage, die Hölderlins philosophischeAnfänge betrifft.

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rv.Zwei Stufen auf Hölderlins Weg 

in die Philosophie

 Niethammer hatte Moraltheologie, also jenes Fach zulehren, in dem die Wahrheiten der Religion in ihrer praktischen Wirksamkeit bei der Entfaltung eines christlichenLebens zur Darstellung kommen.113 In dieser Disziplin,

die erst ein Jahrhundert zuvor eine feste Lehrgestalt angenommen hatte, sind die Gründe für die Überzeugungvon der Wahrheit der Glaubenslehren und Lehren überdie Gründe der sittlichen Lebensführung miteinanderverflochten, so daß in ihr jede Veränderung in der Theorie der metaphysischen Erkenntnis und der Grundlegungder Morallehre gleichzeitig und direkt zur Auswirkung

kommen müssen. Es wäre eine lange Abhandlung darüber zu schreiben, in welcher Weise die neuen Kanti-schen Lehren von der Unbeweisbarkeit von Gottes Dasein und von der auf Autonomie des Willens begründeten Sittlichkeit in jedes moraltheologische Interesse hineinwirken mußten.114 Die Kantische Philosophie war inTübingen, teils durch Flatts Lehre, teils durch anhebende Kenntnis der Literatur, seit 1785 in einer Verbreitung,die in den späten achtziger Jahren rasant zu werden begann. Viele der in der Lokation hoch rangierenden Studenten begannen damit, specimina über kantische Themen zu schreiben.115

Der kantische Kreis um Diez, der aus Kants Theorie radikale religionskritische Konsequenzen herleitete, warwohl erst zu dessen Repetentenzeit auf dem Höhepunktseiner Wirkung. Aber Diez schreibt sich sicher mit Grundund Recht Einfluß auf Niethammers Studiengang imHerbst 1789 zu.116 Dieser Einfluß kann, Diez’ damaligem

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Studienstand entsprechend, nur von dem Aufweis derKonsequenzen der Metaphysikkritik Kants für die Religionslehre und von der Überzeugung von der Wichtig

keit des Reinhold-Studiums für die Klärung und die Sicherung der kritischen Wahrheit ausgegangen sein. DieMetaphysikkritik muß auch dafür verantwortlich gewesen sein, daß Niethammer ,das Fundament4der Moraltheologie ,einstürzen‘ sah.117  Und die Hoffnung auf dieBelehrung durch Reinhold wurde zur Grundlage desWunsches, nach Jena zu gehen, und so zum Anlaß für

Hölderlins Eintrag.Da Hölderlin über diese Verflechtung von Motiven im

Bilde war, muß angenommen werden, daß auch seine eigenen Studien von ihnen nicht unberührt gebliebensind. Und wirklich finden sich in dem Brief an die Mutter, der den Text von Hölderlins zweiter Predigt begleitete, deutliche Hinweise auf einen solchen Zusammen

hang. Der Sohn berichtet der Mutter in der geboteneneinfachen Klarheit über seine philosophischen Studiendes letzten Jahres.118  Da der Brief im Februar 1791 geschrieben wurde, ist der Beginn der Studien, über derenMotivzusammenhang Hölderlin berichtet, auf den Jahresanfang 1790 zu setzen. Hölderlin schreibt:

„Ich studirte denjenigen Theil der Weltweisheit, der

von den Beweisen der Vernunft für das Dasein Gottesund von seinen Eigenschaften, die wir aus der Natur erkennen sollen, handelt, mit einem Interesse dafür, dessenich mich nicht schäme, wenn es gleich auf einige Zeitmich auf Gedanken führte, die Sie vielleicht unruhig gemacht hätten, wenn Sie sie gekannt hätten. Ich ahnetenemlich bald, daß jene Beweise der Vernunft fürs Dasein

Gottes und auch für Unsterblichkeit, so unvollkommenwären, daß sie von scharfen Gegnern ganz oder doch wenigstens nach ihren Haupttheilen würden umgestoßenwerden können.“

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Es sind dies die Themen und Schlußfolgerungen, dieauch für die Genesis von Niethammers Zweifel wesentliche Bedeutung gehabt haben müssen. Und man wird

vermuten dürfen, daß die Teile der Metaphysik, welchesicher keinen Stand halten können, ,Haupttheile‘ deshalbgenannt werden, weil sie es sind, auf die sich das theologische Lehrsystem in Dogmatik und Moral stützen muß.

Hölderlin fahrt fort, daß ihm in dieser Lage „Schriftenüber und von Spinoza“ in die Hände fielen119, und erberichtet über Jacobis Schlußfolgerung aus der spinozisti-

schen Lehre. Aber jene Gedanken, von denen er zuvorsagte, daß sie die Mutter wohl unruhig gemacht hätten,sind noch andere als die von Spinoza hergeleiteten. Hölderlin sagt auch deutlich, daß seine Zweifel, welche dieMutter beunruhigt hätten, vor der Begegnung mit Jaco-

 bi und Spinoza in ihm aufkamen und daß sie durch diese Begegnung in etwa beruhigt worden sind. Die Zweifeldes Frühjahrs betrafen wohl direkt und zuerst die Erkenntnisleistungen der Vernunft. Aber die Weise, in derHölderlin von solchen Gedanken und der Besorgnis, diesie wohl erwecken konnten, spricht, zeigt deutlich genugan, daß sie Zweifel an der Haltbarkeit der Lehren von derWahrheit der Religion selbst eingeschlossen haben müssen, die dann erst durch die Trennung von spinozisti-scher Vernunft und christlicher Offenbarung in Jacobis

 planier fürs erste zu bändigen waren.Solche Zweifel sind auch Niethammer sicher nicht

fremd gewesen, da sie eben die Zweifel sind, die ihmauch von Diez nahegelegt wurden. Die Hoffnung also,welche Niethammer auf die kritische Philosophie setzte,ist eben darum nicht nur die auf phüosophische Klarheit.Sie ist die Hoffnung auf eine Überzeugung, die in denZweifeln und Fragen hinsichdich des Verhältnisses vonVernunft und Glaubenslehre zur Klarheit zu kommen erl aubt . Hölderlin sagt, daß ihm die Klarheit, die er ge-

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genüber der Mutter für das Jahr danach in Anspruchnimmt, durch Jacobis TVennung von Theorie und Wahrheit ermöglicht worden sei. Niethammer hat seine ganze

 philosophische Arbeit, die ihn bald zum Gefolgsmannder Lehre Fichtes in der  Kritik aller möglichen Offenbarung  werden ließ, dem Versuch zur Klärung des Verhältnisses von Vemunftkritik und Offenbarungswahrheit gewidmet.120

Das früheste philosophische Manuskript, das uns vonHölderlins Hand überliefert ist, sind seine Notizen zu Ja

cobis Spinozabüchlein. Sie lassen sich nicht einfach nurals Exzerpte auffassen. Vielmehr sind sie als ein Versuchzu verstehen, die Diskussionslage zwischen der PositionSpinozas in der Auffassung, die Lessing gegenüber Ja-cobi geltend gemacht haben soll, und der eigenen Position Jacobis aus dem Text von Jacobis Spinozabüchleinübersichtlich zu machen. Eine gründliche Analyse des

Manuskripts unter diesem Gesichtspunkt, sowie im Blickauf den Stand der philosophischen Studien, die es voraussetzt, und den Zweck seiner Niederschrift steht nochaus. Aus der Bemühung eines Interpreten, den Blick Hölderlins auf Jacobis Text nachzuvollziehen, ließe sich vieles über den Stand von Hölderlins philosophischer Orientierung bei der Niederschrift dieser Notizen er

schließen. Nur zwei Befunde sollen hier hervorgehoben werden,

aus denen auf Hölderlins Gedanken bei der Aneignungder Spinoza-Jacobi-Altemative einiges Licht fallt: Die Notizen setzen, zum ersten, ein Kantstudium Hölderüns bereits voraus. Denn sie bringen in die Entwicklung derLehre von Spinoza, die Jacobi Lessing in den Mund leg

te, Kantische Elemente hinein. Das wird deutlich in derAuswahl der Passagen aus dem Jacobibüchlein und ausden Hervorhebungen in dieser Auswahl. Es wird vor allem deutlich dadurch, daß Hölderlin einige Theoreme

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Spinozas in einer Interpretation durch Kantische Begriffeerscheinen läßt, die in Jacobis Text selbst gar nicht zufinden sind. So interpretiert Hölderlin Lessing-Spinozas

Prädikat,unendlich' als ,indeterminabilis‘ im Unterschiedzur ,series infinita‘121. Und er nimmt den Auftritt des Terminus ,das Mannigfaltige" zum Anlaß, ihn in Hinsicht aufFolge und Dauer mit den für Kant spezifischen Termen,Form‘ und ,Erscheinung1 in Zusammenhang zu bringen122. So sehen wir in Hölderlins Notizen die auch fürdie in Tübingen niedergeschriebenen Texte Hegels undSchellings, die aber später entstanden sind, und für einenguten Teil der an Kant anschließenden Literatur charakteristische Verfahrensart, historische Positionen in Kantische Sprache umzuschreiben, so früh schon am Werke.

Zum zweiten könnte es ebenso aufschlußreich sein,daß diese Kantischen Umschreibungen nur in der Wie

dergabe der von Lessing vertretenen Position Spinozaszu finden sind. Man kann daraus schließen, daß Hölderlin bei der Niederschrift der Notizen schon dazu neigte,die Konsequenz der Kantischen Kritik mit der Begründung der Lehre des Spinoza gerade dort verbunden zusehen, wo Schlußfolgerungen der Theorie als solche gezogen werden müssen. Jacobis eigene Position erschiene

dann als Cegenzug gegen Spinoza und Kant in einem -ein Gegenzug, der dann allein Freiheit und einen wirkenden und wissenden Gott gegen alle Philosophie zuverteidigen vermöchte. In Hölderlins philosophischerPosition, die er mehr als vier Jahre später in Jena entwickelte, sind Kant und Spinoza wieder auseinandergetreten - aber nunmehr ein Spinoza, der die Freiheit desauf Gegenstände korrelativ bezogenen Bewußtseins123 inKants Sinne zuzulassen instandgesetzt ist; ein Spinozazudem, der in eine theoretische Stellung versetzt ist, welche nunmehr der Stellung entspricht, die Jacobi zuvorzugunsten einer Überzeugung der Realität der Freiheit

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und vom Dasein Gottes aufgebaut hatte und die Jacobiselbst für mit Spinozas Lehre unvereinbar gehalten hatte. Hölderlins Jenaer Position überführte also Spinoza in

die für Jacobi ehedem charakteristische Position - abernunmehr unter Preisgabe von Jacobis persönlichemGott, wiewohl unter Bewahrung der vom ,Sein‘ selbstdurch Urteilung ausgehenden Freiheit im Endlichen. Ansätze einer Gedankenbewegung hin zu dieser Positionlassen sich schon in den frühen Notizen zum Spinozabüchlein erkennen - zumindest im Rückblick und

unter Ausschluß der Meinung, solche Ansätze würden etwa schon zwingend auf die Jenaer Position hinführen.

Folgt man diesen Überlegungen, so wird man sehen,daß die durch Jacobis eigene Lehre zurückgewonneneneue Versicherung in der christlichen Glaubenswahrheit,über die Hölderlin 1791 seiner Mutter berichtete, auchdann, wenn sie der ganzen Wahrheit entsprochen hätte,

kaum von Dauer gewesen sein konnte. In der Weise, inder er sich die Gedankenführung des Spinozabüchleinsaneignete, lassen sich auch schon die Potentiale erkennen, die sie bald wieder instabil werden ließen. Zu leichtkonnten die Notizen zum Spinozabüchlein auf den Wegzu einer neuen Position führen, in der Kants Analyse derErkenntniskorrelation mit einer anderen, in ihr voraus

gesetzten und sie übersteigenden Wahrheit innerlich undsystematisch verbunden gesehen wird, die mit der christlichen nicht mehr zusammenzuführen ist. Auch dieseWahrheit läßt sich allerdings nicht, so wenig wie die Jacobis, in der Art der Schlußfolgerung der klassischenGotteslehre der Metaphysik gewinnen. Dennoch ist siewiederum anderes als Glaubenswahrheit; und sie ist

durch ihren Gehalt vor allem auch anderes als eine Gewißheit vom persönlichen Gott der chrisdichen Offenbarung und selbst anderes als die deistische Gottesgewißheit Jacobis.

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Unabhängig von all dem bestätigen Hölderlins Notizen zum Spinozabüchlein aber in jedem Fall, daß die Aneignung Jacobis und Spinozas auf der Grundlage vor

ausgehender Studien zu Kants Philosophie geschah, diesowohl einigermaßen gründlich wie aus Motiven der eigenen Lebensorientierung begründet gewesen sind. Dierelative Chronologie von Hölderlins Studien zunächst vonKant und dann von Spinoza-Jacobi ist damit auch ausdem ersten überlieferten Text selbst bestätigt. Diese relative Chronologie der zweiten Studienphase läßt sich aller

dings nicht ohne weiteres auch in eine absolute Zeitbestimmung des Beginns dieser zweiten Phase überführen.Es ist wohl möglich, daß Hölderlin die Schriften „überund von Spinoza“124 schon vor dem Sommersemester 1790

 bekannt wurden - möglich insonderheit für ein erstesStudium von Jacobis Spinozabüchlein. Nur der Beginn der

 philosophischen Studien insgesamt mit einem Studiumvon Kants Metaphysikkritik läßt sich mit großer Sicherheit auf die frühen Monate des Jahres 1790 ansetzen.

Aus Neuffers Ode an Hölderlin aus dem Jahre 1790können wir einen weiteren Hinweis auf Hölderlins philosophische Studien und ihren frühen Beginn in diesemJahr gewinnen: „Endlos quälest nur du dich mit Erforschungen, / Die kein endlicher Geist irgend ergründenkann, / Steigst in’s leere Gebiet täuschender TVäume“123.Und Neuffers Aufruf zum carpe diem kulminiert in demRückruf zum Gesang des Dichters: „Nimm die Leier, diedir lange nicht mehr getönt!“ Es ist zwar nicht sicher zu

 bestimmen, wann genau Neuffers Gedicht entstand undauf welche Zeit des Jahres es sich bezieht. Aber man wirdannehmen können, daß sein Aufruf in den Monaten desBeginns der Aldermannstage des Freundesbundes kaumeinen Anlaß gefunden haben könnte.126 In dieser Zeit hatHölderlin die ersten Tübinger Hymnen für das Bundes

 buch geschrieben.

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Die Wochen nach dem Eintrag von  An die Stille um dritten Aldermannstage Hölderlins waren sicher von denVorbereitungen für das Magisterexamen bestimmt und

somit ohnehin kaum frei zur Option für Leier, Wein undTanz gegen das Schreibpult.127  TVifft das zu, müßte sich Neuffer entweder auf das späte Jahr oder auf seinen Beginn beziehen. Auf die ersten Monate des Jahres ist allenfalls Hölderlins  Burg Tübingen128 zu datieren, ein Gedicht, das in seinem Grundton den elegisch gestimmtenOden der zweiten Hälfte von 1789 noch näher steht als

den ersten Hymnen des kommenden Frühjahrs. In denWintermonaten des Jahresbeginns scheint Hölderlinnicht gedichtet zu haben. Und es sind diese Monate, indenen das Studium angehoben haben muß, über dessenGang er im Brief an die Mutter berichtet hat. Ende August sagt Hölderlin, schon mit Betonung: „Ich habe nochvieles zu thun im Sinn. Ich darfs Ihnen als Sohn one

Schein der Unbescheidenheit sagen, daß anhaltendesStudiren besonders der Philosophie mir bald zum Be-dürfniß geworden ist.“129  Hier gibt Hölderlin zum erstenmal zu erkennen, daß seine philosophischen Studienfür ihn eine ganz andere Bedeutung als die einer Vorbereitung für Theologie und geistlichen Beruf gewonnenhaben. Und solches Bewußtsein setzt eine Periode an

haltender Beschäftigung mit Philosophie schon voraus.Es ist zu vermuten, daß Hölderlins Selbstbewußtsein,das ihn im Brief an die Mutter kaum verhohlen andeutenläßt, von ihm sei auch in der Philosophie noch Eigeneszu erwarten, sogar den Beginn der Verständigung überJacobi und Spinoza schon voraussetzt.

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Der Weganfang und die Form 

von Hölderlins Denken

Es gibt genügend Grund zu der Annahme, daß die erstenAnfänge von Hölderlins Weg zur Selbständigkeit in derPhilosophie in eben die Zeit fallen, in der Niethammer zuder Überzeugung gekommen war, daß alle seine Hoff

nung auf Jena zu setzen sei. Und wenn man bedenkt, daß Niethammer sich nicht zutraute, in eigenen Studien diekritische Philosophie ausmessen zu können, so wird manverstehen, daß Hölderlin, der den Weg nach Jena für sichverschlossen wußte, damit den besten Grund für einekonzentrierte Anstrengung hatte, so wie auch Diez.130Der Mutter berichtet er, daß er während dieser Konzen

tration bald von Kant zu Jacobi-Spinoza geführt wurde.Fünf Jahre später hat Hölderlin, nunmehr selbst in Je

na, in eben diesem Spannungsfeld auch Fichtes neueWissenschaftslehre geortet und damit eine produktiv-kri-tische Beziehung zu ihr ausbilden können, die für dengesamten Weg des spekulativen Idealismus weitreichende Folgen hatte. In der Konzeption von Unheil und Seyn, mit der er auf Fichtes Subjektphilosophie antwortet, gehtdie Begrenzung unserer Erkenntnisfahigkeit nunmehrauch im systematischen Zusammenhang einem Gedanken voraus, der auch Jacobis Position aufnimmt, sie abernunmehr mit der von Jacobi abgewiesenen Grundlehredes Spinoza von jenem ,Sein‘ verbindet, das ungeschieden aller TVennung vorausliegt, in der sich unsere theoretische Erkenntnismöglichkeit zu halten hat. Erkenntniskritik und höchste Gewißheit stehen hier in einersachlichen Folgeordnung, die der Abfolge von Hölderlins früher Begegnung zuerst mit Kantischer Kritik und

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dann mit Jacobis Glaubenslehre entspricht. So sind inHölderlins frühem Studium, aus dem Neuffer ihnzurückruft, die ersten Voraussetzungen gewonnen wor

den für seinen selbständigen Weg in der Philosophie undfür die innere Form des Standes, den er in ihr genommenhat.131

Während der ganzen Zeit seiner wachen Produktivitäthat Hölderlin auch die Stellung der Philosophie in seinerLebensbewegung und ihre Bedeutung für die Bewußtseinslage dieses Lebens in beinahe gleicher Weise gese

hen: Die Philosophie ist ihm wesentlich, unverzichtbar,verspricht aber doch nicht die Erfüllung seiner eigendi-chen Anlage und Absicht, die mit Amt und Aufgabe desDichters verbunden ist. Sie bringt zudem schließlichstets auch eine Gefährdung für die Stabilität seines inneren Gleichgewichts, obwohl er sich ihr gerade in Phasender Bedrückung auch immer wieder zuwenden muß.

Es ist von Interesse zu wissen, daß auch dieser Zusammenhang von Motiven und Wirkungen schon denAnfang von Hölderlins philosophischen Studien aus eigenem Antrieb und nachhaltigem Interesse kennzeichnet: Erfahrungen der Bedrückung und ein vergeblichesAufbäumen gegen die Verhältnisse seines Lebens, aufkommende Zweifel an der Wahrheit der Lehre, auf die

sein Pastorenberuf begründet sein würde, das Ende seiner ersten Liebe.132 Der TVost der Freundschaft wendetsolche Lage nicht, und die Dichtung kann sich nicht sogleich zum Höhenflug des eigenen inneren Vorbilds erheben. Da kann Arbeit für sich schon ein Mittel der äußeren Stabilität sein. Aber daß diese Arbeit der Philosophiegilt, hat doch einen anderen und bedeutsameren Grund:

Sie allein kann, wie auch Niethammer es sah, eine sichere Überzeugung begründen, wenn sie auch nicht insWerk setzen kann, worauf Hölderlins Dichtung schonauszugreifen begann. Und so kann sie auch die ,Grillen4

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und Bedrückungen nicht lösen, nur zurückdrängen.Auch die Situation, in der Hölderlins Weg in die Philosophie begann, entspricht also ganz den Verhältnissen, in

denen Hölderlin allzeit den Stellenwert der Philosophiesah und erfuhr. Betrachtet man Hölderlins Stammbuch

 blatt für Niethammer im Zusammenhang aller anderenDokumente aus dem Umkreis seiner Entstehungszeit, sofügt es sich nicht nur gut in die Konturen des Bildes, dasuns diese Dokumente von Hölderlins Anfängen im Philosophieren geben. Es trägt bisher unerkennbare Züge in

dieses Bild ein und verstärkt so seine Prägnanz erheblich.133 Zugleich macht es freilich auch deutlich, wievieluns von Hölderlins Leben und von den Kraftfeldern, indenen sich sein Werk ausbildete, trotz Becks lebenslanger und bewundernswerter Suche nur durch Zufälle derErhaltung von Dokumenten bekannt werden kann - undwieviel uns darum auch entzogen bleiben wird. Das Geflecht der Verbindungen und Freundschaften im Tübinger Stift war wohl einzigartig in seiner Zeit - durch diegleichzeitige Wirkung von dauernder Nähe und den vielfältigen Freundesbeziehungen, die sie begünstigte, vongemeinsam erfahrener Reglementierung des Lebens undeines hohe Leistungen erzwingenden Studiensystems. Indas Leben und Denken derer, die dort studierten, da esmit den Leben so vieler anderer in gleicher Lage beinahe unlösbar verschlungen war, kam in einer Periode vonintellektueller und politischer Aszendenz und Wendungeine Verdichtung im Anspruch und Ausgriff auf Selbstverständigung, die auf anderen und für die Betroffenensicher genehmeren Wegen kaum hätte hervorgehen können. Mit der frühen Vertrautheit zwischen Hölderlin und Niethammer ist uns nur ein kleines Segment dieses Geflechts und Kraftfelds bekannt geworden. Aber schonvon ihm fallt neues Licht auf längst bekannte Dokumente auch von Hölderlins späterem Weg, somit auch auf die

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Genesis der größten Dichtung deutscher Sprache. Dennin sie ist Hölderlins Bemühung im Denken eingegangenals eine der Möglichkeitsbedingungen ihrer Form und

der Weise ihres Anspruchs und Ausgriffs.

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Anhang AErgänzungen zum Brief C. L. Bilfingers vom 29.9.1789

Adolf Beck hat den Brief Bilfingers an Niethammer korrekt, aber mit Auslassungen veröffentlicht (StA VII, 1,401). Es wird willkommen sein, den Text dieses Briefesinsgesamt bekannt zu machen, zumal auch die ausgelassenen Passagen das Bild vom Umgang in Hölderlins und

 Niethammers Umkreis in und um das Stift sowie vonihren Meinungen und Beziehungen zu ergänzen geeignet

sind. Zeile 13 von Becks Edition ist wie folgt fortzusetzen: (zubrachten.) „M. Klett, den ich Morgen, geliebt esGott, zu besuchen gedenke, will inzwischen Malle Hegelnicht aus den Gedanken, und beinahe glaube ich, er ha

 be zu lange mit ihr getanzt. Auf den  Heilbrunner Herbst  sollen Sie recht vortreflich Wetter bekommen, es istschon ganz richtig bestellt - . Wenn ich da zu Ihnen kom

men könnte, so hoffe ich, daß es Sie doch auch ein wenig freuen würde Aber es ist und bleibt eine Unmöglichkeit. Nun ja! Sie werden auch ohne mich viel Vergnügen haben, welches Ihnen niemand mehr gönnenkann, als ich.“

 Nach Absatz fahrt dann der Text fort wie bei Beck, Zeile 14.

(Nach Zeile 18, wieder nach Absatz, enthält der Briefnoch die folgenden beiden Absätze:)

„Meine Dimission habe ich noch nicht - . Wenn ich nurnicht schon au f dieser Welt so sehr verdammt werde, daßich unter Schnurrers Szepter mich beugen muß.

 Nun wünsche ich Ihnen, mein lieber Philipp - einherzliches  Lebewohl,  und empfehle mich dringendst inIhre fernere Freundschaft und Liebe, und bin immer 

Ganz de r Ihrige

Bilfinger.“

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(,Heilbrunner Herbst' ist durch steilere Schönschrift,,Lebewohl4 durch lateinische Schrift hervorgehoben;dem entspricht hier der Kursivsatz).

Der Brief stellt durch die Erwähnung von Klett (vgl.Anm. 100) und Mademoiselle Hegel Kommentaraufga

 ben, die aber hier nicht aufzunehmen sind. Der Text desBriefes findet sich auf einem Blatt, das wie ein selbständiger Brief gefaltet ist, aber keine Adresse trägt. Erscheint als offener Einschluß in eine andere Briefsendung auf den Weg gebracht worden zu sein.

J. L. Döderlein hat mir den Brief aus seinem Besitz zurVerfügung gestellt, wofür ihm gedankt sei.

Anhang BC. I. Diez’ Bericht über den Weg zu Kant

Diez’ zweiter Brief nach Jena an Niethammer vom 19. Juni 1790 (noch ungedruckt) läßt weitere Aufschlüsse überdie Motive und den Beginn des Kantinteresses auch von

 Niethammer im Spätjahr 1789 zu. In diesem Brief gibtDiez, der sich nun einen festen Besitz der KantischenGrundsätze zutraut, die ihn zur Einsicht in dessen Philosophie befähigen, auch einen Bericht über die Erwer

 bungsgeschichte dieser Einsicht: Er begann das Kantstudium im Herbst 1789, fand aber, daß die  Kritik der reinen Vernunft   ihm ohne die Hilfe durch Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens, die damals noch nicht zuhaben war, zu tauben Ohren gepredigt habe. Anfang Fe

 bruar 1790 habe er mit einem intensiven Studium Reinholds in Verbindung mit der Lektüre Kants beginnen

können. Dieser Bericht ist eine Selbstverständigung vordem Freund, so daß also nicht angenommen werdenmuß, Niethammer habe von den darin enthaltenen Mitteilungen zuvor gar nichts gewußt. Das ist schon deshalb

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ganz unwahrscheinlich, weil Diez schreibt: „Einiges Interesse muß diese Erzählung doch für Sie haben als dieGeschichte eines Kantianers, der noch zum Theil viel

leicht die veranlassende Ursache war, welcher Sie zumReinhold- und Kantianismus bestimmte“. So erklärt sichauch im Zusammenhang von Diez’ Bericht und Erfahrung am besten, wieso Niethammer seine ganze Hoffnung auf ein Studium gerade bei Reinhold gewendet hatIm übrigen wird deutlich, daß sich Diez (in vorsichtigenWorten) wichtigen Einfluß auf Niethammer zusprichtund daß der veranlassende Grund auch für Diez’ Kantstudien die Erschütterung der theologischen Lehre undderen Konsequenzen auch für den Offenbarungsglaubenselbst gewesen ist. Noch ist sich Diez nicht im klarenüber die Konsequenzen, die sich aus seinem Kantianismus und der aus ihm herzuleitenden Untersuchung der

,data‘ der theologischen Urteile für das kirchliche und dasTübinger theologische Lehrsystem ergeben. Aber dieKenntnis der Grundlagen von Kants Kritik der dogmatischen Metaphysik läßt ihn bereits „für alle Offenbarung

 bangen“ Und durch seine Reflexionen wird ihm „derEntschluß zu der längst überdachten Apostasie beträchtlich [...] bevestigt“. Niethammer bittet er, die kantischen

Konsequenzen (für die Offenbarungswahrheit) mit ihm„doch auch in Deliberation“ zu nehmen. Diez spricht ganzohne Umschweif von der erwogenen Apostasie, nimmt also vorausgehende Kenntnis von dieser seiner Erwägung

 bei Niethammer an; und so zeigt sich auch für Diez’ Weg,daß es der Zweifel an der Wahrheitsfähigkeit der Grundlagen des Pfarrerberufes war, der ihn in das Kantstudiumführte und der die Intensität seiner Kantstudien erklärt.Diez’ Selbstdarstellung und Niethammers Selbstbiogra

 phie ergänzen sich also fugenlos. Das StammbuchblattHölderlins für Niethammer aber beweist, daß HölderlinsWeg in die Philosophie in großer Nähe zu dem in beiden

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Berichten erklärten Geschehen angehoben hat. Von dem,was Diez und Niethammer in der Sache ihrer philosophischen Erwägungen und in ihrer Lebenslage verband, hat

Hölderlin also auch dann gewußt, wenn er, wie nach demStand unserer Kenntnis anzunehmen ist, keinerlei vertraute Beziehung zu Diez selbst gehabt hat.134

Anhang C J. C. F. Hauffs Briefe zur Kantrezeption

 Niethammers späterer Bericht wird indirekt bestätigtdurch Briefe an Niethammer von einem Jahrgangs- undStudienfreund J. C. F. Hauff aus der Nähe von Wetzlar.Hauff wundert sich über Niethammers Interesse an derKritischen Philosophie, das ihm bisher unbekannt ge blieben sei. Der erste Brief antwortet auf „die ausführli

che Darlegung der Umstände, welche Dich zuerst für diekritische Philosophie interessiert und am Ende zum Studium derselben hingetrieben haben“ (20. 7. 1790). Hauffhatte bisher gedacht, Niethammer sei wegen Döderleinund Griesbach, also zum Studium der Theologie, nachJena gegangen. „Je unerwarteter mir aber die Entdeckung von Deinem Geschmacke an kritischer Philoso

 phie war, desto angenehmer war sie mir, da diese Philosophie seit dem Anfänge meiner philosophischen Existenz ein besonderes Interesse für mich hatte.“ Hauff hatte 1786 das zweite specimen mit einem als kantisch zuerkennenden Thema in Tübingen geschrieben (vgl.Anm. 115). „Ich kann Dir daher versichern, daß ich die

 Nachricht von der Unterstützung, die Dich in den Stand

setzte, Deine Neigungen zu befriedigen, und von DeinerAufnahme in Jena mit der lebhaftesten Teilnehmung undwahrer inniger Herzensfreude las; und daß ich, wenn ich

 je einen Menschen wegen eines Glücks hätte beneiden

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können, Deine Lage beneidenswert nennen würde“ (30. 9. 1790). Die Briefe Hauffs an Niethammer befinden sich heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.

Die Passagen aus diesen Briefen sind auch deshalb be-merkenswert, weil sie auf Niethammers eigenen Bericht antworten, und das in einer Weise, die den Intentionen von Hölderlins Stammbucheintrag ganz entspricht Was Hauff von seinem Studienfreund Niethammer in einem Brief in einer »ausführlichen Darlegung1aus Jena erfuhi; muß Hölderlin schon vor Niethammers Abreise deutlich gewesen sein.

Anhang DHölderlins Mutter an Niethammer im Oktober 1804

Die Vermutung einer frühen Wurzel der Vertrautheit zwischen Hölderlin und Niethammer wird weiter gestärktdurch einen Brief von H ölderlins Mutter an Niethammeraus dem Oktober des Jahres 1804. Er ist bisher unbekannt. J. L. Döderlein verdanke ich ein Regest diesesBriefes, dem im Januar 1939 in Eile gemachte NotizenDöderleins zugrunde liegen, und die Erlaubnis, es an

dieser Stelle zu veröffentlichen: Die Mutter sagt zunächst: „Ich schreibe Ihnen, da mein Fritz nicht schrei ben will und auch nicht schreiben kann.“ Sie fahrt dannfort, Hölderlin sei in schlechtem Gemütszustand gewesen, und Sinclair habe ihn nach Homburg geholt. „MeinFritz hat in den letzten Jahren oft von Ihnen gesprochenund gehofft, daß er Sie einmal Wiedersehen könne. Erwar sehr betrübt, daß dies nicht geschehen konnte. DieZuneigung meines Fritz zu Ihnen ist Ihnen ja bekannt. Erwird sie auch weiter bewahren, wie ich sicher bin. Ich bitte Sie, lieber (verehrter?) Herr Professor, ihn nicht zuvergessen und mit freundlichen Gedanken seinen Weg

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weiter zu begleiten. Ich weiß allerdings nicht, wohin ihndieser Weg noch fuhren wird.“ (Die in Anführungszeichen gesetzten Passagen des Briefes werden von J. L. Dö-

derlein aufgrund seiner Notizen nahezu im Wortlaut erinnert.)

Uber die Geschicke des verstreuten Nachlasses von Niethammer, dem auch dieser Brief zugehörte oder irgendwo noch zugehört, soll im Zusammenhang der Ausgabe der Werke und Briefe von C. I. Diez berichtet werden (vgl. Anhang B).

Anhang E J. F. Flatts Hinweis auf Jacobi

In der Einleitung zu seiner Metaphysik-Vorlesung vomSommer 1790 verwies J. F. Flatt auf die Beziehung vonJacobis Veröffentlichungen zu Kants Werk in folgender

Weise: „Geheimer Rat Jacobi schrieb zwar nicht geradeein Buch, worin er Kant widerlegte, allein in einigen seiner Schriften ist doch hauptsächlich darauf Rücksicht genommen, z. B. in seinem Gespräch über Realismus undIdealismus...in seinen Briefen über die Lehre Spinozas. -Mit Kant kommt er zwar in den Resultaten überein, aberdie Wege, die ihn dazu führen, sind von denen, die Kant

einschlägt, ganz verschieden.“Die Nachschrift dieser Vorlesung durch Klüpfel ist in

zwischen zu einer primären Quelle für Hegels und Hölderlins Philosophiestudium geworden, nachdem erwiesen ist, daß Hegels eigene Nachschriften der Flatt-Vorle-sungen von Hegels Söhnen vernichtet wurden (vgl. v. D.Henrich und W. Becker: Fragen und Quellen zur Ge

schichte von Hegels Nachlaß, in:  Zeitschrift fü r philoso phische Forschung, Bd. 35,1981, vgl. S. 606, Zeile 16 [mußwohl ,Flatt‘ und ,Schnurrer‘ heißen]).

Es ist wohl möglich, daß Flatts Anmerkungen im Kol

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leg einen Einfluß auf Hölderlins (und Hegels) Jacobi-Studium hatten. Beide hörten die Vorlesung. Ebensowenig ist auszuschließen, daß Hölderlin schon vor Beginn

des Semesters ein aus den Kantstudien motiviertes Interesse an Jacobi entwickelte, der längst ein allgemeinesInteresse auf sich gezogen hatte. Wahrscheinlich ist allerdings nur, daß seine Anspielung auf künftige philoso

 phische Leistungen im Brief Nr. 34 a (vgl. Anm. 129) vomAugust 1790 nicht nur das Kant-Studium, sondern auchden Beginn des Jacobi-Studiums schon voraussetzt.

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Philosophischtheologische Problemlagen im Tübinger Stift 

zur Studienzeit Hegels, Hölderlins und Schellings

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Die Jahre der Studienzeit Hegels, Hölderlins und Schellings sind nicht nur die Jahre, in denen die Revolution inFrankreich ihre Bahn durchlief. Für Deutschland sind siezugleich die Jahre der Verwandlung der gesamten intellektuellen Welt unter dem maßgeblichen Einfluß der Philosophie, die von Immanuel Kant begründet worden ist.

Als Hegel und Hölderlin im Sommer 1788 das Stift bezogen, war diese Philosophie schon an einigen Universitäten zu beherrschendem Einfluß gekommen. Er wurdegefestigt und ausgebreitet durch die Politik der bedeutendsten wissenschaftlichen Rezensionszeitungen: Sechsmal wöchendich wurden in Jena die ,Stücke1  der  Allgemeinen Literatur-Zeitung  ausgegeben. Anonyme, aber offen

kundig gewichtige Rezensenten bemühten sich in ihnen,Kantische Begründungsgänge ins rechte Licht zu stellenund den Widerstand anderer Philosophenschulen gegendie Kantische Lehre nach Möglichkeit zu entkräften.

Aber erst von 1789 an, mit dem Auftreten von CarlLeonhard Reinholds Elementarphilosophie, kamen innerhalb der Kantischen Schule selbst Kontroversen auf,

welche auch die Grundlegung der noch neuen Lehre betrafen. Und schon bald erwies es sich, daß die Veränderung der Denkweise und Begründungsart, die von Kantausging, in eine intellektuelle Bewegung einmünden sollte, die Kantische Ideen mehrfach von Grund aus neu formulieren würde und die mit diesen Formulierungen auchin alle Bereiche des Lebens und in die Verständigung

über dies Leben eingriff - in die des Glaubens und dieder Dichtung zumal. Im Jahr 1792 erschien Fichtes erstes Werk, eine Untersuchung über die Grundlagen einerauf Offenbarung zu begründenden Lehre, 1793 Schillers

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Die Jahre der Studienzeit Hegels, Hölderlins und Schellings sind nicht nur die Jahre, in denen die Revolution inFrankreich ihre Bahn durchlief. Für Deutschland sind siezugleich die Jahre der Verwandlung der gesamten intellektuellen Welt unter dem maßgeblichen Einfluß der Philosophie, die von Immanuel Kant begründet worden ist.

Als Hegel und Hölderlin im Sommer 1788 das Stift bezogen, war diese Philosophie schon an einigen Universitäten zu beherrschendem Einfluß gekommen. Er wurdegefestigt und ausgebreitet durch die Politik der bedeutendsten wissenschaftlichen Rezensionszeitungen: Sechsmal wöchendich wurden in Jena die ,Stücke4der  Allgemeinen Literatur-Zeitung  ausgegeben. Anonyme, aber offen

kundig gewichtige Rezensenten bemühten sich in ihnen,Kantische Begründungsgänge ins rechte Licht zu stellenund den Widerstand anderer Philosophenschulen gegendie Kantische Lehre nach Möglichkeit zu entkräften.

Aber erst von 1789 an, mit dem Auftreten von CarlLeonhard Reinholds Elementarphilosophie, kamen innerhalb der Kantischen Schule selbst Kontroversen auf,

welche auch die Grundlegung der noch neuen Lehre betrafen. Und schon bald erwies es sich, daß die Veränderung der Denkweise und Begründungsart, die von Kantausging, in eine intellektuelle Bewegung einmünden sollte, die Kantische Ideen mehrfach von Grund aus neu formulieren würde und die mit diesen Formulierungen auchin alle Bereiche des Lebens und in die Verständigung

über dies Leben eingriff - in die des Glaubens und dieder Dichtung zumal. Im Jahr 1792 erschien Fichtes erstes Werk, eine Untersuchung über die Grundlagen einerauf Offenbarung zu begründenden Lehre, 1793 Schillers

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Abhandlung Über Anm ut und Würde, die kantianisierend,ebenso aber Kant-Kritik war; 1794 trat Fichte mit seinerWissenschaftslehre vor die Öffentlichkeit.

Aber obwohl die Zahl derer, die unter Kantischen Einfluß kamen und die seine Sprache zu führen begannen,weiterhin und sogar schnell zunahm, traten doch nur wenige in diese zweite Bewegung ein, die den KantischenImpuls noch weiter vorantreiben wollte. Die Mehrzahlmachte Front gegen die Umschreibungen der KantischenBegründungsweisen - bestärkt nunmehr auch durch dieLiteraturzeitungen, die sich zuvor in den Dienst des Kantischen Programms gestellt hatten, und unter ihnen auchdurch die  Jenaische Allgemeine.  Wenigstens darin stimmten die Kantianer nunmehr also überein mit ihren eigenen Gegnern, die schon früher die Ausbreitung vonKants Lehre mit kritischer Stimme begleitet hatten. Zudiesen Gegnern gehörte auch die Stimme der Tübingi- 

 schen Gelehrten Anzeigen,  deren bedeutende philosophische Rezensionen den noch jugendlichen Extraordinarius Johann Friedrich Flatt zum Verfasser hatten. Währendder Inhaber des Lehrstuhles (d er leibnizianische LogikerPloucquet) durch einen Schlaganfall an der Lehre gehindert, aber noch am Leben und somit ohne Nachfolgerwar, lag der gesamte Tübinger Unterricht der theoretischen Philosophie in Flatts Hand.

Um so mehr muß es erstaunen, daß die neue, die nach-kantische Bewegung einige ihrer wichtigsten Impulse ausdem Kreise derer erfahren hat, die in jenen Jahren ihreStudien im Tübinger Stift begonnen haben - mehr nochaber, daß dies im unmittelbaren Anschluß an ihre Tü binger Studienzeit oder gar noch aus ihrer Stube im Stiftselbst heraus geschah: Hölderlin hat im Frühjahr 1795,wenig mehr als ein Jahr nach dem theologischen Examen, an der Jenaer Universität, unter Fichtes Einflußund zugleich im Gegenzug gegen ihn, eine eigene philo

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sophische Position formuliert. Sie hat Hegel, zwei Jahrespäter und im in Frankfurt erneuerten Gespräch derFreunde, zu einer für seinen Weg entscheidenden Wen

de veranlaßt. Schelling, de r mit fünfzehn Jahren 1790 insStift eingetreten war, hat noch vor seinem Examen mitzwei Schriften in die nachkantische Entwicklung eingegriffen - als erster Autor überhaupt, der, wie er selbst anHegel schrieb, „den neuen Helden, Fichte, im Lande derWahrheit“ begrüßte.

Wir können dies nicht allein aus dem Zufall einer Häu

fung von Begabungen an einem Ort und in einem Hause erklären - noch auch aus dem allein, was der Orientalist Paulus bei der Reform des Stifts im Jahre 1794 rühmend hervorhob: die „höchst wirksame Gelegenheit“ einer Anstalt, deren „Zöglinge [...] sich durch ungezwungenen Umgang mit vielen Studierenden von gleichem Alter, ähnlichen Zwecken und höchstverschiedener Gei

stesbildung vielseitig“ ausbilden.135  Wir müssen vielmehr vermuten, daß die Konstellation der Problemlagen,in die sie der Gang ihrer Studien hineingeführt hat, jenen Zufall und diese Gelegenheit allererst zu ihrer Auswirkung gebracht haben. Wo immer die klassische deutsche Philosophie Aufmerksamkeit auf sich zieht, da wirdeben diese Wirkung auch dem Tübinger Stift eine Erin

nerung und ein von Verwundern und Bewunderungdurchzogenes Nachdenken sichern.

Schon oft ist versucht worden, den Bildungsgang derdrei Freunde nachzuzeichnen und ihn aus den Konstellationen zu begreifen, in denen er sich vollzogen hat. DieQuellen fließen nicht spärlich, und die Publikationen derZeit sind leicht zu erschließen. Aber die Komplexion der

Problemlagen, denen die Freunde ausgesetzt waren, istvon sehr hohem Grad. Und die Verwicklungen, welchediese Problemlagen miteinander eingingen, können dem

 Nachgeborenen nur mit Mühe zugänglich und verständ-

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lieh werden. Die Gespräche der gemeinsamen Studienzeit sind ihm fast gänzlich entzogen (nicht nur deshalb,weil ihr Gehalt den Ohren derer oftmals zu verbergen

war, die über den Gang der Studien zu wachen und zu berichten hatten). Vertrauliche Briefwechsel gehören daher zu unseren wichtigsten Dokumenten. Zwischen He-geL, Hölderlin und Schelling gingen aber Briefe erst dannhin und her, als sie alle voneinander getrennt waren undSchelling für zwei Jahre allein im Stift zurückgebliebenwar. Vieles bleibt also nur zu erschließen. Gleichwohlläßt sich ein Bild von dem Problemdruck zurückgewinnen, unter dem jene entscheidenden Jahre des Studiumsim Sdft standen, wenn man sich auf die Korrespondenzen anderer Stiftler stützt, die wenig früher das Stift verlassen hatten. Über Repetenten, die ihren Jahrgängen zugehörten und die nun im Stift tätig waren, sind sie mitdessen Leben verbunden geblieben. Stellt man die Erwägungen dieser Briefwechsel in den Zusammenhangder Problemlagen, die sich in der öffentlichen Debatteentfaltet hatten, so gewinnt, was zuletzt nur durch Rekonstruktionen verständlich gemacht werden kann, docheinen verläßlichen Anhalt.

Bisher sind nur wenige solcher Briefkonvolute ansLicht gekommen. Die wichtigsten von ihnen sind eineranderen Konstellation von drei Freunden zuzuordnen,die auch für sich allein ein gewisses Interesse verdienenwürden. Friedrich Immanuel Niethammer verließ 1790Tübingen mit einem Privatstipendium, um seine Zweifel,welche die Grundlagen des Glaubens berührten, mit Rein-holds Hilfe in Jena zu klären. Das Ergebnis dieser Bemühungen war eine Reihe von philosophischen Abhandlungen und philosophisch-theologischen Büchern in Kants Nachfolge. 1794 hat er sich bemüht, ein Extraordinariatin Tübingen zu erhalten, um ,im Vaterland1 KantischePhilosophie zu etablieren. 1798 wurde er (inzwischen Je-

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nenser Theologieprofessor) mit Fichte unter den Verdacht des Atheismus gezogen. Friedrich Gotdob Süßkindverbrachte 1790/91 ein Jahr an der Göttinger Univer

sität, um danach als Repetent ins Stift zurückzukehren.Er war, anders als Niethammer, zwar nicht in eine Glau benskrise, wohl aber in eine Krise seiner theologischenOrientierung geraten und dabei, seine Studien von Dogmatik und Exegese auf die Kirchengeschichte umzuorientieren. Von 1798 an war er dann aber doch der Inhaberdes Lehrstuhls für Dogmatik an der Tübinger Universität.

Der Dritte und der Briefpartner beider ist Carl ImmanuelDiez, Süßkinds bester Freund. 1790 bis 1792 war er einerder Repetenten und als solcher mitverantwortlich für die,Loci\ die Übungen über die Lehrstücke der Dogmatik,die alle Montage stattfanden und an denen Hegel undHölderlin teilzunehmen hatten. Diez war der Sohn einesder Medizinprofessoren, der zugleich Hausarzt vieler sei

ner philologischen und theologischen Kollegen war. Ausdem Repetentenamt faßte er den Entschluß zur Apostasie von der Theologie und wohl auch vom christlichenGlauben und ging selbst nach Jena, um Medizin zu studieren. Reinhold hat ihm dort aber alsbald einen wichtigen Einfluß auf die Veränderung seiner eigenen philoso

 phischen Konzeption bescheinigt. Diez’ Name wurde uns

zuerst im Zusammenhang mit einem Bericht über HegelsStudienzeit als der eines kantischen Radikalen, eines en-rage bekannt. Was es damit auf sich hat, mag hier schonaus einem Brief Süßkinds an Diez angezeigt sein, in demSüßkind vom Tode des orthodoxen Konsistorialrats Rie-ger Kenntnis nimmt: „Hätte der selige Mann noch erfahren, daß die Repetenten die reale und vielleicht auch die

logische Möglichkeit der Offenbarung bestreiten, - erwäre wahrhaftig noch früher gestorben .“136

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n.Storrs System und Probleme 

der Versöhnungslehre

 Niethammer, Süßkind und Diez hatten ebenso wie Hölderlin, Hegel und Schelling Gotdob Christian Storr zumtheologischen Lehrer, und Süßkind, der sein Nachfolgerwurde, war zudem mit ihm verwandt und während sei

nes Studiums in ständigem Umgang mit ihm. Will mandie theologisch-philosophischen Problemlagen der Stiftler zwischen 1789 und 1793 verstehen, so muß man vondem Werk dieses bedeutenden Neutestamenders undDogmadkers ausgehen. Selbst Kant erwähnte ihn als den»berühmte[n] Herr[n] D. Storr in Tübingen1. Im Jahr1789 hatte Storr seine theologische Konzeption zum erstenmal in ihrem ganzen Umfang bekannt gemacht, als ersie im zweiten Buch seines Werkes über den Brief an dieHebräer und unter dem Titel „Über den eigentlichenZweck des Todes Jesu “ vortrug. 1793 erschien dann seine Dogmatik, die später für viele Generationen württem- bergischer Pfarrer das verbindliche Lehrbuch gewesenist.137 Im gleichen Jahre veröffentlichte er einen Angriffauf Kants philosophische Religionslehre, die ihrerseitserst 1792 zu erscheinen begonnen hatte.138 Storrs Denken war von beherrschendem Einfluß auf alle Stiftlei; dieun ter ihm studierten - wie sich zeigen wird gerade auchdann, wenn sie alle Energien ihres Denkens gegen ihnaufzubieten versuchten.

,Berühmt1 war Storr wegen seines Scharfsinns, seinerumfassenden Gelehrsamkeit in der Exegese des neuenTestaments und wegen der systematischen Kraft, mit derer eine durchaus eigenständige Theologie ausgearbeitethatte. Mit ihr trat er den exegetischen Neuerungen der 

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ihm vorausgehenden Generation entgegen. Für diesewar charakteristisch gewesen, daß sie den eigentlichenGehalt der christlichen Lehre auf das zurückgenommen

hatte, was ,subjektive Religion4 zu werden, also in die persönliche sittliche Erfahrung und in das sittliche Lebender Gemeinde einzugehen vermag. Sie stützte diesenScheidungsakt zwischen wahren und obsoleten Lehrstücken in der Überlieferung der Kirche auf ihr fortgeschrittenes historisches Wissen. Dieses Wissen erlaubtes, in der Überlieferung all das, was sich aus der Anpassung von Christi und der Apostel Leben und Wirken anden Geist und die Umstände ihrer Zeit versteht, von demzu scheiden, was eigentliche und auf alle Zeit fortwirkende christliche Botschaft war und bleiben wird. DieserThese, daß sich nämlich die Begründer des Christentumsan eine versunkene Welt ,akkommodiert‘ haben, stelltStorr das protestantische Schriftprinzip in einer neuenForm und mit erneuerter Strenge entgegen: Insofern dieSchriften des Kanons götdichen Ursprungs sind, habensie auch göttliche Autorität; und so sind sie nur in ihremWortsinne, in dem aber zur Gänze, zu nehmen und anzunehmen. Die exegetisch-theologische Arbeit hat daraufzu gehen, zu prüfen und sicherzustellen, daß die Schriften authentisch und ohne Korruption überliefert sind.Aufgabe der Dogmatik ist es sodann, das Evangelium inseinem Zusammenhang zu erschließen. Und das meint,daß in durchgängigem Bezug auf die Schriftstellen desKanons die eine beseligende Lehre, welche die Bibel alsgöttliches Wort enthalten muß, zur Darstellung zu bringen ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist es dem Exegetenebenso versagt, die Inspiration des heiligen Geistes beiseiner Auslegung in Anspruch zu nehmen, wie es dem Systematiker versagt ist, den Sinn von Gottes Wort nur unter der Bedingung zu erschließen, daß sein Sinn auch invernünftiger Überlegung erreicht oder gar hergeleitet

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werden könnte. Darum kann die Beglaubigung der Wahrheit des Wortes auch nicht schon aus seinem Sinn alleingewonnen werden. Beglaubigt ist es vielmehr deshalb,

weil wir von ihm wissen, daß es götdiche »Belehrung4ist.Und dies wiederum wissen wir aus allem, was uns vonJesu Leben bekannt und was uns bekannt ist von denWundem, die seine Wirkung auf Erden begleiteten. DerSinn dieser Wunder ist die Bestätigung von Jesu Statusals eines göttlichen Gesandten und Heilsbringers unddamit zugleich die Bestätigung der Wahrheit seiner Religionslehre, die durch keine Vernunft zu gewinnen gewesen wäre. Am Schluß der Vorrede zu seiner Dogmatikmahnt Storr mit Worten Melanchthons seine TübingerStudenten, dessen eingedenk zu sein, daß sie die Pflanzschule Gottes ausmachen, weil aus ihrer Mitte der SohnGottes die Diener des Evangeliums nimmt, die nach seinem Willen in den Lehranstalten zu dieser Bestimmungvorbereitet werden. Und er schließt mit diesen Worten:„Lasset uns [...] diese so wichtige Bestimmung mit Tteueund Gewissenhaftigkeit gegen Gott, gegen die Kircheund gegen die Nachkommenschaft erfüllen, lasset unsdie Wahrheit erforschen, werthschätzen, behaupten undauf unsere Nachkommen unverfälscht fortpflanzen.“139

In diese eine Mahnung ist Storrs ganze Lehre ebensoeingegangen, wie Ziel und Art seiner Wirkung in ihr klarzum Ausdruck kommen. Keiner derer, die sich gegen beide auflehnten, hat diesem Mann, den sie als gleichermaßen fromm, milde im Umgang und kraftvoll im Denken kannten, die Achtung versagt. Niethammer, derStorrs Dogmatik für unbegründbar erklärte, bekanntedoch im Jahr 1796 öffendich in seinem hochangesehenen  Philosophischen Journal, daß er „während fünf Jahren[Storrs] Predigten, welche meist dogmatischen Inhaltssind, nie ohne Erbauung gehört“ habe.140 Für die aber,die ihm anhingen, war er noch in vielen späteren Jahren

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immer nur ,unser Storr4. Als er 1797, als Hofpredigernach Stuttgart berufen, Tübingen verlassen hatte, daschien Flatt seine Universität wie verödet.

Wer die Stärke des Gegners nicht kennt, vermag nichtabzuschätzen, was denen an eigener Kraft, sowohl desEntschlusses als auch der selbständigen Begründung abverlangt war, die sich ihm nicht nur entziehen, sondernihm eine eigene und überlegene Konzeption entgegenstellen wollten. Die Gründe jedoch, die Diez, Niethammer,Hegel und Schelling gerade dazu bewogen, sind nicht

schwer auszumachen. Storrs Lehre ,pflanzte4, wie Hegel am24. Dezember 1794 an Schelling schrieb, ,das alte Systemso getreulich fort wie sonst nirgends4. Von den Tendenzen des Zeitalters war es zwar berührt, und zwar sowohlin seinen exegetischen Mitteln wie in seiner Argumentationsart, die Wortsinn nüchtern aus Texten erschließenund in ausweisbaren Schritten Stück um Stück zusam

menfügen will. Aber der Gehalt von Storrs Dogmatiksollte ihm alles bewahren, was der Mehrheit seiner Zeitgenossen gänzlich unannehmbar geworden war. Ebendarum waren ja die neologischen Theologien hervorgetreten und zur Vorherrschaft gekommen, deren EinflußStorr nun beheben wollte, wie er ihn übrigens auch wirklich für Jahrzehnte in Württembergs Kirche inhibiert hat.

Was als unannehmbar erschien, war nun alles, dessentwegen Storrs Lehre als ,Supematuralismus4 bezeichnetwurde. Und wer nicht alles dies ebenso annahm, wohlaber christlicher Theologe blieb, war damit von StorrsGesichtspunkt aus als ,Heterodoxer4kenndich gemacht.Schon dem Wortsinn nach steht dem Supematuralismusaber eigentlich ein Naturalismus entgegen. ,Naturalist4

im theologischen Sinne ist nun der, der alle Wahrheitender eigentlich christlichen Lehre mit nur eben den Wahrheiten zusammenfallen sieht, welche die Vernunft, zumindest im Prinzip, auch ohne Anleitung durch eine Of

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fenbarung einzusehen vermöchte. Der Storr eigene Su- pematuralismus ist aber durch mehr als dadurch charakterisiert, daß er solche naturalistische Lehre zur Gänze

verwirft. Storr beharrt auch mit Nachdruck auf solchenLehren, die denen, die zur ,Heterodoxie‘ neigen, mit derVernunft in einer Art von Widerstreit zu sein schienen,der sich weder schlichten noch aushalten läßt. Diese Lehren widerstreiten dem, worauf die Vernunft beharrenmuß als auf einem für sie unabweisbar maßgeblichenPrinzip. Je nach dem, welches Lehrstück es ist, von demman einsieht, daß es in einem solchen Widerstreite steht,ergibt sich dann eine je andere Form von Heterodoxie.

Man kann leicht absehen, welche Glaubensartikel(,Symbole1) der chrisdichen Lehre vorzüglich in solcheHeterodoxien treiben können, da sie schon von alters herAnlaß zur Häresie gewesen sind: die Lehre der Trinität

und mit ihr d ie von der Göttlichkeit Jesu, die Lehre vonder Erbsünde und die der stellvertretenden Genugtuungim Tode Jesu für die Verfehlungen der Menschen vor derGerechtigkeit Gottes. Heterodoxie kann sich aber auchan die Lehre von der Gegenwart des Sohnes im Abendmahl und an die Annahme der Wunder als Gründe derBewahrheitung von Jesu Lehre anschließen. Und damit

steht im Zusammenhang Storrs These von der Autoritätdes gesamten Bibeltextes in eben dem Umfang, in demer unkomimpiert überliefert ist. Andere Heterodoxekonnten meinen, daß mit dieser These ohne Grund zuweit gegangen sei, da es doch möglich ist, an die Göttlichkeit der Lehre Jesu zu glauben, ohne darum auchschon behaupten zu müssen, daß auch die Texte derEvangelisten und Apostel aus Christi Lehre und GottesGeist zu durchgängiger buchstäblicher Wahrheit inspiriert oder in solcher Wahrheit durch die Aufgabe derApostel, Gottes und des Gottessohnes Boten zu sein, bestätigt sind.

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In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren allediese Heterodoxien längst schon weithin verbreitet. Storrverwarf sie allesamt. Da er aber jedes Bibelverstehen, das

selbst auf die Quelle der Verständigung aus dem Geistesich begründete, ebensosehr ablehnte, da er vielmehr aufder Darlegung des Schriftsinnes in nüchterner Klarheit

 bestand, nahmen seine Begründungen in den Artikelnder Dogmatik oftmals eine Form an, die befremdendwirkte. Klarheit und Schärfe des Diskurses auf der einenSeite und der Gehalt der göttlichen Wahrheit, der mit seiner Hilfe verdeutlicht werden wollte, auf der anderen, erschienen als schwer vereinbar miteinander.

Einige der Symbole des Glaubens mußten, zumal inStorrs Behandlungsart, besonderen Anstoß erregen, so

 bald der Vernunft einmal die Kompetenz zugesprochenwar, auch die Urteile über gut und böse und somit überdas, was sittlich möglich ist, nach von ihr selbst ausge

 bildeten Kriterien zu bestimmen. Und so versteht manalso, in welchem Sinne der Eindruck, den Kants Moral

 philosophie allgemein machte, die Annehmbarkeit einiger Symbole beeinträchtigen mußte, die für die christliche wie für die Störrische Lehre doch gleichermaßenzentral sind. Die stellvertretende Genugtuung durch denKreuzestod (das Symbol der ,satisfactio vicaria‘) ist dafürein herausragendes Beispiel. Im Jahr 1794 hat Carl Friedrich Stäudlin, selbst Stifder und Storrschüler, nun aberGöttinger Professor, die Schwierigkeit in prägnanten Sätzen zusammengefaßt und gegen Storr vorgebracht:

„Wenn man die Lehre der Schrift, daß Jesus die göttlichen Strafen der Sünden des Menschengeschlechts getragen habe, wörtlich nimmt, so entstehen unauflösliche

Schwierigkeiten, welche tief in das moralische Bewußt-seyn eingreifen und die heiligsten praktischen Grundsätze erschüttern.“141

„Ein göttlicher Richter kann die lügend nur an ihrem

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Urheber belohnen, das Laster nur an seinem Urheber bestrafen. [...] Moralische Schulden können nicht wie Geldschulden übergetragen werden.“142

„Es kann nichts helfen, wenn man sich entweder aufeinen unerforschlichen Rathschluß Gottes oder darauf beruft, daß die Lehre von einer eigentlichen stellvertretenden Genugtuung doch nur wahrhaft gebessertenMenschen Vergebung der Sünden [...] verheiße.“143

Im einen Falle können ,Rathschlüsse\ welche den ausgemachtesten Grundsätzen widersprechen, gar nicht für

götdiche ,Rathschlüsse‘ gehalten werden. Im zweiten Falle wird zwar der Mißbrauch der Lehre, der darin besteht,daß man die eigene Besserung meint vernachlässigen zudürfen, von der stellvertretenden Genugtuung verhütet.Aber der Anstoß, den die Lehre selbst gibt, wird nicht beseitigt, sondern nur unter dem unhaltbaren Doppelsinnverborgen, demzufolge unsere Begnadigung in fremdemund eigenem Verdienste zugleich liegen soll.

Stäudlin hat an diese Einsicht eine ziemlich gewundene Theorie über den Zweck und die Wirkungen des Todes Jesu angeschlossen. Gegenüber der Lehre Storrs istsie Heterodoxie, obwohl sie weder an der GöttlichkeitJesu noch an der Wirklichkeit von Wundem und Offen barungen zweifeln läßt. Storr aber hat seine eigene Verständigung über den „eigentlichen Zweck des Todes Jesu“ (1789) in der Abhandlung mit diesem Titel und dannwieder in der  Dogmatik   (1793) vorgetragen. Und manmuß von ihr sagen, daß sie sich weit mehr zur wirklichenErbauung in Storrs Predigten eignet, über die Niethammer berichtet hat: Jesus hat sich durch Gehorsam bis inden Tod von Gott die Erlaubnis und Belohnung verdient,die von ihm so sehr geliebten Menschen trotz ihrerSchuld über alles ihnen erdenkliche Maß hinaus zu beseligen. So bewegend nun auch dieser christologischeGedanke ist, so setzt er doch voraus, daß es Gottes Ge-

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rechtigkeit war, die ihn solchen Todesgehorsam von seinem Sohne verlangen ließ, womit wieder vorausgesetztist, daß er stellvertretend für die Schuld der Menschen

gelitten hat. Und eben diese Lehre erschüttert auch nachMeinung der Jüngeren im Stift, so wie Stäudlin es sagte,die ,heiligsten praktischen Grundsätze4 des moralischenBewußtseins.144

Storr sah jedoch deutlich, daß die Preisgabe dieserLehre von der stellvertretenden G enugtuung sein ganzesSystem untergraben würde. Sie führt, um nur einiges zu

nennen, unmittelbar zu einer Akkommodationstheorie.Der Schriftsinn ist dann nämlich nicht mehr in seinemklaren Wortlaut festzuhalten. Zudem beruht der Grundzur Preisgabe auf einem Naturalismus wenigstens der

 praktischen Vernunft: Ihre Kriterien werden als höchsteBedingungen der Glaubwürdigkeit einer Offenbarungins erste Recht eingesetzt. Der jüngere Bruder von Flatt

hatte in Göttingen studiert und dort, unter Stäudlins Einfluß, philosophisch-exegetische Untersuchungen über die 

 Lehre von der Versöhnung der Menschen mit  Gort publiziert,deren Ergebnisse nicht mit Storr und eher mit Stäudlinübereinstimmten.145 Es wird berichtet, daß Storr diesem

 jüngeren Carl Christian Flatt, als auch er (1804) nach Tü bingen berufen werden sollte, es zur Bedingung machte,

die Grundgedanken dieser Schrift zurückzunehmen.Flatt junior, inzwischen längst wieder zum Storrianer geworden, soll dann wirklich sogar möglichst viele Exem plare seines Buches wieder zurückgekauft und vernichtet haben.146 Am ausgezeichneten Beispiel der Versöhnungslehre ist also zu sehen, daß die Entschiedenheitvon Storrs Orthodoxie in der Verbindung mit der Kon

sequenz und dem systematischen Geist im Aufbau seinerLehre es waren, die einen ebenso entschiedenen wie systematischen Widerspruch herausfordem mußten. Modifikationen bei der Verständigung über einzelne Glau

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 bensartikel liefen Gefahr, nur zurückzufallen hinter das,was Storr in einem durchdachten Zusammenhang geltend gemacht hatte - eindrucksvoll im Rang der System

form und auch nach seiner Motivation. Und dennoch warganz offenbar, daß sein Geist mit allen Einsichten derZeit und zumal ihrer Philosophie im Widerstreit war.Leicht konnte es daher einleuchtend werden, daß derStorrschen Konsequenz am Ende wohl nur mit einemkonsequenten Naturalismus zu begegnen sein würde.

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III.Kantische Kritik  

und theologischer Naturalismus

Theologischer Naturalismus ist jede Religionslehre, welche das Recht des Glaubens auf die Annahme nur dessen zurückführt, was auch der Vernunft als solcher einsichtig werden kann. So sind es also Vernunftbegriffe

oder Theorien der Vernunft, von denen her sich jede besondere Form eines theologischen Naturalismus auszu

 bilden hat. Und damit wird einsichtig, wieso sich die vonStorr geprägte Problemlage in der Theologie mit derdurch Kant bestimmten Problemlage nun auch in dertheoretischen Philosophie verschlingen mußte.

Kants kritische Philosophie entfaltete nämlich einen

neuen Vemunftbegriff, der Voraussetzung ist für denFreiheitsbegriff seiner Moralphilosophie: Die Vernunftgeneriert Regeln, welche einerseits die Erkenntnis vonGegenständen in der Erfahrung und welche andererseitsden Entwurf von Gedanken eines Unbedingten ermöglichen. Auch der sitdich-gute Wille beruht auf einem solchen Entwurf - auf der Idee einer maximalen Überein

stimmung der Freiheit mit sich selbst in allen möglichenHandlungen. Daß Freiheit kraft der ihr innewohnendenIdealität uns wirklich unter unbedingte Forderungenstellt, dafür steht zunächst unser sittliches Bewußtsein.Daß Freiheit, Idee und Imperativ aber auch nicht als

 bloße Fiktionen unter Verdacht zu bringen sind, dafürsteht, daß unsere theoretische Erkenntnis den Bereich, in

dem Freiheit einen Ort hat, nicht aufzuschließen vermag.Wissen haben wir nur von dem, wovon sich auch Erfahrungen machen lassen. Vernunft selbst aber reicht weiterals Erkenntnis des Gegenstandes. Sie ist es, welche die

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Grenzen möglicher Gegenständlichkeit erkennt und bestimmt. Damit aber rechtfertigt sie zugleich auch diePrinzipien des sittlichen Bewußtseins, die gar nicht aus

einer Wissenschaft von dem, was ist, sondern allein ausdem Selbstbew ußtsein einer praktischen Vernunft zu gewinnen sind. In der Philosophie ist, wie Kant mit Rousseau sagt, alles am Ende der Freiheit zu subordinieren.

Diese Lehre war von einem Denker vorgetragen, vondem bald alle einsahen, daß er zu den größten zu zählen

sei, welche die Welt je gesehen hatte. Schon darum konnte niemand selbst Lehrer d er Philosophie sein, ohne sichzu ihr in ein Verhältnis zu bringen. Zudem aber hatte dieLehre einen Gehalt, der die Jüngeren, die sich von denTendenzen ihres Zeitalters bewegt und getragen wußten,unwiderstehlich anzog und, wie viele Altere es sahen, ohne zureichende Prüfung in ihren Bann schlug. Was aber

den Tübinger Storr und dessen Lehre betraf, welcherGegensatz konnte sowohl größer als auch eindeutigersein als der zwischen Storrs Beharren auf der götdichenAutorität des Wortes allein und Kants Prinzip, dem Prinzip der Autonomie der Vernunft?

Johann Friedrich Flatt war Tübingens einziger Philosoph von Belang; in der Theologie aber war er Storrs er

gebener Schüler.147 Früh hatte er sich in Deutschland einen Namen gemacht, durch zahlreiche Abhandlungen,Bücher und Rezensionen, in denen er zumeist KantischeLehren untersuchte - immer mit dem Resultat, daß sienicht hinreichend begründet seien. Aber diese Arbeitenwiesen auch ein ausgebreitetes Studium der KantischenWerke aus. Und Flatts Scharfsinn wie auch seine Kennt

nisse trugen ihm Respekt ein bei Kantianern und Hochschätzung bei denen, die ihrerseits Kantische Schlußfolgerungen abzuweisen versuchten, so etwa bei dem Göttinger Feder, der es verstand, Göttingens Philosophie vonKantischem Einfluß weitgehend freizuhalten. In Tübin-

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gen trug Flatt Vorlesungen vor, die Kants Theorien weiter entgegenkamen als etwa die Rezensionen, die er mitschneller und spitzer Feder für die Tübingischen Gelehr

ten Anzeigen schrieb. Aber auch in ihnen machte er gegenKant geltend, die Möglichkeit einer Erkenntnis auch vonDingen an sich und somit auch einer Erkenntnis vonGottes Wesen und Dasein sei von ihm mit unzureichenden Gründen ausgeschlossen worden. Eigentlich ging esFlatt aber darum, den weiteren Nachweis zu führen, daßein Minimum geretteter natürlicher Theologie der An

schlußpunkt für eine Storrs Geist verpflichtete Offenbarungslehre würde sein können und müssen.

Auch Kants eigene Lehre lief offenbar nicht auf jenen philosophischen Naturalismus hinaus, für den alles, wovon wir überhaupt mit Sinn etwas sagen und wissen können, dem Bereich der natürlichen Dinge zugehört. Kant

 bestritt nur die Möglichkeit einer wissenschafdichen Er

kenntnis von Objekten, die nicht jener N atur zugehören,in die wir durch unsere Erfahrungen gebunden sind.Aber auch Ideen sind Vemunftbegriffe. Und von derRealität zumindest einer Idee, der Freiheitsidee nämlich,haben wir eine im praktischen Selbstbewußtsein gegründete Kenntnis. Auch Religion ist auf solche praktische Gewißheit zu begründen. Doch gehen die Glau

 bensartikel dieser Religion über die der vernünftigenGotteslehre des Deismus nicht hinaus: Der gute Wille im

 pliziert über den Gedanken von seiner Wirksamkeit inder Welt, von dem er nicht lassen kann, das Dasein desetre supreme  und der Unsterblichkeit der freien Wesen.Während der ersten Jahre der Studien Hegels und Hölderlins waren von Kant noch keine Schriften erschienen,

welche das Verhältnis der kritischen Philosophie zumChristentum und zur christlichen Theologie unmittelbar

 berühren.Wohl aber waren Bücher anderer Autoren publiziert,

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die zeigen wollten, daß Kantische praktische Religionund der eigendiche Gehalt der von akkommodierterDogmatik freigemachten Christenlehre identisch seien.

Wenig später war auch schon das Programm formuliert,demzufolge die Methode der kritischen Philosophie aufdie Dogmatik als solche anzuwenden sei. Im Jahr 1791veröffendichte Stäudlin seine  Ideen zur Kritik des Systems der christlichen Religion.148 Im Jahr 1795 hat sich ihm

 Niethammer mit seiner  Religion als Wissenschaft   angeschlossen.149 Die Kantische Begründungsform hatte indie theologische Wissenschaft selbst Eingang gefunden.Storr und seine Schule konnten demgegenüber nichtgleichgültig bleiben.

Schon früher aber gingen Klagen und Gerüchte um,die dahin gingen, daß sich im Stift der Naturalismus aus-

 breite. Ephorus Schnurrer bestritt ihren Wahrheitsgehalt,obwohl er noch mehr wissen mußte als Storr, dem alsMitglied des ,Inspektorats‘ die Oberaufsicht über dietheologischen Studien auch im Stift selber oblag und derdem Unterricht im Locus oft beiwohnte. Schnurrer selbstwar alles andere als ein Naturalist, wohl aber seiner sicher in der Meinung, daß jugendliche Überzeugungeninstabil seien, so daß auf solide Ausbildung und gutenWillen vorerst allein Wert zu legen sei. Welche Konsequenzen aber wirklich dann gezogen werden konnten,wenn ein Versuch gewagt wurde, die Kantische Systematik der Störrischen frontal entgegenzustellen, das trittdeudich heraus aus den Briefen und Schriften des ,enra-gierten‘ Repetenten Diez. Kaum jemals wieder hat eineraus Kants Lehre in seinem Denken und für sein Lebenso weitgehende Folgerungen gezogen wie er. Und wenner auch bei seinen Altersgenossen fast nur auf Widerstand stieß, so hat er doch das Muster einer Storrs Theologie in allen Punkten radikal entgegengesetzten Position ausgebUdet. Wenige Jahre später wurde dasselbe Mu-

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ster, mit ganz anderer Ausrichtung und aus einer weitgrößeren philosophischen Begabung heraus, von Schelling ausgefiillt.

Das Arsenal für seinen Generalangriff waren für Diezdie grundlegenden Argumentationsweisen der Kritik derreinen Vernunft. Und er applizierte sie ziemlich unvermittelt auf die theologischen Problemlagen. Sehen wir zuwie:

(1) Storr spricht einer Offenbarung, deren Gehaltedurch Vernunft nicht einzuholen sind, eine Autorität zu,

und von ihr muß unser christlicher Glaube seinen Ausgang nehmen. Kant aber zeigt, daß alles Wissen an dieBedingungen möglicher Erfahrung gebunden ist, undweiter, daß zu diesen Bedingungen die Möglichkeit einerHerleitung jedes Ereignisses aus anderen Erfahrungsdaten gehört. Solche Herleitung ist aber durch den Begriffder Offenbarung selbst gerade ausgeschlossen. Da wirvon Gottes Handlungen keine Erfahrungen haben können, ist alle Offenbarung als solche nicht herleitbar.Wenn also auch rein nur nach dem Gottesbegriff eine Manifestation Gottes in seiner Welt gedacht werden kann, soist es doch unmöglich, ihr einen Platz im Bereich desseneinzuräumen, wovon der Mensch aus seinem Standortheraus irgend etwas wissen kann. Storrs Bemühung umden Nachweis der ,Authentie‘ der biblischen Quellenhatte aber die einzige Absicht, den götdichen Ursprungvon Jesu Lehre unter Beweis zu stellen. Einen solchenBeweis zu führen ist aber grundsätzlich ganz ausgeschlossen. Offenbarung für Menschen ist also unmöglich.

(2) Aus denselben Gründen folgt weiter, daß die Texte des Evangeliums, die doch von Menschen geschrieben

wurden, in Wahrheit von Gott inspirierte Texte gar nichthaben sein können. Da sie aber wirklich von übernatürlichen Einsichten und Wahrheiten handeln, müssen sievon solchen Personen geschrieben worden sein, die von

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 jenen Illusionen unseres Denkens beherrscht waren, deren Gründe Kant in seiner Kritik der metaphysischenTheoriebildungen aufgedeckt hatte. Da die Vernunft sich

in Widersprüche verwickelt, wenn sie die Grenzen möglicher Erfahrung überschreitet, ist zu erwarten, daß sichsolche Widersprüche auch in den Texten des Evangeliums auswirken werden. Diez leitete daraus die Vermutung ab, daß die Belegstellen von Storrs Theologie in deren eigenem Rahmen keine konsistente Auslegung zulassen. In seinen Loci machte er also jeweils den Versuch,unter der Voraussetzung von Storrs Schriftprinzip hinsichtlich des Wortsinnes von Bibelstellen widersprüchliche Folgerungen herzuleiten. Er ging auch mit dem Planum, eine Sammlung von exegetischen Abhandlungen zu

 publizieren, die in dieser Beweisart miteinander Übereinkommen sollten.

(3) Läßt die Bibelkritik Storrs tatsächlich die Folgerung zu, daß Jesus selbst so gelehrt und seinen Lebensweg so verstanden hat, wie die Evangelisten und Aposteles berichten, so muß er ein ,Fantast4gewesen sein, demdie Apostel als ,Abergläubige4 gefolgt sind. Konnten siedoch nichts von dem wirklich wissen, was sie uns überliefern wollten.

(4) Wenn Storr zeigen kann, daß der Geist der Sittenlehre Jesu darauf begründet ist, daß sich der Menschauch in seinem Handeln an offenbarten Wahrheiten undsomit an deren Autorität orientieren soll, so folgt daraus,daß Kantische und christliche Sittenlehre miteinanderunvereinbar sind - der Meinung vieler entgegen, die beide ineinander aufgehen lassen wollten.

 Nun wußte Diez freilich wohl, daß Kant selbst behauptete, der vernünftige und gute Wille führe auf einenGlauben an Gott. Daraus könnten Theologen folgern,Gott müsse mit dem Prädikat der Allmacht gedacht werden, und aus ihm folge, daß er auch Mittel für eine Of

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fenbarung müsse finden können, die als solche zu erkennen sei. Allen Folgerungen dieser Art und anderen,die ihnen vergleichbar sind, trat Diez mit der These ent

gegen, praktische Gewißheit könne niemals in theoretische Lehre überführt werden. Was und wie lange wir umder inneren Konsequenz der sittlichen Praxis willen etwas voraussetzen, das auch zum Gehalt der kirchlichenDogmatik gehört, hängt allein von den Umständen ab,unter denen sich unser Handeln ausbildet und bewährt.Dogmatische Begründungen lassen sich darauf niemals

aufbauen.150Diese Position war nun auch in der philosophischen

Theorie wirklich nichts anderes als der reinste Naturalismus. Nur war er mit einem Praktizismus in der Ethik ver

 bunden, und zwar so, daß Rückschlüsse aus der Ethik inder Theorie, welche den Naturalismus eingegrenzt hätten, ausgeschlossen waren. Diez wußte, daß andere Kantianer zu diesen Folgerungen nicht gelangt waren. Er sahauch, daß Reinhold über allerlei theologische Positionenraisonnierte, die von Kant her würden bezogen werdenkönnen. Im übrigen war sein eigenes Kantstudium nochunvollkommen. Es mußte nun aber zugleich noch mitRücksicht auf die in der Kantischen Schule selbst aufkommenden Kontroversen vertieft werden. So begannDiez schon 1790 mit einer Abhandlung über ReinholdsElementarphilosophie.151 Sie ist nicht überliefert. Dochmüssen Gedanken, die sich an sie anschlossen, den Gesprächen zugrunde gelegen haben, in denen Diez 1792in Jena auf Reinhold selbst einen Einfluß hatte.152 ImFrühjahr 1791 kündigte er Süßkind dann den Plan zu einer „Theorie der ersten Gründe aller Philosophie“ an.153Er bezeichnete sich selbst als ,verwegen4 ob eines so weitreichenden Ausgriffs. Auch von dieser Arbeit ist nichtserhalten. Aber wir können uns klarmachen, um welcherZiele willen er meinte, eine solche Theorie entwerfen zu

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müssen: Sie hätte zu zeigen gehabt, daß die von Kantfreigelegten Fundamente der Erkenntnis keine Aufbauten von der Art zulassen, wie Reinhold selbst sie ins Au

ge zu fassen schien. Verläßlich ist uns überliefert, daßDiez in einem Kreis, dem auch Schelling zugehörte,,häufig4 über kantische Themen im Gespräch war.154 Schelling aber legte seinerseits zu seinem Magisterexamen1792 als das erste seiner specimina eine Abhandlung vor,die den Titel hatte: Über die M öglichkeit einer Philosophie ohne Beinamen nebst einigen Bemerkungen über die Rein- holdische Elementarphilosophie. Sein zweites specimen betraf die Frage der Verhältnisbestimmung der Kritik dertheoretischen und praktischen Vernunft. Auch diese Texte sind nicht überliefert. Doch muß ihre Beziehung aufDiez’ philosophisch-theologische Problemlagen unterstellt werden. So war bereits im Jahre 1792 der Grunddafür gelegt, daß aus dem Stift neuartige Versuche zurVerhältnisbestimmung von Kantischer Philosophie zuReligion und christlicher Theologie hervorgehen konnten.

Das Herzogliche Stift sollte die künftigen Pfarrer desLandes auf ihren Dienst vorbereiten. Wer aber eine Pfarre erhielt, hatte sich zuvor durch seine Unterschrift aufdie symbolischen Bücher der Kirche zu verpflichten. ImUnterschied zu anderen Landeskirchen schloß die Stuttgarter Verpflichtung nicht nur die Augsburger Confes-sion, sondern auch die Concordienformel ein. In ihr sindaber alle die Symbole bis ins einzelne festgelegt, die zurechtfertigen auch Storrs Theologie unternommen hatte.Storr hat in seiner Dogmatik nicht nur die Berechtigungzur Forderung dieser Unterschrift begründet. Er hatihren Sinn auch dahin festgelegt, daß nur solche Lehrereiner Gemeinde sein könnten, die sich für sich selbst andie Lehre Christi halten und die dazu fähig sind, dieseLehre vorzutragen und zu verteidigen.155 Damit war die

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Möglichkeit ausgeschlossen, der Unterschrift nur denSinn zu geben, ein Pfarrer werde nicht gegen die Sym

 bole lehren, so daß er also schwierige Punkte mit Still

schweigen würde übergehen können.Diez verfaßte nicht nur eine Schrift gegen die Recht

mäßigkeit der Forderung einer solchen Unterschrift. Eragitierte auch mit ihr - nicht nur im Stift, sondern auchin Korrespondenzen, die weit über die Grenzen Württembergs hinausgriffen. Für sein und vieler Stiftler skru

 pulöses Gewissen war die Forderung der Unterschrift

das Haupthindernis auf dem ihnen bestimmten Berufsweg. Storr hatte seinen Studenten selbst ins Gewissengesprochen: Niemand sei auch nur ein Protestant, dernicht die ,Auctorität‘ der heiligen Schrift als einzige undzuverlässige Richtschnur seiner Urteile über Lehren undLehrer annehme156:

„Den betrügerischen Namen eines chrisdichen und protestantischen Lehrers zur Untergrabung des Ansehens Christi und der heiligen Schrift mißbrauchen, undfür die feindselige Mühe, die einer auf die Erschütterungder Grundsäulen des Christentums und des Protestantismus wendet, einen Sold, welcher nur für die Erhaltungund Vertheidigung des Christenthums bestimmt ist, [...]unter der Maske eines christlichen Lehrers zu erschleichen - dies kann sich kein rechtschaffener und gewissenhafter Mann erlauben.“

Diez hat diese Mahnung, die wiederum ganz aus demGeiste von Storrs Theologie gefaßt ist, in der einzigenWeise beherzigt, die ihm noch offenstand, nachdem ersich von der Haldosigkeit eben der Theologie überzeugthatte, die ihrerseits glaubwürdig machen konnte, die

wirkliche Lehre der christlichen Kirche seines Vaterlandes zu sein. Ich zitiere aus einem Brief an Niethammervom Dezember 1791 einen erschreckend-eindrucksvollen Passus. In ihm kommt Diez’ Theologiekritik in ihrer 

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Konsequenz ebenso deutlich zum Ausdruck wie StorrsTheologie in der Mahnung an seine Schüler, die künftigen Pastoren:

„Freund! eine Nachricht, die Ihnen ebenso unerwartetsein wird als ich sie Ihnen mit Freuden gebe! Ich, Magister Immanuel Carl Diez, Repetent an dem herzoglichenStifte allhier, bin [...] entschlossen, die hochheilige Theologie, unempfindlich gegen die Reize, welche die Metzedurch eine falsche Schminke sich aufgetragen hat, undunempfindlich gegen den Hurenlohn, den sie mir mit einer Gewißheit, die sie sonst nirgends hat [...], verspricht,zu verlassen und auf nächste Ostern Jena [...] zu beziehen, um allda einer neuen Göttin, der Medizin zu huldigen und ihrem Dienste mich zu weihen.“

So hat der Arztsohn die Konsequenz gezogen, in dieihn seine Gewissensnot und sein kantischer Praktizismus

gleichermaßen gewiesen hatten. Diez starb im Jahr 1796in Wien an Typhus. Und Schelling schrieb an denselben Niethammer: „Ja gewiß war er ein trefflicher, bidrerMann! Wissen Sie wohl, daß er ein Opfer seines Fleißesin den Hospitälern geworden ist?“

Die Kirche wählt ihre Lehrer, so sagte Storr, damit siedie wahre chrisdiche Lehre nicht nur vortragen, sondern

auch verteidigen. Er selbst aber war der Lehrer aller dieser Lehrer. Die Verteidigung war somit seine erste Aufgabe, als deutlich wurde, in welchem Ausmaße Folgerungen aus Kantischen Begründungen die Autorität seines Christentums in Frage stellten und untergruben. Aussolchem Grunde schrieb Storr 1793 eine akademischeStreitschrift, die zuerst für den Gebrauch in der Tübinger Universität selbst bestimmt war - unter dem Titel„Bemerkungen über Kants philosophische Religionslehre“.157 Im Jahr darauf wurde sie von Süßkind, der inzwischen zu Storr zurückgekommen und Repetent im Stiftgeworden war, ins Deutsche übersetzt und mit eigenen

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Bemerkungen zum „Überzeugungsgrund von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Offenbarung“ herausgegeben. Diese Bemerkungen waren in Beziehung auf Fich

tes erste Publikation abgefaßt worden, in Wirklichkeitaber aus dem Überzeugungskampf mit Diez, dem Freunde,hervorgegangen. Beide Schriften leiteten eine zweitePhase der Kantrezeption in der Tübinger Theologie ein.Gegenüber der ersten zeigt sie ein gänzlich verändertesProfil.

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Kantische Religionslehre und 

Verteidigung der Orthodoxie

Dieser Profilwandel war von einer Verwandlung der Situation in der Kantischen L iteratur selbst ermöglicht undnahegelegt. Fichte hatte im Jahr 1792 seinen Versuch einer Kritik aller Offenbarung  herausgegeben, der zunächst

anonym erschien und der für ein Werk Kants gehaltenwurde. Fichtes Buch sollte die Grenzen dessen bestimmen, was als Offenbarung würde angenommen werdenkönnen. Er zog sie insofern als Naturalist, als er all demdie Anerkennung als Gehalt einer möglichen Offenbarung entzog, was nicht auch gemäß Kants Analyse als Postulat für die Menschenvemunft als solche zugänglich ist.

Aber er schloß nicht aus, daß gewisse Menschen undZeitalter im Zustand gänzlicher Willensverderbnis einersolchen Offenbarung bedürfen. Und dabei mußte er nunwohl unterstellen, daß Gott eine solche Offenbarungwirklich ergehen lassen kann, daß sich also der Menschdessen zu vergewissern vermag, eine für götdich ausgegebene Lehre sei auch wirklich eine Offenbarung. So endete Fichtes Werk weitab von Diez’ These, und doch hatte es für ein Werk Kants genommen werden können.

Kant selbst begann 1792 mit der Publikation einer philosophischen Religionslehre in Aufsätzen. Im Früh jahr 1793 lag sie als Buch vor (in Jena und somit außerhalb des preußischen Zensurbereiches gedruckt). Sie istvon ganz anderer Anlage und Zweckbestimmung als

Fichtes Offenbarungskritik. Kant will zeigen, in welcherWeise eine philosophische Theorie, die auf dem Grundder  K ritik der praktischen Vernunft  entwickelt wurde, dieReligionsurkunden des Christentums zu interpretieren

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vermag. Er betont von vornherein, daß diese Interpretation keine Ansprüche gegenüber der eigentlich biblischen Theologie erheben werde. Und er hält vorsichtig

Abstand zu allen Aussagen über eine in der Bibel mitgeteilte göttliche Offenbarung. So impliziert sein Werk auchweniger als Fichtes Offenbarungskritik in Hinsicht aufdie Erkennbarkeit von göttlichen Mitteilungen oder Manifestationen. Dafür entwickelt Kant nun aber wirklicheine eigene Rechtfertigungslehre. Sie ist freilich nur dasErgebnis vielfach abgesicherter moralischer Auslegungs

kunst: Jesus ist die personifizierte Idee reinster Gesinnung. Und insofern wir eine solche Gesinnung annehmen, insofern wir Jesus also in uns selbst aufgenommenhaben, kann sein Tod verstanden  werden als die Abtragung der Sündenschuld, die wir aus unserem früherenLeben ansonsten weiter zu tragen hätten. Zugleich ist Je su Tod die Versicherung der göttlichen Gnade, diese

Schuld dem neuen Menschen, zu dem wir gewordensind, nicht mehr zurechnen zu wollen. In Stäudlins Auslegung der satisfactio vicaria sind Kants knappe und verschachtelte Bemerkungen zu einer eigenen Rechtfertigungstheologie ausgearbeitet, die nunmehr selbst auch

 biblische Theologie sein will.158Hat man die theologische Problemlage in Tübingen im

Auge, so wie sie vor dem Erscheinen dieser beiden Werke bestand, so kann man leicht verstehen, daß beideStorr nicht unwillkommen sein konnten. Fichtes Theorieist zwar Naturalismus und somit unvereinbar mit StorrsLehrbegriff. Aber mit Fichte läßt sich nicht mehr dieMöglichkeit einer Offenbarung schlechtweg bestreiten.So ist durch einen vorzüglichen Kantianer zumindest ein

Ansatz für die Verteidigung der Christenlehre eingeräumt. Kant leitet weiterhin seine gesamte Interpretationaus der praktischen Vernunft her und bleibt insofernebenfalls Naturalist. Aber er bezichtigt die Christenlehre

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nicht der Haltlosigkeit in jeder Beziehung. Und da er die biblische Theologie als solche gar nicht angreift, bietetsein Werk einen Ansatz dazu, diese Theologie nunmehr

auch in Beziehung auf die Philosophie der reinen praktischen Vernunft zur Gänze wieder in ihr Recht einzusetzen.

Storr und Süßkind bedienten sich mit erheblichemGeschick der Möglichkeiten, die höchste Autoritäten desKantischen Naturalismus nunmehr geradezu angebotenzu haben schienen. Zwar kritisieren sie Fichte und Kant,insoweit beide au f der Ausschüeßlichkeit der Ansprücheder praktischen Vernunft allein bestehen. Aber ihre Kritik ist nunm ehr Kant-immanent: Sie läuft auf eine Adoption der Grundideen der kritischen Moraltheologie zumZweck einer neuen Begründung der orthodoxen Kirchenlehre hinaus. Was eigentlich waren denn die Grün

de dafür gewesen, daß Kant schon von Beginn an denGlauben an Gott als unverzichtbar für den guten Willenund das Selbstbewußtsein der Freiheit erklärt hatte? Esist gar nicht einfach, auf diese Frage aus Kants Schrifteneine konsistente Antwort zu gewinnen. Flatt hatte Kantschon früh in diesem Punkt der Widersprüchlichkeit bezichtigt. Aber zwei G ründe werden von Kant gewiß doch

durchgängig geltend gemacht: (1) Ohne Gottesglaubenverliert der Mensch die Hoffnung, die mit der Idee einerreinen Gesinnung und ihrer Verwirklichung in der Weltunabweisbar verbunden ist. (2) Der Gottesglaube verstärkt die Kräfte, die auf die Ausbildung einer sitdichenGesinnung hinwirken, indem er das Vernunftgesetz zugleich als Wille des höchsten Wesens der Welt zur Vor

stellung bringt.An diese Prämissen knüpfen Storr und Süßkind nunmit dem Gedanken an, daß auch die kirchliche Gotteslehre und daß die Annahme einer Offenbarung durchGott die Vergewisserungsgründe und die praktische

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Kraft der sittlichen Wahrheit verstärken können undmüssen. Verhält es sich aber so und gibt es keinen Grundmehr, die Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung von

vornherein zu bestreiten, dann steht der Mensch, der sichum seine Besserung müht, sogar geradezu unter der

 Pflicht,  gegenüber den Beweisen für die Göttlichkeit einer bestimmten Offenbarung nicht in Gleichgültigkeit zuverharren. Mit diesem Argument tritt Storr der kunstvollen Isolierung der Kantischen moralischen Interpretationgegenüber der biblischen Theologie entgegen, damit zugleich aber auch noch der Indifferenz seiner vom Kan-tianismus infizierten S tudenten gegenüber dem Studiumseiner eigenen Dogmatik. Prinzipiell betrachtet läuft seinArgument jedoch darauf hinaus, der Forderung zur Prüfung der Authentie der kanonischen Schriften und zumStudium Störrischer Theologie einen Status zu verleihen,der dem nahekommt, de r auch einem Postulat der reinen

 praktischen Vernunft eignet.Süßkinds Begründungen machen deudich, in welchem

Ausmaß diese Argumentationsweise in der Folge nochweiterhin geltend gemacht werden kann. Zwar kann nurder Glaube an solche Gehalte der Offenbarung als praktisches Postulat eingefordert werden, die ihrerseits aucheine praktische Bedeutung für unser Handeln aus gutemWillen haben können. Aber „wenigstens die chrisdicheOffenbarung [enthält] keine einzige exegetisch-erweis-liche Lehre [...], die blos spekulativ [ist].“159 Im übrigen istes „Pflicht, in Hinsicht auf jede Lehre der Offenbarunggenau zu untersuchen, ob sie für uns praktisch seyn könne, weil es Pflicht ist, jedes Mittel zur Erleichterung unserer Willensbestimmung nach dem Moralgesetz gewis

senhaft aufzusuchen.“160 Diese Pflicht erstreckt sich nunmehr auch auf solche Lehren, die nur ,positiv1sind unddie aus der Vernunft als solcher niemals herzuleitenwären. Selbst die Kirchenpraxis samt der Teilnahme am

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Abendmahl läßt sich aus Postulaten begründen: Kircheund Sakramente sind unentbehrliche Mittel zur Erhaltung und Beförderung des Christentums, das seinerseits

auf Offenbarung beruht und dessen Lehren unentbehrliches Beförderungsmittel der Moralität sind. „So ist esPflicht eines jeden, zu r Erhaltung jener äußern Anstaltendas seinige beizutragen.“161

Man bemerkt mit Staunen, daß sich das Prinzip derAutonomie der Vernunft mit dem der Autorität von Offenbarung und Kirche in vollendeter Harmonie darzustellen beginnt. Die Vermutung liegt nahe genug, daß da

 bei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann.Storrs und Süßkinds Raisonnement wird man freilich am

 besten dann gerecht, wenn man seinen apologetischenCharakter in den Vordergrund rückt - wenn man also annimmt, daß sie den Kantianern nur nachweisen wollen, siemüßten auf ihrem Weg zu denselben Resultaten gelangen,die sich für sie selbst auf in Wahrheit ganz anderen Wegenergaben. Doch dieses Bild würde die innere Situation, inwelche die Tübinger Theologen geraten waren, wiederumnicht angemessen nachzeichnen. Kant hatte auch in ihnenselbst das Vertrauen in andere als Kantische Begründungsgänge erschüttert Nur Flatt versuchte noch, älteren

 philosophischen Denkweisen und Argumenten Respektund theologische Relevanz zu sichern. Storr und Süßkindaber, soweit sie als Dogmatiker nicht umhin konnten, sichauch in phüosophische Begründungsgänge einzulassen,wurden wirklich vom Kantischen Sog im intellektuellenKlima ihrer Zeit erfaßt, an das ihre Studenten längst angepaßt waren. Erst viel spätei; als die Kantische Bewegungund mit ihr die Kraft auch Fichtes und Schellings für eineWeile erloschen schienen, hat sich Süßkind mit einer imEigenbau verfertigten natürlichen Theologie hervorge-wagt162 Aber während der Hochzeit der Kantischen Bewegung war nicht nur die Apologetik der Storrschule, son-

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dem auch Storrs eigene Dogmatik von Kantischen Versatzstücken durchsetzt und in der Stabilität ihres Bauesvon ihnen auch abhängig geworden. Auch an Storr be

währt sich somit Bultmanns These, daß gerade die bedeutende Dogmatik jeder Zeit die Distanz zur Philosophieeben dieser Zeit nicht zu halten vermag. Der Preis dafürwar in Tübingen in der besonderen Gestalt eines Amalgams aus Autonomie und Autorität zu entrichten. Für die

 Nachkommenden besteht also kaum Anlaß, eine Handzum Steinwurf zu erheben.

Zugleich versteht man aber auch die Gründe, derentwegen sich Zeitgenossen, die ernsthaft ins Denken gezogen waren, mit diesem Amalgam nicht abfinden konnten.Den meisten der Tübinger schien es freilich zunächsteinmal die Lösung aller Zweifel und Gewissensskrupelzu gewähren. Von Schelling selbst erfahren wir, zu welchem Einfluß Storrs und Süßkinds Bemühung um dietheologische Domestizierung von Kant zunächst gediehen ist:

„Willst Du wissen, wie es bei uns steht? - Lieber Gott,es ist ein auxi^öq eingefallen, de r dem alten Unkraut baldwieder aufhelfen wird. Wer wird es ausjäten? - Wir erwarteten alles von der Philosophie und glaubten, daß derStoß, den sie auch den Tübinger Geistern beigebrachthatte, nicht so bald wieder ermatten würde. Es ist leiderso! [...] Zwar gibt es jetzt Kantianer die Menge [...] abernach vieler Mühe haben nun endlich unsere Philosophenden Punkt gefunden [...] und [dort] Hütten gebaut, indenen es gut wohnen ist [...] Und wer wird sie noch indiesem Jahrhundert daraus vertreiben? [...] Eigentlich zusagen, haben sie einige Ingredienzien des Kantischen Systems herausgenommen (von der Oberfläche, verstehtsich), woraus nun [...] so kräftige philosophische Brühenüber quemcumque locum theologicum verfertigt werden,daß die Theologie, welche schon hektisch zu werden an-

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fing, nun bald gesünder und stärker als jemals einher-treten wird. Alle möglichen Dogmen sind nun schonzu Postulaten der praktischen Vernunft gestempelt [...]“

(An Hegel am 6. Januar 1795, a.a.O. [vgl. u. S. 267, Anm.20], S. 13 f.)

Schelling ging mit dem Plan um, „im Aerger über denUnfug der Theologen zur Satire die Zuflucht [zu] nehmen und die ganze Dogmatik - mit allen Anhängseln derfinstersten Jahrhunderte auf praktische Glaubensgründezurückzuführen“ (An Hegel am 4. Februar 1795, ebd. S.

21). Nicht nur Mangel an Zeit hielten ihn von der Ausführung ab, sondern auch die Furcht, die Satire würdewohl von den meisten als Emst genommen werden.

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Studium Jacobis und Rezeption Fichtes

Wüßten wir nicht sehr viel mehr über Schellings Gedanken aus dieser Zeit, so würde uns eine Bemerkung in derzitierten Passage schon aufhorchen lassen: die Tübingerhätten nur Ingredienzien aus Kants System ,von derOberfläche4für ihre philosophische [n] Brühen4abgezogen.163 Schelling ist offenbar der Meinung, daß der

wirkliche Gehalt von Kants praktischer Philosophie vondem zu unterscheiden ist, woran die Storrianer Anschlußnahmen mit ihrer Kantexegese, die sich doch um Texttreue bemühte. Und als Hegel (Ende Januar 1795)zurückschrieb, dem ,Unfug4, über den Schelling berichtet hatte, habe Fichtes Offenbarungskritik unstreitig Türund Angel geöffnet, stimmt ihm Schelling zu und äußertdie Vermutung, Fichte habe vielleicht selbst nur eine Satire schreiben wollen, „um seine Freude mit dem Aberglauben zu haben und den Dank der Theologen lachendeinzustecken“ (4. Februar 1795, ebd. S. 21). Aber Fichtes Buch war doch von vielen Kantianern für ein Werkdes Königsberger Meisters gehalten worden!164 So zeigtsich also, daß Schelling davon abgekommen ist, die Kantische Lehre wort- und argumentgetreu gegen die Tü

 binger Theologen zu bewahren und wieder in ihr Rechtzu bringen.

Wir müssen sogar annehmen, daß er  schon längst  dieRichtung auf eine neue und, wie es bald hieß,,tiefere4Begründung der Wahrheiten eingeschlagen hatte, hinsichtlich derer ,mit Kant4nur ,die Morgenröte4aufgegangen

war (4. November 1795, ebd. S. 21). Haben wir doch gesehen, daß er schon drei Jahre früher mit dem Unternehmen in Verbindung stand, das Diez aus ähnlicher Pro

 blemlage heraus in Gang zu bringen versuchte: eine

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„Theorie der ersten Gründe aller Philosophie“, kraft derer, wie Schelling nun sagt, „die letzte Türe des Aberglaubens verrammelt“ sein wird.

Wir sahen schon, daß es Schellings Absicht war, mitSchriften, die eben dies leisten würden, alsbald vor dieÖffentlichkeit zu treten und so „als einer der ersten Fichte im Lande der Wahrheit zu begrüßen“ - nicht den Fichte der Offenbarungskritik, die ja allenfalls auch hätte Satire sein können, wohl aber den Verfasser der Wissenschaftslehre, die eben in einer Folge von Lieferungen in

Umlauf gekommen war. Aber Schelling ist doch Fichteniemals einfach nur gefolgt. In den Briefen an Hegel, ausdenen schon zitiert wurde, nennt Schelling sein Unterfangen, „die höchsten Prinzipien aller Philosophieauf[zu] stellen“ eine „Ethik ä la Spinoza“ (6. Januar 1795,a.a.O. [vgl. S.267, Anm. 20], S. 15). Damit ist ein bedeutungsträchtiges und folgenreiches Motiv ins Spiel ge bracht. Den Sinn, in dem er es verstanden wissen will, erläutert Schelling mit dem folgenden Grundsatz: „Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen. “ (4. Februar1795, ebd. S. 22, kursiv v. Vf.) Es fragt sich dann nurnoch, worin für eine jede Philosophie das Unbedingtegelegen ist. Der zweite Titel der Schrift Vom Ich als Prin

 zip der Philosophie,  die Schelling im März 1795 zumDruck brachte, weist deudich aus, daß dieser Grundsatzfür Schelling im Range einer methodischen Orientierungfür die Philosophie insgesamt steht. Er lautet: „Über dasUnbedingte im menschlichen Wissen.“ Er war wohl zudem dazu bestimmt, einer Öffentlichkeit, die mit FichtesIdeen noch nicht vertraut sein kann, die Art seiner Begründungsweise anzuzeigen.

Schelling selbst setzt den unbedingten Ausgang desDenkens mit Fichte in ein absolutes Ich, das rein nurHandeln ist und dem wir uns in unserem endlichen Willen anzugleichen haben. Warum aber bekennt sich Schel-

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ling dann nicht einfach als Fichteaner - warum sagt er,daß er Spinozist geworden sei? Schellings weitere Erklärungen sind zwar jedem Kenner der Philosophie die

ser Jahre geläufig. Ihr Sinn ist gleichwohl noch immernicht erschlossen. Aber dieser Sinn ist durchaus geeignetdazu, uns auf die Spur einer anderen Problemlage im Tü

 binger Stift zu bringen, - einer Problemlage, die nichtmit Kant, sondern erst 1790 aufgekommen ist und an dersomit die Generation von Diez und seinen Freunden keinen Anteil mehr genommen hat. Ohne sie läßt sich aber

der philosophische Impetus, der gerade von den jungenStiftlern ausgegangen ist, gar nicht zureichend verstehen.

Schelling spricht Hegel als einen ,Vertrauten Lessings‘an (4. Februar 1795, ebd. S. 21). Im Zusammenhang mitseinem eigenen Bekenntnis, nunmehr Spinozist zu sein,weisen also alle seine Sätze auf einen Ausgang hin: aufFriedrich Heinrich Jacobis Buch Über die Lehre des Spinoza. Es war zuerst schon 1785 erschienen und hatte damals ein der  Kritik der reinen Vernunft   entsprechendesAufsehen gemacht. Denn in ihm war bekannt gemachtworden, Lessing sei eigentlich Spinozist gewesen. Ihmsei der Gedanke eines Gottes, der über der Welt steht,unbegreiflich geblieben - und das vor allem deshalb,weil eine Schöpfung der Welt aus Nichts überhaupt nichtzu denken sei. Der transzendente unendliche Gott müsse also durch ein immanentes Unendliches ersetzt werden. Und damit seien für ihn, Lessing, die orthodoxenBegriffe von G o tt ,nichts mehr‘. Man sieht leicht, daß dasSpinozabüchlein Waffen enthält, die sich in der Kritik einer orthodoxen Theologie gut hätten einsetzen lassen. Esist auch sicher bezeugt, daß Hölderlin, Hegel ,und andere Freunde1in ihrer Stiftszeit Jacobis Spinozabuch lasenund durchsprachen.165

War es aber wirklich nur Lessings spinozistische Häresie, die im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stand? Jacobi,

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der Autor des Buches, hatte sich selbst nicht zum Spino-zismus bekannt. Seine These war vielmehr, daß sich inLessings Raisonnement die Philosophie, die ihre Wahr

heiten über ein Absolutes durch Schlüsse herausbringenwolle, selber ad absurdum führe. Darum sei zuletzt immer von einem (philosophischen) Glauben auszugehen.Mit allem, was in der Erkenntnis durch Gründe gesichertwerden kann, liege er notwendig in unauflösbarem Streit.

Es war nun gerade diese These Jacobis, mit der sichHölderlin schon im Jahre 1790 aus einer ersten Glau benskrise herausgeholfen hat.166 Schon zu jener Zeit hater auch Kants Grenzbestimmung all der Erkenntnis, diefür ihre Erklärungen Bedingungen ausmachen muß, alsdas endliche Gegenstück zu Jacobis unvermittelter Gewißheit vom Unendlichen verstanden. Ist es also Jacobiseigene Lehre und gar nicht der Spinozismus Lessings,welche dem Spinozabüchlein im Stift solche Aufmerksamkeit Zuwachsen ließ? Dann aber würde Schellings Erklärung, daß er nun Spinozist geworden sei, nicht soganz unmittelbar zu verstehen sein. Sie würde eine kom

 plexere Diskussionslage und Rezeptionsgeschichte inden Stiftsjahren voraussetzen. Und aus eben dieser Vorgeschichte müßte sich verstehen lassen, wieso sich Schelling, immerhin zehn Jahre nachdem die These von Lessings Spinozismus in die staunende Offendichkeit gelangt war und unter dem Eindruck von Fichtes Wissenschaftslehre, zum Spinozisten wandelte.

Auf alle diese Fragen haben wir bis heute keine schlüssige Antwort erhalten. Zu ihr läßt sich aber der Anfangmachen, wenn man Einblick nimmt in die zweite Auflage des Spinozabüchleins, die im Jahre 1789 erschien.Verwunderlicherweise ist sie seither nie wieder ganz unverkürzt abgedruckt worden.167 Wir können aber unterstellen, daß die Freunde gerade sie erörtert haben, unddas wiederum aus einem durchaus Tübingischen Grun

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de: Johann Friedrich Flatt war - entgegen allem, wasman vermuten würde - von tiefer Verehrung für Jacobierfüllt.168 In einer seiner Jacobi-Rezensionen in den Tü- 

bingiscken Gelehrten Anzeigen  spricht er Jacobis zweitemBuch DavidHume über den Glauben „überhaupt unter den

 philosophischen Producten unsers Zeitalters einen ganzvorzüglichen Plaz“ zu; und er sagt weiter, daß es unmöglich sei, dies Buch durchzulesen, „ohne Bewunderung und Hochachtung für den wahrhaft großen Mann,den [es] zum Verfasser hat, zu fühlen“.169 Seine Rezensi

on der zweiten Auflage des,Spinoza-Büchleins4170 beginntin ganz ähnlichem Tone: „Je mehr der Rez. den liefsinnund Scharfsinn des berühmten Hm Verfassers [...] verehrt“ etc. etc. Auch Jacobi schätzte seinerseits Flatt hochein. In einer VII. Beilage zur zweiten Auflage nennt er ihneinen „von mir sehr verehrte [n] scharfsinnige [n] und gelehrte [n] Forscher“.171

Auf eben diese Beilage nun verweist Jacobi selbst unddeudicher noch Flatt, der Lehrer der Stiftler, in seinerRezension als auf eine der beiden wichtigsten Abhandlungen in dieser Schrift. Was aber findet sich in diesemText, auf den die Stiftsfreunde 1790 mit solchem Nachdruck hingewiesen worden sind? Jacobi hat in ihm dieVerpflichtung zu erfüllen gesucht, seine eigene Glau

 benslehre nicht nur aus der Selbstreduktion des Spino-zismus sowohl in den Fatalismus wie ins Vernunftwidrige zu begründen, sondern auch in einer eigenen Grundtheorie festzumachen. Der Umriß dieser Theorie aber istder folgende: Des Menschen Bewußtsein bildet sich ausunter zwei ursprünglichen Vorstellungen, der eines Bedingungszusammenhanges und der eines Unbedingten.

Im Bedingungszusammenhang bewegen sich alle Erklärungen, die somit ein Unbedingtes niemals erschließen können. Wir brauchen aber auch das Unbedingte gar nicht erst zu suchen, sondern haben von sei

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nem Dasein dieselbe, ja eine noch größere Gewißheit, alswir von unserem eigenen bedingten Dasein haben(S.424). Insofern kann und muß die Philosophie immer

vom Unbedingten ihren Ausgang nehmen. Da aber diesUnbedingte außer der Sphäre unserer erklärenden Erkenntnis liegt, kann es von uns nur so angenommen werden, wie es uns gegeben ist: „Es ist“ schlechthin und entspricht insofern dem, was nach Jacobi für Spinoza „dasSeyn“ oder die Substanz gewesen war.

Auch diese Gedanken begründen einen Widerstand

gerade gegen Storrs Orthodoxie - und zwar auch einensolchen, de r nicht den philosophischen Naturaüsmus geradewegs zur Konsequenz hat. Storr wollte in besonnenen Argumenten die Gewißheit der Offenbarung erschließen und so, von Jacobi aus gesehen, in eigentlichnur endlicher Erkenntnis uns dem Unendlichen aufschließen. Jacobis Gedankenführung läßt sich weiterhinauch mit Kant in einen Zusammenhang bringen.172 Denndie kritische Philosophie wollte alles dem unmittelbarenBewußtsein von der sittlichen Bestimmung des Menschen subordinieren. Sie läßt sich schließlich, und vor allem, auch mit Begriffen vom Absoluten zusammenführen, die sich von denen unterscheiden, die Jacobi

selbst gewinnen wollte: Jacobi setzte an die Stelle desUnbedingten den persönlichen Gott des Deismus. Abergerade dafür haben ihm die überzeugenden Begründungen gefehlt - ein Mangel, den auch Flatt am Ende seinerRezension des ,Spinoza-Büchleins4notierte. Und so lages nahe, im Gedanken von der Vorgängigkeit des Unendlichen in jedem Gedanken des Endlichen eine Näheund einen indirekten Einfluß von Spinozas Denkart zuvermuten, und dann auch den Versuch zu machen, Jaco

 bis eigenen Hauptgedanken in einen spinozistischen Zusammenhang zurückzuübersetzen.

Mit dem Erscheinen von Fichtes Wissenschaftslehre

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mußte Jacobis Theorie des Ausgangs vom Unbedingten,das in begründenden Handlungen nicht zu vermitteln*ist, in einem neuen Lichte erscheinen. Und Schelling be

setzte nun alsbald und wohl noch im Jahre 1794 mitFichtes absolutem ,Ich‘ die Stelle jenes Unbedingten, daser mit den Mitteln Jacobis definierte und das er zugleichSpinozas Ethik als deren eigenen Ausgang zuwies. Er erläutert dies Hegel damit, daß er ihn an Jacobis Grundsatz erinnert: „Vom Unbedingten muß die Philosophieausgehen.“ Spinozist aber ist Schelling nun in mehrfa

cher Bedeutung. Zunächst insofern, als er den orthodoxen Begriffen den Platz des Unbedingten verweigert.Spinozist in einem Nebensinne ist er auch insofern, als eranerkennt, daß die Stelle des Unbedingten auch anders besetzt werden könnte und daß sie sogar aus dem Bewußtsein des absoluten Ich heraus in einer Weise besetztwerden kann, die nicht zu den philosophischen Herlei

tungen Fichtes, sondern zu denen des Spinoza hinführenwürde. Schließlich und wohl vor allem ist Schelling Spinozist insofern, als er Spinozas Ausgang von der Definition der unendlichen Substanz im Sinne eben jenes Ausganges deutet, den Jacobi, der Gegner des Spinoza, deraber selbst schon unter dem Einfluß der Gedanken dieses seines wesentlichsten Gegners stand, für sein eigenes

und für alles Denken in Anspruch genommen hatte, dassich von der gründenden, aber nicht begründbarenWahrheit des Unbedingten her organisiert.

So bewegt sich Schelling also im Anschluß an Jacobiund an Kant zugleich auf dem Felde einer Elementar

 philosophie, die von Beginn an schon über Fichtes eigene Begründungsweisen hinausgreift und die Fichte in ei

nem Zusammenhang wahmimmt, begreift und begrüßt,der von ihm selbst gar nicht vorgegeben wurde. Darauserklärt sich die Schnelligkeit, die Leichtigkeit und auchdie Selbständigkeit von Schellings Fichterezeption. Und

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so können wir nun auch die Konturen des Zusammenhanges erkennen, der von dem Doppelstem Jacobi undKant durch die Problemlagen der jüngeren Stiftler bis

zur Ausbildung ihrer reifen Lebensleistungen hinüberführt.173

Damit haben wir zugleich die weitere Möglichkeit gewonnen, noch andere Bewegungen auf dem Problemfeld,in dem sich Schelling orientierte, zu erwägen und zu erkunden und sie den Zeugnissen zuzuordnen, die uns ausdem späteren Entwicklungsgang der drei Stiftsfreundewohl bekannt sind. Insbesondere wird es nun möglich,uns verständlich zu machen, was Hölderlin schon 1795dazu instand gesetzt hat, Fichtes Wissenschaftslehre alsder vermutlich erste seiner Schüler eine eigenständigeKonzeption des Absoluten entgegenzustellen. Und wirkönnen weiter zu verstehen beginnen, welche Überlegungen zwischen Hölderlin und Schelling ausgetauschtworden sein mögen, als sie sich im Sommer und Winter1795 zu langen Gesprächen im Stift und in Nürtingen zusammenfanden, wobei sie, wie Hölderlin berichtet,,nichtimmer accordirend‘ miteinander sprachen.174 Der Rückschluß aus den wenigen Quellen kann, wird er einmal beharrlich verfolgt, zu einem Bild führen, das mehr als einDämmerlicht in die Bewegung bringt, die aus den Stiftsstuben heraus die intellektuelle Welt verändert hat.

Mit ihr verwandelte sich auch die Theologie und dieSprache, die sie zu sprechen vermochte. Die aus dem Stifthervorgingen, arbeiteten schließlich Konzepte aus, die eserlaubten, von Gott den Ausgang zu nehmen, ohne damit sogleich auch die Freiheit unter ihr äußerliche undfremde Bedingungen zu zwingen. Und sie brachten Lichtin die Bewegungen des Bewußtseins, die in ihm selbstanheben und die es doch in Konflikte ziehen, die denenentsprechen, welche sie selbst in ihrer Stiftszeit erfuhren,die sich aber lösen, wenn der Weg des Bewußtseins bis

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zur Verständigung über das Unbedingte und Absoluteausgeschritten ist - jenes Absolute, das ihm doch selberebenso innewohnt, wie es ihm als unhintergehbarer

Grund vorausgeht.Die Wandlung in der Theologie ist zwar wohl vor al

lem von Schleiermacher bewirkt worden. Dessen Denkenentfaltete sich später, aber doch aus Motiven und Quellen, welche denen der Stiftler nahe verwandt gewesensind. In diesem Denken ist aber nicht die gleiche bohrende Intensität am Werke, mit der Hölderlin sich aus

den Tübinger Problemlagen in seinem spekulativen pround contra‘175 zur eigenen Einsicht durcharbeitete undmit der Hegel das Ideal der gemeinsamen Jugend sichzur Reflexionsform, also zu seinem System, verwandelnließ.176 Schelling zwar konzipierte und schrieb in leichterem Fluß. Dafür wurde er aber fürs Leben in eine lange Abfolge von Entwürfen gezogen, von denen keiner

ihn befriedigte. Und keiner von ihnen hat die Tiefe undDichte erreicht, durch die Hölderlins und Hegels Werkunvergeßlich sind.

Alles aber, was solchen Federn entsprang, muß in denAugen von Storr und von Flatt Naturalismus und Bestätigung ihrer ärgeren Befürchtungen gewesen sein. Siesetzten ihre Hoffnungen auf bessere Zeiten, in denen der

Geist des Zeitalters verweht sein und Gott seine Kircheauf gute Wege zurückgeführt haben würde. Warum diese Wege gewiß nicht die ihren einfach nur wiederholenkönnten, war ihnen zu sehen verwehrt. Sie selbst konnten die Problemlagen nicht beherrschen, in denen siesich orientieren mußten und in denen sie mit der Kraftihres Gewissens und ihres Verstandes ihre Überzeugun

gen zur Geltung brachten. Doch haben sie gerade damitzu einem erheblichen Teil die Bewegung überhaupt erstausgelöst, deren weiteren Gang in Deutschland sie nurnoch mit Resignation betrachteten.

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Die Erschließung eines DenkraumsBerich t ü be r ein F orschungsprogram m zur

En tstehu ng d er klassischen deutschen Philosophienach Kant in Je n a 1789-1795

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Vorgeschichte und Problemstellung

Vom Herbst 1985 an war es möglich, mit Forschungsmitteln der bayerischen Staatsregierung im MünchnerInstitut für Philosophie eine kleine Forschungsgruppezu unterhalten. Ihre Aufgabe ist es gewesen, die Konstellation an der Universität Jena aufzuklären, aus der her

aus Fichtes Wissenschaftslehre in extrem kurzer Zeit eine weitere neue Philosophie entgegengesetzt werdenkonnte. Sie stellt die früheste Gestalt eines spekulativenIdealismus dar, dem, über alle Differenzen hinweg, alsreifste und späteste Gestalt Hegels System zugeordnetwerden kann. Die Arbeiten der Forschungsgruppe warenunter dem Titel Jena-Programm‘ zusammengefaßt. Die

se Arbeiten nähern sich nun ihrem Abschluß. In ihrenGrundzügen sind sie auch der Sache nach wirklich vollendet. Aber sehr viele einzelne Fragestellungen bedürfennoch eingehender Bearbeitung. Einige von ihnen sindkaum in Angriff genommen worden.

Dennoch ist die Zeit gekommen, über die Probleme,über den Verlauf und über wichtige Ergebnisse einen

Bericht zu geben. Dabei sollen zugleich einige der Pro bleme namhaft gemacht werden, die noch ohne Lösunggeblieben sind. Dieser Bericht ist insofern zugleich alsEinladung zur Fortführung der Konstellationsforschungen in Beziehung auf die Entstehung der nachkantischen Phase der klassischen deutschen Philosophie zuverstehen.

Das rapide Aufkommen und der eruptive Gang dernachkantischen klassischen deutschen Philosophie stellen ein Rätsel dar, das zur Antwort auf die Frage „Wiesowar möglich, was geschah?“ herausfordert. Das gilt ins-

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 besondere für die frühe und außerordentlich folgenreiche TVennung zwischen Fichte auf der einen Seite und einer auch gegen Fichte gewendeten, aber doch von Fich

te ausgehenden, der eigentlich spekulativen Philosophieauf der anderen Seite - einer Position, die bereits in weniger als einem Jahr nach dem Hervortreten von Fichtegegen die Fichtesche Wissenschaftslehre formuliert worden ist, zuerst von Hölderlin und dann in anderer Weisevon Novalis und vom jungen Schelling. Kant war nochmit der Publikation seiner Hauptwerke beschäftigt, unddie Diskussion über Kants Oeuvre war kaum in vollemGang, als 1789 dieser Prozeß begann. Er kam im Grunde schon 1796 zu Ende mit dem Beginn der romantischen Theorie, mit der Etablierung des Homburger Kreises und mit Schellings frühen Werken. Man kann diesenVorgang metaphorisch als die Explosion einer Supernova beschreiben. Es gibt nichts Vergleichbares in der Geschichte der Philosophie, allenfalls im klassischen Athen.Man sieht diesen Prozeß geschehen, aber man könnte ihnnur verstehen, wenn es, wie bei der Erklärung des Entstehens einer Supernova, gelingt, mit genauen Beschrei

 bungen und Erklärungen in sein Inneres einzudringen.Während die Supernova aber das Ende eines Sterns anzeigt, war der eruptive Prozeß, der 1789 begann, der Aufgang einer Denkart und der Beginn einer Epoche.

Eine Minimalvoraussetzung dafür ist, daß man die Erklärung des Prozesses nicht so erfolgen läßt, daß man seine Ergebnisse implizit schon voraussetzt, daß man alsodie Erklärung des Entwicklungsganges untergründigaufgrund dessen liefert, was man von den entstehendenTheorien vorab schon weiß. Die Überlegungen derer, die Neues herausgearbeitet haben, muß man Schritt umSchritt nachvollziehen und auf jeder Stufe so verstehenkönnen, daß man sich klar ist darüber, daß sie selbst das,was ihre Überlegungen ergaben, nicht schon vor Augen

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haben konnten. Das Ergebnis war ihnen, anders als uns,vorab unbekannt. Ich habe die Methodologie dieser Artvon Entwicklungsgeschichtsschreibung 1966 in einem

Aufsatz177 über Kants Entwicklung dargelegt, hinsichtlich derer über lange Zeit hinweg der gleiche Mißstandherrschte, daß man nämlich immer das Ergebnis, auf dasdie Entwicklung sich hinbewegte (die  Kritik der reinen Vernunft)  implizit schon in Anspruch nahm bei der Erklärung des Entwicklungsganges, womit ja gerade die Erklärung ummöglich wird. Es ist aber sehr schwierig, vondem schließlich erreichten und längst bekannten Ergebnis zu abstrahieren, von dem ausgehend man doch allererst Grund zu dem Versuch hat, sich die Entwicklungverständlich zu machen.

Fichtes Weg zur Wissenschaftslehre läßt sich vergleichsweise gut überschauen. Er ist in den  Eignen Meditationen  zur Elementarphilosophie von 1793/94 fasttagebuchartig dokumentiert. Dies ist auch ein Singulum in der Geschichte der Philosophie. Man kann sogar die Momente derEntdeckung identifizieren, weil Fichte mit der Entdeckung zusammen das Manuskript weiterführte. Damitsind freilich die determinierenden Faktoren dieses Denkweges, der da dokumentiert ist, noch nicht durchschaut.Und wie sich während der zahlreichen Fichte-Seminareim Rahmen des Jena-Programms herausstellte, ist auch dieinnere Verfassung des eigentlichen Grundtextes der Wissenschaftslehre von 1794, ihres ersten Paragraphen, bishernoch nicht durchsichtig gemacht worden. Es gibt keineInterpretation und Argumentationsanalyse dieses Textes,die in irgendeiner Weise für angemessen gelten könnte -eine Situation, die der entspricht, die vor etwa dreißig

Jahren in Sachen der Kantischen Deduktion der Kategorien und der Formationsbedingungen von Hegels Wissenschaft der Logik ebenso bestanden hatte. Sie bedarf

 jetzt auch im Falle Fichtes dringend der Bereinigung.

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Fichtes Entwicklung ist also relativ übersichtlich, wennauch noch keineswegs verstanden. Wenn man sich dagegen dem Geschehen, das von der Wissenschaftslehre

1794 ausgelöst wurde, zuwendet, so findet man sich ineiner Lage, die vergleichbar einem Dschungel mit seinemDunkel und der Dichte seines sich verschlingendenWachstums ist. Von einem einzigen Werk, auch von einem Lebenswerk eines Autors her, ist dieses Geschehennicht zu erklären. Und es ist die Schwäche der Organisation unserer so hochdotierten Idealismusforschung, daßsie sich um die Akademieausgaben herum ausbildeteund somit immer fast ausschließlich das Werk eines einzelnen Denkers im Blick hat. Das wäre längst offenkundig geworden, wenn auch nur die Ausgaben besser miteinander koordiniert wären und wenn die sie begleitenden Forschungen aufeinander bezogen stattfänden, wasaber ebenfalls kaum der Fall ist. Auch hätten die begleitenden Forschungen mit anhaltender Energie weitergeführt werden müssen, als die Editionen einzelner Bände,von denen sie ausgelöst wurden, abgeschlossen waren.Das ist gleichfalls unterblieben.

Wir müssen die Konstellationen kennen, innerhalb deren sich der Prozeß der Ausbildung der nachkantischenPhüosophie vollzogen hat. Bevor eine Bewegung wiediese, in die sehr viele Personen und Werke in schwerdurchsichtiger Vernetzung einbezogen sind, in Gangkommt, muß ein Denkraum erschlossen sein, in dem danndie Entwicklung aufkommt und sich entfaltet: Eine neueZuordnung von Problemen muß von der Art sein, daß sieallgemein als dringlich beurteilt wird. Auch müssenDenkformen im Ansatz ausgebildet sein, die Aussicht aufdie Lösung dieser Probleme bieten, die aber zunächst insich instabil sind und deshalb weitere Entwicklung undein intensives Reflektieren und Erkunden von Theoriemöglichkeiten erzwingen. Schließlich gehört zur Eta

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 blierung eines Denkraums auch, daß eine Verbindungmit Lebensproblemen entfaltet wird, die als unabweisbargelten und die zugleich von der Art sind, daß sie Evi

denzen für Theorieperspektiven freisetzen. Das ist,Konstellation4in einem ersten, im sachlichen Sinne.

Für die Entstehungszeit der klassischen deutschenPhilosophie waren aber Konstellationen in noch einemanderen Sinne von wesentlicher Bedeutung: Enge persönliche Verbindungen, Situationen also, in denen, nochdiesseits der Publikation und häufig sogar der Nieder

schrift, eine Verständigung über das stattfand, was soeben ,Denkraum4genannt und näher charakterisiert wurde. Solche Konstellationen des Gesprächs geben denenAussicht auf Vergewisserung, die sich in diesem Denkraum und über ihre Motive orientieren und die so dazuveranlaßt und befähigt werden, in ihm eine eigene Position auszubilden, kraftvoll einzunehmen und zu vertre

ten. Auch wenn die Position ganz selbständig ist, kannsie, und das ist in dieser Zeit immer der Fall gewesen, inBeziehung auf solche persönliche Konstellationen formuliert worden sein.

 Nun müssen bei der Analyse von diesen Konstellationen immer zugleich auch weiträumigere Voraussetzungen mit im Blick gehalten werden, und zwar sowohl theo-

riegeschichdiche wie auch intellektualgeschichdiche. Umein Beispiel für eine f^eonegeschichdich weiträumigeVoraussetzung zu geben: Man müßte, um sich die Konstellationen nach 1789 verständlich zu machen, den Aufstieg des Problemkomplexes ,Selbstbewußtsein4 zu einem Schlüsselproblem der Philosophie nachvollziehenkönnen, ein Aufstieg, der gegen den Widerstand der

Leibnizischen wie auch der Lockeschen Schule erfolgtist. Ein solches Unternehmen würde, unter anderem, dasfolgende einschließen: Kants These von der Nichther-leitbarkeit des Selbstbewußtseins, aber zugleich von sei

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ner Eigenschaft, strukturgebend für die Verfassung desWissens zu sein, müßte als Antwort auf eine komplexeProblemlage der Mitte des 18. Jahrhunderts verstanden

werden. Es wäre dann weiter auf Reinhold einzugehen,welcher der erste war, der die Frage nach der Erklärungdes Selbstverhältnisses im Selbstbewußtsein, die offensichtlich begriffliche Schwierigkeiten macht, als Aufgabeder Theorie formulierte. Und schließlich würde man ein-gehen müssen auf Vermutungen hinsichtlich der Verfassung von Selbstbewußtsein, die begründen, daß es ver

ständlich und in seiner eigentümlichen Position theoretisch nur zu erklären ist, wenn man eigene und von dernormalen abweichende Begriffsformen ins Spiel bringt.Das ist spätestens bei Jacobi der Fall gewesen. Dies ist also eines der vielen Probleme, die theoriegeschichtlicheVoraussetzungen dafür sind, daß eine Konstellation sichausbildete.178

Was das zweite anlangt, die intellektualgeschxchtlichzn Voraussetzungen, so möchte ich nur darauf verweisen,daß die Konstellationen von 1789 zur durchgängigenVoraussetzung die Überzeugung haben, daß das Freiheitsbewußtsein zu rechtfertigen ist und daß eine primäre theoretische Aufgabe der Philosophie in eben dieserRechtfertigung besteht. Mit ihr ist unlösbar die zweiteÜberzeugung verbunden, daß die Krise der Theologiedes transzendenten Gottes definitiv geworden ist, vordem man eine begrenzte, von ihm her ermöglichte undauf ihn bezogene Freiheit eingeräumt weiß. Eine Vergewisserungsbasis dessen, was das ,Unendliche4oder das,Absolute4hieß, kann nur noch eine solche sein, die imeigenen Leben und Denken erfahren wird, eine meinemLeben und Denken auch immanente, nicht nur überSchlußketten zu erreichende und erklärende Unendlichkeit. Es herrscht aber ersichtlich eine Spannung zwischendieser Betonung des Freiheitsbewußtseins und dem Ge

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danken des durchgängigen Bestimmtseins durch einimmanent Unendliches. Diese Spannung zu lösen war eine der Aufgaben, welche die intellektualgeschichtlicheVoraussetzung der Konstellation den Theoretikern auferlegte, die sich in ihr bewegten. Eine andere Aufgabe istdie, welche sich aus der Linie Rousseau-Kant-Fichte herleitet: aus der Überzeugung, daß alle bisherige philoso phische Theorie, paradigmatisch sogar die von Leibnizund von Locke, dasjenige Denken, aus dem sich daswirklich gelebte Leben organisiert, gänzlich verfehlt undsogar verstellt. Daraus folgt, daß eine grundlegende Neuorientierung über die Denkweise, die Begriffsform unddie Theoriegestalt der Philosophie unerläßlich ist. Esmuß eine Denkweise herausgearbeitet und wissenschaftlich respektabel gemacht werden, die dazu imstande ist,das dem wirklichen Leben eingebildete Denken in eineTheorieform einzubringen und zu übersetzen.

Ich werde mich nun zunächst mit den Forschungsgängen des Programms im engeren Sinne beschäftigen. Demwird ein Durchgang durch die sachliche Genese derjenigen philosophischen Position folgen, welche die erstedes nichtfichteschen, des eigentlich spekulativen Idealismus gewesen ist, also der Position Hölderlins. In diesen beiden Hauptteilen der Darstellung werden viel wenigerweiträumige Zusammenhänge als die soeben nur erwähnten im Blick stehen. In beiden wird aber auch überkonkrete Ergebnisse zu berichten sein. Die Ausgangsfrage ist: Wie erklärt sich die explosionsartige Entwicklung

 jener sechs bis sieben Jahre von 1789 bis 1795/96 - eine Entwicklung zunächst weg von Kant, die alsbald dazu geführt hat, daß Kant innerhalb ihrer beinahe über

haupt nicht mehr diskutiert worden ist, und dann weiterim Gegenzug auch gegen Fichte, der schon im Jahre1794 begann?

Ehe ich aber in das eintrete, was im Jena-Programm ei

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gentlich untersucht werden mußte, sollen einige Vorstufen zu seiner Problem stellung bezeichnet, für einige wohlauch nur in Erinnerung gerufen werden: Es war immerschon auffällig, daß diese Bewegung zu einem guten Teilvon ehemaligen Tübinger Stifdem getragen worden ist.Und so ha tte ich mich zuerst und schon vor langem darum bemüht, den Hintergrund der ersten Anfänge vonSchelling, Hegel und Hölderlin aufzuklären. Das geschahdurch eine Rekonstruktion der Diskussionslage im Tü

 binger Stift von 1790 bis 1792, und zwar nicht unter dessen Studenten, sondern in der Repetentengeneration, also der gegenüber den Studenten wenig Älteren, welchedie ihnen am nächsten stehenden jungen Lehrer und T\i-toren gewesen sind. Dabei kann man sich auf Briefwechsel und unpublizierte Manuskripte stützen. Dazu kamendann innerhalb der Universität Tübingen intern publi

zierte Reaktionen der Lehrer auf die von den Jüngereneingenommenen Positionen. Diese Untersuchungen, deren Resultate leider immer noch nicht im Druck vorliegen, hatten unter anderem zum Ergebnis, daß bereits1792 innerhalb des Tübinger Stiftes das Programm einerneuen Verständigung über die ersten Gründe der Philosophie aufgestellt worden ist. Im Jahr 1791 hat der Re

 petent Diez ein Programm dieser Art formuliert. Damitkommen wir bereits zu einer ersten Annäherung zurJenaer Situation. Denn Diez war ein naher Freund von Niethammer, der ihm aus Jena, wohin er 1790 gegangenwar, über die Jenaer Diskussionen berichtete. Diez waralso mit Niethammer und so mit Jena im Kontakt,während Niethammer umgekehrt bereits seit 1789 mitHölderlin in einem vertrauten Verhältnis stand. Es wurde wiederbelebt, als Hölderlin 1794 nunmehr auchselbst nach Jena gelangte. Im Jahr 1792 war Diez’ Programm in Tübingen etabliert. Man kann es indirekt daran sehen, daß Schelling seine specimina von 1792 - lei-

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der sind sie beide verloren - über Themen schrieb, dieauch Themen von Diez gewesen sind: Über die Möglichkeit einer Philosophie ohne Beinamen und Über die Überein

 stimmung der Kritik der theoretischen und der praktischen Vernunft.

Auf diese Tübinger Zusammenhänge ist im Gange derArbeiten des Jena-Programms ein neues Licht gefallen.Denn es hat sich herausgestellt, daß eben dieser Diez, derschon 1791 ein solches Programm formulierte und derzum Sommer 1792 nach Jena, und zwar als Medizinstu

dent ging, dort alsbald einen folgenreichen Einfluß aufCarl Leonhard Reinholds philosophische Entwicklunggewann. Die Umbildung von Reinholds Position, die sichso ergab, hatte, wie zu zeigen sein wird, eine herausragende Bedeutung für die Formierung eines frühen Widerstandes gegen Fichte in Jena. Dies alles machte eineerste Vorstufe für die Problemstellung des Jena-Pro-grammes aus.

 Nun ist noch auf eine zweite Vorstufe einzugehen: Esist eine bemerkenswerte und auch früh schon bemerkteTatsache, daß Hegel 1797, als er aus Bern in Frankfurteintraf - wo er Hauslehrer wurde und zum ersten Malseit der Stiftszeit wieder mit Hölderlin zusammenkam -,durch die neuerliche Begegnung mit Hölderlin offen-sichdich zu einem Positionswechsel motiviert wurde. DerPositionswechsel mag vorher angelegt gewesen sein; Motive, die für die neue Position von Bedeutung wurden,sind Hegel schon früher bekannt und von ihm hypothetisch, also ohne Wahrheitsanspruch, erkundet worden.Aber eine philosophische Position, die diese Motive zueigendichen Leitmotiven werden ließ, hat Hegel erst un

mittelbar nach seiner Ankunft in Frankfurt formuliert.Das ist früher schon oft unterstrichen worden - auch inder Folge der großen Verehrung, die Hölderlin in unserem Jahrhundert als der bedeutendste lyrische Dichter 

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deutscher Sprache zu erlangen begann. Aber aus denQuellen, die Vorlagen, ließ sich nicht erklären, wie Hölderlin au f Hegel solchen Einfluß hatte gewinnen können.

Der Roman  Hyperion war die wesendichste Quelle. Er erklärt aber nicht, daß Hölderlin einen bedeutenden theoretischen Einfluß auf theoretisch reflektierende jungeLeute auszuüben vermochte.

Im Jahre 1961 wurde ein früher theoretischer Entwurfvon Hölderlin publiziert, nämlich Urtheil und Seyn. Vergleichbares hatte man von Hölderlin bisher nicht vor dieAugen bekommen.179 Zunächst war aber die Datierungzu sichern; sie war nämlich auf 1795, also erstaunlichfrüh, angesetzt. Und dann war der Zusammenhang zu ermitteln, in dem dieses Manuskript erstanden ist. Zugleichwar die gedankliche Dimensionierung des Manuskriptesaufzuklären, da es sich um einen Text handelt, der nurganz wenige Gedankenzüge enthält. Dabei ließ sich, unddas eben ergab die zweite Vorstufe des Jena-Program-mes, diesem kleinen Entwurf eine ganze Fülle von Manuskripten von Freunden Hölderlins zuordnen, die ichzum guten Teil selbst aus der Nichtbeachtung ins Licht bringen mußte - vor allem die Manuskripte von Isaacvon Sinclair, die nur eine Variation der HölderlinschenTheorie sind und die bis dahin nur in einer Abschrift undfalsch identifiziert als eine Vorlesungsnachschrift Sinclairs zur Verfügung standen. Aus der Korrespondenzdieser Manuskripte zu den Manuskripten eines anderen

 jungen Freundes von Hölderlin, nämlich Jakob Zwilling,die schon in den zwanziger Jahren publiziert worden waren, ließ sich deudich machen, wie dicht die Diskussionskonstellation war, die damals, Anfang 1797, in Frankfurt und Homburg sowie im Umkreis Hölderlins bestand,der von Sinclair im Rückblick gegenüber Hegel selbstals der ,Bund der Geister4 jener Zeit charakterisiertwurde.180

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 Nachdem nun diese Homburger Konstellation so weitaufgeklärt war, stellte sich eine neue Frage: Wie ist esdenn zu verstehen, daß diese Gruppe von Jünglingen -

Zwilling war nicht einmal zwanzig - so weit avancierte?War sie wirklich selbständig, oder ist es nur unser Interesse an Hölderlin, das uns gerade diese Gruppe in denBlick brachte, während andere und viel wichtigere Grup

 pen sich unserer Aufmerksamkeit entzogen, weil niemand sich darum bemühte, die Manuskripte, die sie etwa produziert haben könnten, gleichfalls zu überliefern,

aufzufinden und zu publizieren?Wenn man sich diese Frage einmal stellt, wird das Ge

wicht der Tatsache deutlich, daß alle drei, Hölderlin, Sinclair und Zwilling, Fichtes Hörer in Jena gewesen sind.Sinclair und Zwilling haben in Jena studiert, Hölderlinhat sich dort ein halbes Jahr aufhalten können - zunächstnicht als immatrikulierter Student, aber vor allem, um bei

Fichte zu hören. Wenn also diese Homburger Gruppewirklich abhängig wäre von irgendeiner anderen Grup

 pierung, die sie auf ihre Ideen und in ihre dann eben nurscheinbare Selbständigkeit gebracht hat, so müßte manfolgern, daß was oder wer immer für sie maßgeblich war,Personen bzw. Konstellationen an der Universität Jenagewesen sind. Denn die Manuskripte, die von Zwilling

und Sinclair überliefert sind, wurden sehr bald nach ihrer Rückkehr aus Jena in Homburg niedergeschrieben.Wenn etwas hinter dieser Homburger Konstellation stünde, von dem sie abhängig ist, so müßte es in Jena gesuchtund gefunden werden. Aber auch eine Erklärung für dieAnlage und die Originalität ihrer selbständigen Leistungen könnte nur aus einer Untersuchung, die sich auf Je

na konzentriert, zu finden sein.Mit dieser Aufgabe ist nun der Anfang des Jena-Pro-

gramms markiert - zwar nicht in seiner konkreten Durchführung, aber in der Problematik. Es stellte sich bei dem

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Versuch, die nunmehr auf Jena konzentrierten Fragenaus dem, was andere Forscher schon wissen, so weit wiemöglich zu beantworten, im Laufe der Arbeit schnell her

aus, daß die intellektuelle Situation in Jena zwischen1789 (der Beginn von Reinholds Selbständigkeit) und1795/96 (Hölderlins Jenaer Konzeption und, etwas später, die Anfänge von Novalis und Friedrich Schlegel) niemals zum Thema einer Untersuchung gemacht wurde,obwohl Tausende von Publikationen über Personen undEreignisse dieser Zeit ganze Bibliotheken füllen. Es hatgleichwohl niemand die Frage gestellt: Wie verliefen dieDiskussionen an dieser Universität, unabhängig von derBeziehung auf jeweils eine bestimmte Person, von derher ja die Diskussionen gerade nicht aufgeschlossen werden können. Dies war das Ergebnis der Konsultationenmit den Autoren und Editoren, die zu Jena und zu Personen im Umkreis von Jena und aus der Jenaer Provenienz, zu denen unter vielen anderen immerhin Schillerund Goethe gehörten, vorzüglich gearbeitet haben. Einebenso überraschendes wie gravierendes Forschungsdefizit mitten im Zentrum der klassischen deutschen nichtnur Philosophie, sondern auch Literatur in Jena und Weimar trat damit deutlich hervor.

Ich hatte selbst schon in den siebziger Jahren einen ersten, aber noch ganz ungenügend orientierten Versuchgemacht, über die gemeinsamen Voraussetzungen vonHölderlin, Novalis und Schlegel in der Jenenser Situation - Novalis war auch ein Jenaer Student gewesen, sogar schon 1790 bei Reinhold - zur Klarheit zu kommen.Damals sind in Heidelberg vier Dissertationen entstanden: von Manfred Frank, von Stefan Summerer, von Hermann Timm und von Panajotis Kondylis, die alle diesemThema gewidmet waren.181 Aber keine von ihnen konnte, trotz aller Verdienste, wirklich in das Innere der ex

 plosiven Verwandlung des Denkens eindringen.

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Untersuchungen zur Situation 

an der Universität Jena um 1789

Jena war zu jener Zeit der Vorort der deutschen Philosophie. 1792 lehrten dort, wenn man die Dozenten ein

 bezieht, nicht weniger als neun Kantianer und viele diesen Kantianern nahestehende Personen. (Königsberg

war gewiß der Ort, der längst als die Heimstatt des größten deutschen Philosophen bekannt war. Aber man wußte, daß Kant Routine-Vorlesungen hielt und sich ungernin Diskussionen verwickeln ließ.) Jena war außerdem derPublikationsort der  Allgemeinen Literaturzeitung,  des bedeutendsten Rezensionsorgans der Zeit, das von zweien

 jener Kantianer dirigiert wurde und das der Propagie

rung der Kantischen Philosophie diente. Dort lehrte zudem Carl Leonhard Reinhold, von dem man hörte, daßer die Kantische Philosophie besser verdeudichen könneals irgendein anderer. Und zahlreiche Bücher und Zeitschriften erschienen an diesem Ort - auch wegen der li

 beralen Zensurpraxis der Universität in der Nähe der preußischen Grenze. Sehr viele Studenten zog es also um

des Kant-Studiums willen nach Jena, nicht nach Königs berg. Das ist eine der Voraussetzungen für die Kraft derEntwicklung, und man sieht unmittelbar, daß eine großeZahl von Personen in den Blick kommt, wenn man inKonzentration auf Jena ein Forschungsprogramm in Absicht auf die Aufklärung eines möglichen Hintergrundsder Homburger Konstellation in Gang bringen will.

Ich berichte nun das Wichtigste über die Organisationdes Forschungsprogramms als eines solchen: Es mußteversucht werden, eine Übersicht über alle möglicherweise für eine Konstellation bedeutsamen  Personen  zu er-

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reichen, und zwar zunächst über die  Lehrer  der Universität, von denen einige kaum dem Namen nach bekanntsind (etwa der Privatdozent Johann Friedrich Emst Kir

sten). Von diesen Lehrern waren Bibliographien und zumindest Skizzen von Porträts ihrer Arbeiten und Meinungen zu erstellen. Dann war auch eine Übersicht überdie Studenten  zu erm öglichen - eine sehr viel schwierigere Aufgabe, denn die Matrikel der Universität war fürdiese Zeit noch nicht erarbeitet. So war also die Matrikelder Universität Jena für diese Zeit zu erstellen, die dannauch dem Jenaer Universitäts-Archiv zur Verfügung gestellt wurde. Insbesondere versuchten wir aber, eineÜbersicht über alle in philosophischem Zusammenhangals wichtig erwähnten Studenten zu bekommen, wobeidann einige Gruppen hervortraten - eine um Bremenund in Norddeutschland, eine in der Schweiz und eineGruppe von Ungarn, die begeisterte Reinhold-Schülergewesen sind.

Zugleich sind  Nachlaßforschungen  in Gang gebrachtworden. Das ist eine bisher kaum gebrauchte Forschungstechnik, die es ermöglicht, sich nicht nur einfach auf daszu stützen, was schon im öffentlichen Besitz vorhandenoder durch zufällige und verstreute Nachrichten über

 Nachfahren bekannt geworden ist. Häufig wird in Forschungsarbeiten nicht einmal das vollständig beachtet.Aber wenn man ein Interesse an einem bestimmten Zusammenhang hat, dann muß man zudem aktiv versuchen,in den Besitz von möglicherweise in privater Hand erhaltenen Nachlässen zu kommen. So gelang es, um einBeispiel zu nennen, schon im Zusammenhang der Studien zur Tübinger Konstellation, über lang anhaltendesBohren durch die Generationen hindurch in den Besitzdes Nachlasses von G.C. Storr, dem damals führendenTheologen Tübingens, zu kommen. Dies ist ein Verfahren, das unbedingt überall in der hochdotierten Idealis

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musforschung - das Jena-Programm ist nicht so hoch dotiert - systematisch und ausdauernd praktiziert werdenmüßte. Dem steht aber erheblicher Unwillen bei vielen

 professionellen Forschem entgegen, weil es mühe- undentsagungsvolle Arbeit verlangt und dann doch häufigauch ergebnislos bleibt. Die Nachlaßforschung war indiesem Fall von der Hoffnung geleitet, nicht nur Manuskripte, sondern auch Berichte über Diskussionen, die inJena stattgefunden haben, aufzufinden, wobei solche Berichte leicht auch in Briefwechseln gegeben werden

könnten.Aber noch eine weitere Übersicht mußte gewonnen

werden: die über den  Diskussionszusammenhang   derZeit, und insbesondere der Zeit vor dem Auftreten Fichtes. Denn die Reaktion auf Fichte erfolgte so instantan,daß man sich nicht erklären kann, wie sie durch Fichteallein hätte bewirkt werden können. Wichtige Gründe,

aus denen sich der Widerstand gegen Fichte formierte,müssen also wohl vorher schon artikuliert gewesen sein.Voraussetzung für eine Übersicht über den Diskussionszusammenhang der Zeit vor Fichte ist zunächst einmal,daß eine Durchsicht sämtlicher  Zeitschriften der Zeit erfolgt, auch sämtlicher  Lehrbücher,\  sowie sämtlicher  Re

 zensionen  wenigstens der wichtigeren philosophischen

Werke. Dazu kommt noch, daß eine vollständige Übersicht über die in Jena erschienenen bzw. geschriebenen

 Dissertationen  gewonnen werden müßte. Es gibt leideran dieser Universität keine einigermaßen vollständigeDissertationssammlung. Eine Durchsicht der Akten allerJenaer Fakultäten würde aber die Kräfte eines knapp dotierten Forschungsprogramms überfordem, weshalb die

Durchsicht auf die philosophische Fakultät beschränktworden ist.

Es ist nun aber mitzuteilen, daß (anders als im Fallevon Tübingen und von Homburg) die Ausbeute der Do-

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kumentensuche gering gewesen ist. Nur ein wesentlicherBriefwechsel ist aufgetaucht (aus einem österreichischenArchiv, wohin er 1796 wegen des Verdachts kantisch re

volutionärer Umtriebe durch Beschlagnahme gelangtist): ein Briefwechsel zwischen Niethammer, J. B. Erhardund Baron von Herbert, einem Fabrikanten in Klagen-furt, der auch ein Reinhold-Schüler gewesen ist. Die Bestandsaufnahme hat zugleich aber eine Übersicht überdas ergeben, was überhaupt erwartet werden kann. Undda keine Spuren von Diskussionen und Dokumenten zufinden waren, von denen Hölderlin und sein Kreis inihrem Denken abhängig hätten gewesen sein können, hatsich auch gezeigt, daß es keinen Grund gibt, an der Originalität des Denkens von Hölderlin zu zweifeln. Durcheinen erheblichen Aufwand an Forschungen, die dochein negatives Resultat hatten, konnte die Selbständigkeitseines Denkens schließlich unter Beweis gestellt werden.Damit wächst der Erklärung dieser Selbständigkeit innerhalb der Konstellation, die in Jena bestand, ein entscheidendes Gewicht zu.

In diesem Zusammenhang wird nun auch eine weitere bedeutsame Tatsache zum ersten Mal in dem gebührenden Maße auffällig, obgleich sie gar nicht ganz unbekannt war: daß Hölderlin vom Herbst 1795 in Jena philosophische Vorlesungen halten wollte. Er traute es sichalso zu, neben Fichte und Schiller und im Zentrum derdeutschen Philosophie eine eigene Position zu vertreten.Darin war er sicher auch von Niethammer bestärkt, derinzwischen zum außerordentlichen Professor avanciertwar. Niethammer hatte ihn jedenfalls gleich um mehrereBeiträge zu seinem  Philosophischen Journal  gebeten, dasseit Mai 1795 erschien. Hölderlin arbeitete an diesenBeiträgen bis zum Jahr 1796 - hat sie aber nicht vollenden können. Ende Mai oder Anfang Juni 1795 floh er ausJena, womit der Plan der Dozentur vorerst nicht weiter-

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verfolgt werden konnte. Eine schwierige und aufwendige Nebenarbeit im Jena-Programm, die immer nochnicht abgeschlossen ist, war darum die Klärung der Ha

 bilitationsbedingungen und der Habilitationspraxis inJena. Auch hier wirkt sich als Hindernis dasselbe aus,was ich zu viel wichtigeren Dingen, nämlich etwa derKantischen und überhaupt jeder philosophischen Entwicklungsgeschichte schon angemerkt habe: In der historischen Forschung, zumal der von Philosophen betriebenen, urteilt man unzulässigerweise fast immer ex

eventu, vom Standpunkt des eigenen Wissens oder desWissens über gegenwärtige Verhältnisse aus. So unterstellt man leicht, daß die Verhältnisse, mit denen wir vertraut sind, auch in etwa damals schon bestanden habenmüssen. Im Habilitationsverfahren jener Zeit herrschtenaber vollkommen andere Regeln, und in Jena wurden siezudem nicht konsistent praktiziert. Gerade weil die Pra

xis chaotisch war, ist die Aufklärung so außerordentlichschwer. Die Quellen scheinen sich oft zu widersprechen.

Die dritte Aufgabe in der Arbeit des Forschungsganges war der Versuch - und er ist nunmehr seiner Substanz nach philosophisch -, eine Übersicht über die  Problemzusammenhänge  zu gewinnen, die in der Diskussionund in der Position der eigentlich spekulativen Philoso

 phie wirksam gewesen sind. Dazu gehören vor allem (1)die Diskussion der Grundlagen von Reinholds Elementarphilosophie, (2) Jacobi und die Rekonstruktion Spinozas durch Jacobi sowie Jacobis eigene Theorie der Gewißheit, (3) der neue Skeptizismus, der gegen die Kantische Philosophie auftrat und der in Aenesidemus-Schulze und Maimon nur seine Hauptvertreter fand,

dann aber (4) auch eine neue Platoninterpretation, derenerster und Hauptvertreter wiederum ein Jenaer Kantianer, nämlich Wilhelm Gottlieb Tennemann gewesen ist -auch dies ein wichtiger Faden, der zu Schelling und auch

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zu Hölderlin hinfuhrt182 (5) die Diskussion der Religionsphilosophie Kants, (6) die Probleme der Grundlegung der Aesthetik, also die mit Schiller, wiederum in Je

na, verbundenen Problemfaden und schließlich (7) dieVersuche, Kants Lehre von der Freiheit des vernünftigenWillens zu einer konsistenten Theorie auszubilden, dievor allem in Jena angestellt worden sind. Das alles istauch im wesendichen geleistet worden, wenngleich esauch hier noch Defizite gibt, vor allem bei den verschiedenen Varianten des Skeptizismus und bei der Freiheits

theorie.Schon vor dem Beginn des Programms, mit seinen

zunächst einmal scheinbar enttäuschenden Ergebnissen,waren bereits zwei Ergebnisse erreicht worden. Es handelt sich um Ergebnisse in Beziehung auf Positionen, die

 publiziert, aber ganz unbeachtet gewesen sind, und zwareinerseits von Reinhold, andererseits von Jacobi. Mankann diese Positionen auch mit römischen Ziffern, undzwar als die Position von Reinhold II und von Jacobi IIcharakterisieren. Die Positionsklärung und -entwicklungvon Jacobi, die 1789 erfolgte, wurde in Tübingen sehrfrüh beachtet und war, wie man nachweisen kann183, denTübinger Studenten bereits im Stift geläufig. Der Positionswechsel von Reinhold, der 1792 geschah, war ein Ergebnis einer Jenaer Konstellation, die von außen ganzunbemerkt sich ausgebildet hatte. Die erste Publikation,aus der man diesen Positionswechsel hätte entnehmenkönnen, ist erst im späten Frühjahr 1794 erfolgt. Reinhold hat sie sehr lange verzögert und sie auch nur in derForm eines Aufsatzes im Rahmen des zweiten Bandesseiner  Beiträge  vorgetragen.184 Man kann das eigendichPhilosophische in der Position Hölderlins in erstaunlichhohem Maße aus dem Anschluß an die Resultate dieser

 beiden Entwicklungen oder Selbstrevisionen, also dievon Reinhold II und Jacobi II, und gleichzeitig, als drit

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tem Faktor, aus seiner Antwort auf Fichte erklären, die imWissen von diesen Positionen und im Blick auf sie erfolgte. Die eigentlich philosophische Position Hölderlinsläßt sich also als eine gleichzeitige Verarbeitung dieser

drei Anstöße darstellen - Reinhold II, Jacobi II und dieneu auftretende Wissenschaftslehre von Fichte. Die Ver

 bindung von Motiven Jacobis und Spinozas mit Gedanken von Fichte ist entscheidend gewesen für die gesamte nachfichtesche Entwicklung. Das sieht man an der Position von Novalis, die vom Winter 1795/6 an, auch nurin Manuskripten, sich ausbildete. Aber in dieser dreiglied

rigen Kombination Reinhold, Jacobi-Spinoza und Fichte ist eine Rezeption und produktive Verarbeitung derProbleme und Entwicklungen im Denkraum der Zeit nur  

 bei Hölderlin zu konstatieren.

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III. Zwei unbeachtete Theorien 

in Jacobis und Reinholds Werk 

Damit komme ich zum zweiten Hauptteil meiner Darstellung. In ihm sind zunächst die Wandlungen in Jaco

 bi und Reinhold zu resümieren. 1785 hatte  Jacobi seinfolgenreiches Werk über  Die Lehre des Spinoza in Briefen 

an Moses Mendelssohn publiziert. Darin entwickelt er Spinozas Lehre nicht in dessen, sondern in seiner eigenenBegriffssprache. Es ist also der Spinoza Jacobis, der dortvorgestellt wird, und zwar nach folgenden Grundzügen:Der Übergang von einem Unendlichen zu einem von ihmreal verschiedenen Endlichen (eine Schöpfung also) läßtsich nicht denken. Aber Unendliches muß gedacht wer

den. Also kann es nur als dem Endlichen immanent gedacht werden. Wie aber ist es dann zu denken? Diese Frage läßt sich im Umriß dadurch beantworten, daß man einige Formeln aus Jacobis Werk reproduziert: Es ist zudenken als das ,Sein\ das differenzlos allem bestimmten,Dasein1zugrundeliegt und es ermöglicht, als jenes ,Ur-sein\ das als solches selbst keine Eigenschaft hat, son

dern dem alles andere nur als Attribut oder Modus in-häriert. Der absolute, erste, von keinem anderen abhängige Gedanke ist das reine unmittelbare Bewußtsein voneinem solchen ursprünglich-selbständigen Sein. So artikuliert Jacobi Spinozas Lehre neu mit nur ihm selbst,Jacobi, eigenen Mitteln.

Diesem von ihm präsentierten Spinoza widerspricht er

dann aber mit einer eigenen philosophischen Konzeption - seiner Lehre von der persönlichen Freiheit, die nurBestand haben kann, wenn sie einem persönlichen Gottgegenübersteht, der von dem endlichen Dasein des sei

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ner selbst inneseienden Wesens unterschieden ist. DieseJacobi selbst eigene philosophische Lehre war in denSpinoza-Briefen nur angedeutet. Sie ist, jedenfalls was

die Philosophie des Absoluten als solche betrifft, auchnicht im  David Hume,  dem zweiten bedeutenden BuchJacobis (1787), entwickelt worden. Jacobi war indessenlängst dazu aufgefordert, zu einer Klärung und Verdeutlichung seiner eigenen positiven Konzeption zu gelangen. Dies hat er dann 1789 in der zweiten Auflage desBuches über die  Lehre des Spinoza getan. Daß diese Po

sitionsklärung heute weitgehend ignoriert wird, siehtman daran, daß es keine Ausgabe dieses Buches gibt, dievollständig wäre. Man muß heute noch immer das Original benutzen, das auf dem Büchermarkt einen sehr hohen Preis hat und das also kaum verfügbar ist. (Selbst dieAusgabe von Heinrich Scholz185 hat die wichtige Vorrede weggelassen.) Wie aber stellt sich nun Jacobis ent

wickelte Position dar?Sie ist in der Vorrede, in der Abhandlung über die

Freiheit des Menschen und insbesondere in der BeilageVQ dargelegt. Ihr Profil läßt aber erkennen, daß JacobisSelbstdarstellung so sehr von seiner eigenen Rekonstruktion Spinozas, ihres intendierten Gegenteüs, infiziert ist, daß sie leicht in vielen wesendichen Zügen mit

der von Jacobi neu vorgestellten Position von Spinozaassoziiert werden kann. Dies sind nun die Grundzügevon Jacobis eigener Philosophie: Alle Demonstrationläuft schließlich in den Fatalismus, also den durchgängigen Determinismus aus - und zwar deshalb, weil sie denSatz vom Grunde zum Leitfaden benutzen muß. Die Anwendung (und jetzt beginne ich, die merkwürdige Jaco-

 bische Begriffssprache dieser Zeit zu gebrauchen) desSatzes vom Grunde ergibt aber immer nur mittelbare Erkenntnis, ist also, wie Jacobi sagt, ,Vermittelung1 (vonhier muß, man höre und staune, Hegels logischer Grund-

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Terminus von der ,Vermittelung4 hergeleitet werden!).,Vermittelung4ist also das Wesen der endlichen Erkenntnis. Insofern ist die vermittelnde Erkenntnis unfähig, das

^mittelbare, also das Gegenteil des Vermittelten zu erreichen. Mittelbare Erkenntnis erkennt, mit Hilfe des Satzes vom Grunde, der Bedingungen aufsuchen läßt, nunaber immer nur das  Bedingte  in seiner Bedingtheit. DieFolgerung, die Jacobi rein aufgrund einer Betrachtung

 begrifflicher Verhältnisse daraus zieht, ist diese: das Un-  bedingte ist auch nur ««mittelbar zu erfassen. Es gibt

keine Vermittelung des Unbedingten. Unsere Vorstellungdes Bedingten aber, ohne die wir nach Jacobis Meinungvon einem Bedingten gar nicht sprechen könnten, setzt begrifflich und real das Unbedingte schon voraus. Sie istniemals aus dem Bedingten selbst zu gewinnen - etwadurch eine Steigerung. Denn die Kette der Bedingungenführt immer nur zu wiederum Bedingtem, auch wenn sieohne Ende immer weiter verfolgt wird. Vom Unbedingten aber haben wir und müssen wir haben eine vom Bedingten separierte vorgängige  Gewißheit, die uns dieMöglichkeit, das Bedingte zu denken, überhaupt erstschafft. Daraus folgt nun, wiederum rein aufgrund derBegriffsoperation Jacobis, daß das Unbedingte auchübernatürlich sein müsse - und zwar deshalb, weil dasVermittelte, das in Begründungen zu Beherrschende, die,Natur4 ausmacht. Also muß das Unbedingte ,über der Natur4sein.

Im übrigen läßt sich nach Jacobi zeigen, daß wir schonin der Selbstgewißheit ein wirkliches und schlechtwegerstes Wissen von diesem übernatürlichen Unbedingtenin der Tat besitzen. Denn wir erfassen uns selber als bedingtes Dasein. Und das setzt Vertrautheit mit dem Un

 bedingten voraus. In das einfache und in seiner Weiseselbst unmittelbare Wissen von uns selbst ist also ein unmittelbares Wissen des Unbedingten immer schon ein

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gegangen. Das übernatürlich Unbedingte denkt nun aberJacobi wiederum von seiner Grundeinsicht her, die erschon ganz früh gefaßt hat, gemäß der Letztheit, der Un-

hintergehbarkeit von allem, was mit dem Verbum ,sein‘im Zusammenhang steht. Die von Jacobi konstruierteSpinoza-Position beruhte gleichfalls auf der Unhinter-gehbarkeit des Urseins und dessen Vorgängigkeit gegenüber aller Bestimmtheit. Unhintergehbar ist aberauch all das, was Dasein hat, sowohl das Wirkliche, daswir uns über mittelbare Erkenntnis erklären, wie auch

das unmittelbar erfaßte Unbedingte, dessen Dasein wirohne weiteres gewiß sind. Das Unbedingte, das Übernatürliche soll nun allerdings zugleich auch anderes seinals bloß das Sein in allem Dasein. Wäre es nur dies, dannwäre es nicht übernatürlich. Aber das unmittelbare Un bedingte ist uns doch gewiß als ein solches, das schlechthin und vorgängig gegenüber allem Endlichen wirklich

ist  Zwar ist es kein immanentes ens oder esse, also nichtdie spinozistische Substanz. Aber als ein gegenüber allem Bedingten, Mittelbaren vorgängiges Unbedingtes,das wir schon in unserer eigenen Selbstgewißheit gegenwärtig haben müssen, kündigt es sich uns zuerst alsschlechthin wirklich an dadurch, daß ,es ist‘. In der Folge müssen wir es dann als den persönlichen Gott denken

und begreifen. Nun kann man diese Jacobi-Position - die sich nur aus

den Texten von 1789 in Übersicht bringen läßt und dieer als Alternative dem Spinozismus entgegenstellt - unddie Position des von Jacobi vorgestellten und auf seineWeise explizierten Spinoza vergleichsweise leicht miteinander kombinieren. Der Gedanke, daß in allem Dasein je

denfalls Sein vorausgesetzt ist, ist wenigstens prima facieein einleuchtender Gedanke, der sich, bis zu Heideggerhin, in vielen philosophischen Positionen findet. Manmuß sich dabei nun nur von zwei Implikationen frei ma

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chen, die Jacobi dem Spinoza zuschreiben durfte: Mandarf Dasein nicht aus jenem Sein herleiten wollen, so wiedas die spinozistische Argumentation tut; und man muß

den Anspruch aufgeben, Sein in irgendeiner Weise übereinen Beweis einführen oder näher charakterisieren zukönnen. Wenn man sich von diesen beiden Voraussetzungen löst und gleichzeitig die von Jacobi selbst auch

 betonte Position unterstreicht und emphatisch festhält,daß sich das Unendliche im Endlichen als dessen ersteGewißheit überhaupt ankündigt und in ihm insofern ge

genwärtig ist, dann hat man mit Jacobis eigener Positiondie von Jacobi aufgebaute Spinoza-Position verbundenund  man hat damit zugleich den ersten der Grundzügeder Position von Hölderlin erreicht. Man kann also durcheine Analyse der ausgearbeiteten Doppelposition von Jacobi und ihrer Potentiale schon in die Nähe von Ausgangsgedanken der Theorie gelangen, mit der die Mit

glieder des späteren Homburger Kreises in Jena aufFichte antworteten.

 Nun haben wir zugleich auch die Wandlungen  Rein- holdszn  beachten. 1789 veröffentlichte Reinhold seinenVersuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens.  Sie ist eine Theorie, die auf einem einzigen obersten Grundsatz, dem Satz des Bewußtseins,die ganze Theorie der Vorstellungen, der Erkenntnisseund auch der Vernunft, schließlich sogar des Begehrensund Wollens aufbauen will. „Die Vorstellung wird durchdas Subjekt von Subjekt und Objekt unterschieden undauf beide bezogen.“ Dies ist, obwohl von ferne an Christian Wolff angelehnt, der Grundsatz des ersten Herlei-tungsprogramms seiner Art, das insofern selbst einewichtige neue Wendung in der nachkantischen Philoso phie markiert.

Das Herleitungsprogramm ist aber von Reinhold  zweideutig   formuliert worden. Es changiert zwischen zwei

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Programmen, die durchaus der Unterscheidung bedürfen. Einmal ist die Herleitung eigendich nur der Aufbaueiner systematischen Sequenz bei der Aufstellung von

klaren und deutlichen Begriffen, etwa nach dem Muster:Wir fangen bei dem Einfachsten und nicht mehr Auflös

 baren (wiewohl Analysierbaren) an und definieren dannSchritt für Schritt das Kompliziertere. Das andere Mal istmit der Herleitung ein viel weiterreichender Anspruchverbunden: Wir definieren nicht nur Begriffe, sondernleiten Sachverhalte ab; aus dem einfachen Sachverhalt

der Vorstellung gewinnen wir als seine notwendigen Im- plikate weitere Eigenschaften von Vorstellung, die demeinfachen Sachverhalt gleichfalls zugeschrieben werdenmüssen, in der Folge dann auch komplexere Vorstellungsweisen und deren Verfassung. Wir zeigen also, daßder einfache Sachverhalt gar nicht für sich allein bestehen kann, sondern daß sich aus ihm das ganze System al

ler Vorstellungen begreifen  läßt. Dieser Nachweis ist eineRealdeduktion der Vermögen des Geistes aus einem einzigen Grundprinzip, aus der ,gemeinschafdichen‘ Wurzelnach der Kantischen Formulierung. Die Herleitung nachdem zweiten Modell, die Realdeduktion also, spielt inReinholds Vorstellungstheorie, so wie er sie de facto vorträgt, eine durchaus dominante Rolle. So wird z.B., nach

dem der einfache Begriff der Vorstellung analysiert ist,gesagt, daß jede Vorstellung auch eine Form und eineMaterie haben müsse. Das wird hergeleitet daraus, daß inder Vorstellung etwas (die Form) dem Subjekt und etwasanderes (die Materie) dem Objekt zugeordnet werdenmuß. Dann wird weiter behauptet, daß die Form, weil siedem Subjekt zuzuschreiben ist, hervorgebracht sein

muß, wogegen die Materie gegeben sein müsse.In der Diskussion über Reinholds Theorie wurden

sehr bald alle diese Ableitungen kritisiert und sogarlächerlich gemacht, was Reinhold sehr schmerzte. Die

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Einwände waren allgemein, Zustimmung war allenfallsvon in Jena anwesenden Schülern zu vernehmen. Außerhalb traten erst dann Reinholdianer hervor, als Reinhold

selbst kein Reinholdianer im Sinne seiner ersten Theoriemehr war. Das ist ein Schicksal von der Art, wie es Philosophen häufig haben. Reinhold war aber von den Einwänden selbst zwar gekränkt, sah aber seine Theorie vonihnen zunächst gar nicht getroffen. Er verbesserte seinSystem nur in Einzelheiten und zog dabei, wie auch zuseiner Verteidigung, einige aus der großen Zahl jener be

gabten, zum Teü hervorragend begabten Schüler (wie Johann Benjamin Erhard) heran. Diese Situation ändertesich dann im Mai/Juni 1792, als Diez, der inzwischen inJena eingetroffen war, Reinhold seine schon in Tübingenerarbeiteten Einwände vortrug.

Wir kennen die Wirkung dieser Einwände aus einemBrief Reinholds an Johann Benjamin Erhard, dessen Fundim Programm eine wichtige Rolle spielte und der nochunveröffentlicht ist.186 In ihm berichtet Reinhold, daßDiez ihn von der Fehlerhaftigkeit seines ganzen Verfahrens überzeugt habe. Das geschah, wie aus dem Brief inVerbindung mit den früheren Dokumenten aus Diez’ Nachlaß zu erschließen ist, durch eine (im Unterschied zuder Kritik der anderen zahlreichen, auch der bedeutenden Kritiker wie August Wilhelm Rehberg und Carl Christian Erhard Schmid) immanente Kritik - eine Kritik nichteinzelner Argumente, sondern der gesamten Strategie derElementarphilosophie Reinholds, also des Werkes in seinem Gesamtaufbau. Das setzt voraus, daß Diez das Werkschon analysiert hatte, als er aus Tübingen nach Jena kam- zu einer Zeit also, während Schelling an seinem Tübinger Pult saß und sein verlorenes Specimen über just dieses Thema plante und schrieb.

Diez’ Einwand war der folgende: Reinhold benutztdurchgängig in seinen Beweisen Vordersätze, die er erst

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viel später begründen kann. Dies erklärt die Zirkelhaftig-keit des Verfahrens, die ihm immer schon vorgehaltenwurde - z.B. wenn Reinhold behauptet, die Form der Vor

stellung müsse hervorgebracht sein, unterstellt er schon,das Subjekt sei selbsttätig. Aber der Begriff der Selbsttätigkeit des Subjektes ist an dieser Stelle noch gar nichtzu definieren und zu begründen. Er wird erst am Endeder ganzen Theorie des Vorstellungsvermögens in derTheorie der Vernunft erreicht werden. Der Einwand vonDiez erklärt also die Möglichkeit der Einwände der frühe

ren Kritiker, weil er die Zirkel in Reinholds Deduktionenals Folge des Aufbaus der ganzen Theorie  verständlichmacht: „Weil du Begriffe benutzest, die du erst viel später begründen kannst, kannst du gar nicht gemäß deinemProgramm kohärent argumentieren.“ (So ließe sich Diez’Einwand in direkter Rede erläutern.) Und aus diesem „dukannst es erst später“ folgt die Irreparabilität der Ele

mentarphilosophie. Denn nun muß das Komplexe alsGrund der Verständlichkeit eines vermeintlich Elementaren in Anspruch genommen werden, das doch zu jenemKomplexen erst hinleiten, aus dem sogar seine reale Möglichkeit erklärt werden sollte. Reinhold muß die Berechtigung dieses Einwandes sehr schnell eingesehen habenund auch dies, daß er für das Selbstverständnis und den

Deduktionsanspruch seiner ersten Theorie letal ist.Er zog sie zurück und setzte eine neue, eine zweidi

mensionale Philosophie an ihre Stelle, in der so viel wiemöglich von den Leistungen der ersten Theorie unter einer geklärten Interpretation und einem ermäßigten Anspruch bewahrt werden sollte. Die Grundzüge seinesneuen philosophischen Programms sind nun die folgen

den: Es gibt zwar eine erste, noch propädeutische Philosophie, die aber nur der Entwicklung klarer und deutlicher Begriffe dient; und in ihr muß man spätere Theoreme vorläufig und noch unbegründet in Gebrauch neh

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men. Man kann die klaren und deutlichen Begriffe systematisch nur gewinnen, wenn man Theoreme über kom

 plexe Vorstellungsweisen antizipiert. Er nennt diese

Theoreme im antizipierenden Gebrauch ,Lemmata1.187Als Vordersätze für die Begründung der Begriffsklärungen müssen sie von ihrem erst später zu erreichenden eigentlichen Ort in den Gedankenaufbau hereintransportiert werden. Das muß dann aber auch ausdrücklich gesagt werden. Nur so hindert dies Verfahren nicht mehrdie Klarheit des Definitionsprogramms, innerhalb dessen

dann freilich auch ein Deduktionsprogramm unmöglichgeworden ist. Dies ist die eine Dimension der neuenTheorie.

Davon unterschieden ist, als zweite Dimension, eineTheorie des Subjektes, mehr oder weniger konzipiert alseine Art von kantischer transzendentaler Theorie, welche die Prinzipien, auf denen die Verfassung des Vorstellungsvermögens wirklich beruht, aus der Verfassungihres rational-subjektiven Grundes nunmehr auch realherleitet. Mit ihr kann in der Philosophie aber niemals

 begonnen werden. Diese zweite neue methodologischeThese hat nun aber weiter zur Folge, daß man sich fragen muß: „Woher kommen eigentlich meine Evidenzen,mit deren Hilfe ich meine Definitionen gewinne und systematisch anordne?“ In der Antwort auf diese Frage entwickelt Reinhold eine Theorie des gemeinen und gesunden Menschenverstandes. Die Lemmata müssen am Anfang von diesem gemeinen und gesunden Menschenverstand gestützt werden. Erst später und rückläufig sind sieaus der transzendentalen Theorie zu begründen. Das also ist das neue Grundprofil von Reinholds Elementar

 philosophie II - zwei Jahre vor seinem Weggang nachKiel und vor Fichtes Ankunft in Jena. Im Druck wurde eserst Anfang 1794 sichtbar gemacht.

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Niethammer und Hölderlin

Unter Reinholds Schülern und in deren Umkreis entstand aber schon vorher und aller Wahrscheinlichkeitnach in Kenntnis von Reinhold II eine intensive Diskussion über die methodische Verfassung der Philosophie.Diese Diskussion war nicht mehr an Kant orientiert.

Denn nun war zwischen Reinhold I und dem revidiertenReinhold II (wie zuvor schon zwischen Jacobi II unddem von Jacobi selbst rekonstruierten Spinoza) ein  Problemfeld  entstanden, das Aufgaben enthielt, für deren Lösung von Kant her keine Orientierung mehr zu gewinnenwar. Man mußte Kant kennen und ihn immer im Blickhaben; aber man konnte nicht mehr nur in Beziehung auf

Kant diskutieren. Die nachkantische Diskussion hattesich verselbständigt; und sie war zugleich in sich selbstkontrovers geworden. Zu nennen sind hier wieder J. B.Erhard, der Jurist Anselm Feuerbach, Friedrich Carl For-

 berg, ab 1794 auch Fichtes Jugendfreund Friedrich August Weißhuhn und, für uns am wichtigsten, F. I. Niethammer.

 Niethammer begründete im Herbst 1794 das  Philoso phische Journal einer Gesellschaft deutscher Gelehrter.  ImRückblick war es in der Meinung aller immer eine wichtige Publikation. Aber warum verdiente es Interesse? Wasvollzog sich in ihm, und was wollte Niethammer mit ihm bewirken? Das wurde nie erklärt. Niethammers Absichtund des Journals Aufgabe war es, vor allem im Blick auf

Fichte, der erneut und nach Reinhold II, bemerkenswerterweise auch in seiner Programmschrift, eine Philoso

 phie aus einem ersten Grundsatz angekündigt hatte, dieDiskussion über die Methode der Philosophie und über 

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die Schwierigkeiten  einer Philosophie fortzuführen, dieauf einen ersten Grundsatz begründet ist. Für Niethammer selbst geschah dies auf der Grundlage der Überzeu

gung, die sich in ihm im Sommer 1794 gefestigt hatteund die er in einem Brief vom Juni 1794 dahingehenderläuterte, daß Philosophie aus einem ersten Grundsatzgleichermaßen entbehrlich und unmöglich sei. Aber dieseseine Überzeugung von d er Unmöglichkeit einer Grundsatzphilosophie hat er öffentlich, angesichts von FichtesDenkkraft und Reputation, nicht bekennen wollen. Statt

dessen hat er nur die Aufgabe der weiteren Klärung desProblems dem  Philosophischen Journal   zur Aufgabe gestellt.

 Niethammers These von der Unmöglichkeit einer solchen Grundsatzphilosophie hat weiterhin folgende Verzweigungen: 1. Die philosophische Spekulation über dieMöglichkeit eines ersten Grundsatzes darf nicht unterdrückt werden, denn sie verspricht neue Einsichten. Siehat die Philosophie schon au f entscheidende Weise weitergebracht. 2. Der Richtungssinn dieser Überlegungenist durch Kant festgelegt. Er kann nur hin auf eine Theorie der Verfassung des Vemunftsubjektes orientiert sein.3. Es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß der theoretische Progreß in dieser Debatte und der Aufklärung derVerfassung des Vemunftsubjektes ebenso unendlich istwie der in der moralischen Perfektion des Menschen.Diese besonderen Thesen hat Niethammer auch öffentlich zu erkennen gegeben, während er, wie gesagt, seineÜberzeugung von der Unmöglichkeit einer Grundsatz

 philosophie im Druck nirgends formulierte. In seinenvertraulichen Mitteilungen und wahrscheinlich auch inJenaer Gesprächskonstellationen sprach er sie aber mit Nachdruck aus.

 Nun war Niethammer in Jena der Mentor Hölderlins,überdies sein alter Freund.188 Von Hölderlin selbst wur-

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de er als sein Lehrer und Mentor in den Briefen angesprochen, die er später aus Schwaben und Hessen an ihnsandte.189 Im Einleitungsaufsatz zum  Philosophischen 

 Journal verdeutlichte Niethammer die Perspektive, an diesich eine Philosophie auf dem Wege und im Rahmen vonReinhold II zu halten hatte. Die gesamte Konzeption von

 Niethammer ist ja in den von Reinhold II vorgegebenenRahmen hineingedacht. Er formuliert dort die Orientierung, über die diese Philosophie immer verfügt hat,wenn sie einsieht, daß sie eine wirkliche Überzeugung

des gemeinen Menschenverstandes niemals leugnendarf. Es muß also untersucht und unterschieden werden,was in Wahrheit nur Vorurteil und was dagegen wirklicheÜberzeugung des gemeinen Menschenverstandes ist.Was sich als wirkliche  Überzeugung erweist, daran mußfestgehalten werden; denn dies ist die einzige Spur, dieuns in der Richtung auf eine Theorie der Verfassung des

Vemunftsubjektes leiten kann. So darf z. B. weder dasBewußtsein von der Freiheit bestritten werden - Materialismus und Spinozismus sind insofern keine möglichen phüosophischen Positionen, sondern allenfalls demgemeinen Menschenverstand aufgezwungene theoretische Illusionen und Vorurteile noch auch darf etwa,wie das Fichte tut, das unabweisbare Bewußtsein der Ab

hängigkeit von einer wirklichen Welt durch eine These,der zufolge nur ein Anstoß innerhalb des Bewußtseinsgeschieht, in Zweifel gezogen werden. Insofern erliegt dieWissenschaftslehre demselben Verdikt wie der Spinozismus. So heißt es in Niethammers Grundsatzaufsatz190 imersten Heft des  Philosophischen Journals:  „Die schwereAufgabe, welche die Philosophie zu lösen hat, besteht

darin, die verschiednen entgegengesetzten Arten des Bewußtseins in Einem System des Wissens zu vereinigen..,ohne die eine der ändern aufzuopfem oder, was eben soviel wäre, die Einheit des Subjekts aufzuheben“.

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Wer Hölderlin kennt, wird sofort aufmerken: Die verschiedenen entgegengesetzten Arten des Bewußtseinsmüssen vereinigt werden. Man kann leicht folgern: Ge

schieht diese Vereinigung im wirklichen Denken desMenschen nicht, so wird die Einheit des Subjektes ebenso aufgehoben, wie die Einheit des Subjektes in einemTheorieentwurf verschwindet, von dem eine dieser Artendes Bewußtseins aufgeopfert wird. Das ist, innerhalb dertheoretischen Philosophie aufgestellt, die Formulierungeines Kriteriums für die mögliche Wahrheit einer Philo

sophie, die sehr genau dem entspricht, was Hölderlin zuvor schon als Aufgabe der Vereinigung der Lebenstendenzen des Menschen formuliert hatte - als Grundprogramm dessen, was ich seit 1966 „Vereinigungsphiloso

 phie“ nannte (vgl. o. S. 111) - , einer Vereinigung nicht imWissen allein, sondern in allen dem bewußten Leben wesentlichen Orientierungen.

Es gibt noch mehrere Übereinstimmungen mit Nietham mer in Hölderlins Texten von 1795, die hier nicht imeinzelnen darzulegen sind. Wichtig ist es aber, sich klarzumachen, daß Niethammer eine Position hinsichtlichder Möglichkeit einer philosophischen Theorie vertritt,die der Position von Fichte zu jener Zeit in einem wesentlichen Punkt diametral entgegengesetzt ist, nämlichin der Frage der Möglichkeit einer Philosophie aus einemGrundsatz. Wenn man dies und den Jenaer Diskussionszusammenhang über die Methode vor Augen hat, erkennt man nämlich, daß Hölderlins Fragment Urtheil und  Seyn,  das selbst keinerlei methodische Reflexionen enthält, doch in seiner von ihm selber nicht artikulierten Me- ftzphilosophie mit Niethammers Konzeption und mit denErgebnissen der Jenaer Debatte um Reinhold II übereinstimmt. Durch diese Metaphilosophie ist die Position vonHölderlin im Frühjahr 1795 sowohl von Fichte als auchvom frühen Schelling in der Schrift über die Möglichkeit

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einer Form der Philosophie vom Herbst 1794 unterschieden.

Man kann die Position Hölderlins etwa so formulieren:

Die Theorie kann den eigentlich ersten und allbestimmenden Grund niemals an ihrem Beginn in zureichenden Begriffen aufstellen. Als Theorie erreicht sie ihn in Wahrheitniemals. Die Theorie bewegt sich vielmehr, wie auch

 Niethammer es sah, in unendlichem Progreß. Gestütztvon dieser Metaphilosophie vollzieht Hölderlin nun eineSynthesis zwischen der Überzeugung Niethammers von

der Unmöglichkeit einer theoretischen Grundlegung derPhilosophie an ihrem Beginn und der These von Jacobi,daß am Beginn aller wahren Philosophie eine theoretischnicht zu rechtfertigende Präsupposition des Unendlichenzu geschehen habe, die unter dem Titel „Sein“ den un-herleitbaren, aber doch über alles aufklärenden, alles erschließenden und befassenden Grund anzeigt. Dieses zu

Präsupponierende ist nicht über einen ersten Grundsatzin die Verfassung des Wissens einbegriffen oder einzu

 beziehen. Es gehört in Wahrheit gar nicht zum innerenZusammenhang eines Wissens, dessen Begriff als selbstexplikativ vorauszusetzen wäre, sondern es ermöglichtWissen zur Gänze. So ist es also notwendig zu denkenund damit vom Standpunkt des bereits entfalteten Wis

sens her als dies Wissen übersteigend vorauszusetzen.Insoweit ist es jedoch auch gewiß und dem Wissen nichtfremder als dessen interne Prinzipien. Zudem kann essich in anderen Dimensionen des Lebens auch auf andere Weise erschließen.

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Fichtes Grundsatz „Ich bin“ 

und Hölderlins Prinzip „Sein“

Die Ergebnisse, die sich aus der Kombinadon von Reinhold II mit Jacobi II ergeben, müssen nun noch zu Fichte in ein klares und konkretes Verhältnis gesetzt werden.Man könnte sich fragen: Denkt nicht Fichte selbst in

Wahrheit ebenso? In dieser Vermutung liegt auch einKörnchen Wahrheit. Auch Fichte stellt nämlich das in Begriffen unvermittelbare Absolute an den Anfang aller

 philosophischen Gedanken und Beweise. Verteidigt alsoHölderlin Fichte (dem Anschein entgegen, daß er ihnkritisiert), wiewohl aus der Kenntnis der Gedanken vonJacobi II, von Reinhold II und von Niethammer? Die Ant

wort muß aber doch mit einem ,nein‘ gegeben werden.Denn die Konzeption, die Hölderlin formuliert, gehtzwar aus einer Aneignung Fichtes hervor, ist aber dochin einem mit ihr eine Fichte-Kritik. Um zu sehen, in welcher Weise Fichtes Grundprinzip von Hölderlin mit Jacobi II so zusammengedacht wird, daß sich die Fichte-Kritik ergibt, muß man die Wissenschaftslehre  von 1794

und ihren Paragraphen 1 genau analysieren und sie mitHölderlins (in der Folge auch mit Schellings und Novalis’) Augen lesen können.

Fichtes Grundsatz in diesem Paragraphen ist der Satz„Ich bin“, nicht der Satz „Das Ich setzt ursprünglich seineigenes Sein“, wie man meinen möchte. Diese zweite Formulierung in Fichtes Theoriesprache ist, wie Fichte selbst

sagt, eine Erzählung dessen, was die Analyse des Satzes„Ich bin“ ergibt. Aber der Satz „Ich bin“ ist die ursprüngliche Tatsache und deren Formulierung in einem.Der Satz enthält bzw. begründet zwei Thesen, zunächst

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eine Invarianzthese. Sie besagt, daß was in dem Satz „Ich bin“ zum Bewußtsein kommt, ohne alle Bestimmung undVeränderbarkeit ist. Der Satz begründet zudem die Ein

sicht, daß die Gewißheit, die wir im Bewußtsein „Ich bin“haben, eine solche jenseits der Relation Subjekt-Objekt,also auch jenseits vom Selbstbewußtsein ist. Tbn undSein sind in einem absoluten Sinne eines, nicht nur zusammengehörige Aspekte des spontanen Subjekts. DieseEinheit ist im Bewußtsein „Ich bin“ bezeugt und gewußt,und sie muß von ihm her auch theoretisch erschlossen

werden. In den beiden Positionen, die Fichte so bezieht,liegt, für jeden Unterrichteten erkennbar, eine Nachbarschaft zu Spinoza - und zwar zu dem Spinoza, der Des-cartes’ Philosophie in seiner Schrift Über die Prinzipien der Philosophie des Descartes  eine eigenständige Darstellung zuteil werden ließ, die Fichte selbst sehr wohl auch

 bekannt gewesen ist.191 Das „Ich“ des „Ich bin“ hat nach

Fichte eine Verfassung, welche der Substanz des Spinoza insofern entspricht, als sich von ihr her versteht, warum das Bewußtsein „existo“ nach der spinozanischenDarstellung von Descartes dem cartesianischen „cogito“noch oorgeordnet werden muß. Es hat aber, was ebensodeutlich erkennbar ist, eine Verfassung, die dem „Sein“analog gedacht werden muß, das nach Jacobis Darstel

lung der Gedanken Spinozas das Grundprinzip von dessen Philosophie ist. Diese Übereinstimmung zwischenFichtes Ich und dem Grundgedanken der spinozanischen Tradition, so wie sie durch Jacobi vermittelt worden war, hat Hölderlin erkannt. Und auch Schelling hatsie sofort gesehen, als er in den Besitz der ersten Bögender iVissenschaßslehre von 1794 gekommen war.

Ebenso auffällig war dann aber für Hölderlin auch einweiterer Umstand, in Beziehung auf den sich seine Fichte-Kritik formulierte: Fichte hält sich an Evidenzen, dieuns in unserem Wissen von uns selbst erschlossen sind

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und die das Subjekt und dessen Verfassung betreffen.Der Überschritt von der Subjekt-Objekt-Beziehung zuder Invarianz des Sein-Tun im „Ich bin“ geschieht doch

innerhalb  dessen, was Fichte selbst ,das Subjekt1nennt.Dagegen erfolgt nun Hölderlins sowohl an Reinhold IIwie an Jacobi II orientierte Einrede: Ein Gedanke „Ich“ist nur sinnvoll im Zusammenhang mit einer Subjekt-Ob-

 jekt-Beziehung. Der Satz „Ich bin“ ist also auch nichtanalysierbar; wenn man nicht die Relationalität im Blick

 behält, die durch das Wort ,ich‘ auf niemals zu eliminie

rende Weise angezeigt ist. Wenn also in der Form des Ich,so wie Fichte es will, eine Evidenz von Invarianz und Einheit, die über die reflektierte Beziehung Subjekt-Objekthinausgeht, erschlossen ist, so kann sie dem Subjektnicht wieder als eine Grundform seiner eigenen Verfassung zugesprochen werden. Sie muß vielmehr als derenimmanenter Grund (nach Jacobi II) vorausgesetzt   wer

den, was dann aber auch heißt, daß sie nicht durch irgendeine theoretische Operation für eine theoretischeEinsicht erschlossen werden kann. Die Philosophie wirddamit zu einer Theorie in einem ganz anderen Sinne alsdem, der auch für Fichte (trotz seiner Orientierung ander praktischen Philosophie) immer noch verbindlich ist.Fichte hatte zwar von einer prätheoretischen Evidenzden Ausgang genommen. Er hatte aber die Theorie unmittelbar an sie angeschlossen. Und er hatte das, was inder Evidenz „Ich bin“ gewußt ist, und den Bereich, derin der Folge durch theoretische Folgerungen erschlossenwerden kann, für zueinander kommensurabel gehalten.Das ,Sein\ das im ,Ich bin1vorausgesetzt wird, ist aber inWahrheit inkommensurabel zum Wissen, das im Subjektsich entfaltet, obgleich es dieses Wissen zugleich auchdurchgängig ermöglicht. So ist das Wissen von diesemSein reine Präsupposition. Und die Theorie, die dies anerkennt, hat eine ganz andere Begründung und Weise

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von Stabilität als Fichtes Wissenschaftslehre.  Sie läßt darum auch weiter Gründe der Selbstvergewisserung zu, dieauch auf andere Weise als Fichtes praktische Gewißheit

in ihren Aufbau eingreifen. Aus eben diesem Grund kannsie auch eine enge Verbindung mit der ästhetischen Weise der Vergewisserung eingehen.

So also kombiniert Hölderlin Jacobis These von derUnvermittelbarkeit des ersten Grundes mit Fichtes vonspinozanischen Motiven durchsetzter Beschreibung desUnbedingten im Ersten. Der Ausgang von einem im strik

ten Sinne immanenten Grund der Ich-Einheit, der nichtselbst als Subjekt beschrieben werden darf, veranlaßtHölderlin nunmehr definitiv dazu, den Jacobischenübernatürlichen Gott durch das Sein des JacobischenSpinoza zu ersetzen - des Spinoza also, der auch in Fichtes Formulierung des in sich invarianten ,esse‘ und ,age-re‘ des Ich schon gegenwärtig ist. Und das Ganze, was so

entsteht, wird theoretisch zugleich noch aus der Opposition gegen die Grundsatzphilosophie gerechtfertigt. Indieser Opposition weiß sich Hölderlin durch den fortgeschrittensten Jenaer Diskussionsstand gedeckt. Das Ergebnis dieser Diskussionen ermöglicht es ihm erst, dieSynthese von Jacobis eigener Position mit Jacobis Darstellung von Spinoza als eine Grundposition zu ent

wickeln und anzusehen, die dem Stand der philosophischen Einsicht auch im Blick auf Fichtes Wissenschaftslehre gerecht wird und angemessen ist.

Wenn wir dies alles einmal überblicken, so verstehenwir auch, wieso sich Hölderlin imstande glaubte, mit einer eigenen Konzeption neben Fichte als Dozent bestehen zu können und mit welchen Ressourcen er Schelling

im Sommer 1795 und Hegel im Frühjahr 1797 so entgegentrat, daß von beiden die Gleichberechtigung, von Hegel auch die Überlegenheit Hölderlins in philosophischen Sachen anerkannt werden konnte und mußte. Höl

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derlin hielt in der Folge an den 1795 erreichten Einsichten fest, obgleich er sie nicht umfassend ausbilden konnte und obwohl er sie alsbald weiter vertiefen und zu an

deren Folgerungen weiterführen mußte. Schelling undHegel hatten dagegen Anlaß, ihre Position von Grundaus neu zu bestimmen.

Im folgenden nenne ich nun Probleme der Forschung,die sich aus dem erreichten Kenntnisstand herleitenund die noch nicht gelöst sind: Es sollte möglich sein,die in Fichte selbst wirksamen spinozanischen Anstöße

in concreto zu klären. Die Nachfolgenden haben allesamt und zu Recht eine Gegenwart von Spinoza in Fichte erkannt. Aber wie genau wurde Spinoza, und Jacobi,wirksam in der Ausbildung von Fichtes eigenem Werk?Eine, wenn auch nicht die der Zeit nach erste Rolle,spielt dabei Fichtes Züricher Vorlesung, die vom Februar bis April 1794 stattfand, die aber leider nicht über

liefert ist, obgleich es, wie wir nun wissen, nicht wenige Nachschriften gab. Wenn man aber den ersten Paragra phen der Wissenschaftslehre im Zusammenhang mitFichtes Schriften liest, die in dieser Zeit entstanden sind(so die Abschlußvorlesung von Zürich, die unter demTitel  Die Würde des Menschen publiziert, aber ursprünglich falsch datiert worden ist, und die Jenaer Ein

gangsvorlesungen Uber die Pflichten des Gelehrten), dannsieht man, daß Fichte damals tatsächlich mit demSatz „Ich bin“ Assoziationen und Implikationen verbunden hat, die für ,spinozanisch‘ gehalten oder auch,mystisch4 genannt werden konnten. Hölderlin undSchelling haben sie richtig diagnostiziert, dann aber inunterschiedlicher Weise von Fichtes ausgearbeiteter

Subjekttheorie abgelöst. Das letztere geschah allerdingsin aller Konsequenz und Klarheit nur in HölderlinsTexten. Man kann fragen, ob Fichte in seinem ZüricherUmkreis zu besonders weitgehenden Äußerungen hin

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sichtlich der Implikationen des „Ich bin“ ermutigt gewesen ist.

In diesem Zusammenhang gibt es dann noch eine an

dere Erklärungsmöglichkeit für die unerhört schnelle Reaktion auf Fichte, die schon einsetzte, als er kaum in Jena angekommen war: Über die besonderen, von Kantweit abweichenden Implikationen, die Fichte mit derAnalyse des Satzes „Ich bin“ gerade zu dieser Zeit ver band, konnte man in Jena schon im Bilde sein, bevorFichte überhaupt dorthin aufbrach. Dies ergibt sich aus

der Tatsache, daß just Johann Benjamin Erhard, derwahrscheinlich begabteste Reinholdschüler, der baldauch allgemein als der kommende Antipode von Fichteangesehen wurde, an den letzten der Züricher Vorlesungen teilgenommen hat. Durch Zufälle war er gerade inZürich; und er reiste dann von Stuttgart mit Schillerzurück bis zu seiner Heimatstadt Nürnberg, während

Schiller weiterreiste und alsbald nach Jena heimkehrte.Im Kurswagen der Post bestand, auch über lange Nächte, die Möglichkeit zu besprechen, was es mit Fichte aufsich habe und warum man dem nicht nachgeben dürfe.Erhard hatte bald auch Gelegenheit, seine dezidiertenMeinungen in dieser Sache in Briefform an Niethammergelangen zu lassen. Dies ist also ein weiterer Aspekt, den

konkrete Forschung zur Erklärung der Rapidität der Entwicklung beizutragen hat: daß nämlich die Kommunikationslinien von einer Dichte und Schnelligkeit waren, dieman aus der historischen Distanz für höchst unwahrscheinlich halten würde.

Mit dem Nachweis, aus welchen Gründen der Widerstand gegen Fichtes neue Lehre so früh und durchaus

nicht nur in der Verteidigung des kantischen Buchsta bens einsetzen konnte, sind freilich durchaus noch nichtalle Probleme gelöst, die sich im Zusammenhang mit derKlärung der Beziehungen zwischen Fichte und seinen er

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sten selbständigen Nachfolgern stellen. Man muß annehmen, daß Fichte bald selbst mit den Argumentationen gegen die erste Formulierung seiner Wissenschaftslehre be

kannt geworden ist. Und diese Argumente trafen ihn aufeinem philosophischen Weg an, den er erst ein Jahrfrüher ausdrücklich eingeschlagen hatte. So muß man also davon ausgehen, daß sich auf diesem Weg der Fortgang in der Realisierung des eigenen Programmes mitder Berücksichtigung von Einwänden verschlungen hat,die Fichte teils zu Ohren kamen, die er sich aber teils

auch in eigenem nachträglichen Überlegen der in Zürich begründeten Position hat machen können. Bis zum Endedes Sommersemesters hatte Fichte die ersten vier Paragraphen der Wissenschaftslehre bogenweise für seineVorlesungen verteilt. Das vollendete Buch ist aber erst imdarauffolgenden Sommer erschienen. Während des Wintersemesters 1794/95 hat Fichte eine Vorlesungstätigkeit

von einem Umfang entfaltet, die er später nie wieder aufsich genommen hat. Er las parallel zueinander über theoretische und praktische Philosophie, hielt ein Disputato-rium und gab zum ersten Mal die Einleitungsvorlesungen in die TVanszendentalphilosophie nach Emst Plat-ners  Philosophische Aphorismen.  Aus den Vorlesungenüber praktische Philosophie müssen die Paragraphen des

Buches vom Sommer 1795 Grundlage der gesamten Wis-  senschaßslehre  hervorgegangen sein, die dem Paragra phen 4 folgen. Die Vorlesungen über theoretische Philosophie müssen zumindest zum guten Teil in den Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre eingegangensein, der praktisch gleichzeitig mit der Grundlage der ge

 samten Wissenschaftslehre  im Sommer 1795 erschien. Die

Gedankenentwicklung beider Textkomplexe läßt sichnicht ohne weiteres und zur Gänze aus den Vorlesungendes Sommers 1794 und auch nicht vollständig aus denZüricher  Eignen Meditationen zur Elementarphilosophie her

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leiten. Da nun im Winter 1794/95 von Fichtes Lehre besonders wichtige Wirkungen ausgingen, muß man wissenwollen, zu welcher Zeit und in welchem Zusammenhang

Fichte während des Semesters neue Theoreme zum Vortrag brachte. Und doch haben wir weder von dem Auf

 bau noch von dem Gehalt der Vorlesungen über theoretische und praktische Philosophie irgendwelche Zeugnisse und Quellen. Mit Ausnahme von drei Bögen inGoethes Bibliothek war es nicht einmal möglich, Exem

 plare der Druckbögen aufzufinden, die Fichte, seiner

Ankündigung gemäß, für die Vorlesung über praktischePhilosophie ausgegeben haben muß. Auch die Daten derAusgabe der Bögen waren bisher nicht festzustellen. Wirwissen insbesondere nicht, wann und wie Fichte seineneue Explikation der Grundlage des Selbstbewußtseins,die einen Teil des Paragraphen 5 ausmacht, zu seinen Argumentationen im Paragraphen 1 näher ins Verhältnis

gesetzt hat. Daraus ergibt sich eine doch erhebliche Unsicherheit bei der Rekonstruktion der philosophischenKonstellation, die während der Monate bestand, in denen Hölderlin zu seiner philosophischen Position gelangte. Wenn, wie man fürchten muß, neue Quellen nichtmehr gefunden werden, wächst der Rekonstruktion vonFichtes eigener Entwicklung aus den späteren Texten

von seiner Hand eine große Bedeutung zu. Aus ihr wirddann auch Licht fallen auf die innere Genese der Grundlagen von Fichtes Vorlesung über Naturrecht und derneuen Fassung seiner Wissenschaftslehre, die er schonvom Herbst 1795 an zu konzipieren begonnen habenmuß.

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VI. Hölderlin in Beziehung 

auf Schiller und Schelling

Die Beziehung Hölderlins zu Schiller   wurde in diesemBericht bisher ganz vernachlässigt, obwohl sie ihm dochvon höchster Bedeutung war. Neben der Publikation dervollendeten Wissenschaftslehre, die im Wintersemester

1794/95 in Jena vorbereitet wurde, und dem Beginn des Philosophischen Journals., in dem sich das Programm imAnschluß an Reinhold II kondensierte, vollendete Schiller aber in eben dieser Zeit seine Briefe über die ästhetische 

 Erziehung des Menschen.  Und dies ist das dritte bedeutende philosophische Ereignis während Hölderlins Anwesenheit in Jena.

Schillers Briefe sind in drei Lieferungen in den Druckgegangen. Man wird wohl geneigt sein zu meinen, daßwenigstens dies Dokument von ganz allgemeiner Bedeutung für die Geschichte des Denkens und Dichtens inDeutschland auf seine innere und äußere Genese hinlängst erschöpfend analysiert worden sein müßte. Dochauch das ist durchaus nicht der Fall. Es gibt nicht eineUntersuchung, die sich auch nur darum bemüht, die gedanklichen Verhältnisse zwischen den Lieferungen aufzuklären und der Frage nachzugehen, welche neuen Anregungen und Problemlagen bei der Niederschrift derLieferungen wirksam geworden sein könnten. Schillerhat aber selbst mitgeteilt, daß er bei der Niederschriftder dritten Lieferung in den beiden ersten Monaten desJahres 1795 in ein Problem verstrickt gewesen ist, dassich ihm dann plötzlich und glücklich aufgelöst hat.192

 Nun hat Schiller sowohl in den Briefen der zweitenwie auch in denen der dritten Lieferung Gedanken vor-

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Gedanken auch für Schiller bei der Niederschrift derletzten Sequenz dieser Briefe von anregender Bedeutunggewesen sind. Hölderlin schrieb am 25. August 1797 an

Schiller: „Ich hatte von je den Brauch, mein überflüssigRaisonnement Ihnen vorzuplaudem.“ In solchen Wortenkommt Hölderlins bescheidene Selbstzurücknahme zumAusdruck, für die es viele andere Zeugnisse gibt, in deraber doch auch ein erhebliches Selbstbewußtsein versteckt ist. Sie erlauben immerhin den Schluß, daß auchHölderlin Schiller seine philosophischen Überlegungen

wirklich vorgetragen hat. Man muß also auch unter diesem Gesichtspunkt die Briefe über die ästhetische Erziehung  des Menschen  genauer betrachten. Dabei wird zunächstder neunzehnte Brief auffällig, der, wie man zeigen kann,in Hölderlins Anwesenheit umgeschrieben worden seinmuß. Hier lesen wir: „So entspringen Empfindung undSelbstbewußtsein  (kursiv v. Vf.), völlig ohne Zutun desSubjekts, und beider Ursprung liegt ebenso jenseits unseres Willens, als er jenseits unseres Erkenntniskreisesliegt“. Das ist eine Aussage Schillers, die sich zwar ohnedies in seine kantische Denkweise einfügt. Sie modifiziertaber, zumindest in der Ausdrucksweise, Aussagen Schillers über das Ich in vorausgehenden Briefen, die stärkeran Fichte angelehnt gewesen sind. In ihrem Gehaltstimmt sie mit der Metaphilosophie von Urtheil und Seyn ganz überein. Es hat einige Wahrscheinlichkeit, daß sichhier nicht nur eine Übereinstimmung zeigt, die dannHölderlin in seinem Denken, das über Kant hinausgriff,

 bestätigen konnte, sondern daß Hölderlin, der sich überwiegend an Schiller orientierte, mit seinen Raisonnements auch auf ihn einen gewissen Einfluß gewann. DieLösung des Problems, das Schiller für längere Zeit an derVollendung der dritten Lieferung seiner Briefe hinderte, istfreilich nur Schiller selbst zuzuschreiben.

Zum Schluß soll nun auch noch gezeigt werden, was

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Hölderlin in den Gesprächen des Sommers und Winters1795 gegen Schelling   einzuwenden hatte. Die Tatsache,nicht aber der Verlauf dieser Gespräche, ist sicher be

zeugt. Hölderlin sprach nicht immer ,akkordierend‘ mitSchelling; und er berichtete an Niethammer, daß zweiPositionen Schellings zu unterscheiden seien, von denenkeine volle Zustimmung verdient, deren zweite aber die

 bessere gegenüber der schlechteren ersten ist. DieseÄußerungen sind bisher nicht hinreichend aufschlußreich interpretiert worden. Sie können sich nicht, wie

weithin angenommen wird, auf Fragen der philosophischen Verständigung über Ästhetik und Theorie derKunst beziehen, sondern müssen einen Dissens in fun-damentalphüosophischen Fragen betreffen.

Man kann nun zeigen, daß die erste Position Schellingsdie der Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philo

 sophie überhaupt   ist, die in ihrem Zuschnitt noch reine

Grundsatzphilosophie war. Danach erst hat Schelling dieWissenschaftslehre in die Hand bekommen, deren Paragraphen 1 er womöglich im Zusammenhang mit der se

 parat gedruckten Vorlesung über die Würde des Menschen, sicher aber im Zusammenhang mit den zu dieserZeit ebenfalls bereits publizierten Vorlesungen über diePflichten des Gelehrten verstand. Aus diesen Texten be

kam er Fichtes Theorie vom Satz „Ich bin“ mit allen ihrenImplikationen vor Augen. Und so verwandelte Schellingseine Position, was zuerst in seiner Schrift Vom Ich als 

 Prinzip der Philosophie  zu erkennen war. Er begann, sichvon der Grundsatzphilosophie zu distanzieren. Und insofern ist die neue Position, wie Hölderlin sagt, die bessere. Doch sind die Folgerungen aus der Unmöglichkeit

der Grundsatzphilosophie von Schelling nicht weit genug vorangetrieben. Das „Ich bin“ wird zwar als ein Wissen aufgefaßt, in dem ein absolutes, praktisch begründetes und vom Selbstbewußtsein eindeutig abgesetztes

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Prinzip bezeugt ist und zum Ausdruck kommt. Es fehltaber noch immer die erweiterte metaphilosophische Einsicht, derzufolge der Grund des Wissens nicht in der

Sprache der Subjektphilosophie expliziert werden darf,auch nicht einer verwandelten - also die Einsicht, dieauch Schelling eigendich von Jacobi her selbst hätte gewinnen können und sollen. Insofern ist auch diese bessere immer noch eine schlechte Position. Hölderlin setztübrigens in seinen Mitteilungen an Niethammer voraus,daß er, Niethammer, diese Zusammenhänge aus nur wenigen Andeutungen wird verstehen können, wie er auchvoraussetzt, daß Niethammer Schellings erste Schriftebenso gut kennt wie die folgenden. Womöglich wurdealso schon in Jena auch über Schellings Ersding im Zusammenhang der Kritik der Grundsatzphilosophie diskutiert.194

 Nun ist die philosophisch wichtigste, in einem Forschungsprogramm aber gar nicht zu lösende Aufgabe eigendich die folgende: zu erklären, wie sich aus den Voraussetzungen, die durchsichtig gemacht worden sind, eine neue BegrifFsform und Weise des Denkens ausbildet- eine Weise zu denken also, so wie wir sie in den Texten des ,Bundes der Geister6in Homburg195 entwickeltsehen und wie sie auch noch für Hölderlins späte poeto-logische Arbeiten charakteristisch ist. Sie ist nicht dieForm Fichtes, nicht die von Schellings späterem Identitätssystem und sie ist auch nicht die des reifen Hegel.Wie formiert sie sich also? Und welche philosophischenMöglichkeiten wohnen ihr inne? Wenn diese Fragen beantwortet sind, zeichnet sich eine philosophische Position ab, die niemals ausgearbeitet wurde und die nur inGesprächen und Briefen, also in Konstellationen4zur Geltung kam und die doch eine der klassischen deutschenPhilosophie wesentlich zugehörige Weise des Denkensist. Heidegger hat eigendich nichts von ihr zur Kenntnis

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genommen und, angesichts der Quellen- und Forschungslage, auch nur wenig von ihr wissen können. Nur deshalbkam er zu der Meinung, daß sich der späte Hölderlin aus

dem Zusammenhang des Idealismus habe lösen können.Um sich von dieser These zu trennen, muß man freilichauch zeigen, daß die in Jena gewonnene Begriffsformund die mit ihr verbundene Denkweise über Verwandlungen hinweg auch noch in der späten, der eigendichengroßen Dichtung Hölderlins vorausgesetzt und am Werke ist. Diese Dichtung ist nicht nur im Durchgang durchdiese Philosophie, die sie dann von sich abstieß, zu ihremRang und der Kraft ihrer Sprache gelangt. Sie ist vielmehr eine dieser Dichtung eingebildete innere Voraussetzung geblieben. Auch im Blick darauf, wie überhauptim Bück auf die unauflösbare Verflechtung von Philoso

 phieren und Dichten in Hölderlins Leben und Werk,kann man, zum Schluß, lesen, was Hölderlin in der Zeitfortgesetzter Arbeit an seiner in Jena gewonnenen philosophischen Position am 13. Oktober 1796 an seinenBruder schrieb:

„Philosophie mußt Du studieren, und wenn Du nichtmehr Geld hättest als nötig ist, um eine Lampe und

Öl zu kaufen und nicht mehr Zeit als von Mitternacht bis zum Hahnenschrei.“

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Anmerkungen

Einleitung1 Identität und Objektivität, Heidelberg 1976, S. 9ff.

Hölderlin über Urteil und Sein

2 Vgl. D. Henrich, „Historische Bedingungen der Philosophie des Deutschen Idealismus“, in: HegelstudienBd. 3, S. 276 ff.

3 Emst Cassirer, „Hölderlin und der deutsche Idealismus“, in: Idee und Gestalt , Berlin 1921(21924), S. 109 ff.4 Wilhelm Böhm, Hölderliti,  Bd. 1, Halle 1928, S. 141 ff.5 Kurt Hildebrandt, Hölderlin,  Philosophie und Dichtung, 

Stuttgart 1939 (31943), S. 82 ff.6 Johannes Hoffmeister, Hölderlin und die Philosophie, Leip-

zig 1942 (21944), S. 4, 55, 68 und öfter.7 Em st Müller, Hölderlin. Studien zur Geschichte seines Geistes, 

Stuttgart 1944, S. 2 ff, 6 ff.8 Dieter Jähnig, Vorstudien zur Erläuterung von Hölderlins  Homburger Aufsätzen,  masch. Diss. Tübingen 1956. Law-

rence Ryan, Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne,  Stutt-gart 1960. Ulrich Gaier, Der gesetzliche Kalkül, Tübingen 1962.

9 Zitate, auch die aus Hölderlin, werden im folgenden fast durchweg in modernisierter Schreibweise gebracht.

10 StA(Große Stuttgarter Ausgabe) IV, S. 2167, vgl. auch  S. 738, 4 ff.

11 Inzw ischen ist es über eine Auktion in den Besitz der Württembergischen Staatsbibliothek in Stuttgart überge-gangen.

12 StAIV, S. 402, 18.13 Vgl. S&4IH, S. 309 f. und Maria Com elissen , Orthographi

sche Tabellen zu Handschrißen Hölderlins,  Veröffentlichun-

gen des HölderlinArchivs Nr. 2, Landesbibliothek Stutt-gart 1959.

14 Hölderlin schreibt ,Seyn‘, ,Bewußtseyn‘, einmal aber auch ,Bewußtsein4(S. 216, 13); neben ,Theilung‘ und ,Urtheil‘

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findet sich einmal auch ,Gegenteil4(217, 3); auch tritt die alte Schreibung ,Wahmemung‘ auf.

15 Hölderlin hat zweim al (S. 216, 26, 28) ,Seyn‘ aus ,Sy‘ ver-

bessert; der Zwang zur neuen Schreibung ließ ihn über das „e“ hinwegeilen. Einmal hat er ,ohne4aus ,oneh‘ ver-bessert, also zunächst ebenfalls die alte Version verwen-det (S. 217, 4) (vgl. S. 738 , 167, 20 ). Maria Comelis sen verdanke ich die Belehrung über die Datierung des Blattes nach der Orthographie.

16 Schellings Vorrede ist unterzeichnet: „Tübingen, den 29. März 1795“. Dieser Tag war der Palmsonntag des Jahres. 

Die Schrift kann also frühestens in der Osterwoche in den Satz und zum Binden gegangen sein. Der Tübinger Buchhändler Heerbrandt war Schellings Verleger. Nimmt man an, daß er sehr schnell arbeitete und daß Schelling  seine Vorrede nachträglich schrieb, so müssen doch meh-rere Wochen vergangen sein, bis die Schrift in Hölderlins Hand kommen konnte. Die vorhergehende Schrift Uber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt  hat ei-ne „Nachschrift“, die am 9. September 1794 abgeschlos-sen wurde. Schelling hat aber erst am 26. September ein Exemplar an Fichte abgeschickt. Er hat es gewiß so  schnell wie möglich expediert. Der Verleger brauchte also etwas über zwei Wochen für die Herstellung. Dasselbe  wird man für die Schrift über das Ich annehmen müssen. Sie ist zwar zur Ostermesse angekündigt worden. Zu wel-

cher Zeit die Messe wirklich stattfand, wurde nicht festge  stellt. Es war aber allgemein üblich, viele im Katalog an-gezeigte Werke mit einer gewissen Verzögerung zu lie-fern. Wahrscheinlich ist noch sehr viel mehr Zeit bis zur Auslieferung vergangen. Schelling sandte das für Hegel bestimmte Exemplar erst am 21. Juli ab. Dieses Datum mag aus dem Rhythmus des Briefwechsels zu erklären sein. Doch auch Fichte schrieb am 2. Juli an Reinhold: 

„Schelling’s Schrift ist, soviel ich davon habe lesen kön-nen, ganz Kommentar der meinigen.“ Diese Bemerkung setzt doch wohl voraus, daß die Schrift noch nicht lange in Fichtes Hand war. Schelling hat sie ihm aber sicherlich wiederum so schnell wie möglich zugeschickt. Sein Be-

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gleitbrief ist leider nicht überliefert. (In der Ausgabe von  Fichtes Briefwechsel hrsg. von H. Schulz, Leipzig 1925,1, S. 481 beruht die Anmerkung 2 auf einem Irrtum.)  

Auch Ankündigungen und Rezensionen der Schrift sind nicht früher erschienen. Anzumerken bleibt noch, daß das Buch, in das Hölderlin seine Reflexionen über,Urteil und Sein4schrieb, nicht Schellings Schrift über das Ich gewesen sein kann. Deren Format ist kleiner als das des  Blattes. Fichtes Wissenschaftslehrewar zunächst in Bogen ausgeliefert worden und mußte somit von vielen Besit-zern nachträglich gebunden werden. Im Oktober 1794 

erschien zwar eine Buchausgabe der ersten vier Paragra-phen. Doch war die Praxis des Buchhandels weithin die,  vom Verlag die Druckbogen zu beziehen und sie unge-bunden zu verkaufen oder selbst binden zu lassen. Aus der Art des Papiers eines Vorsatzblattes lassen sich also hinsichdich des Buches nur selten Schlüsse ziehen. Ihr Format schließt die Hypothese nicht aus, die Beißner  StAIV, S. 402, 20 äußert.

17 StAIV, S. 216, 111.18 Ebd. S. 216, 1221.19 Wahrscheinlich ist der als zweiter abgedruckte Teil des 

Textes in Wahrheit der erste gewesen. Vgl. dazu u. S. 63.20 Briefe von und an Hegel, hrsg. von J. Hoffmeister, Bd. I, 

Hamburg 1952 (31969), S. 25.21 L. Ryan, Hölderlins Hyperion,  Stuttgart 1965, S. 37, auch 

36, 44, 55 und öfter.22 StA IV,  S. 401,2.23 Sie erschienen in drei Folgen in den Horen (179 5, 1., 2. 

und 6. Stück).24 StAHI, S. 163.25 StAVI, S. 137, Brief 88, 967.26 Der Prosaentwurf zur metrischen Fassung, die metrische 

Fassung und Hyperions Jugend, 5&4ÜI, S. 186206.

27 StAl  S. 189190; 488; vgl. StAVI, S. 135 ff., Brief 88, 99100.28 Vgl. dazu D. Henrich, „Der Begriff der Schönheit in 

Schillers Ästhetik“, in: Zeitschr.f phil. Forschg. XI (1956), S. 527 ff.

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29 StA VI, S. 137, Brief 88, 89 ff.30 StA  IV, S. 214215.31 StA  IV, S. 213.

32 Auf S. 217, 4 hat Hölderlin den Anfang der Frage „Wie kann ich sagen: Ich! ohne Selbstbewußtsein?“ verbessert aus „Darf ich ...“. Die Art der Verbesserung (,Darf ist durch ,Wie‘ überschrieben und ,kann‘ vor ,ich‘ über der Zeile eingefügt) läßt vermuten, daß die Verbesserung er-folgte, nachdem der ganze Satz bereits niedergeschrieben war und kein Raum mehr war, um das Geschriebene durchzustreichen und neu einzusetzen.

Die Verbesserung bedeutet eine Veränderung in der Führung des Gedankens: Die Frage „Darf ich sagen. .?“ scheint eine Erörterung zu fordern; die Frage „Wie kann ich sagen ...?“ ist eindeutig nur rhetorisch sie schließt eine negative Antwort bereits ein. Von einer solchen Ant-wort geht Hölderlins folgender Satz auch wirklich aus: Wenn ,Ich‘ nicht ohne Selbstbewußtsein zu denken ist, so muß man fragen, wie solches Selbstbewußtsein möglich ist, um zu finden, daß es durch Entgegensetzung zustan-de kommt. Man kann allerdings auch die Frage „Darf ich ...“ vom folgenden her rhetorisch lesen, etwa wie „Darf  ich das denn überhaupt? ... Eben nicht“. Der Korrektur kam es darauf an, das Unsinnige der Annahme, es könne ein Ich ohne Selbstbewußtsein geben, in der Frageform so deutlich wie möglich hervorzuheben. So entstand der 

Text „Wie kann ich ...?“ mit dem eindeutigen Sinn von  „wie kann man nur überhaupt...?“. Diese Korrektur ist nur schwer zu verstehen, wenn man in ihr nicht die Hand des Konzipierenden am Werke sieht. Hätte Hölderlin den Text abgeschrieben, so hätte er den Fehler wahrschein-lich gar nicht bemerkt. Der bei der Frage „Darf ich ...“ er-wartete Sinnzusammenhang wäre im folgenden Satz nicht geradezu ausgeblieben, der übliche Anstoß zu nachträgli-

chen Änderungen wäre also entfallen. Der Konzipierende hatte gute Gründe für die Korrektur. Mit ihr entlastete er sich von der Aufgabe, die Evidenz sicherzustellen, daß ,Ich‘ nur als Selbstbewußtsein denkbar ist. Schon dieser einen Stelle wegen wird man also annehmen dürfen, daß

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sich Hölderlin als Autor der Thesen über Urteil und Sein  fühlte. Das schließt nicht aus, daß schon eine andere Nie-derschrift bestand. In diesem Falle wäre der Text des Vor-

satzblattes eine Zusammenfassung, teilweise vielleicht so-gar eine komprimierende Abschrift von Eigenem, etwa von Notizen. Ebensogut kann er die Niederschrift von Gedanken sein, die Hölderlin bei einem Gespräch fand und äußerte. Ich danke Friedrich Beißner für ein längeres Gespräch über das Blatt Urtheil und Seyn,  dessen Ergeb-nis diese Anmerkung ist.

33 Damit stimmt auch zusammen, daß die drei Verschreibun-

gen in Fällen des Gebrauchs der neuen Orthographie im zweiten Teil auftreten (S. 216, 26 und 28; S. 217, 4). Im ersten Teil scheint Hölderlins Hand sicherer geworden zu sein. Der Sache nach läßt sich der gegenwärtig zweite  Teil mühelos als der erste lesen.

34 Für diese Beobachtungen stand die Photokopie des Ori-ginals zur Verfügung, welche das HölderlinArchiv be-sitzt.

35 StA Yl, S.  159, Brief 95, 99; auch S. 711, 31 ff.36 StAVI, S. 741,212.37 StAVL, S. 741, 18.38 Brief Sinclairs an die Universität Jena vom 25. November  

1795, Archiv der Universität Jena, Fach 161, Nr. 2224a.39 StAVI, S. 198, Brief 114, 17 f.40 StA VL,  S. 185, Brief 106, 60.41 Vgl.

StAVI, S. 185, Brief 106, 60 und

StAVI, S. 189,

Brief 109, 37.42 StAVI, S. 198, Brief 114, 18; StAVI, S. 201, Brief 116, 18 

und StAVI, S. 210, Brief 121, 86.43 StAVL,  S. 201, Brief 116, 189.44 Vamhagens Tagebücher,  aus dem Nachlaß des Verfassers, 

Bd. II, Leipzig 1861; Notiz vom Dienstag, dem 11. Juni 1844 und öfter.

45 Die Vamhagen von Ensesche Sammlung in der königlichen  Bibliothek zu Berlin, verzeichnet v. Ludwig Stern, Berlin 1911, S. 764.

46 Dafür sprechen sichere Indizien, welche der Öffentlich-keit zu gegebener Zeit bekanntgemacht werden sollen.

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 Nachtrag: Den Beweis für den Übergang der Sammlung Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothekin polnischen Besitz habe ich geführt in: „Beethoven,

Hegel und Mozart auf der Reise nach Krakau“, in: Neue  Rundschau 88, 2 (1977), S. 165 - 199. Bald danach habendie polnischen Behörden diese Tatsache auch eingeräumt.Wenig später sind die Autographen in der JagellonischenUniversitätsbibliothek in Krakau wieder zugänglich gemacht worden.

47 Nach seinem Buch Der Hochverratsprozeß gegen Sinclair ;Marburg 1949 (neue, verbesserte Auflage mit einem

 Nachwort von Alfred Kelletat, Frankfurt 1969), bereiteteer weitere Studien über Sinclair vor.

48 Der Nachlaß Kirchners wurde von seiner Witwe dem Hölderlin-Archiv übergeben. Dort hat der Vf. die Bedeutungvon Sinclairs Manuskript bemerkt und von Herrn Direktor Dr. Hoffmann dankenswerterweise die Erlaubnis zurAuswertung und zur Publikation erhalten. Nachtrag: Hannelore Hegels Edition ist 1971 unter dem Titel  Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel  in Frankfurterschienen. Der Vergleich mit den inzwischen zugänglichgewordenen Originalen zeigt, daß die Edition nach denAbschriften Kirchners weiterhin zitiert werden kann (vgl.Ch. Jamme, Isaac von Sinclairs „Philosophische Raisonne-ments.“ Zur Wiederauffindung ihrer Originale, in: Hegel- Studien 18 [1983], S. 240-44)

49 Walter Lotz, Die Beziehungen zwischen Friedrich Hölderlin und Isaac von Sinclair und ihr Verhältnis zu Heget[  phü.Diss. Basel 1925.

50 Das Material für den Nachweis dieser These ist in der inAnm. 48 erwähnten Arbeit von Hannelore Hegel zu Finden.

51 Ludwig Strauß, „Jacob Zwilling und sein Nachlaß“, Eu-  phorion 29, (1928), S. 368-396, vgl. 388. Dieser Nachlaßist seit Ende des Krieges beklagenswerterweise spurlos

verschwunden. TYotz aller Bemühungen Adolf Becks unddes Vf. wurde die Suche nach ihm in Bad Homburg nochnicht zu einem Ende gebracht.

 Nachtrag: Alle mitteilbaren Daten zu dieser Suche undihr letzter Stand sind angegeben in dem Aufsatz von

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D. Henrich „Jacob Zwillings Nachlaß. Gedanken, Nach-richten und Dokumente aus Anlaß seines Verlustes“, in: 

 Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte, hrsg. von Ch. Jamme und O. Pöggelei; Stuttgart 1981 (gekürzt in diesem Band, S. 83ff.) und in Jacob Zwillings 

 Nachlaß, eine Rekonstruktion,  hrsg. und erl. von D. Henrich und Ch. Jamme, (= Hegel-Studien, Beiheft 28), Bonn 1986, S. 13 ff.

52 Nachtrag: Hannelore Hegel (vgl. Anm. 48, S. 152, auch 254) ist zu einer anderen Lesart und Deutung von Sin-clairs griechischkryptischer Formel gelangt, welche den 

im Folgenden genannten Aufgaben der,Ästhetik1ebenso  entspricht. Ihre Lesart wird durch das nunmehr zugäng-liche Original des SinclairTextes bestätigt.

53 StAVI, S. 180 f., Brief 104, und StAVI, S. 202 f., Brief 117.54 StAUI, S. 235 ff.55 StAI, S. 1978.56 StAVL, S. 181, Brief 104, 14. Wie dies, so sind auch fol-

gende Referate aus Briefen nicht bloße Variationen. Sie dienen zugleich der Interpretation, indem sie Hölderlins  Gedankengang deudicher hervorheben.

57 StAL S. 496, 3 ff.58 Im Original steht natürlich am Schluß des Gedichtes ein 

Fragezeichen.59 StAVI, S. 154 ff, Brief 94.60 StAVI, S. 1556, 39 ff. Hölderlin hat von Beginn an ge-

funden, daß Fichtes Denken und seine Sprache einer  Deutung bedürfen, die er selbst noch nicht bereitstellt. Das ist nicht nur die Folge der Verständnisschwierigkeit gewesen, in die alle Leser Fichtes gerieten. Hölderlin empfand seine Sprache als unvereinbar mit seinen ausge-bildeten Überzeugungen. Die Sache aber, welche sie mit teilen wollte, schien ihm von außerordentlicher Bedeu-tung zu sein. Vgl. den Ton der Bemerkungen in Brief 94,

48 und 656; 97, 76; 103, 545; 104, 14 und StAIII,S. 190, 20/1.61 StAin, S. 155 f., Brief 94, 57 ff.62 Das ursprüngliche Sein war mit anscheinend legitimem  

Mittel aus dem Prinzip des Kritizismus, dem Bewußtsein

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abgeleitet. Der Schritt zu ihm benutzte Mittel, die sichvon denen Fichtes prinzipiell nicht unterscheiden ließen.So konnte Hölderlin durchaus meinen, der Weg zum Ge

danken von Urtheil und Seyn halte sich in größerer Nähezu Kants Kritik als der Rückgriff auf Platon, der ja einenSchritt weiter über die Kantische Grenzlinie hinaus zu

 bedeuten schien (StA VI, S. 137, Brief 88, 96). Gerade inden Jenaer Fassungen des Hyperion ist Hölderlin darum

 bemüht, Kantische Einwände gegen seine Gedanken zuentkräften (vgl. StA IIL, S. 192, 4; S. 202, 3).

63 Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt

1967.64 Noch in der Zeit des Wahnsinns ist Kant seine einzige

 philosophische Erinnerung gewesen. Die wenigen Worte,die uns überliefert sind, werden sich nur in der Folgeeiner Interpretation der Rolle der Philosophie im WerkHölderlins deuten lassen.

65 Im folgenden werden nur die Themenkreise - durchThesen - bezeichnet, über die ausgedehntere Studienmöglich und dringlich geworden sind.

66 Briefe von und an Hegel (vgl. Anm. 20), Bd. I, S. 22.67 Schiller an Erhard am 26. Oktober 1794, vgl. Fichte in 

vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, gesammelt undherausgegeben von Hans Schulz, Leipzig 1923, S. 26 f.

68 Zu erschließen aus K. A. von Reichlin-Meldegg, Heinrich  Eberhard Gottlob Paulus und seine Zeit, I., Stuttgart 1853,

S. 97 und 226.69 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe XVIII, hrsg. v.E. Behler, München u.a. 1963, S. 4 ff.

70 „Uber dichterische Composition überhaupt, und überlyrische insbesondere“, in Glauben und Poesie, hrsg. vonLucian, Berlin 1806, abgedruckt in F. von HellingrathsAusgabe Bd. III., S. 569 ff.

71  Briefe von und an Hegel (vgl. Anm. 20), Bd. I, S. 322, 354.

72 StAVI, S. 191, Brief 111, 36-7; StAVI, S. 203, Brief 117, 42.

Jacob Zwillings Nachlaß

73 Jetzt auch in Jacob Zwillings Nachlaß, vgl. Anm. 51.

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74 Vgl. Ludwig Strauß: Jacob Zwilling und sein Nachlaß“ (vgl. Anm. 51), S. 391 f. und Jacob Zwillings Nachlaß,S. 65. Vgl. Hegels Theologische Jugendschriften,  hrsg. v.

H. Nohl, Tübingen 1907 (unveränderter Nachdruck  Frankfurt 1966), S. 348.

Der Weg des spekulativen Idealismus

75 Der Bericht über die Nachlaßsuche ist gegeben in D. Henrich: Jacob Zwillings Nachlaß. Gedanken, Nachrich-ten und Dokumente aus Anlaß seines Verlustes“, vgl. 

Anm. 51. Soweit sich der Nachlaß aus allen Quellen re-konstruieren läßt, ist er zusammengeführt in: Jacob Zwillings Nachlaß. Eine Rekonstruktion, zitiert ebd. Nachkommende werden vermudich daran interessiert sein, die Umstände, unter denen Zwillings Nachlaß in Homburg nach 1955 verschwand, noch genauer zu ken-nen. Ich habe darum die Briefwechsel und Protokolle aus der Zeit meiner Suche nach ihm in Kopien im Hölderlin  

Archiv der Württembeigischen Staatsbibliothek in Stutt-gart hinterlegt.

76 M. Brecht, „Die Anfänge der idealistischen Philosophie  und die Rezeption Kants in Tübingen (17881795)“, in: 

 Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477- 1977,  hrsg.v. H.M. DeckerHauff u.a., Tübingen 1977,S. 381 ff.) hat eine verdiensdiche Übersicht über die Ar-beiten der Repetenten während Hegels Studienzeit erar-beitet. Gewicht und Auswirkung ihrer Positionen für die Ausbildung der spekulatividealistischen Philosophie ver-ständlich zu machen, ist nicht seine Fragestellung.

77 U. J. Wandel {Verdacht von Democratismus?, Tübingen 1981) hat neue Dokumente ans Licht gebracht, die dafür sprechen, daß Schelling als Student auch in politische Konspiration einbezogen war. Diez scheint sich auf die 

kantische Destruktion der Kirchenlehre beschränkt zu haben.78 Vgl. L. Döderlein und D. Henrich, „Carl Immanuel Diez, 

Ankündigung einer Ausgabe seiner Schriften und Briefe“, in: Hegel-Studien  3 (1965), S. 276 ff.

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79 Dies geht aus einem Brief Reinholds an J. B. Erhard vomJuni 1792 hervor. Den Editoren der Reinhold-Briefaus-gabe verdanke ich seine Kenntnis, der Direktion des

Goethe-Schiller-Archivs in Weimar die Genehmigung zuseiner Veröffentlichung. Sie wird im Rahmen der Studienzu Reinhold erscheinen, die oben (Seite 9) angekündigtwurden.

80 Schon Mitte der sechziger Jahre habe ich Schellings Platonkommentar und die Pauluskommentare in seinem Nachlaß identifiziert und vom Literaturarchiv der Akademie in Ost-Berlin auch die Genehmigung zur Veröffent

lichung erhalten. Hannelore Hegel hat damals eine Transkription angefertigt, und ich habe die recht aufwendigenStudien zur Aufklärung der zeitgenössischen Platoninter

 pretationen unternommen, die Schelling zu einem erheblichen Teil gekannt und benutzt hat. Ais die Schellingaus-gabe der Bayerischen Akademie geplant wurde, erschienmir die der Sache nach sehr wichtige Publikation des Platonkommentars außerhalb dieser Ausgabe überflüssig geworden zu sein. Da sich die Arbeit am Nachlaß in derEdition aber übermäßig verzögert, scheint mir ein ersterHinweis auf Gehalt und Stellenwert des Kommentars imRahmen dieser Übersicht nunmehr am Platze zu sein.

81 Ch. Jamme ist dieser Entwicklung nachgegangen: Ein ungelehrtes Buch, Bonn 1983 (21988) (=Hegel-Studien,Beiheft 23).

82 Wichtige Untersuchungen zu diesem Thema sind ausdem Umkreis der Werkausgaben der Akademien hervorgegangen, - aus der Hegelausgabe die von H. Kimmerleund K. Düsing, aus der Fichteausgabe die von R. Lauth.Ich meine allerdings, daß in ihnen die begrifflichen undtheoretischen Zusammenhänge, welche die Entwicklungvon Hegels reifem spekulativen Denken beherrschen, nochnicht als solche deutlich genug ausgearbeitet worden sind.

In einer Skizze „Andersheit und Absolutheit des Geistes“habe ich sie in abstracto zu entwickeln versucht (in:Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982. S. 142 ff.) Das diesemThema gewidmete größere Manuskript, das der Suhr-kamp Verlag Ende der siebziger Jahre schon einmal unter 

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dem Titel Das Andere seiner selbst  angekündigt hat, ist in seiner zweiten Fassung leider noch immer nicht vollendet.

83 Vgl. H. Timm, Gott und die Freiheit,  Bd. 1, Frankfurt 1974.

Über Hölderlins philosophische Anfänge

84 Über die zeitgenössischen Drucke unterrichtet die histo-rischkritische Ausgabe von Klopstock, Bd. III, 1, Berlin 1981, S. 115 ff.

85 Den Druck zu besdmm en sei den Kennern von Hölder-lins Beziehung zu Klopstock anheimgegeben. Es sei nur 

darauf aufmerksam gemacht, daß Hölderlin in der vierten  Zeile ,sehn’ und ,glauben’s’ mit Apostroph schreibt, nicht aber das ,schriebs‘ seiner Unterschrift, so daß die Apo-strophe abgeschrieben sein sollten. Die zeitgenössischen  Ausgaben unterscheiden sich in der Schreibweise dieser  beiden Verbformen und auch in der Schreibweise ,Glük‘; die Hamburger Ausgabe hat die Verbformen ohne Apo-stroph und sch reibt,Glück4.

86 Vgl. StAII, S. 141 und 715. F. Beißners Erläuterung der Hymne und die Interpretation ihres Schlusses durch W. Binder („Hölderlins Hymne ,Die Wanderung1“, in: HJb21 [1978/79], S. 170205, bes. S. 202 ff.) können also aus  der Kenntnis des Eintrags in Niethammers Stammbuch ergänzt werden. Es sei noch erwähnt, daß Heidegger sei-nen Vorlesungszyklus über Hölderlins Hymnen von 1941/2 mit eben diesen Schlußversen aus

 Die Wanderungschloß; vgl. Hölderlins Hymne Der Ister ; Gesamtausgabe, II. Abteilung, Band 53, Frankfurt 1984, S. 206.

87 Niethammers Stammbuch ist im Besitz der Familie von  Freiherr von HanielNiethammer in Schloß Tbnzenberg in Niederbayem. Dem Verfasser ist es schon vor über zwanzig Jahren bei der mit Johann Ludwig Döderlein ge-meinsam unternommenen Suche nach dem weit verstreu-

ten, aber bedeutsamen Niethammemachlaß zur Kenntnis gekommen. Den Besitzern sei für die Genehmigung der Veröffentlichung freundlichst gedankt. Auch Maria Köhler möchte ich an dieser Stelle für manche Auskünfte während der Edition danken. Das Stammbuch (in dem

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ein Eintrag, offenkundig von Schillers Hand, fehlt) besteht aus zwei auch durch ihr Format unterschiedenenTeilen mit 171 bzw. 68 fast durchgängig numerierten

losen Einzelblättem und ist von 1786 bis 1794 dicht,danach nur noch sporadisch besetzt. Es enthält, nebenvielen anderen aufschlußreichen Einträgen, einen Eintragvon Novalis, der schon vom 16. April 1791 datiert ist.(Er wurde der Novalis-Ausgabe zur Verfügung gestellt.)

88 Der Eintrag ist zu vergleichen mit dem nahezu gleichzeitigen Eintrag in das Stammbuch von C. C. Camerer, derals Nachtrag und somit versteckt in StA HI, S. 569 ver-

öffentlicht ist. Ihn unterschrieb Hölderlin gleichfalls mit„C. Hölderün“ (= candidatus).

89 Über Niethammer vgl. M. Schwarzmaier, Friedrich Immanuel Niethammer, ein bayerischer Schulre/ormator  (=Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 25) München1937; E. Hojer, Die Bildungslehre F. I Niethammers (= For

 schungen zur Pädagogik und Geistesgeschichte 2, hrsg. v. M.Rang), Frankfurt u. a. 1965; G. Lindner, Friedrich Immanuel Niethammer als Christ und Theologe (=Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Fotodruckreihe 1. Bd.),

 Nürnberg 1971. Keines dieser Werke hat die (vor allemin Tübingen und Stuttgart) zugänglichen Quellen zurBiographie vollständig ausgewertet. Aber SchwarzmaiersDarstellung gibt einen in allem Wesentlichen zutreffendenBericht von Niethammers Bildungsgang. Inzwischen nicht

mehr zugängliche Materialien sind benutzt in einer handschriftlichen Biographie von F. v. Lupin, die zugrundeliegt in: J. Döderlein, Unsere Väter,  Kirchenrat Chr. Dö-derlein, Oberkonsistorialrat I. v. Niethammer und HofratLudwig von Döderlein, Erlangen und Leipzig 1891. Siewurde auch von Schwarzmaier benutzt. Aus Niethammerseigenem curriculum vitae in  Depersuasionepro revelatio- ne..., Jena 1797, das gleichfalls schon von Schwarzmaier

 benutzt wurde, läßt sich ein für die folgenden Überlegungen wesentlicher Zusammenhang mit HölderlinsStammbuchblatt gewinnen.

90 Vgl. die Verwandtschaftstafel im Anhang zu H. W. Rath, Regina, die schwäbische Geistesmutter, Ludwigsburg 1927,

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ergänzt und erweitert durch H. DeckerHauff, Limburg 1981.

91 Vgl. StAVII, 1, S. 401, bes. 1418, und Anhang A, S. 164.

92 StAVI, S. 495.93 Niethammer hat bei einer späteren Numerierung seiner 

Stammbuchblätter irrigerweise den Eintrag Hölderlins als den primären, also als Eintrag auf der Vorderseite mit der  Nr. 50 versehen.

94 De persuasione... (vgl. Anm. 89), S. 67 des curriculums.95 Im Abschlußzeugnis Niethammers nach dem theologi-

schen Examen vom Sommer 1789 (Landeskirchliches 

Archiv, Stuttgart, A, 13, Nr. 1, Band 4) heißt es nur „stu dia philosophica et philologica non neglecta“. Der Unter-schied zu Hölderlins späterem Zeugnis von 1793 ist au-genfällig.In ihm steht die bekannte Aussage: „Philologiae, inprimis  graecae, et philosophiae, inprimis Kantianae, [...] assiduus cultor“ (StA  VII, 1, S. 479, Nr. 129).

96 Zur Stellung so lcher,Senioren1im Stift vgl. in der Aus-

gabe der Briefe und Schriften von Diez (vgl. den Hinweis o. S. 9) den Brief von Süßkind vom 2. XD. 1790, 2. Ab-satz, und den Kommentar dazu.

97 Schwarzmaier (vgl. Anm. 89) bietet Teile des Passus in Übersetzung, und nach ihm werden sie gelegendich  zitiert.

98 Es gibt aber eine Reihe von Indizien zu seiner Identifizie-rung: Schon aus der Widmung von Niethammers Schrift 

Philosophische Briefe über den Religionsindifferentismus (o.O. 1796) an den Stadtschreiber Krais in seinem Heimatort Beilstein (ein Onkel Niethammers, vgl. Lupin S. 29) kann man eine Vermutung hinsichdich des Gönners ableiten. Auch hat Niethammer nach Lupin a.a.O. (vgl. Anm. 89) später Krais’ Enkel während seines Studiums unterstützt. Aus den Briefen von Diez an Niethammer nach Jena geht 

zudem hervor, daß Niethammer Briefe an Krais schrieb, die er über Tübingen an ihn gelangen ließ (vgl. den Hin-weis o. S. 9).

99 Nach v. Lupin, S. 1011. Fischer trug sich auf Blatt 36 von  Niethammers Stammbuch am 5. Juli 1786 ein und emeu

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erte den Eintrag in Jena am 5. Juli 1790. Auch andere Tübinger waren zu Studien in Jena (vgl. z. B. M. Brecht, „Die Anfänge der idealistischen Philosophie und die Re-

zeption Kants in Tübingen (17881795)“ (vgl. Anm. 76), S. 390. Und mit Schiller und Paulus lehrten dort zwei der bekanntesten Schwaben der Zeit.

100 Diez’ Eintrag vom 23. III. 1790 lautet: „Man urtheilt ger-ne und häufig, aber man sucht ungeme und hat selten die dazu nöthige Data. Eine trösdiche Bemerkung, wenn wir ihr den gehörigen Einfluß auf unsere Gesinnung ge-gen die gefällte Urtheile verstatten! Diß sey gesagt ohne 

allen Bezug auf das, was DU, mein K. (= Klett, Vf.) auf  der ändern Seite gesagt hast. Es gilt uns, mein Freund N.! Ihr aufrichtiger Freund, Diez“.Dieser Text ist, in schon von Kant bestimmter Gedanken-führung, ein Hinweis auf die Aufgabe, die Niethammer und Diez (der im Stift dem Jahrgang vor dem Nietham-mers zugehörte) gemeinsam vor sich sahen: Gründliche Untersuchung der Grundlagen der Theologie und Glau-benslehre (vgl. Anhang B, S. 166).

101 Curriculum (vgl. Anm. 89), S. 8.102 Vgl. Anhang C, S. 167/8.103 Vgl. StAVI, S. 48 f., Brief 29, und A. Beck, „Hölderlin 

und das Stift im November 1789“, in: Glückwunsch aus Bebenhausen.  Wilhelm Hoffmann zum fünfzigsten Ge-

burtstag am 21. April 1951, Privatdruck, Dr. A. Kelletat, 

Schloß Bebenhausen 1951, S. 18 ff.104 Vgl. u. a. Dokument 72 in: Briefe von und an Hegel,  hrsg. v. F. Nicolin, Bd. IV, 1, Hamburg 31977, S. 89.

105 Vgl. oben Anm. 103, Brief 29, 1516.106 Curriculum (vgl. Anm. 89), S. 6.107 Vgl. S. 166 die in Anhang B mitgeteilte Passage aus Diez’ 

Briefen an Niethammer.108 StAVI, S. 190 f., Brief 111, 46.

109 StAVI, S. 202 f., Brief 117, 69.110 Vgl. D. Henrich, „Hölderlin über Urteil und Sein“, vgl. 

o. S. 49 ff.111 StAVII, 3, S. 579, Dokument (Nachtrag) 233, 1012.112 Niethamm er war schon 1792 D ozent und Adjunkt und

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1793 außerordentlicher Professor der Jenaer philosophi-schen Fakultät geworden (vgl. Anhang D, S. 168).

113 In der Tübinger theologischen Fakultät vertrat dieses  

Lehrgebiet Prof. J. F. Maerklin. Niethammers Abgangs-zeugnis (vgl. Anm. 95) erwähnt in Übereinstimmung mit dem Bericht seines Curriculums (vgl. Anm. 89)  Maerklin nicht als einen der Professoren, bei denen  Niethammer vorzüglich gehört hat. Doch ließe sich durch eine Analyse von dessen Standpunkt und Lehre wahrscheinlich machen, welche der zahlreichen Kom-pendien in Niethammers Prüfung der Grundlagen der 

Moraltheologie besondere Aufmerksamkeit finden muß-ten. Zur zeitgenössischen Literatur vgl. E. Luthardt, Geschichte der christlichen Ethik seit der Reformation,  Bd. 2, Leipzig 1893.

114 Vgl. z. B. Hegels Lebenslauf im Konversationslexikon von 1824, in: F. Nicolin (Anm. 104), Dokument 107, S. 127 f.

115 Das erste specimen (1 785) mit einem eindeutig kanti-schen Thema war das des späteren Prinzenerziehers, Ju 

raProfessors und IlluminatenFreundes Karl Heinrich Gros, des ersten in der Lokation von Diez’ Promotion.Es war das zweite der drei specimina von Gros und hat-te den Titel Entwurf einer Prüfung des kantischen Systems. Gros hatte auch bei Flatt gehört. Im übrigen vgl. M. Brecht (vgl. Anm. 76), S. 389 und zum Zusammenhang der Stiftsforschung in Beziehung auf Hegel und Hölder-lin die a.a.O. zitierten Aufsätze Brechts in den Hegelstu-dien und im HölderlinJahrbuch.

116 Vgl. Anhang B, S. 165 ff.117 Curriculum (vgl. Anm. 89), S. 7.118 StAVI, S. 63 f., Brief 41.119 Ebd. Die Stuttgarter Ausgabe enthält Hölderlins Noti-

zen zu Jacobis ,Spinozabüchlein4in Band IV, S. 207210  (nach ihr werden diese Notizen im folgenden zitiert), 

sowie Daten zu Hölderlins Umgang mit Jacobi und Spi-noza in Bd. IV, S. 397 f. und Bd. VI, Brief 41, 34; Brief  94, 48, und vor allem in den Erläuterungen zu diesen Briefstellen. Vgl. Anhang E, S. 169 f.

120 Vgl. Schwarzmaier, Hojer und Lindner (vgl. Anm. 89).

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Diez begann nach der Jahresmitte, die radikale Konsequenz aus der Kantischen Begrenzung alles Wissens aufmögliche Erfahrung zu ziehen und die Möglichkeit einer

Gewißheit aus Offenbarung in jeder Beziehung schlechtweg zu bestreiten. Diese Position konnte nach FichtesVersuch einer Kritik aller Offenbarung  (1792) und Kantseigener,Religionsschrift1(1793) nur noch schwer verteidigt werden. Das erklärt Niethammers schnelles und bereitwilliges Eingehen auf Fichtes Werk.

121 StA IV, S. 207, 28 und S. 731, 28.122 Ebd. S. 208, 1-2.

123 Vgl. schon StA IV, S. 207, 12-24.124 StA VI, S. 64, Brief 41, 34; auch diese Reihenfolge ist zu

 beachten.125 StA VII, 1, S. 195 f.126 StA I, S. 114 f. und 414. Zu den Aldermannstagen vgl.

StA l  S. 406.127 Vgl. allerdings StA VL, S. 54, Brief 33, 12 ff.128 StA  I,S. 101 ff.129 Vgl. StA VI, S. 470, Brief 34 a, 15 ff. Seine Mitteilung

über die Wichtigkeit des philosophischen Studiums fürihn leitet Hölderlin mit der gewichtigen Andeutung ein:„Ich habe noch vieles zu thun im Sinn.“

130 Diez im Brief vom 19. Juni 1790 an Niethammer: „VonAnfang des Februar an war, eine dreiwöchige Unter brechung und einige kleine Reisen ausgenommen,

Reinhold, Kant und Schulze beinahe mein einzigesGeschäfte.“131 Man kann sich vorstellen, daß Hegels schneller Über

gang zu Hölderlins Position, die Hölderlin in Jena 1795erarbeitet hatte, nach Hegels Ankunft in Frankfurt Anfang 1797 auch durch Hegels Kenntnis von Hölderlins

 philosophischer Intensität während der Zeit seit 1790wenigstens begünstigt gewesen ist. (Die gemeinsame

 philosophische Lektüre beider betraf, außer Platon,gerade Kant und Jacobi; vgl. K. Rosenkranz, G. JV. F.  Hegel’s Leben, Berlin 1844: fotomech. Nachdruck, Darmstadt 1963 [sowie 1977 mit einem Nachtrag von O. Pög-geler], S. 40.) Hegels Wendung in Frankfurt erklärt sich

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gewiß vor allem durch die innere Kraft von Hölderlins  neuer Position und durch ihre Beglaubigung, in der  Jenaer Gedankenschmiede entstanden zu sein, auch 

durch Hegels philosophische Sympathie für ihre Gehal-te, sofern sie nur theoriefahig gemacht werden konnten. Aber Hegel traute Hölderlin doch aus der Tübinger Er-fahrung zu, ihn selbst,leiten1und ,führen4zu können (StA  VI, S. 222, Brief 128, 41 ff., und die Erläuterungen  dazu). Hölderlin sieht umgekehrt in Hegel seinen Men-tor in Situationen, in denen ihn sein ,Gemüt zum dum-men Jungen4machte. Hegels Formulierung weist aber 

eher in den Bedeutungsumkreis auch theoretischer Ori-entierungshilfe (vgl. Maria Comelissen, Hölderlins Ode

 ,Chiron\   Tübingen 1958, S. 103), obwohl Hölderlin  ,Mentor6auch Niethammer nennt, und in diesem Fall im Blick auf philosophische Anleitungen, die er von ihm  empfangen hat (StA VI, S. 203, Brief 117, 24). Mit mehr  Sicherheit ließe sich darüber etwas vermuten, könnten wir schon Hegels erste Schritte zum philosophischen Sy-

stem zu denen Hölderlins in eine sachliche und chrono-logische Beziehung setzen. Aber die Dokumente aus He-gels Studium der Philosophie im engeren Sinne sind, was die Tübinger und Berner Zeit betrifft, von sehr ge-ringer Zahl. Und die Forschung ist mit gravierenden Folgen durch die Vormeinung desorientiert, in dem, was aus besonderen Gründen überliefert ist, liege uns auch ein vollständiges Zeugnis von Hegels philosophi-schem Werdegang vor. Es ist aber anzunehmen, daß die  

 jungen Hauslehrer auf ihren weiten und kostspieligen Reisen nicht alle Niederschriften mit sich führen und so-mit aufbewahren konnten und wollten. Darum ist es  womöglich nicht einmal ein Zufall, daß Hölderlins Brie-fe an Hegel vollständiger erhalten sind als die Briefe Hegels an Hölderlin. Und grundsätzlich güt wohl, daß 

die Korrespondenzbände beider Gesamtausgaben aufs neue durchgesehen werden müßten unter dem Gesichts-punkt der Umstände der Erhaltung von empfangenen  Briefen und der besonderen Gründe, welche der Emp-fänger für die Bewahrung gerade dieser Briefe gehabt

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haben konnte.132 Vgl. StA VI, S. 49 ff., die Briefe Nr. 30 und 31 und deren

Daten (StA VI, S. 550 f.).

133 Vgl. M. Brecht, „Hölderlin und das Tübinger Stift 1788-1793“, in: HJb 18 (1973/4), S. 20-48, insbesondere S. 38ff.

134 Zu der Ausgabe der Briefe und Schriften von C. I. Diezvgl. Anm. 78 und o. S. 116.

Philosophischtheologische Problemlagen am Tübinger Stift zur Studienzeit Hegels, Hölderlins und Schellings

135 H.E.C. Paulus, „Das theologische Stift in Tübingen inBeziehung auf die neuesten für dasselbe getroffenenVerbesserungsanstalten“, in: Neues theologisches Journal, hrsg. v. C.F. Ammon, H.C.A. Hänlein und H.E.G. Paulus,Band 5, erstes Stück, Nürnberg 1795, S. 70.

136 Der Brief ist am 26. Februar 1791 in Göttingen geschrie ben. Er wird im Rahmen der (leider schon lange verzögerten) Ausgabe der Briefschaften und Schriften vonDiez aus den Jahren 1790 bis 1794 veröffentlicht werden, vgl. o. S. 116.

137 G.C. Storr, Pauli Briefan die Hebräer erläutert, Tübingen1789 (21809); ders., Doctrinae christianaepars theoretica e 

 sacris litteris repetita, Stuttgart 1793. Diese biblische Dogmatik, die Storr von der kirchlichen unterscheidet (er

trug beide Kollegs im Wechsel vor), erschien in einerdeutschen Übersetzung durch C.C. (den jüngeren) Flattals Lehrbuch der Christlichen Dogmatik, Stuttgart 1803, -erheblich erweitert durch Erläuterungen und Literaturhinweise, die von Storr selbst durchgesehen und gebilligt waren. 1807 erschien die lateinische Dogmatik postum in einer aus Storrs Manuskripten erweiterten Fassung. Im folgenden werden Stellen der ersten Auflage

zitiert, aber in der Übersetzung von C.C. Flatt von 1803,und zwar als:  Dogmatik 138 G.C. Storr, Annotationes quaedam theologicae adphilosophi- 

cam Kantii de religione doctrinam, Tübingen 1793,deutsch als: Bemerkungen über Kants philosophische Religi-

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onslehre,  Tübingen 1794, übersetzt und mit Bemerkun-gen in Beziehung auf Fichtes Versuch einer Kritik aller  Offenbarungergänzt von F.G. Süßkind. Diese Überset-

zung wird im folgenden zitiert als: Bemerkungen139 Storr, Dogmatik   (vgl. Anm. 137), Vorrede S. XX.140 F.I. Niethammer, Philosophische Briefe über den Religions

indifferentismus,  o.O. 1796 (Sonderausgabe nach der Erstveröffentlichung im Philosophischen Journal),  S. 13 Anm.

141 Vgl. C.F. Stäudlin, „Von dem Zwecke und den Wirkun-gen des Tods Jesu“, in: Göttingische Bibliothek der neuesten theologischen Literatur,  hrsg. von J.F. Schleusner und C.F. Stäudlin, Band 1, 1794/5, S. 8756.

142 Ebd. S. 876.143 Ebd. S. 877, in ausdrücklicher Beziehung auf Storr.144 Für die Frühzeit von Hegel, Hölderlin und Schelling ist 

dies am deutlichsten aus Hegels Tübinger Fragment  zu belegen, und zwar aus seinem letzten Teil, der in Bern und wahrscheinlich spät im Jahre 1794 entstanden ist 

(vgl. Hegels theologische Jugendschriften  [vgl. Anm. 74],S. 6069). In diesem Text wird die Lehre der satisfactio  vicaria als Grundlehre des christlichen Glaubens ver-standen; und es wird ihr Hegels Bild von Jesus als das in einem ,Gottmenschen‘ hervortretende Ideal der Tb gend entgegengestellt. Hegel fand wohl, daß es notwen-dig sei, auf diese Mitte der Lehren der ,objektiven Reli-gion4und des orthodoxen Systems ausführlicher einzu-gehen, als er dies in dem vorausgehenden Text (Nohl, S. 5060, vgl. S. 59) getan hatte. Und dabei mußte er die wesentlichsten Züge und Argumente der Theologie in der Versöhnungslehre berücksichtigen und in knappen Skizzen abweisen. Es ist wahrscheinlich, daß dies auch der Grund dafür war, daß er Schelling zu eben der Zeit (am 24.XII. 1794) darum bat, ihm die Rezensionen von  

Maucharts Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften  nach Bern zu vermit-teln, die zwei Jahre zuvor in der Salzburger Oberdeutschen Literaturzeitungerschienen waren. Die beiden er-sten Bände des Repertoriums kamen 1792 in Nürnberg

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heraus, wohl zur Frühjahrs und zur Herbstmesse; die Rezensionen sind in der Oberdeutschen Literaturzeitungim 86. Stück (20. Juli 1792) und im 139. Stück (21. No-

vember 1792) erschienen. Sie haben zu ihrem beinahe einzigen Gegenstand eine Abhandlung des (wenig spä-ter gestorbenen) Repetenten G.C. Rapp „Über morali-sche Triebfedern, besonders die der chrisdichen Religi-on“ (im Repertorium Maucharts Band 1, S. 130156, Band 2, S. 133218). Im zweiten Teil dieser Abhandlung (Band 2, S. 142 ff.) hat Rapp es unternommen, Storrs Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch 

Christus gegen Einwürfe zu verteidigen und dabei auch in einigen Punkten zu verbessern. Die Rezension vom 21. November 1792 geht fast durchgängig auf diesen Ver-such Rapps ein. Sie zeigt Schwächen in Rapps Verteidi-gung und Verbesserung von Storrs Lehre auf und er-klärt, die Versöhnungslehre sei nicht als Teil der Lehre von Gottes Gerechtigkeit, sondern als Teil der Lehre von der Vorsehung zu behandeln (Stück 139, S. 978). Hegel  muß schon in Tübingen von diesen Fragen bewegt ge-wesen sein und dann bei seiner Ausarbeitung in Bern das Bedürfnis gehabt haben, die Argumente der Rezen-senten im einzelnen wieder vor Augen zu bekommen.M. Brecht, „Die Anfänge der idealistischen Philosophie und die Rezeption Kants in Tübingen (17881795)“ (vgl. Anm. 76), S. 390 ff. hat auf Rapps Bedeutung für 

Hegels Entwicklung in der Rezeption von Kants Moral-philosophie hingewiesen. Die Rolle der Rezensionen  von Rapps Abhandlung, in denen auch schon Fichtes OfFenbarungskritik und C.C.E. Schmids moraltheologi-sche Arbeiten berücksichtigt sind, bedarf ebenso wie  Rapps Arbeit im Zusammenhang der Theologie der Zeit noch weiterer Aufklärung. Im folgenden werden dazu noch einige Daten beigebracht. Schon vor sehr langem 

habe ich darauf hingewiesen, daß in dieser Debatte die  Rezeption von Schillers Kritik der Kantischen Moral-theorie durch die Tübinger einen Hintergrund hat, der sogar Schiller selbst über die Gespräche in seinem  Tischkreis erreicht haben könnte. Der Impuls, der die

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Tübinger Umbildung der Kantischen Philosophie auch in ihren Prinzipien bewog, kann aber dennoch von ihr nicht ausgegangen sein. Hegel war auch in Bern noch  

lange damit befaßt, Kants Autonomielehre gegen seine Widersacher, zumal die Tübinger, dadurch durchzuset-zen, daß er sie mit einem vertieften Verständnis der öf fendichen und zugleich subjektiven Religion und des  Geschichtsganges zum Bewußtsein der Freiheit verband und daß er zugleich den Gebrauch der in der Moral-theologie begründeten Postulate einzugrenzen versuchte.

145 Band 1, 1797; Band 2, 1798.

146 M.A. Länderer, Neueste Dogmengeschichte, Vorlesungen, hrsg. v. P. Zeller, Heilbronn 1881, S. 168 und Anm. 2.Der erste Band von C.C. Flatts Werk ist wirklich kaum  noch zu beschaffen, aber in der Göttinger Universitäts-bibliothek vorhanden.

147 Man vergleiche u.a. den Brief Flatts an Fr. H. Jacobi vom  29. September 1807 in: FJI. Jacobis auserlesener Briefwechsel in zwey Bänden,  hrsg. v. F. Roth, Leipzig 182527, 

Band 2, S. 402 f. In ihm spricht Flatt von dem Wunsch, Jacobi seine „große Verehrung persönlich bezeugen zu können“, als von einem seiner „angelegentlichsten Wün-sche“ (vgl. dazu u. S. 209). Und er übersendet Jacobi die von ihm und Süßkind besorgte Ausgabe der Predig-ten „meines unvergeßlichen mir ewig theuren Lehrers und väterlichen Freundes, Storr“.

148 Göttingen 1791.149 Ohne Verfasser, Über Religion als Wissenschaft zur Bestim

mung des Inhalts der Religionen und der Behandlungsart ihrer Urkunden,  Neustrelitz 1795.

150 Alle Nachweise werden sich in der Ausgabe der Briefe und Schriften von C.I. Diez finden (vgl. o. S. 116 und Anm. 78).

151 Vgl. die Briefe von Diez an Niethammer vom 19. Juni

1790 und vom 12. Juli 1791.152 Dies geht aus einem unveröffentlichten Brief Reinholds  an J.B. Erhard vom 18. Juni 1792 hervoi; dessen Kennt-nis ich den Bearbeitern der ReinholdKorrespondenz ausgabe verdanke.

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153 Dies geht hervor aus F.G. Süßkinds G egenbrief vom 26. Februar 1791 aus Göttingen.

154 Vgl. D. Henrich, „Leutwein über Hegel“, in: Hegelstudien, 

Band 3 (1965), S. 56 f.155 Vgl. Dogmatik   (vgl. o. S. 282, Anm. 137), § 107, Anm. 2,S. 673. Vgl. dazu auch Storrs Abhandlung „Über den Geist des Christentums“, in: Magazinfiir Dogmatik und 

 Moral,  hrsg. v. J.F. Flatt, 1796, S. 103 ff., insbesondere  S. 163 ff.

156 Ebd. S. 675, dort auch das folgende Zitat.157 Vgl. o. S. 282/3, Anm. 138.

158 Vgl. o. S. 283, Anm. 141.159 Vgl. Bemerkungen  (vgl. Anm. 138), S. 237.160 Ebd. S. 2389.161 Ebd. S. 223.162 F.G. Süßkind, „Uber die Gründe des Glaubens an eine 

Gottheit, als außerwekliche und für sich bestehende In-telligenz, in Beziehung auf das neueste System der abso-luten Identität“, in: Magazinßir christliche Dogmatik und 

 Moral, deren Geschichte, und Anwendung im Vortrag der   Religion,  fortgesetzt von F.G. Süßkind, 11. Stück, Tübin-gen 1804, S. 143 ff., 12. Stück, 1805, S. 24 ff, insbeson-dere S. 150 ff.

163 Die folgenden Überlegungen sind im Zusammenhang des „JenaProjektes“ weiter ausgearbeitet worden (vgl. u. S. 236 ff).

164 In einer Rezension von Fichtes Versuch einer Kritik aller  Offenbarungin: Neue allgemeine deutsche Bibliothek. Des  zweiten Bandes erstes Stück   von 1793, S. 3 ff, war schon  

die Möglichkeit erwogen worden, „es sey dem Hrn. Fichte mit seiner Theorie über die Offenbarung gar kein  rechter Emst“ (S. 43). Hegels Bemerkung zu der mit Fichtes Werk verbundenen Gefahr könnte ebenso wie Schellings Vermutung auch allein aus dieser Rezension  

hergeleitet werden, die wahrscheinlich Gotdob Emst Schulze zum Verfasser hat (vgl. J.G. FichteGesamtaus-gabe, hrsg. v. R. Lauth u.a., Band L, Stuttgart 1964, S. 13).

165 Vgl. K. Rosenkranz, G.fVJ'. Hegel’s Leben  (vgl. Anm.131), S. 40.

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166 Vgl. D. Henrich, „Über Hölderlins philosophische An-fänge“, in: Hölderlin-Jahrbuch  24 (1984/5), S. 16 ff. so-wie o. S. 155 ff. Hölderlins Exzerpten aus dem Spinoza  

Büchlein4liegt dessen erste Auflage zugrunde. Hölderlin  besaß möglicherweise auch die zweite Auflage (vgl. StAIV, S. 397 f.). Das Exemplar, auf das sich diese Vermu-tung gründet, war aber von ihm, wenn überhaupt, nur wenig durchgearbeitet. Wann, wie und nach welchem  Exemplar Hölderlin die zweite Auflage studierte, soll hier nicht diskutiert werden. Zieht man aber die Bedeu-tung in Betracht, welche in Tübingen der zweiten Aufla-

ge und ihrer Beilage VII zugemessen wurde, so ist die Vermutung wohlbegründet, daß gerade dieser Text Höl-derlins Aufmerksamkeit nicht entging. Auch Jacobi selbst verweist wiederholt im Gange der zweiten Aufla-ge auf gerade diese Beilage.

167 Die Fassung der WerkeF. H. Jacobis von 1819 ist über-arbeitet und gibt nicht mehr alle Anmerkungen der 2. Auflage wieder. Der vollständige Nachdruck in H. Scholz 

 Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit  [...] (=Neudruckeseltener philosophischer Werke,  hrsg. von der KantGesell schaft, Bd. VI), Berlin 1916, verzichtet auf den unge-kürzten Abdruck der in diesem Zusammenhang wichti-gen Vorrede.

168 Vgl. auch o. S. 285, Anm. 147.169 Tübingische Gelehrte Anzeigen,  90. Stück des Jahres 1787, 

vom 8. November 1787, S. 713 ff. Daß diese Rezension  von Flatt verfaßt wurde, ergibt sich u.a. aus einem  Selbstzitat auf Seite 718.

170 Tübingische Gelehrte Anzeigen,  34. Stück des Jahres 1790, vom 29. April 1790, S. 266 ff. Daß auch diese Rezension  Flatt zum Verfasser hat, ergibt sich aus ihrem Stil und  den Schwerpunkten seiner Nachfragen an Jacobi. Flatt war zumindest bis zum Eintreffen Abels im Jahre 1791 

für die ,Anzeigen4der fundamentalphilosophischen Literatur verantwortlich. Spätestens mit Flatts Übergang  in die theologische Fakultät (im Frühjahr 1792) ging  der Rang dieses Teils der Anzeigen deutlich zurück.

171 F.H. Jacobi, Uber die Lehre des Spinoza, neue, vermehrte

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Ausgabe, Breslau 1789, S. 415 A. Jacobis Erwähnung von Flatt ergibt sich aus den Argumenten, welche dieser  gegen Jacobis Theorie über die Kausalität in seiner 

wichtigsten Schrift vorgebracht hatte (vgl. J.F. Flatt, Fragmentarische Beiträge zur Bestimmung und Deduktion des Begriffes und Grundsatzes der Kausalität   [...], Leipzig 1788). Jacobi hat in der Beilage VII zur zweiten Auflage des ,SpinozaBüchleins‘ die These seines DavidHume wiederholt, daß der Begriff der Ursache in dem, wo-durch er sich von dem Begriff des Grundes unterschei-det, nur ein Erfahrungsbegriff sei, der vom Bewußtsein  

unserer eigenen Wirkungsfahigkeit abgeleitet ist. Der Grundsatz der Kausalität sei aber, wie der des Grundes, ein identischer Satz, nur eben nicht, wie der des Grundes, auf einen Begriff a priori begründet. Alle Ab-hängigkeit, welche die Vernunft einsehen könne, sei die von Gleichzeitigem, während die Kausalität die Abhän-gigkeit von einer in der Zeit vorausgehenden Ursache verlange. Flatts Fragmentarische Beiträge begründen in 

allen diesen Punkten eine andere Theorie; und sie wi-dersprechen Jacobi ausdrücklich in Beziehung auf den  Zusammenhang des Begriffes der Ursache mit dem der zeidichen Sukzession auf den Seiten 2026. Jacobi hat die in der Beilage VII angekündigten Erklärungen zu Flatts Argumenten niemals nachgeholt. Seine Analyse der Begriffe von Grund und Ursache ist aber sein wich-

tigstes, eigentlich sogar sein einziges Instrument zur Wi-derlegung von Spinozas Philosophie des Unendlichen. Flatts Kritik dieser Analyse sollte die Rationalität der  Ursachenerkenntnis und mit ihr dann auch die Erkennt-nis einer ersten Ursache in der Form des kosmologi  schen Gottesbeweises wieder herstellen. In ganz anderer Weise und Absicht hat später auch Hegel Jacobis Analy-se kritisiert und zwar so, daß aus der Kritik der An-

schluß an Spinozas eigenen Begriff des Absoluten und  an dessen Erkenntnis zurückgewonnen werden kann (vgl. „Glauben und Wissen“, in: Hegel, Ges. WerkeBd. IV, S. 351 ff). Die Beilage VII ist hier, wie auch in Hegels  anderen Kritiken an Jacobi, Hegels Haupttext. In einem

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Brief an Reinhold vom 11. Februar 1789 bemerkt Jacobi  selbst, daß er die VII. Beilage, „als Werk des Geistes be-trachtet, für den vorzüglichsten unter meinen philoso-

phischen Aufsätzen halte“ (vgl. E. Reinhold, Karl Leonhard Reinholds Leben und literarisches Wirken,  Jena 1825, S. 233).

172 Dies hat Kant selbst in seinem Brief an Jacobi vom 30. August 1789 getan (AA XI, S. 75 ff.; Brießnechsel, Aus-wahl und Anmerkungen von O. Schöndörffer, bearb. von R. Malter, Hamburg 31986, Brief 208, S. 413 ff.).

173 In Jacobis Gedankenführung zeichnet sich zum ersten-

mal ein Theoriemuster ab, das für den spekulativen Idea-lismus Hegels, Hölderlins und Schellings grundlegend  geworden ist: Endliches Bewußtsein läßt sich nur aus einem Prinzip begreifen, das selbst weder den Status ei-ner kantischen Idee hat noch aus der Form der Bewußt-heit als solcher definiert werden kann. Es ist aber nichts-destoweniger in diesem Bewußtsein und als sein Mög-lichkeitsgrund in einer Weise gegenwärtig1, die zu be-

stimmen eine der wesentlichsten Aufgaben der Philoso-phie ausmacht. In Jacobis VII. Beilage wird das Unbe-dingte nicht mehr als Abschluß des Regresses in der Reihe der Bedingungen genommen. Es ist als das von dieser Reihe unabhängige und das ihr vorgängige so-wohl begriffliche wie reale Korrelat zu aller Bedingtheit  gedacht. Und da wir ein Bewußtsein von uns selbst als von einem bedingten Dasein haben, ist uns das Dasein  des Unbedingten gewisser als dieses Dasein selbst. Ja-cobi nannte in der zweiten Auflage des ,SpinozaBüch leins‘ alles Wissen, das aufgrund eines Satzes vom Grun-de zustandekommt,,vermitteltes“Wissen und diesen Satz selbst einen solchen der ,Vermittelung4(Ebd.,S. 424, S. XXII). Insofern kann jenes Wissen, das auf ein  Unbedingtes geht, welches aller Vermittelung voraus-

liegt, nur,unmittelbares4Wissen sein. Die Begriffsform  von Hegels Denken, in dem aus der Begriffkorrelation von Unmittelbarkeit und Vermittelung die Einheit eines einzigen Gedankens geworden ist, ist zumindest ihrem sprachlichen Ausdruck nach direkt von der Terminologie

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der zweiten Auflage von Jacobis ,SpinozaBüchlein1her-zuleiten. Hegel hat diese nunmehr spekulative Begriffs-form erst seit der Jahrhundertwende gewonnen. Aber in 

seinem sprachlichen Anschluß an Jacobi und auch noch in der nunmehr vehementen Kritik an ihm tritt die Be-deutung der Auseinandersetzung gerade mit seinem  Denken deutlich hervor. Ihre Wurzeln in Tübinger Pro-blemlagen sind, wie hier gezeigt ist, noch hinreichend deutlich zu erkennen.

174 StAVI, S. 203, Brief 117, 42. Hölderlin hat ebenso wie Schelling Fichte zuerst in einem durch Jacobi vorberei-

teten Bezugsrahmen wahrgenommen, woraus sich die Spinozastudien in Waltershausen erklären (StAVI,S. 155, Brief 94, 57 ff). Im Unterschied zu Schelling war er aber mit der Kritik an Reinhold vertraut, die in Jena,  unter anderem von Niethammer, geübt wurde und die unmittelbar auch auf Fichte Anwendung finden konnte. Daraus ergibt sich, daß er Schelling nicht zustimmen  konnte in der Weise, in der dieser Fichtes Theorie des Ich mit Jacobis Unbedingtem in Verbindung brachte. Die Kontroverse zwischen beiden betraf also Grundle-gungsfragen in der Philosophie, nicht etwa nur die Be-ziehung zwischen Philosophie und Kunst (vgl. u. S. 261 f.).

175 StA VI S.  183, Brief 105, 36.176 Hegel an Schelling am 2. November 1800 (a.a.O. [vgl. 

Anm. 20] S. 59).

Die Erschließung eines Denkraums

177 „Uber Kants Entwicklungsgeschichte“, in Philosophische Rundschau  XIII (1966), S. 252 ff.

178 Vgl. D. Henrich, „Die Anfänge der Theorie des Subjekts  (1789)“ in: Zwischenbetrachtungen,  hrsg. v. A. Honneth, Frankfurt 1989, S. 106 f f 

179 Zum folgenden vgl o. S. 55 ff.180 Sinclair an Hegel am 5. Februar 1812, a.a.O. (vgl. Anm. 20) S. 395.

181 Manfred Frank, Das Problem der Zeit in der deutschen Romantik,  München 1972 (21990), Stefan Summerer, Wirk-

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1794 (Schiller-Nationalausgabe XXXV, Weimar 1964,S. 62).

194 Das Thema von Niethammers Einleitungsaufsatz zu

seinem Philosophischen Journal gab dazu unmittelbarAnlaß (vgl. Anm. 190, S. 44/5).195 Vgl. Anm. 180.

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Nachweise„Konstellationen“  ist unter demselben Titel zuerst

erschienen in:  Zur Architektonik der Vernunft, hrsg. von L.Berthold, Akademie-Verlag Berlin 1987, S. 11-27. DerBand wurde in erweiterter Form 1990 noch einmalgedruckt. Hier findet sich der Beitrag S. 15-31. Außerdem ist er von der Zeitschrift DialektikBand  18, 1989 aufS. 220-30 übernommen worden.

„.Hölderlin über Urteil und Seirt   erschien, mit demUntertitel „Eine Studie zur Entwicklungsgeschichte desIdealismus“ und einer Widmung für Karl Löwith im

 Hölderlin-Jahrbuch 1965-66, S. 73-96. In diesem Band istder Aufsatz durch ,Nachträge4aktualisiert. Da sich an ihnzahlreiche Publikationen über Hölderlins Philosophieangeschlossen haben, sollte er in seiner ursprünglichen

Gestalt erkennbar bleiben.

 Jacob Zwillings Nachlaß“ erschien in umfangreichererForm in:  Homburg vor der Höhe in der Deutschen Geistes

 geschichte, hrsg. von C. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart1981, S. 245-266, und zwar mit dem Untertitel„Gedanken, Nachrichten und Dokumente aus Anlaß sei

nes Verlustes“. Hier sind die Seiten 245-255 abgedruckt.In ihnen wird die spekulative Form von ZwillingsSystementwurf verdeutlicht, und zwar in Beziehung aufGrundprobleme und -alternativen des spekulativenDenkens überhaupt. Dieser Text befaßt sich also mitSachfragen der nachkantischen philosophischen Konstellation, die in den anderen Beiträgen nicht ausdrück

lich thematisch werden. In diesem, wie auch in allen folgenden Beiträgen, die zuvor schon veröffentlicht waren,sind durchweg geringfügige Korrekturen vorgenommenworden.

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 Der Weg des spekulativen Idealismus*  stand, mit demUntertitel „Ein Resume und eine Aufgabe“, ursprünglicham Ende des von D. Henrich und C. Jamme herausgege

 benen Bandes  Jacob Zwillings Nachlaß, Eine Rekonstruktion  (=Hegel-Studien, Beiheft 28, Bonn 1986) auf S. 77-96. Er gibt eine Übersicht über Resultate und Problemeder Konstellationsforschung zur Entstehungsgeschichteder nachkantischen Philosophie. Er formuliert zumersten Mal die Aufgaben, denen die Arbeiten des Jena-Programms4galten.

„Uber Hölderlins philosophische Anfänge"  erschien mit demUntertitel „Im Anschluß an die Publikation eines Blattesvon Hölderlin in Niethammers Stammbuch“ im  Hölderlin-Jahrbuch 1984-85, S. 1-28. Ein Korrektumachtrag dieses Druckes ist in den Text selbst eingearbeitet worden.

 philosophisch-theologische Problemlagen im Tübinger  Stift zur Studienzeit Hegels, Hölderlins und Schellings“erschien im  Hölderlin-Jahrbuch  1986-87, S. 60-92. DieForm eines Vortragsmanuskripts (aus Anlaß der 450-Jahrfeier des Tübinger Stiftes) ist erhalten worden.

 »Die Erschließung eines D enkraum t  ist der Bericht, denich vor dem Lehrkörper des Instituts für Philosophie derUniversität München über die Arbeiten des Jena-Programms4und über seine Ergebnisse im Januar 1990gegeben habe. Der Text ist eine stark überarbeiteteAbschrift von einem Tonband. Alle Mitteilungen, welchedie äußere Organisation der Forschung betrafen, sind weggefallen. Dagegen sind die Ergebnisse der Forschung, die

 bis zum März 1991 erzielt wurden, eingearbeitet worden.Dieser Text resümiert auch einige der Ergebnisse desBuches  Der Grund im Bewußtsein, Hölderlins Denken in 

 Jena 1794-95, Stuttgart 1992.

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Die Nachweise über weitere Arbeiten des Verfassers zurEntstehungsgeschichte des Idealismus und vor allem zuHegel sind in der ..Bibliographischen Notiz1am Ende von

 Hegel im Kontext,  4. (veränderte) Auflage, Frankfurt 1988,zusammengestellt. Zusätzlich ist auf D. Henrich,  Der  Gang des Andenkens, Beobachtungen und Gedanken zu 

 Hölderlins Gedicht, Stuttgart 1986 zu verweisen.

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