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Klaus-Peter Gast
Zeitgenössische Architektur in IndienModerne Traditionen
Birkhäuser
Basel · Boston · Berlin
gast_moderne_traditionen.indb 3 16.02.2007 16:06:09 Uhr
—Grafische GestaltungMiriam Bussmann, Berlin
—Bildverarbeitung Licht+Tiefe, Berlin
—CAD-AssistenzRaphel Kalapurakkal, Cochin
—DruckFreiburger Graphische Betriebe, Freiburg i. Br.
Dieses Buch ist auch in englischer Sprache erschienen:ISBN 978-3-7643-7754-0
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© 2007 Birkhäuser Verlag AGBasel · Boston · BerlinPostfach 133, CH-4010 Basel, SchweizEin Unternehmen von Springer Science+Business Media
Printed in Germany
ISBN 978-3-7643-7753-3
9 8 7 6 5 4 3 2 1
www.birkhauser.ch
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Vorwort
Raj Jadhav
—INDISCH-MODERN
Charles Correa and Associates
Regierungsgebäude Vidhan Bhavan
Bhopal, 1997
Rahul Mehrotra and Associates
Haus in einer Plantage
Ahmedabad, 2004
Raj Rewal and Associates
Bibliothek des indischen Parlaments
Neu-Delhi, 2003
—REGIONALISTISCH-MODERN
Shimul Javeri Kadri Architects
Produktionsgebäude für Synergy Lifestyles
Karur, 2004
—SPÄTMODERN
HCP Design and Project Management Pvt. Ltd.
Indian Institute of Management
New Campus (IIM)
Ahmedabad, 2006
Charles Correa and Associates
Stadtplanung
Mumbai und Bagalkot, im Bau
—MINIMAL-ÖKONOMISCH
Raj Rewal and Associates
CIDCO Lowcost Housing
Neu-Mumbai, 1993
Auswahlbibliografie
Der erwachende Riese
—KLASSISCH-MODERN
Khareghat and Associates
Wohnhochhäuser Belvedere und Tytan
Mumbai, im Bau
Klaus-Peter Gast
Haus Leslie Pallath
Cochin, 2005
—MATERIALBETONT
Rahul Mehrotra and Associates
Unterkünfte des Tata Institute of
Social Sciences
Tuljapur, 2000
—TRADITIONSVERBUNDEN
Shimul Javeri Kadri Architects
Ayushakti – Klinik für ayurvedische
Behandlung
Mumbai, 1999
Karl Damschen
Brunton Boatyard Hotel
Cochin, 1999
—ÖKOLOGISCH-NACHHALTIG
Karan Grover and Associates
Sohrabji Godrej Green Business Center
Hyderabad, 2003
Bildnachweis
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Inhalt
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Trotz ihrer modernen Formensprache ist die zeitgenös-
sische Architektur Indiens in vieler Hinsicht tief in ihrer Jahr-
tausende alten Vergangenheit verwurzelt. Anders als die
moderne Architektur des Westens, die nach der durch die
Weltkriege verursachten Verwüstung weiter Landstriche
gleichsam von einem reinen Tisch aus neu begann, ist die
indische Architektur als natürliche Fortsetzung ihrer mehr-
tausendjährigen, dabei durch zahlreiche Fremdeinflüsse ge-
prägten Geschichte zu verstehen. Der Versuch, den jewei-
ligen Fremdeinflüssen Raum zu schaffen, wurde von einem
langen und zähen Prozess der Untersuchung und Selbstprü-
fung etablierter Konventionen begleitet. So kommt es, dass
die indische Architektur eines jeden Zeitalters sowohl Aus-
druck ihrer Zeit ist, als auch tief in ihrer Vergangenheit ver-
wurzelt bleibt. Wer die heutige Architektur Indiens begreifen
will, muss also auch verstehen, welche Faktoren ihre Metho-
den bestimmen und wie man sie begründet.
Die Technologie ist heute ein fester Bestandteil der west-
lichen Weltanschauung. Sie bestimmt Verfahren und Produk-
tion, ebenso wie im Gegenzug diese die Technologie bestim-
men. Im Kontext des “Neubeginns” und seiner Ursachen
konnte sich die westliche Welt tatkräftig der Zukunft zuwen-
den. Die Technologie ermöglichte ihr, in unerforschte Be-
reiche vorzudringen und dabei eine neue Art von Architektur
hervorzubringen. Heute bestimmt zum großen Teil die Tech-
nologie, was an Architektur entsteht und welche Vorstöße in
neue Richtungen sie unternimmt. Romi Khosla bezeichnet
solche Sondierungen des Neuen, die aus “Dynamik und Be-
wegung” als den primären Impulsen der westlichen Welt
entstehen, als abstract futures1 – abstrakte Zukunftsszenari-
en. Die vormoderne Vergangenheit spielt, wenn überhaupt,
nur eine untergeordnete Rolle.
Im Gegensatz hierzu sind die Kulturen Asiens durch ihre
Bindung an die Vergangenheit und die davon ausgehende
Verpflichtung gekennzeichnet, im Verlaufe ihrer bruchlosen
Fortentwicklung die Dynamik der Moderne aufzunehmen
und im eigenen Sinne zu verarbeiten. Der Osten kann die
Moderne nicht ignorieren. In erster Linie seiner Kolonialge-
schichte wegen, doch auch aufgrund von zunehmender glo-
baler Interdependenz und deutlicher werdenden Homogeni-
sierungstendenzen, hält man sie allgemein für die unver-
meidliche Richtung der Zukunft. Die Länder des Ostens sind
nun dauerhaft Teil der modernen Welt. Die Herausforderung
besteht daher darin, ihre weit zurückreichende Vergangen-
heit mit dem Geist, den Systemen, Methoden und Produkten
der modernen Welt auszusöhnen. Genau von diesem Stand-
punkt aus sollte dieses Buches gelesen werden.
Pluralismus im indischen Kontext Spiritualität und da-
mit verbundene Mythen bilden den Kern der indischen Iden-
tität. Die Geisteshaltung der Toleranz lässt sich bekanntlich
bis zu den Anfängen der indischen Zivilisation und insbeson-
dere bis zu ihrem Diskurs zur Spiritualität zurückverfolgen.
So erklärt sich, dass zahlreiche Lehren gleichzeitig entstehen
und koexistieren konnten. Der Hinduismus als Weltanschau-
ung2 bestand neben dem Buddhismus, dem Dschainismus
— VorwortRaj Jadhav
Grundriss eines nordindischen Tempeltyps
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Nordindischer Tempeltyp — Fatehpur Sikri — Verwaltungsgebäude, Mumbai — Art Deco Kino, Mumbai
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und weiteren Lehren, die sich alternativ zur hinduistischen
Gedankenwelt herausbildeten. Die mit den jeweiligen Lehren
verbundene Architektur spiegelte deren Vorstellungen wider
und war bestimmt durch in skulpturaler Erzählform darge-
stellte kosmologische Konnotationen, Mythen und Diskurse
sowie insgesamt durch Anspielungen auf das holistische und
integrative Weltverständnis ihrer Zeit. Zu einem großen Teil
basierte die Bautätigkeit auf komplexen altindischen Kunst-
theorien.
Als im 7. Jahrhundert n. Chr. persische Eroberer in Indien
einfielen, unterschied sich ihre Auffassung der Welt wesent-
lich von den bestehenden Weltanschauungen. Dieser neue
Fremdeinfluss war geprägt durch Opulenz, durch die de-
monstrative Darstellung von Reichtum, durch persische Form
und Ästhetik, ihre Erzählform lag in der Beschriftung der
Bauwerke mit Koranversen. Das Verbot der Abbildung von
Menschen und Tieren stand in direktem Gegensatz zu den
skulpturalen Erzählformen der vor-islamischen Kulturen.
Weitere Unterschiede zeigten sich im Laufe der Zeit. Für die
Dauer von beinahe 1000 Jahren bestanden die islamischen
und vor-islamischen Architekturformen nebeneinander. Die
Bevölkerung lernte entweder, mit den Unterschieden zu le-
ben, oder sie versuchte, sie miteinander in Einklang zu brin-
gen. Aller Differenzen zum Trotz gab es Versuche einer Aus-
söhnung vor-islamischer und islamischer Ausdrucksformen.
Die im 16. Jahrhundert n. Chr. durch den indischen Großmo-
gul Akbar errichtete Stadt Fatehpur Sikri ist ein Beispiel für
solch einen Harmonisierungsversuch.
Ab ca. dem 17. Jahrhundert brachten die allmählich ein-
treffenden europäischen Kolonialisten eine von kartesischer
Vernunft, christlicher Religion und europäischem Klassizismus
geprägte dritte, grundverschiedene Weltanschauung mit den
daraus hervorgehenden Stilformen ins Land. Die Architektur
wurde mit ihrem Streben nach Größe und Erhabenheit und
ihren Stilelementen zu einem Ausdruck der Macht des Welt-
reichs. Einheimische Handwerker, die in den Jahrtausende
alten Handwerkstraditionen geschult waren, wurden in die
europäischen Künste neu eingewiesen. Dem Pluralismus der
indischen Architektur wurde durch die Kolonialarchitektur ein
weiteres Element hinzugefügt. Mit der britischen Kolonial-
herrschaft kamen das Gedankengut der Moderne und damit
neue Baustoffe, neue Technologien, neue Methoden und Ver-
fahren nach Indien. Der Niedergang der Jahrtausende alten
Handwerkstraditionen ließ sich nicht vermeiden. Nicht länger
bestimmten srenis (Gilden) von mistris (Handwerkern) das
Bauwesen, sondern Architekten und Ingenieure, deren Ent-
würfe an Zeichentischen entstanden und die die am Bau ein-
gesetzten Materialien nie in die Hand nahmen.
Art Deco wurde für die moderne Architektur vom Beginn
bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer bedeutenden
Stilrichtung, an der sich bis weit in die 1960er Jahre viele
Bauprojekte orientierten. Nachdem Indien 1947 die Unab-
hängigkeit erlangt hatte, wandte sich der in England ausge-
bildete Jawarharlal Nehru auf der Suche nach einem Vorbild
für eine seiner Vision von einem industrialisierten Indien ent-
sprechenden Architektur an Le Corbusier. Dessen Entwurf
der Stadt Chandigarh avancierte zum Symbol der modernen
indischen Architektur. Zu jener Zeit wurde Indien nach sozi-
alistischem Muster regiert und das Land nahm gewaltige
Infrastrukturprojekte, darunter die Errichtung von Verwal-
tungsgebäuden und Wohnungsbauprojekten, in Angriff. Der
Modernismus im Stil Le Corbusiers wurde über zwei Jahr-
zehnte lang nicht in Frage gestellt.
Erst in den 1980er Jahren erkannte man, dass der dem
Geiste Le Corbusiers entspringende Modernismus keine aus-
reichende Antwort auf die Realitäten des Lebens in Indien bot.
Es hatte sich gezeigt, dass das Bauwesen die weit zurückrei-
chende Vergangenheit Indiens nicht außer Acht lassen durfte,
da diese Vergangenheit Indiens zugleich in der Gegenwart
des Landes fortlebt. In einer natürlichen Fortsetzung der lan-
gen indischen Baugeschichte musste man sich den Modernis-
mus aneignen und dabei im eigenen Sinne verarbeiten. Ent-
sprechend versuchten Architekten wie Raj Rewal, Charles
Correa oder Balkrishna Doshi die moderne Architektur mit
dem, was man gemeinhin als “indisch” identifizierte, auszu-
söhnen und so eine “moderne indische” Architektur entste-
hen zu lassen – ein weiteres Konzept unter der Vielzahl der
architektonischen Ausdrucksweisen, die die indische Zivilisa-
tion im Verlaufe der Jahrtausende hervorbrachte.
Zwischenzeitlich setzte man in verschiedenen Landesteilen
die modernistisch geprägte Erkundung architektonischen
Neulands fort. Das von Roger Anger entworfene Matrimandir
in Auroville zeugt, ebensowie eine Anzahl weiterer Bauten am
selben Ort, von Spiritualität; Laurie Bakers Arbeiten in Kerala
sind kostengünstig, basieren auf Selbsthilfe und sind ebenso
wie sein Center for Developmental Studies sowohl kultur- als
auch klimagerecht; Satish Gujrals Bau der belgischen Bot-
schaft in Neu-Delhi hat Skulpturcharakter und nimmt auf hin-
duistische Mythen Bezug – um nur einige wenige Beispiel für
die Vielfalt der in den vergangenen zwei Jahrzehnten in In-
dien entstandenen modernen Architektur anzuführen.
Das Jahr 1991 markiert insofern einen entscheidenden
Einschnitt in der indischen Geschichte, als die Regierung in
jenem Jahr den sozialistischen Gesellschaftsentwurf aufgab,
die indische Volkswirtschaft liberalisierte und damit den glo-
balen Realitäten anpasste. Für die Bautätigkeit in Indiens
Städten hatte diese “Liberalisierung” ungeheure Auswir-
kungen. Die Architektur der Großkonzerne und der global
operierenden Finanzwelt mit ihren Fassaden aus Glas und
Aluminium und ihrer universalen Formensprache bestimmte
nun einen bedeutenden Teil der Bauaktivitäten. Daneben
wurde der Einzelhandel zu einem wichtigen Auftraggeber
des Bauwesens. Jetzt war es die Globalisierung der Wirt-
schaft, die die indische Architektur bestimmte. Die Ära des
Vorwort
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Jawahar Kala Kendra Kunstzentrum, Jaipur, Charles Correa — Hiranandani Gardens
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Sozialismus mit ihren staatlich kontrollierten Produktionsme-
chanismen war vorüber; in der Architektur regierten nun
Angebot, Nachfrage und Profitabilität.
Neben der Architektur, die im Auftrag der Großkonzerne
und Einzelhandelsunternehmen entsteht, gibt es auch noch
den gewaltigen Bereich des Wohnungsbaus. Zuwanderung
zu den urbanen Zentren verstärkt die Nachfrage nach Wohn-
unterkünften und führt zu einer deutlichen Erhöhung der
Preise für Wohneigentum. Die zunehmende Anzahl von im
Wohnungsbaubereich tätigen Bauunternehmern “verpackt”
ihre Gebäude so, dass sie auf Käufer möglichst attraktiv wir-
ken. Riesige Wohnkomplexe werden mit Ornamenten ver-
ziert, die der klassischen europäischen Architektur entlehnt
sind. In Städten wie Mumbai finden sich solche Bauten recht
häufig, die Hiranandani Gardens des Architekturbüros Ha-
feez Contractor sind ein Beispiel hierfür.
Daneben bestehen die Vorstellungen der modernen in-
dischen Architektur ebenso weiter wie (in Sakralbauten und
Wohnhäusern auf dem Lande) die Formensprache traditio-
nellen Bauens und zahlreiche weitere Ausdrucksformen. Eine
solche Vielfalt könnte meiner Meinung nach ohne das in der
altindischen Spiritualität verwurzelte Prinzip der Toleranz
nicht existieren. Auch weiterhin wird dieses fortbestehende
Toleranzprinzip Fremdeinflüsse aufnehmen, indem es sie sich
zu eigen macht und den Bedürfnissen indischer Nutzer an-
passt. Darüberhinaus steht es nach dem Beitritt Indiens zum
Global Agreement on Trade and Services (GATS), dem welt-
weiten Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen, nun
ausländischen Architekten frei, im Land tätig zu werden. Dies
wird den Pluralismus weiterhin stärken und damit die in-
dische Architektur spannender und bunter machen.
Soziokulturelle Determinanten In seinem Buch House
Form and Culture3 vertritt Amos Rapoport die Auffassung,
dass die Form eines Hauses in erster Linie durch einer be-
stimmten Gesellschaft entwachsene soziokulturelle Faktoren
bestimmt wird und erst danach durch pragmatische Überle-
gungen hinsichtlich solcher Faktoren wie Wirtschaftlichkeit,
Klima, Materialwahl oder Technologie. Man kann beobach-
ten, dass ein Großteil der indischen Architektur dieser Theo-
rie entspricht. Die als Vastu Shastra bekannten altindischen
Schriften zur Baukunst werden in der modernen indischen
Architektur häufig zur Planung von Häusern, Wohnbaukom-
plexen, Büro-, Wirtschafts- und Industriebauten sowie ande-
rer Gebäudetypen herangezogen.
Von der Stadtentwicklung bis zur Möblierung eines Raumes
regeln die Lehren des Vastu Shastra Planung und Entwurf bis
in die Einzelheiten hinein. Seine Vorgaben leiten sich, wie
man sagt, von einer uralten, erfahrungsgeprägten Kenntnis
des menschlichen Körpers und seines Verhältnisses zu Erde
und Kosmos ab. Die Beachtung der Regeln, so glaubt man,
sorgt für ein allgemeines Wohlbefinden des Menschen. Ein
Klient also, der an die Prinzipien des Vastu Shastra glaubt,
wählt anhand der Leitlinien dieser Schriften sein Grundstück
aus und ordnet Baufunktionen und -elemente entsprechend
an. Architekten und ihre Klienten konsultieren Vastu Shastra-
Berater, bevor sie sich auf einen Entwurf einigen. Zur Zeit
lässt sich ein rapides Wiederaufleben dieser alten Wissens-
lehre beobachten.
Raj Rewal verfolgt in seinen Arbeiten einen anderen An-
satz der soziokulturell bestimmten Architekturgestaltung.
Rewal hat sechs ihrem Zweck nach multifunktionale Ele-
mente der traditionellen Architektur identifiziert – d.h. es
handelt sich um soziale und kulturelle Räume, die klimage-
recht sind und die, traditionellerweise, Symbole der Gemein-
schaftsidentität darstellen. Die Gruppe dieser sechs Elemente
setzt sich aus der Bebauungsstruktur, den Häusergruppen,
den Innenhöfen, Straßen, darwaza (dem Tor als Element,
dass das Innen im Kontrast zum Außen definiert) und den
Dachterrassen zusammen. In seinen Entwürfen nutzt Rewal
beispielsweise den Innenhof als einen Raum, in dem zwi-
schenmenschliche Begegnungen und kulturelle Aktivitäten
stattfinden können. Daneben dient der Innenhof als Licht-
schacht und als effektive Belüftungsstrategie in heißen und
trockenen Klimazonen. Mit dem Central Institute for Educa-
tional Technology in Neu-Delhi überführt Rewal wesentliche
Elemente eines als chhatri bekannten, auf einer Terrasse ge-
legenen traditionellen Aussichtspavillions in eine moderne
Ästhetik, in der das überkommene Sinnbild der lokalen Iden-
tität aufscheint.
Darüber hinaus spielt Rewal auf die altindische Kunsttheo-
rie des rasa an – es handelt sich um ein Wort aus dem Sans-
krit, das dem deutschen Begriff von “Geschmack” in einer
überhöhten Bedeutung von “Essenz” nahekommt. Mit “Cha-
rakter” sollte es nicht verwechselt werden. In Bezug auf die
Architektur lässt sich die Vorstellung von rasa als die Einbin-
dung einer einzigartigen, praktisch erfahrenen Ästhetik ver-
stehen, die sich sowohl harmonisch zu Gebäudefunktion
und -zweck verhält, als auch dazu etwas hinzufügt. Dahinter
steht die Absicht, eine Architektur zu gestalten, die nicht nur
funktional ist, sondern auch auf eine mit der Gebäudefunk-
tion harmonisierenden Weise den Tastsinn und die Augen
anspricht. Außerdem trägt die Übernahme dieser Vorstellung
von rasa dazu bei, eine Verbindung zur Kultur der Vergan-
genheit herzustellen. Andere Architekten wie beispielsweise
Charles Correa ziehen es vor, in ihren Bauten eine kulturell
besetzte bildliche Darstellung zu verwenden. So bezieht er
sich im Falle des Jawahar Kala Kendra in Jaipur mit seinen
großflächigen Wandbemalungen auf altindische Hindu-My-
then und machte ein aus neun Quadraten bestehendes man-
dala (eine Darstellung der Welt in geometrischer Form)4 zur
Basis seines Bauplans.
In den ländlichen Gegenden Indiens beeinflussen sozio-
kulturelle Faktoren häufig die volkstümliche5 Baugestaltung.
Vorwort
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Central Institute of Educational Technology (CIET), Neu-Delhi
Sohrabji Godrej Green Business Center, Hyderabad
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So bestimmt beispielsweise die Rolle der Frau in der Gesell-
schaft die den Frauen vorbehaltenen Bereiche in einem Haus.
Die dekorativen Muster und Farben, mit denen die Häuser
geschmückt sind, haben eine tiefe kulturelle Bedeutung. Ei-
nige dieser Schmuckelemente werden auch in der urbanen
Architektur Indiens verwendet. Auch weiterhin bestimmen
soziokulturelle Elemente und Räume die Architektur Indiens
wesentlich mit. Diese starke Identifizierung mit dem Wesen
des Indischen ist ein fester Bestandteil sowohl der traditio-
nellen als auch der modernen Architektur Indiens.
Nachhaltiges Bauen – eine altindische Tradition Die
Lehren der altindischen Spiritualität verstehen den Menschen
als einen Teil des Universums und stellen die menschliche
Existenz in ein direktes Verhältnis zu kosmischen Abläufen.
Aus dieser Auffassung heraus begegnete die altindische Zivi-
lisation ihrer Umwelt stets mit Respekt. Klimagerechte Ge-
staltung, die Verwendung von örtlich verfügbaren und nach-
haltig gewonnenen Baustoffen und die Regenwassergewin-
nung gehörten typischerweise zu ihren Grundsätzen.
Insbesondere die klimagerechte Baugestaltung befindet sich
nach Jahrtausenden ihrer Verfeinerung auf einem sehr ho-
hen Entwicklungsstand. Das Wissen darum scheint bedauer-
licherweise im Laufe der vergangenen 50 Jahre an Bedeu-
tung verloren zu haben.
Heute jedoch verbinden verschiedene Architekten die tra-
ditionellen Methoden und Prinzipien des nachhaltigen Bau-
ens mit modernen Methoden und Prinzipien. Karan Grovers
CII Sohrabji Godrej Green Business Center (CII-Godrej GBC)
in Hyderabad ist ein Beispiel einer solchen Verbindung. Das
Gebäude setzt traditionelle indische Gestaltungsprinzipien
des nachhaltigen Bauens im Rahmen der als United States
Green Building Council’s (USGBC) Leadership in Energy and
Environmental Design (LEED version 2) publizierten Leitlinien
ein. Diese Leitlinien berücksichtigen bereits solche herge-
brachten indischen Prinzipien wie die Verwendung von ört-
lich vorhandenen und nachhaltigen Materialien und die Re-
genwassergewinnung. Darüber hinaus bedient sich Grover
jedoch auch anderer traditioneller Techniken wie der Ver-
wendung von Windtürmen, die Wind einfangen, ihn durch
ihren Schacht hindurchführen und die Luft aufbereiten (im
Falle des CII-Godrej GBC mit künstlichen Mitteln), bevor sie
in die bewohnbaren Räume eingeleitet wird. Eine weitere
traditionelle Methode des klimagerechten Bauens ist die An-
ordnung des Gebäudes um einen Innenhof herum. Der In-
nenhof trägt dazu bei, den Bedarf an künstlichem Licht zu
senken, spendet dank der Gebäudemasse Schatten und er-
leichtert die Abwasserrohrentlüftung.6 Das CII-Godrej GBC
strebt die Verbreitung der revidierten LEED-Leitlinien inner-
halb Indiens und in Asien an, um die CII-Godrej GBC-Initiati-
ve ins Zentrum des grünen Bauens in Asien zu rücken.7 Mit
solchen Vorhaben wird das nachhaltige Bauen in der moder-
nen Architektur des heutigen Indien institutionalisiert. Ganz
offensichtlich liegt die Zukunft der modernen indischen Ar-
chitektur in der Gestaltung grüner Gebäude.
Schlussbemerkungen Aufgrund ihrer spirituellen und
kulturellen Verankerung gelten Jahrtausende alte Bauprin-
zipien bis heute und werden noch bis weit in die Zukunft
hinein gelten. Unter Verweis auf solche Prinzipien habe ich
den Pluralismus architektonischer Entwurfspraxis, soziokul-
turelle Bestimmungsfaktoren und das nachhaltige Bauen als
bedeutende Elemente der früheren, heutigen und zukünf-
tigen indischen Architektur identifiziert. Das pluralistische
Wesen der heutigen Architektur Indiens ist eine spannende
Ausgangsbasis für zukünftige Vorstöße und Innovationen.
Soziokulturelle Determinanten “verindischen” die moderne
und universalisierte Architektur und tragen so zur Herausbil-
dung einer modernen indischen Identität in der Architektur
bei. Indien steht kurz davor, zum Zentrum des modernen,
nachhaltigen Bauens in Asien zu werden.
Diese drei Faktoren lassen mich der Zukunft der indischen
Architektur mit Zuversicht entgegensehen. Vor diesem Hinter-
grund sollte Klaus-Peter Gasts Buch gelesen werden. Es strebt
an, diese und andere Merkmale der zeitgenössischen Archi-
tektur Indiens zu erfassen. Seine Projektsammlung stellt an-
hand von repräsentativen Beispielen die verschiedenen Rich-
tungen vor, die die indische Architektur heute einschlägt und
zukünftig einschlagen wird. Meiner Ansicht nach sind sie in-
sofern einzigartig, als Indiens Vergangenheit in Indiens Ge-
genwart lebendig ist und sich aller Wahrscheinlichkeit nach
auch in die Zukunft fortsetzen wird. Ich danke Klaus-Peter
Gast für diese Initiative – jeder, der sich für die zeitgenössische
Architektur Indiens interessiert, wird daraus Gewinn ziehen.
Vorwort
5 Ich beziehe mich auf Amos Rapoports Begriff von folk architecture, der die
Architektur des einfachen Volkes bezeichnen soll. Siehe Rapoport, Amos. House
Form and Culture. NJ: Prentice-Hall, Inc., 1969. S. 2.
6 Jadhav, Rajratna. www.architectureweek.com/2004/0922/environment_1-1.html.
7 www.greenbusinesscentre.org/grn/events/
1 Khosla, Romi. The Loneliness of a Long Distant Future: Dilemmas of
Contemporary Architecture. Neu-Delhi: Tulika, 2002.
2 Der Hinduismus wurde erst im 8. Jahrhundert n. Chr. nach der Verbreitung des
islamischen Glaubens in Indien als Religion identifiziert. Siehe Singh, Jaswant. A
Call to Honour: In Service of Emergent India. Neu-Delhi: Rupa & Co. 2006, S. 82.
3 Rapoport, Amos. House Form and Culture. NJ: Prentice-Hall, Inc., 1969.
4 Lang, Jon, Desai, Madhavi, Desai, Miki. Architecture and Independence: The
Search for Identity – India 1880 to 1980. Delhi: Oxford University Press, 1997.
gast_moderne_traditionen.indb 13 16.02.2007 16:06:17 Uhr
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Am 14. August 1947 verkündete der erste Premierminister
Indiens Jawaharlal Nehru um Mitternacht „das Ende der Ar-
mut und des Unwissens und der Krankheiten und der Un-
gleichheiten“¹. Indien war nach über 200 Jahren britischer
Herrschaft unabhängig geworden. Der eiserne gewaltlose
Kampf von Mohandas Karamchand (Mahatma) Gandhi ge-
gen Unterdrückung und Besetzung einer einstmals freien
Nation war ein triumphaler Erfolg geworden. Seit dem
16. Jahrhundert, zur Zeit des moslemischen Eroberers Akbar,
herrschte auf dem Subkontinent eine große Toleranz- und
Kommunikationsbereitschaft und die Fähigkeit eines Mit-
einander in reger Aktivität und großem Austausch. Pluralis-
mus und akzeptierte Vielfalt des Denkens waren seit jeher
Komponenten der Bevölkerung eines Landes, das sich Bharat
und später, aus dem Fluss Indus abgeleitet, Hindustan nann-
te. Nicht erst seit Akbar, sondern schon seit Alexander dem
Großen hatte dieser Teil der Welt Eroberer über sich ergehen
lassen müssen, doch zumeist mit erstaunlicher Gelassenheit
und Gewaltlosigkeit. Indien absorbierte immer wieder das
Neue, das ungebeten hereinbrach und nutzte es für sich
selbst. Das Fremde wurde indisch, es wurde Teil des natio-
nalen Erbes. Hier beginnt bereits die indische Globalisierung,
früher als in jedem anderen Land, ohne jemals die eigenen
Grenzen überschritten zu haben, denn das antiimperiale In-
dien hat niemals Expansionskriege geführt. Und so bleibt zu
fragen, ob sich diese außergewöhnlichen Qualitäten über die
200 Jahre der Besetzung erhalten haben und ob Nehrus em-
phatischer Ausruf nach nun 60 Jahren Wirklichkeit gewor-
den ist. Die sich neu etablierende „größte Demokratie der
Welt“ sollte nach dem Vorbild der Sowjetunion ein sozialis-
tisches Muster erhalten, nach Nehru ein Ideal an Gerechtig-
keit, dessen 5-Jahres-Planwirtschaft zentral zu regeln war.
Da Gandhi bereits ein halbes Jahr nach der Unabhängigkeit
einem Attentat zum Opfer gefallen war, konnte er seine Vor-
stellung von einem Indien der Dörfer, größtenteils mit Selbst-
verwaltungen und Kleinindustrien, nicht mehr einbringen.
Nehru verwirklichte seine Ideen kompromisslos, während die
Beziehungen zur Sowjetunion damit ihren Höhepunkt er-
reichten. Grundsätzlich fortgeführt wurde dessen Politik von
seiner Tochter Indira Gandhi und später deren Sohn Rajiv
Gandhi. Erst im Jahre 1992 wurde die Nehru-Doktrin aufge-
geben, als der derzeitige Premierminister Manmohan Singh
als damaliger Finanzminister unter dem Premier Narasimha
Rao eine neue Wirtschaftspolitik einleitete. Das Tor zur Welt
wurde aufgetan, der autarken Selbstbewirtschaftung eines
geheimnisvollen, in der übrigen Welt immer noch fast unbe-
kannten Landes hinter dem Himalaja ein Ende bereitet. Die
indische Öffnung zum globalen Markt war die zweite ent-
scheidende Wende des Landes im 20. Jahrhundert: Dem In-
dividuum wurde die alte Freiheit im privaten und wirtschaft-
lichen Leben zurückgegeben, und eine riesige, bisher wenig
genutzte Kapazität von Intelligenz konnte und kann sich frei
entfalten und ihre kreative Energie einsetzen. Damit waren
die Grundlagen für ein explosionsartiges Wirtschaftswunder
innerhalb der letzten 15 Jahre gelegt. Ein rasanter technolo-
gischer Fortschritt begann in Kooperation mit internationa-
len Firmen, wobei ausländische Unternehmen plötzlich neue
Maßstäbe setzten. Doch auch Kritik war die Folge: Konnte
— Der erwachende Riese
Jawaharlal Nehru
gast_moderne_traditionen.indb 15 16.02.2007 16:06:18 Uhr
17
und sollte sich das über Jahrtausende kulturell gefestigte In-
dien einem derartigen Einfluss aussetzen? Sollte die materi-
alistisch geformte Denk- und Handlungswelt des Westens
der neue Maßstab eines auf spirituellen Werten fußenden
Indiens werden? Auch dabei setzte schließlich Gelassenheit
ein, denn der Lebensstandard eines jeden Einzelnen wuchs
und wächst. Indien wird wie immer in der Geschichte in der
Lage sein, das Neue für sich zu nutzen, ohne sich selbst auf-
zugeben.
Der Wunsch nach globalen Märkten führte aber, wie in
vielen anderen Ländern auch, zu Protesten gegen die Globa-
lisierung, die globalisierte Machtausbreitung. Doch darin
liegt die Chance eines Neulings, dieser Gefahr unkontrollier-
barer Macht sehr bewusst gegenüberzutreten und seinen
eigenen Beitrag zu einer Balance zu leisten. Den großen
Wachstumsraten von derzeit 8 % und vorhergesagten 7 %
bis zum Jahr 2025² steht allerdings eine nicht unerhebliche
soziale Asymmetrie gegenüber. Das Kastenwesen, also die
degenerierte hierarchische gesellschaftliche Gliederung nach
Geburt, stellt dabei nur einen Aspekt dar, mehr noch die
generelle mangelnde Bereitschaft zur Akzeptanz eines ge-
sellschaftlich Andersgestellten. In der Politik wird demokra-
tische Balance geübt, aber im sozialen und ökonomischen
Leben Indiens herrscht großes Ungleichgewicht. So muss
mehr praktische und weniger theoretische Demokratie ge-
fordert werden, wie beispielsweise die Realisierung des
Rechts auf Ausbildung und Arbeit für alle. Immer noch stel-
len die Frauen dabei den Schwerpunkt dar, denn über 60 %
von ihnen haben keine Schulausbildung. Auch führt die ge-
gensätzliche Reaktion der Politik, die derzeit sehr umstrittene
Quotenregelung, die der Kaste der so genannten Unberühr-
baren – den scheduled castes – zu mehr gesetzlichem Anteil
an Ausbildungsplätzen verhelfen soll, zu neuen sozialen Un-
gerechtigkeiten. Ein krasser Gegensatz der Ausbildung exis-
tiert in ländlichen Gegenden gegenüber den Metropolen
und steht im Widerspruch zur eigentlichen Wirtschaftskraft.
Weiterhin stellt das von den Briten übernommene Rechtswe-
sen, wie das gesamte bürokratische System, eine äußerst
schwerfällige Maschinerie dar, die Recht und Gerechtigkeit
zeitraubend ungerecht werden lässt, wenn ein kriminelles
Delikt etwa zehn Jahre braucht, um verhandelt zu werden.
Besonders das Kastenwesen ist ein Paradoxon im spiritu-
ellen System gleich welcher Religion, denn dort ist jeder vor
Gott gleich. Dies wird von jeher im toleranten Hinduismus,
keiner Religion, sondern einer Lebenshaltung, verkündet,
wie es beispielsweise der den westlichen Ländern gegenüber
besonders offene Mönch Swami Vivekananda um 1900 tat.
Etwa 80 % der indischen Bevölkerung gehören dem Hindu-
ismus an, doch ist dies keinesfalls eine homogene, streng
disziplinierte religiöse Gemeinschaft wie etwa der Islam. Viel-
mehr handelt es sich um eine multikulturelle, vom Atheismus
über den Großteil der Gläubigen bis zur orthodox-nationalis-
tischen Hindutva reichenden Weltglaubensgemeinschaft,
deren Komplexität nicht so einfach zu fassen ist. Während
der weltoffene, wohl überwiegende Teil der Hindus die Neu-
erungen der gegenwärtigen indischen Gesellschaft wohlwol-
lend empfängt, bleibt der orthodoxe, von strengsten Regeln
und Traditionen geprägte Gläubige skeptisch bis ablehnend.
Was alle vereint, ist die Berufung auf das „Urwissen“ Veda,
ein philosophisches Moralkompendium, das Kosmos und
Welt erklärt, unzählige Interpretationen ermöglicht hat und
vor vielen Zeitaltern entwickelt wurde. Neben Moslems und
Christen leben darüber hinaus vielerlei Untergruppen religi-
öser oder auch ethnischer Art in diesem Land mit 250 Spra-
chen, dessen Bevölkerung kürzlich die Milliardengrenze
überschritten hat. Bei einer Wachstumszahl von 13 Millionen
Menschen pro Jahr wird auch verständlich, dass die andern-
orts ausgerotteten Krankheiten wie Polio, Typhus oder Mala-
ria nicht so einfach in den Griff zu bekommen sind. Eine
derart große Bevölkerung und Diversität von Menschengrup-
pen legt die Vermutung einer möglichen Zersplitterung nahe.
Doch als 1998 im nordwestlichen Wüstengebiet die offiziell
erste indische Atombombe gezündet wurde, musste dies als
Teil des nationalen, alle einenden Selbstbewusstseins gedeu-
tet werden. Ihr Mitentwickler, der hochrangige Wissenschaft-
ler Dr. Abdul Kalam, wurde daraufhin zum Präsidenten des
Landes gewählt. Nationalbewusstsein eint die vielfältigen
Inder, und so setzte der nach der Unabhängigkeit vielfach
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Neu-Delhi, Ansicht der Regierungsbauten
Kalkutta, Victoria Memorial — Mumbai, Victoria Station
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vorhergesagte Zerfall, die „Balkanisierung“ Indiens, nicht ein.
Die Nation steht bis heute zusammen, und Nehru hätte dies
sicherlich mit besonderem Stolz wahrgenommen.
Als Teil einer großen kulturellen Leistung Indiens, zu der
besonders der Philosoph Vivekananda (†1902), der Dichter
und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore (†1941) und der
Regisseur Satyajit Ray (†1992) mit ihren Auswirkungen im
20. Jahrhundert zu zählen sind, werden nun im Folgenden
die Errungenschaften der Architektur der Moderne erörtert.
Anschließend sollen an ausgewählten Beispielen die neues-
ten Tendenzen in der Architektur der Gegenwart als Teil des
auch kulturell progressiven Indien vorgestellt werden.
Zur Entwicklung der modernen Architektur in Indien
Der Begriff des „Modernen“ in der indischen Architekturent-
wicklung des 20. Jahrhunderts bleibt schwierig zu fassen,
denn er wurde für zahlreiche Stilrichtungen dem Zeitgeist
entsprechend verwendet. Ausgehend von den europäischen
Bestrebungen innerhalb der 1920er Jahre hielt der Begriff
der „modernen Architektur“ zu Beginn der 1930er Jahre als
revolutionär-innovative Kraft vorsichtigen Einzug in Indien.
Doch galt damals alles über den britischen Import erfolgende
westliche Denken und Praktizieren als „modern“, denn zu
Beginn des 20. Jahrhunderts gab es keine einheitliche unab-
hängige Architekturentwicklung in Indien. Modern waren
die vom Bauhaus und Le Corbusier beeinflussten und nach
Indien getragenen Gedanken, und als modern galt ebenso
das nachfolgende, von regionalen oder auch exotischen Mo-
tiven beeinflusste Art Deco. Bis in die 1950er, sogar 1960er
Jahre hinein wurde auch neoklassizistische Architektur von
seinen überzeugten Vertretern als modern deklariert. Doch
bestand das Moderne in Indien eher in einer Lebenshaltung
insgesamt. Es hieß, die Welt positiv zu gestalten, zu verbes-
sern, jenseits der Norm zu stehen, progressiv und erfinde-
risch zu sein, und dazu gehörten sicher große visionäre
Köpfe, wie Tagore und später Nehru. Die britischen Archi-
tekten fühlten sich in Indien als modern, weil hier ein Expe-
rimentierfeld zur Verfügung stand, fast ohne Beschrän-
kungen und Vorschriften, mit ungewohnter Freiheit. Diese
unterschiedlichen Tendenzen sollen nun etwas ausführlicher
dargestellt werden.
Die Konsolidierung der britischen Kolonialmacht im
19. Jahrhundert hatte zur Folge, dass besonders öffentliche
Bauten in den Blickpunkt des Interesses gerieten. Große Bil-
dungseinrichtungen, wie die Bombay University von 1870,
oder Bahnhöfe als Tore zur Welt, wie die Victoria Station in
ehemals Bombay von 1887, oder auch bedeutende Denkmä-
ler, wie das Victoria Memorial in Kalkutta von 1906, waren
repräsentative Bauten einer selbstbewussten Klasse britischer
Architekten, die die Überlegenheit europäischer Kultur de-
monstrieren wollte. Dies wurde ganz besonders nach dem
Umzug des Regierungssitzes von Kalkutta nach Delhi vollzo-
gen, als Edwin Lutyens und Herbert Baker um 1912 den Auf-
trag erhielten, die neuen Regierungsbauten in „Neu-Delhi“
zu realisieren. Die Architekten entwarfen eine den indischen
Städten eher fremde, monumentale Stadtstraßenanlage mit
Achsen und Alleen in grandioser Geometrie und vor allem
mit zwei symmetrischen Verwaltungsbauten, die den Blick
zum Palast des Vizekönigs flankierten. Großzügige Kolon-
naden, offene Veranden, schlanke hohe Fensteröffnungen,
Chhajjas (weite Dachüberstände) und Gesimse, Jaalis (Loch-
blenden aus Stein) und Chhatris (frei stehende Pavillons)
wurden dabei als Zierelemente typisch historisch-indischer
Architektur eingesetzt. Der Palast des Vizekönigs weist eine
Kuppel auf, die an die buddhistische Stupa in Sanchi erinnert.
Obwohl Lutyens und Baker europäisch-klassizistische und
indische Elemente verschmolzen, wirkt die Anlage mit ihrer
Flächigkeit der Wände, dem zurückhaltenden Dekor und der
strengen Geometrie besonders des Palastes in ihrer Zeit mo-
dern. Erst 1931, nach fast 20 Jahren Bauzeit, wurde der Re-
gierungssitz eingeweiht. Die Hauptperiode des Neoklassizis-
mus ging weit über die 1930er Jahre hinaus, was vor allem
dem seit den 1920er Jahren bestehenden Indian Institute of
Architects geschuldet ist, einer britischen Institution, der zu-
erst der Brite Claude Batley vorstand. Seine Lehre basierte
auf dem Studium der griechisch-römischen, aber auch in-
dischen Klassik. Unter seinem enormen Einfluss begründete
sich die Schule der Konservativen, deren wichtige Vertreter
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Bangalore, Vidhana Soudha — Neu-Delhi, Garrison Church — Indisches Art Deco Haus
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beispielsweise Sudlow-Ballardie-Thompson oder bis in die
1950er Jahre Ganesh Deolalikar hießen. Dessen Supreme
Court in Neu-Delhi von 1952 imitierte die Lutyens-Baker Bau-
ten bis ins Detail. Zu den konservativen, so genannten revival-
ists gehörte auch B. R. Manickam mit seinem an indische
Palastanlagen erinnernden, monumentalen historistischen
Regierungsbau Vidhana Soudha in Bangalore von 1952. Kol-
lossalsäulen, Mogulkuppeln, Symmetrie und monumentale
Masse bezeugten das Festhalten an historischen europäisch-
indischen Formen. Längst jedoch hatte sich ein neues Den-
ken etabliert, das sich an der reduzierten Formensprache des
„internationalen Stils“ orientierte, aber auch dem abstrakten
Expressionismus Europas anhing, wie beispielsweise Arthur
G. Shoesmith mit seiner St. Martin’s Garrison Church in Del-
hi von 1931, deren Volumen wie ineinander geschobene
reine Prismen fester Massen wirken. Die mit dem Bauhaus
parallel verlaufende, wichtige holländische Richtung De Stijl
hatte dagegen in Indien kaum Einfluss, auch wenn Willem
Marinus Dudok einige Bauten in Indien realisierte. Anfang
der 1940er Jahre begann sich die Strenge der später so ge-
nannten klassischen Moderne mit Expressionismus und de-
korativen Motiven und vor allem fließenden, oft gerundeten,
betont horizontalen und vertikalen Linien zu mischen: Das
höchst einflussreiche und sich über ganz Indien ausbreitende
Art Deco hielt triumphalen Einzug in die indische Architek-
turwelt. Frankreich und besonders Amerika waren Vorbilder
dieser Strömung, deren Architekten das Art Deco virtuos zur
Kunstform erhoben. Die streamline architecture, wie das Art
Deco auch genannt wurde, entwickelte seine Gestalt teilwei-
se aus den innovativen technischen Errungenschaften dieser
Zeit, den gerundeten Formen von Flugzeugen und Automo-
bilen. Frank Lloyd Wright entdeckte zusätzlich in Amerika die
Dekorwelt der Mexikaner und auch Azteken und Maya, so
dass deren eher geometrische Motive, neben den nahe lie-
genden Motiven wie Palmen, Flugzeuge und Sonnenstrahlen,
schließlich international Einzug hielten in das Art Deco . Das
indische Art Deco wurde darüber hinaus zunehmend durch-
mischt mit regionalen Applikationen, so dass teilweise reich
dekorierte Fassaden entstanden. Besonders die hoch popu-
lären Kinobauten waren in einer Zeit ohne Fernseher bei Ar-
chitekten beliebt, um expressives Art Deco mit monumen-
talem Gestus zu entwerfen. Bis heute haben viele dieser Ki-
nopaläste überlebt und bilden Zeugen einer großen Phase
der Architektur.
Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1947 gab es in Indien
nur rund 300 ausgebildete Architekten bei einer Bevölke-
rung von damals 330 Millionen Einwohnern und nur einer
Ausbildungsstätte, dem Indian Institute of Architects in Bom-
bay. Diejenigen, die es sich leisten konnten, studierten im
Ausland, vorzugsweise in den USA, da einige Heroen der
Moderne, besonders des Bauhauses, wie Mies van der Rohe,
Walter Gropius und Marcel Breuer aus dem faschistischen
Deutschland nach Amerika emigriert waren. Mit einem neu-
en Optimismus kam die erste Generation indischer Archi-
tekten aus Amerika zurück, frei vom britischen Einfluss der
Schule in Bombay, euphorisch, einem nun freien Land ihre
dringend benötigten Dienste anzubieten. Zu ihnen gehörten
Habib Rahman, der am MIT in Boston unter Gropius studier-
te, dann Achyut Kanvinde aus Harvard und Gautam Sarabhai,
der bei Wright in Taliesin arbeitete. So gelangte über den
Umweg Amerika zum zweiten Mal der Einfluss der Bauhaus-
meister nach Indien, diesmal direkt über ihre Schüler, deren
etwas zu funktionalistische Interpretationen besonders von
Kanvinde ausgeführt wurden. Doch zeitgleich entwickelte
sich in Südamerika ein neuer Betonexpressionismus, beispiels-
weise eines Felix Candela oder Oscar Niemeyer, auch weil
nun die technische Möglichkeit bestand, große Spannweiten
überbrücken zu können. Diese eindrucksvollen Konstruktio-
nen waren Anreiz für die jungen indischen Architekten, den
rigiden Rationalismus der deutschen USA-Lehrer in bewegte
Form zu bringen. Einer der wichtigsten Schüler, die vom MIT
in Cambridge/Boston in den 1950er Jahren zurückkehrten,
war Charles Correa. Er hatte unter Minoru Yamasaki in De-
troit gearbeitet, der später das World Trade Center in New
York entwarf. Correa kam 1958 nach Indien zurück, zu einer
Zeit, in der der wichtigste Architekt der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts, Le Corbusier, bereits sein größtes Lebens-
projekt in Indien realisierte. Der von Nehru zu Anfang der
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Neu-Delhi, Supreme Court — Indisches Art Deco Haus
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IIM Hofanlage mit Bibliothek — Kanchanjunga Appartementhaus
Jaipur, Jawahar Kala Kendra Kunstzentrum
Chandigarh, Parlamentssaal — Chandigarh, Sekretariat
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1950er Jahre persönlich eingeladene Architekt entwarf und
baute Chandigarh, die neue Hauptstadt des Staates Punjab.
Für Nehru – der behauptete, Indien brauche „einen Schlag
auf den Kopf“ – schien Le Corbusiers visionäre Kraft, die er
in Städtebauprojekten seit den 1920er Jahren unter Beweis
gestellt hatte, genau das Richtige zu sein. Unter Mitwirkung
seines Cousins Pierre Jeanneret und der Architekten Jane
Drew und Maxwell Fry realisierte Le Corbusier die gesamte
Stadtstruktur, wobei er selbst die Regierungsbauten, das Ka-
pitol, entwarf. Sein béton brut, die schalungsraue, unver-
putzte Oberfläche der Bauten und die expressiv-skulpturale
Wirkung von singulären Monumenten auf weiter Ebene hin-
terließen einen schockartigen Eindruck bei den indischen
Architekten, die von nun an einen neuen Helden für sich
erkoren hatten. Le Corbusiers Botschaften gerieten zu neuen
Evangelien in der nachfolgenden Generation, die darin eine
neue Dimension des Denkens erkannte. Neben dem Kapitol
erhielt Le Corbusier Aufträge für weitere Villen und ein Mu-
seum in Ahmedabad. Dabei stand ihm ein Inder zur Seite, der
für ihn bereits in Paris gearbeitet hatte, Balkrishna Vitaldhas
Doshi. Er führte die Villen aus und stand bei der Bauleitung
des Kapitols zur Verfügung. Doshi war es, der Anfang der
1960er Jahre den Kontakt zu Louis I. Kahn herstellte, um das
Indian Institute of Management in Ahmedabad zu entwi-
ckeln. Kahn war beeindruckt von diesem Angebot und reali-
sierte das Projekt in einem Zeitraum von 13 Jahren. Kahn war
der nächste bedeutende Architekt für Indien. Seine auf reiner
Geometrie aufbauenden Strukturen als Abbild innewoh-
nender Ordnung, die Hinwendung zu einer Bildsprache der
Architektur jenseits des Funktionalismus und die Verwen-
dung des rohen Ziegelsteins in den Fassaden, um das Wesen
des Materials auszudrücken, eröffneten eine weitere Dimen-
sion in der Erfahrung indischer Architekten.
Charles Correa entwickelte sein Werk parallel zu diesen
übergroßen Meistern des 20. Jahrhunderts zu einer Zeit, als
beide in Indien bauten. Mit seiner Gedenkstätte in Erinne-
rung an Mahatma Gandhi von 1963 in Ahmedabad, die an
den Entwurf für das Trenton Bath House von Kahn erinnert,
begann sein reifes Werk. Wichtigste Bauten waren seitdem
sein Wohnhochhaus Kanchanjunga in Mumbai von 1970 –
1983, dann sein Regierungsgebäude in Bhopal von 1980 –
1996 (siehe S. 26 – 33) und sein Kunstzentrum in Jaipur von
1986 –1992, bei denen er die spirituelle Dimension des in-
dischen Denkens für seine Arbeit entdeckte und in sein Werk
integrierte. Correa ist der wichtigste Vertreter seiner Gene-
ration und der nach wie vor bedeutendste zeitgenössische
Architekt Indiens. Ein weiterer wichtiger Architekt dieser Al-
tersgruppe ist neben Doshi und Correa Anant Raje, der als
rechte Hand Kahns die Bauten des Indian Institute realisierte
und weitere in der Sprache Kahns ergänzte. Sein Werk ist
deutlich geprägt von den Strukturen Kahns, die aber eigen-
ständig interpretiert wurden. Weiterhin gehört Raj Rewal
dazu, in Delhi und London ausgebildet, der früh unter ande-
rem von den japanischen Metabolisten beeinflusst wurde,
später dann aber seine Identität in der eigenen Geschichte
Indiens fand und das Konzept einer Moderne, die auf Tra-
dition fußt, verfolgt. Seine Parlamentsbibliothek (siehe
S. 42 – 49) gehört zu den herausragenden Bauprojekten der
letzten zehn Jahre in Indien.
Die Auswahl der hier vorgestellten Architekten der jün-
geren Generation kann im begrenzten Rahmen einer solchen
Publikation keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder umfas-
sende Repräsentation erheben. Architekten, die hier nicht
näher erwähnt werden, aber sicher einen bedeutenden Bei-
trag geleistet haben, sind beispielsweise Laurie Baker in Ke-
rala, dessen Lebenswerk ökonomischen, ökologischen und
nachhaltigen Kriterien beim Bauen folgt und vor allem auch
den Menschen mit niedrigem Einkommen gewidmet ist.
Ähnliche Ansätze zeigen Architekten wie Anil Laul, S.K. Das
oder auch die barefoot architects in Rajasthan, bei denen
viele Menschen handwerklich in den Bauprozess einbezogen
werden und ausschließlich örtlich vorhandene Materialien
Verwendung finden. Ein vielfältiges Spektrum an Bauaufga-
ben und Architekten mit unterschiedlichen Ansätzen soll im
Folgenden die derzeitigen Tendenzen der Architektur in In-
dien illustrieren, bei denen in zunehmendem Maße auch die
Aspekte von Ökologie und Nachhaltigkeit eine Rolle spielen.
1 Amartya Sen, The Argumentative Indian, London 2005,
S. 193: “…the ending of poverty and ignorance and
disease and inequality of opportunity.”
2 Shashi Tharoor, India – From Midnight to the Millenium,
Neu-Delhi 1997, S. 360.
Der erwachende Riese
Kanchanjunga Appartements, Schnitt
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